Verena Schweizer Neurotraining

Verena Schweizer

Neurotraining Therapeutische Arbeit im kognitiven Bereich mit hirngeschådigten Erwachsenen

Theoretischer Teil unter Mitarbeit von D. Weniger Mit einem Geleitwort von W. M. Zinn

3., unverånderte Auflage Mit 110 Abbildungen, 5 Tabellen und 119 separaten Kopiervorlagen

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Verena Schweizer Leitende Ergotherapeutin Rheuma- und Rehabilitationszentrum Klinik Valens CH - 7317 Schweiz

ISBN 3-540-23627-9 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet çber http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschçtzt. Die dadurch begrçndeten Rechte, insbesondere die der Ûbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfåltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfåltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulåssig. Sie ist grundsåtzlich vergçtungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de ° Springer Medizin Verlag Heidelberg 1989, 1999, 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daû solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wåren und daher von jedermann benutzt werden dçrften. Produkthaftung: Fçr Angaben çber Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewåhr çbernommen werden. Derartige Angaben mçssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit çberprçft werden. Planung: Marga Botsch, Heidelberg Projekt Management: Claudia Bauer, Heidelberg Umschlaggestaltung: deblik, Berlin Satz: medionet AG, Berlin Druck: Mercedes-Druck, Berlin Gedruckt auf såurefreiem Papier

SPIN 11319160

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5 4 3 2 1 0

Wer das Ziel kennt, kann entscheiden. Wer entscheidet, findet Ruhe. Wer Ruhe findet, ist sicher. Wer sicher ist, kann çberlegen. Wer çberlegt, kann verbessern. Konfuzius

Vorwort zur 3. Auflage

Das Bedürfnis nach einem Therapiematerial, das sich für die therapeutische Arbeit mit hirngeschädigten Menschen im kognitiven Bereich eignet, war der Anlass zusammen mit Marl›ne Kohenof, Neuropsychologin, ein solches Programm zu entwickeln und schlieûlich zu veröffentlichen. Der darin verwendete Ansatz hat sich seither bestätigt und kann in der täglichen Arbeit immer wieder neu verifiziert werden. Die primäre Behandlung von Menschen nach einem Hirnereignis hat in den vergangenen Jahren groûe Fortschritte gemacht, und damit ist der Anspruch und die Bedeutung der anschlieûenden rehabilitativen Betreuung ebenso deutlich gewachsen. In diesem Zusammenhang ist die therapeutische Arbeit mit hirngeschädigten Menschen im kognitiven Bereich (NEUROTRAINING) zu einem wesentlichen Bestandteil der ganzheitlichen Rehabilitation geworden. Für die zweite Auflage (1999) wurden einzelne Kapitel des theoretischen Teils zusammen mit Dorothea Weniger überarbeitet: und das Kapitel ,,Erfassen eines Patienten mittels Neurotrainingsaufgabenª neu hinzugefügt; um Ihnen als Therapeutin die Einschätzung Ihrer Patienten zu erleichtern, wenn keine neuropsychologische Untersuchung zur Verfügung steht. Zudem wurde über eine Untersuchung berichtet, bei der einige Neurotrainingsaufgaben mit gesunden Versuchspersonen durchgeführt wurden, um Anhaltspunkte für die Beurteilung der Leistungen von Patienten zu erhalten. Im praktischen Teil wurden einerseits einige bestehende Aufgaben erweitert und andererseits neue Aufgaben eingefügt. Das Bedürfnis nach sorgfältig aufgebauten und erprobten Aufgaben ist nach wie vor vorhanden, und die Erfahrung in den vergangenen Jahren bestätigt, dass die Flexibilität in der Handhabung des Materials ein ganz wesentliches Qualitätsmerkmal des NEUROTRAININGS ist. Deshalb bleibt es auch in dieser 3. unveränderten Auflage ein Anliegen, den Schwerpunkt des Buches auf die Darstellung von therapeutischen Aufgaben zu legen, die sich individuell an die Fähigkeiten und Schwierigkeiten des Patienten anpassen lassen. Die vorgestellten Aufgaben und Übungen sollten Sie aber auch inspirieren, sie abzuändern, zu ergänzen und den Bedürfnissen der Patienten entsprechend kreativ zu gestalten. Bad Ragaz, 1. November 2004

