1 1. Abschnitt

Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

1. Teil

(Individual-)Verfassungsbeschwerde Wesentlich ist, dass man im Obersatz auf die entsprechende Fragestellung im Falltext eingeht. Ist etwa nach den Erfolgsaussichten der von einem Beschwerdeführer (Bf.) eingelegten Verfassungsbeschwerde (VB) gefragt, so empfiehlt sich folgender Obersatz:

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Die VB des … (Bf.) hat gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit der VB Zunächst müsste die VB zulässig sein.

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I. Parteifähigkeit (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG)  Andere Terminologie:  Antragsberechtigung, Beschwerdeberechtigung, Beteiligtenfähigkeit und Beschwerdefähigkeit.

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Parteifähig ist gemäß § 90 I BVerfGG „jedermann“, d.h. jeder, der Träger von Grundrechten (oder grundrechtsähnlichen Rechten1) ist (Grundrechtsfähigkeit). 1. Unproblematisch ist die Parteifähigkeit bei natürlichen Personen, welche die deutsche Staatsangehörigkeit (Art. 116 I GG) besitzen, weil derartige Personen Träger sämtlicher Grundrechte sind:

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Der … (Bf.) ist als natürliche Person deutscher Staatsangehörigkeit (Art. 116 I GG) Träger sämtlicher Grundrechte, mithin als „jedermann“ parteifähig. 2. Problematisch ist die Parteifähigkeit hingegen bei Abgeordneten, politischen Parteien, Ausländern und juristischen Personen des privaten und öffentlichen Rechts:

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a) Bei einer Streitigkeit eines Abgeordneten um seinen verfassungsrechtlichen Status (Art. 38 I 2 GG) ist grundsätzlich das Organstreitverfahren die statthafte Verfahrensart2. Etwas anderes gilt aber dann, wenn für das Organstreitverfahren kein tauglicher An-

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1 Grundrechtsähnliche Rechte sind die in Art. 93 I Nr. 4a GG abschließend aufgezählten Rechts­ positionen: Art. 20 IV, 33, 38 I 1, 101, 103, 104 GG. 2 Vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38 Rdnr. 36.

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(Individual-)Verfassungsbeschwerde

tragsgegner (Verfassungsorgan oder „anderer Beteiligter“) zur Verfügung steht. In diesem Fall steht dem Abgeordneten die Verfassungsbeschwerde offen3. Entsprechendes gilt für politische Parteien hinsichtlich ihrer Rechte aus Art. 21 GG4. 7

b) Ausländische natürliche Personen; diese sind lediglich Träger der sog. Menschenrechte (Jedermann-Grundrechte), nicht hingegen der sog. Deutschengrundrechte (Bür­ gergrundrechte), die allein Deutschen i.S.d. Art. 116 I GG vorbehalten sind.

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Ob sich Bürger aus anderen EU-Staaten auf die Deutschengrundrechte berufen können, ist umstritten5. Während sich die Befürworter auf die im (primären und sekun­ dären) Unionsrecht gewährten Rechte, insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, berufen6, weisen die Gegner auf den eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes hin und wenden das Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG dahingehend an, dass es EU-Ausländern einen den Deutschengrundrechten gleichwertigen Schutz verbürgt7. Zu beachten ist, dass sich die Frage der Gleichbehandlung von EU-Ausländern nur dann stellt, wenn das Unionsrecht im Gewährleistungsbereich eines Deutschengrundrechts auch tatsächlich ein Diskriminierungsverbot begründet8. In diesem Fall verlangt Art. 18 AEUV, den Anwendungsbereich des jeweiligen Deutschengrundrechts zu erweitern.9 „Die Anwendungserweiterung beachtet den Grundsatz, dass das supranational begründete Recht der Europäischen Union keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht entfaltet, sondern nur dessen Anwendung soweit zurückdrängt, wie es die Verträge erfordern und es die durch das Zustim­mungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlauben. Mitgliedstaatliches Recht wird insoweit lediglich unanwendbar … Die europarechtlichen Vorschriften verdrängen [den persönlichen Schutzbereich] nicht, sondern veranlassen lediglich die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf weitere Rechtssubjekte des Binnenmarkts.“10 c) Juristische Personen des Privatrechts. Insoweit gilt Art. 19 III GG:

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(1) Wichtig: Der Begriff „juristische Person“ ist im untechnischen Sinne zu verstehen; demnach ist keine Rechtsfähigkeit erforderlich, vielmehr reicht eine gewisse binnen­ organisatorische Struktur des Gebildes aus, so dass etwa auch nichtrechtsfähige Vereine Grundrechtsträger sein können11.

