Verfassungsbeschwerde. BVerfGE 6, 32.

Sachverhalt Verfassungsbeschwerde A. Zulässigkeit I. Statthaftigkeit II. Beschwerdefähigkeit III. Prozessfähigkeit IV. Beschwerdegegenstand V. Beschwerdebefugnis VI. Rechtswegerschöpfung VII. Form, Frist und Begründung VIII. Zwischenergebnis B. Begründetheit I. Verletzung des Art. 11 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich 2. Zwischenergebnis II. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich b) Persönlicher Schutzbereich c) Zwischenergebnis 2. Eingriff 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung a) Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG b) Verhältnismäßigkeit der Passversagung c) Zwischenergebnis 4. Zwischenergebnis III. Zwischenergebnis C. Endergebnis

Sachverhalt Der Beschwerdeführer (Wilhelm Elfes) war Mitglied einer Vereinigung, die sich gegen die Politik Deutschlands aussprach. Auf Veranstaltungen im In- und Ausland hatte er sich des Öfteren entsprechend kritisch geäußert. Im Jahr 1953 beantragte der Bf. bei der Passbehörde Mönchengladbachs die Verlängerung seines Reisepasses, die ihm jedoch mit einem entsprechenden Hinweis auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG untersagt wurde. Nach dieser Vorschrift ist der Pass dann zu versagen, „wenn wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, daß der Paßbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“. Eine ausführliche Begründung wurde jedoch nicht abgegeben. Die Entscheidung der Passbehörde wurde in drei verwaltungsgerichtlichen Instanzen im Hinblick auf die politischen Äußerungen des Beschwerdeführers (Bf.) im Ausland bestätigt. Der Bf. erhob gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) von 1956 Verfassungsbeschwerde. Mit dieser rügte er insbesondere die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1 GG (Freizügigkeit) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit).

Verfassungsbeschwerde Die Verfassungsbeschwerde (VB) muss zulässig und begründet sein.

A. Zulässigkeit Die VB ist zulässig, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG erfüllt sind. I. Statthaftigkeit Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 BVerfGG das für die VB zuständige Gericht. II. Beschwerdefähigkeit Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann „jedermann“ VB erheben. Mit diesem Merkmal sind alle Subjekte erfasst, die grundrechtsberechtigt bzw. -fähig sind. Als natürliche Person ist der Bf. Grundrechtsträger und damit beschwerdefähig. III. Prozessfähigkeit Der Bf. besitzt auch die Fähigkeit, Verfahrenshandlungen vor dem BVerfG vorzunehmen, da er nach bürgerlichem Recht geschäftsfähig ist (§ 51 ZPO, § 62 VwGO i.V.m. § 104 BGB). IV. Beschwerdegegenstand Beschwerdegegenstand kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) sein. Damit ist jedes Handeln oder Unterlassen eines staatlichen Organs gemeint. Das verwaltungsgerichtliche Urteil des BVerwG stellt ein letztinstanzliches Urteil und somit einen Akt der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG dar. Es liegt also ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. V. Beschwerdebefugnis Der Bf. muss gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG substantiiert behaupten, durch das letztinstanzliche Urteil in einem seiner Grundrechte verletzt worden zu sein. Es muss die Möglichkeit bestehen, dass der Bf. selbst, gegenwärtig und unmittelbar in jedenfalls einer seiner grundrechtlich ge-

schützten Rechte verletzt ist (Möglichkeitstheorie). In Betracht kommt, dass der Bf. in seinen Grundrechten aus Art. 11 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt wurde. Da der Bf. jedoch eine Gerichtsentscheidung angreift und das BVerfG keine „Superrevisionsinstanz“ ist (VB sind außerordentliche Rechtsbehelfe), muss in einen Lebensbereich eingegriffen worden sein, der durch ein spezifisches Grundrecht geschützt ist. Eine solche Verletzung kann etwa bei Anwendung einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage, Nicht- bzw. fehlerhafter Anwendung eines Grundrechts, fehlerhafter Anwendung eines Grundrechts oder Verkennung der Bedeutung und Tragweite eines solchen gegeben sein. Es ist denkbar, dass die Passversagung gegen Grundrechte des Bf. verstößt. § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG wäre somit eine verfassungswidrige Rechtsgrundlage. Weiterhin kommt in Betracht, dass die Bedeutung und Tragweite der Ausreisefreiheit des Bf. verkannt wurde, indem sie bei der Urteilsfindung nicht hinreichend beachtet worden ist. Der Bf. kann also die Möglichkeit einer Verletzung spezifischer Grundrechte geltend machen. Der Bf. ist Adressat der Maßnahme und daher auch selbst betroffen. Seine Beschwer ist auch gegenwärtig, da die Beeinträchtigung seiner (vermeintlich) verletzten Grundrechte immer noch vorhanden ist. Da der Bf. durch den Akt der öffentlichen Gewalt direkt und ohne Zwischenschritte betroffen ist, ist er ferner auch unmittelbar beschwert. Mithin erscheint eine Verletzung der Grundrechte des Bf. aus Art. 11 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG möglich. VI. Rechtswegerschöpfung Der Bf. greift ein letztinstanzliches Urteil an. Der Rechtsweg wurde also erschöpft im Sinne des § 90 Abs. 2 Nr. 1 BVerfGG erschöpft. VII. Form, Frist und Begründung Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass Form, Frist und Begründung gemäß §§ 23, 92, 93 BVerfGG gegeben sind. VIII. Zwischenergebnis Die VB des Bf. ist mithin zulässig.