Verena Schweizer

aVorwort zur 3. Auflage

VII

Geleitwort

Eine der wertvollsten epidemiologischen Studien, das Oxfordshire Community Stroke Project, berichtete 1983, daû 1,95 von 1000 Personen pro Jahr an einem ersten Schlaganfall (Apoplexie) erkranken. In dem gleichen Bericht werden 13 weitere zuverlässige epidemiologische Bevölkerungsstudien zitiert. Die geschätzte totale Inzidenz einschlieûlich der Rückfälle betrug 2,2 pro 1000 im Jahr. Aufgrund von zahlreichen anderen Studien in Groûbritannien, Dänemark, Finnland, der Schweiz und den USA darf angenommen werden, daû die Häufigkeit des Schlaganfalls in den Industriestaaten der westlichen Zivilisationen von Land zu Land nur geringen Schwankungen unterworfen ist. Extrapoliert auf die Schweiz würde dies bedeuten, daû wir in unserem Land pro Jahr etwa mit 12000 Patienten, die den ersten Schlaganfall oder einen Rückfall erleiden, zu rechnen haben. Angesichts der hohen Mortalitätsrate während der ersten 3 Monate nach dem Schlaganfall einerseits und der Tatsache, daû viele Patienten nur leicht erkranken und eine sehr gute spontane Regenerationstendenz zeigen andererseits, ist es nicht verwunderlich, daû nur ein Teil der Erkrankten besonderer rehabilitativer Maûnahmen bedarf. Trotzdem kann man mit Harris (1971) annehmen, daû den Schlaganfall überlebende Hemiplegiker etwa 25 % aller schwer behinderten Menschen in einer beliebigen Bevölkerungsgruppe in Westeuropa ausmachen. Eine detaillierte australische Studie ergab, daû man auf eine Bevölkerung von 100 000 Personen mit jährlich etwa 110 den Schlaganfall längere Zeit überlebenden neuen Schwerbehinderten rechnen muû, die dringend einer Krankenhausbehandlung oder einer Rehabilitation in einem spezialisierten Rehabilitationszentrum bedürfen. Bei einer Untersuchung in Azmoos/Kanton St. Gallen im Jahr 1966 fanden wir 1,7 % überlebende und mittelschwer bis schwer behinderte Hemiplegiker in der erfaûten Bevölkerung jenseits des vollendeten 5. Lebensjahrs. Es ist noch nicht lange her, daû sich unsere medizinischen Kliniken den Hemiplegikern gegenüber verunsichert und hilflos zeigten. Vielfach bedeutete der als Diagnose benutzte Terminus Hemiplegie ein Achselzucken. Daû es sich beim Schlaganfall um einen schwersten Insult der Gesamtpersönlichkeit handelt, wurde kaum verstanden. Nach zahlreichen Vorläufern war es schlieûlich der Begründer der modernen Neuropsychologie, der Russe A. R. Luria, der sich mit den intellektuellen Ausfällen und Verhaltensstörungen bei lokalisierten Hirnschäden und den Möglichkeiten einer Wiederherstellung höherer kortikaler Funktionen nach einem lokalen Hirnschaden befaûte. ¾hnliche Probleme und neuropsychologische Ausfälle zeigen sich aber auch bei Patienten mit Hirnverletzungen (Brooks 1986), wobei es sich in der Regel mehr um diffuse Hirnschäden oder Kombinationen lokalisierter mit diffusen Hirnläsionen handelt. Hirnverletzungen sind in den Ländern der westlichen Industrienationen ebenfalls wieder etwa aGeleitwort