3 Vgl. BVerfGE 108, 251, 267 f.; vgl. hierzu auch Rdnr. 85. 4 Vgl. hierzu Rdnrn. 84 ff. 5 Dafür: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12 Rdnr. 12, Art. 19 Rdnrn. 12, 23. Dagegen: Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rdnrn. 73 f.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 12 Rdnr. 5; Mann, in: Sachs, GG, Art. 12 Rdnr. 35; Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 12 Rdnr. 105; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12 Rdnr. 72. 6 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 19 Rdnr. 12. 7 Dreier, in: Dreier, GG, Vorb. Rdnr. 73 f.; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12 Rdnr. 72. 8 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rdnr. 306. 9 Das BVerfG äußerte sich nur zu der Frage, ob juristische Personen des EU-Auslandes Grund­ rechtsträger gem. Art. 19 III GG sein können (BVerfGE 129, 78, 95 ff.). Die dort angeführten Argumente lassen sich auf natürliche Personen übertragen. 10 BVerfGE 129, 78, 99 f. 11 Vgl. BVerfGE 3, 383, 391 f.; 4, 7, 12; 10, 89, 99; 24, 236, 243; 53, 1, 13; 83, 341, 351 f.; Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 49.

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Parteifähigkeit (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG)

(2) Für die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen kommt es nach Art. 19 III GG darauf an, ob die Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar sind12. Die Grundrechte sind „ihrem Wesen nach“ Schutz- und Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Im Lichte der dadurch implizierten anthropozentrischen, also der am Menschen orientierten Auslegung des Art. 19 III GG liegen dessen Voraussetzungen bei juristischen Personen des Privatrechts grundsätzlich vor13, weil ihre Bildung und Betätigung regelmäßig Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihne­n stehenden natürlichen Personen ist. Ist hingegen ein solcher teleologischer „Durchblick“ auf natürliche Personen nicht möglich, entfällt die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person des privaten Rechts. Dementsprechend können sich aus­ nahmsweise folgende juristische Personen des privaten Rechts nicht auf den Schutz der materiellen Grundrechte berufen: 

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Öffentliche Unternehmen, also Unternehmen, deren Eigenkapital ausschließlich bei der öffentlichen Hand liegt:  Eigengesellschaften, also Unternehmen, deren Eigenkapital ausschließlich bei einem Verwaltungsträger liegt14;  Gemischt-öffentliche Unternehmen, also Unternehmen, deren Eigenkapital ausschließlich bei mehreren Verwaltungsträgern liegt;



Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, also Unternehmen, deren Eigenkapital bei der öffentlichen Hand und bei Privaten liegt, sofern die öffentliche Hand über Möglichkeiten beherrschender Einflussnahme verfügt15;  Beliehene juristische – wie auch natürliche – Personen16, da sie nicht in Wahrnehmung unabgeleiteter natürlicher Freiheiten tätig werden, sondern mit der Ausübung staatlicher Funktionen und Aufgaben betraut sind.