B. Begründetheit Die VB ist begründet, wenn der Bf. durch den Akt der öffentlichen Gewalt (vorliegend das Urteil des BVerwG) tatsächlich in einem seiner Grundrechte verletzt wurde und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. I. Verletzung des Art. 11 Abs. 1 GG Die Passversagung, die eine Einschränkung der Ausreisemöglichkeit des Bf. zur Folge hatte, müsste den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG beeinträchtigen und einen verfassungswidrigen Eingriff darstellen. 1. Schutzbereich Fraglich ist, ob der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG in sachlicher sowie persönlicher Hinsicht eröffnet ist. a) Sachlicher Schutzbereich Der sachliche Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist eröffnet, wenn die Ausreisefreiheit vom Begriff der „Freizügigkeit“ erfasst ist. Dem Wortlaut nach wird die „Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“ geschützt. Freizügigkeit außerhalb des Bundesgebietes ist dem Wortlaut des Art. 11

Abs. 1 GG somit nicht zu entnehmen. Mithin fällt die Ausreisefreiheit nicht in den sachlichen Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG. 2. Zwischenergebnis Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist also nicht eröffnet. II. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG Weitere spezielle Grundrechte, die verletzt worden sein könnten, sind nicht ersichtlich. Daher kann Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht angewendet werden. 1. Schutzbereich Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG müsste in sachlicher sowie persönlicher Hinsicht eröffnet sein. a) Sachlicher Schutzbereich Mit dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit erfasst der sachliche Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG jede Art von menschlichem Verhalten. Abgeleitet wird dies aus der ursprünglichen Fassung, die „jeder kann tun und lassen, was er will“ lautete. Durch sprachliche, nicht aber rechtliche, Einwände kam die heutige Formulierung zustande. Historisch ausgelegt sind die Merkmale des Art. 2 Abs. 1 GG also weit auszulegen und daher so zu verstehen, dass jede Freiheitsbeschränkung in den sachlichen Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit fällt. Eine Passversagung stellt eine Freiheitsbeschränkung dar und wird daher vom sachlichen Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG erfasst. b) Persönlicher Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 GG nach hat „jeder […] das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Alle natürlichen Personen können sich auf die allgemeine Handlungsfreiheit berufen. Als natürliche Person ist der Bf. somit vom persönlichen Schutzbereich erfasst. c) Zwischenergebnis Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG ist also eröffnet. 2. Eingriff Ferner müsste ein Eingriff in das Grundrecht des Bf. vorliegen. Ein Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, durch die dem Träger eines Grundrechts ein grundrechtlich geschütztes Verhalten unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert wird. Ein Eingriff liegt unzweifelhaft dann vor, wenn dieser die Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt. Demnach bestehen Eingriffe aus Ge- und Verboten, die dem Betroffenen durch staatliche Maßnahmen final (also zielgerichtet) und mit unmittelbarer Wirkung auferlegt werden. Die Versagung der Reisepassverlängerung ist zweckgerichtet, hat rechtliche Verbindlichkeit sowie Befehlscharakter und bedarf keiner weiteren Umsetzungshandlung. Daher sind die vier Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs, nämlich Finalität, Rechtsförmigkeit, imperativer Gehalt und Unmittelbarkeit erfüllt. Es liegt somit ein Eingriff vor. 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Fraglich erscheint, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Für Art. 2 Abs. 1 GG gelten drei rechtliche Schranken (Schrankentrias), nämlich die „Rechte anderer“, die „verfassungsmäßige Ordnung“, und das „Sittengesetz“. Im vorliegenden Fall kommt die Schranke der

verfassungsmäßigen Ordnung in Betracht. Die Rechtsgrundlage des Eingriffs müsste Ausdruck der verfassungsmäßigen Ordnung sein sowie diese konkretisieren. a) Verfassungsmäßigkeit des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG Da § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG die Rechtsgrundlage des Eingriffs ist, müsste dieser Ausdruck der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG sein. Darunter ist die Gesamtheit der Normen zu verstehen, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen. Mithin handelt es sich dabei um einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass das Gesetz formell verfassungsmäßig zustande gekommen ist. Weiterhin müsste das Gesetz materiell verfassungsmäßig sein. Dies ist der Fall, wenn es mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Einklang steht. Der Inhalt des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist hinreichend bestimmt. Die Regelung verfolgt mit dem Schutz des Staates und des Gemeinwesens einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Die Passversagung ist ein geeignetes Mittel, um diesen Zweck zu erreichen. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich, die Passversagung ist also auch erforderlich. Im Hinblick darauf, dass das PassG den Staat und die Allgemeinheit zu schützen versucht, ist die Nichtverlängerung des Reisepasses dem Betroffenen zumutbar. b) Verhältnismäßigkeit der Passversagung Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG darf ein Pass versagt werden, wenn eine Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit oder sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland anzunehmen ist. Insbesondere durch die Nennung der inneren und äußeren Sicherheit wird deutlich, dass die gefährdeten Belange eine besonders hohe Qualität haben müssen. Der Bf. vertritt eine kritische Auffassung hinsichtlich politischer Fragen in der Bundesrepublik Deutschland. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass insbesondere eine Demokratie die Vertretung unterschiedlicher Auffassungen von politischen Fragen überstehen muss. Kritische Äußerungen des Bf. im In- und Ausland können für die Bundesregierung zwar störend wirken, stellen jedoch keine Gefährdung erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Passversagung ist daher nicht verfassungsmäßig. c) Zwischenergebnis Die Passversagung ist in Bezug auf den angestrebten Zweck also unverhältnismäßig. 4. Zwischenergebnis Mithin stellt die Freiheitsbeschränkung des Bf. einen verfassungswidrigen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG dar. III. Zwischenergebnis Die VB ist also begründet.

C. Endergebnis Mithin ist die VB zulässig und begründet und hat daher Aussicht auf Erfolg.