IX

gleich häufig, da sowohl die physikalischen Gewalteinwirkungen wie die menschlichen Verhaltensweisen weitgehend identisch sind. Da die meisten Hirnverletzten Opfer nur relativ geringer Hirntraumata sind, bedürfen pro Jahr nur etwa 40 Hirnverletzte auf eine Bevölkerung von 100 000 Personen einer intensiven Rehabilitations- und Resozialisierungsbehandlung. Aufgrund der Bemühungen zahlreicher Vorläufer und dank dem Hauptanstoû von Luria und seinen Mitarbeitern wurden nach dem 2. Weltkrieg an verschiedenen Orten Neuropsychologen ausgebildet und neuropsychologische Abteilungen im Rahmen neurologischer und neurochirurgischer Kliniken und neurologischer Rehabilitationszentren geschaffen. Sie befaûten sich allerdings zunächst hauptsächlich mit der Erfassung und der Befundaufnahme kognitiver Funktionsausfälle ihrer Patienten und erarbeiteten, unter Benutzung bereits bewährter statistischer Testmethoden, neue, statistisch signifikante und gut reproduzierbare Evaluationstechniken. So wurde es zunächst einmal möglich, die durch einen Hirnschaden erlittenen intellektuellen bzw. kognitiven Störungen und die daraus resultierenden abnormen Verhaltensweisen statistisch und individuell zu untersuchen und zu interpretieren. Da uns sowohl der gesunde Menschenverstand wie auch die rasch zunehmenden Kenntnisse der Neurophysiologie und der Entwicklungspsychologie nahelegen, daû das zentrale Nervensystem prinzipiell plastisch, stark adaptionsfähig und damit insbesondere lernfähig ist, ist nicht einzusehen, warum in der Rehabilitation von Hirngeschädigten nur die physischen, vor allem sensorischen und motorischen Ausfälle behandelt und deren Restrukturation gefördert werden sollen. Ist überhaupt ein gröûerer oder kleinerer Rest von Lernfähigkeit erhalten, dann hat der Patient selbstverständlich auch ein Recht auf die Rehabilitation und Restrukturierung sozialer Verhaltensweisen und kognitiver bzw. intellektueller Funktionen. Stehen am Anfang nach einem schweren Hirnschaden Führungs- und Verhaltenstherapie im Vordergrund, so gewinnen ab der Wiederherstellung einer gewissen Planungsstufe neuropsychologisches Training und kognitive Schulung im Gesamtrehabilitationsprogramm immer mehr an Gewicht. Es ist das groûe Verdienst von Marl›ne Kohenof, leitender Neuropsychologin, und Verena Schweizer, leitender Ergotherapeutin der Interkantonalen Rehabilitationsklinik Valens, ein sinnvolles und individuell auf die Bedürfnisse der einzelnen Patienten abgestimmtes Neurotrainingsprogramm entwickelt zu haben. Es wurde im Rahmen einer relativ gut kontrollierten Studie im Vergleich zu einer statistisch entsprechend zusammengestellten Kontrollgruppe von Patienten der gleichen Klinik ohne Neurotraining auf seinen effektiven Wert hin untersucht. Nachdem sich das Neurotrainingsprogramm in bezug auf die Restrukturierung sinnvoller neuropsychologischer Funktionen als eindeutig wirksam erwiesen hatte, wurde es von Verena Schweizer in den folgenden Jahren mit gröûtem Interesse und mit Ausdauer zu einem äuûerst vielseitigen Gesamtprogramm weiterentwickelt. Nachdem Kohenof und Schweizer auf zahlreichen schweizerischen und internationalen Tagungen über ihre Ergebnisse berichtet und in ihren Spezialkursen eine groûe Zahl von Neuropsychologen und Ergotherapeuten in ihr Konzept eingeführt haben, wurde von den interessierten Fachkräften immer häufiger der Wunsch nach einer praktischen Einführung in dieses wichtige Teilgebiet der Neuropsychologie und Ergotherapie geäuûert. Dankenswerterweise haben sowohl Frau Schweizer wie der Springer-Verlag mit der vorliegenden Monographie diesen Wunsch erX

Geleitwort

füllt. Sie entsprechen damit nach über 15jähriger Grundlagenforschung und praktischer klinischer Arbeit auch einem meiner groûen Anliegen. Darum möchte ich ihnen hier auch meinen ganz persönlichen Dank aussprechen. Bad Ragaz, Herbst 1988

W. M. Zinn

Literatur

Badley EM, Thompson RP, Wood PHN (1978) The prevalence and severity of major disabling conditions ± A reappraisal of the Government Social Survey on the Handicapped and Impaired in Great Britain. Int J Epidemiol 7:145±151 Brooks N (1986) Closed head injury, Psychological, social, and family consequences. Oxford University Press, Oxford, New York, Toronto Christie D (1981) Prevalence of stroke and its sequelae. Med J Aust 2:182±184 Harris AI (1971) Handicapped and impaired in Great Britain. Part I. Office of Population Censuses and Surveys, London Luria AR, Naydin VL, Tsvetkova LS, Vinarskaya EN (1969) Restoration of higher cortical function following local brain damage. In: Vinken PJ, Bruyn GW (eds) Handbook of Clinical Neurology, Vol. 3. North Holland, Amsterdam, pp 368±433 Oxfordshire Community Stroke Project (1983) Incidence of stroke in Oxfordshire: First year's experience of a community stroke register. Br Med J 287:713±717 Sandercock PAG (1984) The Oxfordshire Community Stroke Project and its application to stroke prevention. DM Thesis, University of Oxford Sorensen PS, Boysen G, Jensen G, Schnohr P (1982) Prevalence of stroke in a district of Copenhagen. Acta Neurol Scand 66:68±81 Wade DT, Langton Hewer R (1987) Epidemiology of some neurological diseases, with special reference to work load on the NHS. Int Rehabil Med 8:97±144 Weddell JM, Beresford SAA (1979) Planning for stroke patients. A four year descriptive study of home and hospital care. Department of Health and Social Security, London Zinn WM (1979) Assessment, treatment and rehabilitation of adult patients with brain damage. Int Rehabil Med 1:3±10