(3) Ausländische juristische Personen sind mit Ausnahme der Prozessgrundrechte der Art. 101 I 2 und 103 I GG17 nicht grundrechtsfähig. Hat die juristische Person ihren Sitz in einem Mitgliedsstaat der EU, so stellt sich die Frage, ob eine Gleichbehandlung mit inländischen juristischen Personen geboten ist18. Mit Blick auf Art. 18 AEUV ist – einer Meinung zu folge – der Begriff „inländisch“ im Wege der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 19 III GG entsprechend weit zu interpretieren19. Das BVerfG

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12 Vgl. BVerfGE 21, 362, 368; 70, 1, 15. 13 Vgl. BVerfGE 21, 362, 369; 68, 193, 206. 14 Vgl. BVerfGE 45, 63, 80; BVerfG, NJW 1980, 1093; a.A. Pieroth, NWVBl. 1992, 85, 87 f. 15 Vgl. BVerfGE 128, 226, 246 f.; BVerfG, NJW 1990, 1783; streitig, zum Streitstand: Remmert, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 III Rdnr. 65 ff.; Schmidt-Aßmann, BB 1990/Beilage 34, 1. 16 Vgl. BVerfGE 21, 362, 370; BVerfG, NJW 1987, 2501 f. 17 Vgl. BVerfGE 12, 6, 8; 18, 441, 447; 21, 362, 373; 64, 1, 11. 18 Vgl. Rdnr. 8. 19 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rdnr. 307; dass Art. 18 AEUV dem Wortlaut nach auf die nach deutschem Verständnis natürlichen Personen vorbehaltene Staatsangehörigkeit abstellt, steht einer Anwendung auf juristische Personen nicht entgegen. Dies gebieten sowohl der internationale Sprachgebrauch als auch die teleologische Auslegung des Merkmals; vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV, Rn. 29; Zuleeg, in von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 12 EG, Rn. 10; hierzu auch EuGH, NVwZ 2010, 107, 110; a.A. OLG Düsseldorf, NJW 1993, 2447 m.w.N.

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(Individual-)Verfassungsbeschwerde

lehnt eine Ausdehnung des Begriffs „inländisch“ hingegen ab.20 Es erweitert jedoch den Anwendungsbereich des Art. 19 III GG mit dem Argument, die europarechtlichen Vorschriften (Art. 18 AEUV und die Diskriminierungsverbote enthaltenden Grundfreiheiten) verlangen eine Erweiterung des Grundrechtsschutzes auf weitere Rechtssubjekte des Binnenmarktes.21 Juristische Personen aus dem EU-Ausland genießen deshalb wie inländische juristische Personen unter den Voraussetzungen des Art. 19 III GG den Schutz der Grundrechte. 12

(4) Bestehen – wie im Regelfall – keine derartigen prinzipiellen Einwände gegen die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts, so kommt es für die wesensgemäße Anwendbarkeit des entsprechenden Grundrechts auf die juristische Person darauf an, ob es nicht nur individuell, sondern auch korporativ betätigt werden, d.h. kollektiv wahrgenommen werden kann22. So kann z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur von einer natürlichen Person geltend gemacht werden, während die von der Pressefreiheit geschützten Tätigkeiten auch von einem Unternehmen vorgenommen werden können.

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d) Juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften, Anstalten und Stif tungen des öffentlichen Rechts). Grundsatz: Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind grundsätzlich keine Träger materieller Grundrechte (h.M.), weil ihre Bildung und Betätigung prinzipiell nicht Ausdruck hinter ihnen stehender natürlicher Personen ist23 und damit die Grundrechte ihrem Wesen nach (Art. 19 III GG) nicht auf sie anwendbar sind. Juristische Personen des öffentlichen Rechts verdanken ihre Entstehung einem staatlichen Konstitutionsakt, und zwar regelmäßig in der Gestalt eines Gesetzes (sog. institutioneller Gesetzesvorbehalt). Außerdem werden sie in der Regel in Vollzug staatlich zugewiesener Kompetenzen tätig24 und üben staatliche Aufgaben, also grundrechtsunfähige Staatsgewalt aus.

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Ausnahmen:  Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten25 und die (für Aufsicht und Kontrolle privaten Rundfunks zuständigen) Landesmedienanstalten26 im Hinblick auf Art. 19 III i.V.m. Art. 5 I 2 GG;  Universitäten und Fakultäten27 im Hinblick auf Art. 19 III i.V.m. Art. 5 III GG;  Kirchen28 und sonstige, ihnen statusrechtlich gleichgestellte Religionsgesellschaften (Körperschaften des öffentlichen Rechts gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV). Wichtig: Kirchen und sonstige Religionsgesellschaften sind im Gegensatz zu Rundfunkanstalten/Landesmedienanstalten und Universitäten/Fakultäten univer-





20 BVerfGE 129, 78, 96. 21 BVerfGE 129, 78, 99 f. Diese Anwendungserweiterung sei durch die Zustimmung zu den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union gebilligt. 22 Vgl. BVerfGE 42, 212, 219. 23 Vgl. BVerfGE 75, 192, 196. 24 Vgl. BVerfGE 61, 82, 101; 68, 193, 206. 25 Vgl. BVerfGE 31, 314, 322; 78, 101, 102. 26 Streitig; zum Streitstand Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrecht, Rdnrn. 127, 374 ff. m.w.N. 27 Vgl. BVerfGE 15, 256, 262. 28 Vgl. BVerfGE 19, 1, 5; 19, 129, 132.

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Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG)

sell grundrechtsfähig, da sie ihre Aufgabenfelder frei bestimmen können und nicht wie andere juristische Personen des öffentlichen Rechts in Vollzug staatlich, d.h. gesetzlich zugewiesener Aufgaben tätig werden; daher können sie sich nicht nur auf Art. 19 III i.V.m. Art. 4 I, II GG, sondern etwa auch auf Art. 19 III i.V.m. Art. 12 I, 14 I GG berufen29. 15

e) Da Ausländer oder juristische Personen (des privaten oder öffentlichen Rechts) – mit Ausnahme der Kirchen – nur partiell grundrechtsfähig sind, muss also bei VB von Ausländern/juristischen Personen geprüft werden, ob sie in Bezug auf ganz bestimmte Grundrechte Grundrechtsfähigkeit besitzen. Hierfür ist erforderlich, dass die als verletzt in Betracht kommenden Grundrechte bereits im Rahmen des Prüfungspunkts „Parteifähigkeit“ erwähnt werden; sodann ist zu untersuchen, ob der Bf. Träger dieser Grundrechte und damit „jedermann“ ist.

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VB einer Aktiengesellschaft, die eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 12 I GG rügt: Die AG müsste gemäß § 90 I BVerfGG „jedermann“, d.h. Trägerin von Grundrechten sein. Diese Grundrechtsfähigkeit der AG als inländische juristische Person des Privatrechts (§ 1 I 1 AktG) könnte sich aus Art. 19 III GG ergeben. Dann müsste das als verletzt geltend gemachte Grundrecht aus Art. 12 I GG „seinem Wesen nach“ auf eine juristische Person anwendbar sein. Dafür ist entscheidend, ob Art. 12 I GG nicht nur individuell, sondern auch korporativ betätigt werden kann. Die Erwerbstätigkeit kann ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden, so dass Art. 12 I GG auf eine juristische Person anwendbar ist. Die AG ist in Bezug auf Art. 19 III i.V.m. Art. 12 I GG grundrechtsfähig und damit als „jedermann“ parteifähig.

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Beispiel

Sämtlichen juristischen Personen des öffentlichen Rechts kommt dagegen der Schutz der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Garantien des Art. 101 I 2, 103 I GG zugute30.

II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Zulässiger Beschwerdegegenstand sind gemäß § 90 I BVerfGG sämtliche Maßnahmen der „öffentlichen Gewalt“ (vgl. Art. 1 III, Art. 20 III GG). Unter „öffentlicher Gewalt“ versteht man31 die  Legislative (1. Gewalt);  Exekutive (2. Gewalt);  Judikative (3. Gewalt);  Rechtsakte der Europäischen Union32 . Das BVerfG überprüft Rechtsakte der Europäischen Union nicht mehr am Maßstab der Grundrechte, solange und soweit die Struktursicherungsklausel des Art. 23 I 1 GG gewahrt, d.h. insbesondere generell (nicht: in jedem Einzelfall; problematisch, vgl. sogleich) ein dem Grundgesetz im

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29 Vgl. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 19 Rdnr. 23; Remmert, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 Rdnr. 50. 30 Vgl. BVerfGE 61, 82, 104. 31 Vgl. BVerfGE 7, 198, 207. 32 Streitig; vgl. BVerfGE 89, 155, 175 in Abweichung zu BVerfGE 58, 1, 27; Stern, in: Bonner Kommentar, Art. 93 Rdnr. 612; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rdnrn. 331 ff.