aLiteratur

XI

Dank

Nach Beendigung der Arbeit an diesem Buch möchte ich all jenen danken, die mir in irgendeiner Art behilflich waren. Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Marl›ne Kohenof. Sie hat mich in all den Jahren unterstützt und gefördert. Sie initiierte den Aufbau des Neurotrainings, und nur dank ihr konnte dieses Buch geschrieben werden. Auch Herrn Dr. Wilhelm Zinn bin ich dankbar für seine Hilfe und Ermutigung. Mein Dank gilt auch der Klinik Valens sowie ihren Chefärzten Herrn Dr. F. Hasler und Herrn Dr. J. Kesselring für ihre Unterstützung und die Gewährung eines Arbeitsurlaubs. Meinen Kolleginnen Ortrud Eggers und Beatrice Kolhaupt danke ich für ihre Ermutigungen und ihre wertvolle fachliche Kritik. Auch meinem Schwager Reto Nüesch bin ich dankbar; er hat einen groûen Teil der Zeichnungen angefertigt. Ein herzliches Dankeschön allen Patienten, die durch ihre Mitarbeit und ihre Anregungen zur Entwicklung des Neurotrainings beitrugen. Nicht zuletzt danke ich auch dem Ergotherapieteam von Valens für seine Geduld und Rücksichtnahme während meiner Arbeit an diesem Buch. Bad Ragaz, Sommer 1988

Verena Schweizer

aDank

XIII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Theoretischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (In Zusammenarbeit mit D. Weniger)

1

1.1

Das Neurotraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.2

Ziel des Neurotrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1.3

Auswirkungen kognitiver Funktionsstörungen als Folge der Hirnschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1.4

Verhaltensveränderungen als Folge der Hirnschädigung . . .

5

1.5

Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstörungen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxien (Willkürmotorik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechenfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Planen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit/Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 7 7 8 9 11 11 11 12 13

1.6

Grundprinzipien des Neurotrainings . . . . . . . . . . . Vielseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der gut erhaltenen Funktionen . . . . . . . . Aufbau der gestörten Funktionen . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung der Lösungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . Klare Aufgabenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der kognitiven Flexibilität . . . . . . . . . . . Übertragung des Gelernten in andere Situationen . . Vermittlung von Erfolgserlebnissen/Vermeidung von Frustration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dauer des Neurotrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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19 20 20

1.7

Grundhaltung in der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1.8

Therapieplanung aufgrund neuropsychologischer Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1.9

Erfassung eines Patienten mittels Neurotrainingsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.10 Neurotrainingsaufgaben mit gesunden Versuchspersonen . . Lösungsverhalten in der Lernaufgabe ,,Rotes Mosaik: Gärtnereiª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungsverhalten ,,Hausmosaik: Tramlinienª . . . . . . . . . . . . Lösungsverhalten in der Stundenplanaufgabe ,,Musiklehrerinª aInhaltsverzeichnis

27 28 30 32 XV

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1.11 Herstellung von Therapiematerial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Kapitel 2 Praktischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2.1

Hinweise zum Gebrauch der Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Übungen bei Patienten mit Aphasie . . . . . . .

37 39

2.2 Therapieprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

2.3

Rotes Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gärtnerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zoo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zollfreilager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Safari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadtplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quadrat, kleines Rechteck, Dreieck, groûes Rechteck

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41 42 43 47 49 51 53 57 58 61

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63 63 65 67

2.5

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........................ Einkaufen . . . . . . . . . . . . . . . Stadtbesichtigung und Eilbote ........................

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2.9 Wohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 103 105

2.10 Stundenpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminkalender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 106

2.7

Hausmosaik . . . . . . . . . Muster finden . . . . . . . . Konzentrationsaufgaben Spiegelbild . . . . . . . . . . Bahnhofhalle . . . . . . . . Tramlinien 1 . . . . . . . . . Tramlinien 2 . . . . . . . . .