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(Individual-)Verfassungsbeschwerde

Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz durch die Gerichte der Europäischen Union gewährleistet ist („Solange-Rechtsprechung“)33.  Erläuterung:  Zutreffend geht das BVerfG davon aus, dass prinzipiell auch Rechtsakte der Europäischen Union einer Überprüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes unterzogen werden können34. Wenn die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 I 2 GG Hoheitsrechte auf die Europäische Union überträgt und Unionsorgane zur Einwirkung auf die nationale Rechtsordnung legitimiert, dann muss sich das Unionsrecht prinzipiell auch am Grundgesetz messen lassen können35.  Im Interesse der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union, zu der sich das Grundgesetz in seiner Präambel sowie durch die Integrations- (Art. 23 I 1 GG: „wirkt … mit“) und Öffnungsklausel (Art. 23 I 2 GG) ausdrücklich bekennt, genießt das Unionsrecht prinzipiell (Anwendungs-)Vorrang vor nationalem (Verfassungs-)Recht (Vorrangprinzip): „Es sollen keine die Integration gefährdende Wirkungen dadurch eintreten, dass die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung durch unterschiedliche Anwendbarkeitsentscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte in Frage gestellt wird“36. Nach richtiger Ansicht ist das Prinzip vom (Anwendungs-)Vorrang nicht genuin unionsrechtlicher, sondern genuin verfassungsrechtlicher Natur37. Es wurzelt in der Präambel und in der Integrationsund Öffnungsklausel des Art. 23 I 1 und 2 GG.  Die Grenzen dieses Vorrangprinzips ergeben sich aus der Präambel des GG und aus Art. 23 I 3 GG in Verbindung mit Art. 79 II und III (Ewigkeitsgarantie) GG. Hieraus ergibt sich für die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des BVerfG: Kraft des (verfassungsrechtlichen) Vorrangprinzips könnte das BVerfG Rechts­ akte der Europäischen Union zwar überprüfen. Es übt seine am Maßstab der Grundrechte orientierte Jurisdiktion aber nicht aus. Die Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des BVerfG setzt(e) erst dann ein, wenn die Grenzen des (verfassungsrechtlichen) Vorrangprinzips überschritten sind, also insbesondere die Struktursicherungsklausel auf Verwirklichung drängt(e); ein angesichts der um stetige Grundrechtseffektuierung bemühten Rechtsprechung der Europäischen Gerichte eher hypothetischer Fall. Dabei geht das BVerfG davon aus, dass der erforderliche Grundrechtsstandard im Rahmen der Europäischen Union grundsätzlich gewährleistet ist38; es stellt strenge Begründungsanforderungen auf, wo­nach im Einzelnen dargelegt werden muss, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unter diesen Standard abgesunken ist39.  Fraglich und noch nicht abschließend entschieden ist, ob die Struktursicherungsklausel des Art. 23 I GG bereits dann gewahrt ist, wenn generell ein hin33 BVerfGE 73, 339, 387; 89, 155, 174 f. und 188; 102, 147, 164; siehe auch BVerfGE 118, 79, 95. 34 Vgl. BVerfGE 89, 155, 175. 35 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rdnr. 165. 36 BVerfGE 123, 267, 399. 37 Vgl. nur BVerfGE 123, 267, 402; Voßkuhle, NVwZ 2010, 1, 5. 38 Vgl. BVerfGE 73, 339, 378. 39 Vgl. BVerfGE 102, 147, LS 1 und 2.

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Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG)

reichender Grundrechtsschutz in der Europäischen Union besteht40, oder ob es darauf ankommt, dass auch in jedem konkreten (Einzel-)Fall der erforderliche Mindestgrundrechtsschutz gewahrt ist? Der auf den Schutz des Individuums gerichtete Schutzgedanke der Grundrechte legt es nahe, im Rahmen des Art. 23 I GG auf eine einzelfallbezogene Betrachtung abzustellen.  Fazit: Das Bundesverfassungsgericht prüft Akte der Organe der Europäischen Union prinzipiell nicht am Maßstab der Grundrechte, sondern nur dann, wenn die Struktursicherungsklausel des Art. 23 I 1 GG betroffen ist. Im Regelfall ist es allein Sache der Gerichte der Europäischen Union, für einen (hinreichenden) Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen der Organe der Europäischen Union Sorge zu tragen.  Innerstaatliche Rechtsakte, die auf Rechtsakten der Europäischen Union (mit oder ohne Gestaltungsspielraum) beruhen, sind Akte deutscher Staatsgewalt und damit tauglicher Beschwerdegegenstand. Die Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde kann sich insoweit unter einem anderen Gesichtspunkt, der Unanwendbarkeit der Grundrechte des GG, ergeben, was im Rahmen der Beschwerdebefugnis zu prüfen ist41. Sodann ist zu fragen, gegen welche Maßnahme sich der Bf. wendet und ob diese eine Maßnahme der 1., 2. oder 3. Gewalt darstellt.

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Hinweis:  Oftmals kommen mehrere Beschwerdegegenstände als Maßnahmen der „öffentlichen Gewalt“ in Frage. Wendet sich der Bf. beispielsweise gegen ein letztinstanzliches verwaltungsgerichtliches Urteil, so kommen als Beschwerdegegenstände neben diesem letztinstanzlichen Urteil auch die vorausgegangenen Entscheidungen der unteren Instanzen (Maßnahmen der Judikative), der behördliche Exekutivakt (Maßnahme der Exekutive) und ggf. die der Entscheidung zu Grunde liegende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (Maßnahme der Legisla­ tive) in Betracht. Wichtig: Der Bf. muss die letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung angreifen. Ob er zusätzlich auch die Gerichtsentscheidungen der Vorinstanzen, den Exekutivakt und die gesetzliche Grundlage anficht, bleibt ihm freigestellt42.

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Hinweis für die praktische Fallbearbeitung:  Beschränken Sie sich im Interesse eines mög lichst unkomplizierten Fallaufbaus auf die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung als Beschwerdegegenstand, zumal die verfassungsgerichtliche Überprüfung der letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung ohnehin zu einer Inzidentprüfung des Exekutivakts und der gesetzlichen Grundlagen führt (vgl. § 95 II, III 2 BVerfGG).

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1. Problem:  Stellen Rechtsverordnungen Maßnahmen der Legislative oder der Exekutive dar? (Bundes-)Minister/Bundes-, Landesregierung (vgl. für Verordnungen des Bundes Art. 80 I 1 GG) sind im organisatorischen Sinne Exekutivstellen. Ihnen sind jedoch durch die entsprechenden Delegationsgesetze (vgl. Art. 80 I 1 GG) Rechtsetzungsbefugnisse übertragen, so dass sie insoweit als Legislativorgan im funktionellen

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40 So BVerfGE 73, 339, 387; 89, 155, 174 f. und 188; 102, 147, 164; siehe auch BVerfGE 118, 79, 95. 41 Vgl. hierzu Rdnr. 43 ff. 42 Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 II Rdnr. 26.

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(Individual-)Verfassungsbeschwerde

Sinne betrachtet werden können. Es erhebt sich die Frage, ob „Gesetzgebung“ (Art. 1 III, Art. 20 III GG) im organisatorischen oder funktionellen Sinne zu verstehen ist. Das Tatbestandsmerkmal „Gesetzgebung“ knüpft an den Begriff des „Gesetzes“ an. Aus Art. 80 I 1 GG ergibt sich, dass der Begriff des „Gesetzes“ nur Parlamentsgesetze, nicht aber Verordnungen der Exekutive erfasst. Daher ist „Gesetzgebung“ (Art. 1 III, Art. 20 III GG) allein im organisatorischen Sinne zu deuten. Rechtsverordnungen sind als Maßnahmen der Exekutive Akte der „öffentlichen Gewalt“43. 23

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2. Problem:  Maßnahmen der Verwaltung in öffentlich-rechtlicher Handlungsform (Eingriffs- und Leistungsverwaltung) sind in jedem Fall Akte der öffentlichen Gewalt. Umstritten ist hingegen, ob auch privatrechtsförmliches Handeln von Verwaltungsträgern als Maßnahme der „öffentlichen Gewalt“ anzusehen ist?44 Herkömmlich werden die Möglichkeiten privatrechtlichen Verwaltungshandelns unterteilt in:  fiskalische Hilfstätigkeit der öffentlichen Hand (Beschaffungsverwaltung)45;  erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand46 ;  „Daseinsvorsorge“ der öffentlichen Hand.

» Erläuterung: 

Sofern die öffentliche Hand Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnimmt, sieht die h.M.47 zu Recht die in diesem Bereich staatlichen Handelns ergangenen Maßnahmen wegen funk­ tionaler Äquivalenz der in öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Handlungsformen erbrachten Leistungen (Stichwort: keine Flucht ins Privatrecht) als Akte der öffentlichen Gewalt an, die unmit­ telbar mit der VB angefochten werden können. Allerdings ist insoweit das Gebot der Rechtsweg­ erschöpfung i.S.d. § 90 II BVerfGG zu beachten, so dass – abgesehen von den Ausnahmefällen des § 90 II 2 BVerfGG – letztlich wiederum (wie oben für die praktische Fallbearbeitung empfohlen: nur) die Urteils-VB in Betracht kommt. Der Problemkreis „privatrechtsförmliches Handeln der öffentlichen Hand“ kommt daher weniger bei der Bestimmung des Beschwerdegegenstandes zum Tragen, sondern betrifft in erster Linie die Frage nach der Drittwirkung von Grundrechten48. Sofern die öffentliche Hand aber fiskalisch oder erwerbswirtschaftlich tätig wird, übt sie keine „öffentliche Gewalt“ aus. Der Begriff „öffentliche Gewalt“ erfasst nur das Sonderrecht des Staates, also das öffentliche Recht49. In diesem Bereich können staatliche Maßnahmen keinen tauglichen Beschwerdegegenstand einer VB bilden, also nicht unmittelbar mit der VB angegriffen werden. Dies bedeutet – entgegen teilweise verwirrender Äußerungen im Schrifttum – freilich nicht, dass in diesem Feld der Staatstätigkeit überhaupt keine VB zulässig ist: Dem Einzelnen verbleibt die Möglichkeit, vor den Fachgerichten um Rechtsschutz zu ersuchen und im Falle des Unterliegens im Wege der Urteils-VB das BVerfG anzurufen. Beschwerdegegenstand ist dann das letztinstanzliche zivilgerichtliche Urteil. Ob eine Grundrechtsverletzung möglich ist, betrifft die – auf der Ebene der Beschwerdebefugnis zu prüfende – Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte; insoweit bestehen keine Besonderheiten gegenüber einem „normalen“ Privatrechtsstreit, an dem der Staat nicht beteiligt ist.

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43 Vgl. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rdnr. 427. 44 Ausführlich Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rdnrn. 199 ff. 45 Str.; keinen Akt öffentlicher Gewalt annehmend Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 Rdnr. 175; bejahend dagegen Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 287. 46 Str.; alle „nicht-hoheitlichen“ Akte vom Begriff der öffentlichen Gewalt ausnehmend Sturm, in: Sachs, GG, Art. 93 Rdnr. 74; diese einschließend dagegen Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 287. 47 Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 II Rdnr. 25. 48 Dazu sogleich unten Rdnrn. 29 ff. 49 Anders Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 287; zu den widerstreitenden Argumenten erneut Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rdnrn. 201 ff.

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