Stadtpläne Stadtplan 1: Stadtplan 1: Stadtplan 2

2.8 Banda . . . . . Wasserleitung Bodenheizung Parkanlage . .

Inhaltsverzeichnis

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2.4 Links-rechts-Übungen . . . . . . . . . . . . Links-rechts-Übung mit Büromaterial Links-rechts-Übungen mit Zeichnen . Links-rechts-Übung mit Bildern . . . . .

2.6 Labyrinth . . . Vorübungen . Ladenkette . . Stockwerk . . Appartement Kaufhaus . . . EFH-Siedlung

XVI

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Computer-Stundenplan Musiklehrerin . . . . . . . Arbeitseinteilung . . . . . Postschalter . . . . . . . . . Schnupperlehre . . . . . .

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2.11 Schweizer Bauernhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3 Arbeitsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

Kapitel 4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Bezugsquellen für Therapiematerial . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

aInhaltsverzeichnis

XVII

1 Theoretischer Teil (In Zusammenarbeit mit D. Weniger)

1.1 Das Neurotraining Als es vor über 20 Jahren darum ging, an der Klinik Valens hirngeschädigte Patienten mit kognitiven Funktionsstörungen sozial und möglichst auch beruflich wieder einzugliedern, fehlte es im deutschsprachigen Raum weitgehend an geeignetem Therapiematerial. Um Verbesserungen im kognitiven Bereich zu erzielen, muûte das Material einerseits auf die neuropsychologischen Testbefunde zugeschnitten und andererseits sollte es in seiner Komplexität abgestuft sein und sich den jeweiligen Bedürfnissen anpassen lassen. In enger Zusammenarbeit mit der Neuropsychologin Marl›ne Kohenof ist deshalb Therapiematerial entwickelt und ausgearbeitet worden, das dem Training gestörter Hirnfunktionen dient und nun in einer leicht erweiterten Form zugänglich gemacht wird. Da dieses Material auf einer klinisch orientierten Diagnostik beruht, wurde dessen therapeutischer Einsatz als ,,neuropsychologisches Trainingª oder abgekürzt ,,Neurotrainingª (NT) bezeichnet.  N Neues lernen.  E Erfahren, erleben, entscheiden.  U Überblick schaffen, umstellen.  R Rechnen.  O Organisieren.  T Therapeutische Führung.  R Raum erforschen, Raum erfahren.  A Alltag bewältigen.  I Interessen finden.  N Neglect kompensieren.  I Informationen aufnehmen, verarbeiten.  N Neigungen entdecken.  G Gedächtnis trainieren. Das Neurotraining, wie es konzipiert wurde, ging aus einer Verlaufsuntersuchung hervor, die zu Beginn der 70er Jahre vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wurde. Um die Wirksamkeit der damals eingesetzten therapeutischen Maûnahmen (Physio-, Ergo- und Sprachtherapie, jedoch ohne Neurotraining) zu ermitteln, ist eine erste Gruppe von 31 Patienten mit leichten bis mittelschweren kognitiven Funktionsstörungen beim Eintritt in die Klinik und nach einer anschlieûend 2 1/2 monatigen Behandlung neuropsychologisch untersucht worden. Verwendet wurde dabei die von Perret (1973) zusammengestellte Testbatterie. Der positive Einfluû der therapeutischen Behandlung sollte sich in einem entsprechend erhöhten Leistungsniveau äuûern. Ebenfalls von Interesse war, ob mögliche Leistungsverbesserungen auch andauern, d. h. sich auch Monate nach dem Klinikaufenthalt nachweisen lassen. Deshalb sind die Patienten zu einem dritten a1.1 Das Neurotraining

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Zeitpunkt neuropsychologisch untersucht worden, und zwar 2 1/2 Jahre nach der ersten Untersuchung. Die Testleistungen dieser Patienten sind mit den Leistungen einer Gruppe von 300 hirnorganisch gesunden Patienten verglichen worden. Dabei fielen die hirngeschädigten Patienten besonders durch Lern- und Gedächtnisschwächen sowie durch eine Verminderung der Umstellfähigkeit auf. Die Rückbildungsverläufe der traditionell behandelten Patienten sind dann herangezogen worden, um Therapiematerial zu erstellen, das spezifisch auf die anhaltenden kognitiven Defizite ausgerichtet ist. Mit dem Material sollten also vor allem verbesserte Lern- und Gedächtnisleistungen sowie eine erhöhte Umstellungs- und Konzentrationsfähigkeit erzielt werden. Eine zweite Gruppe von 39 hirngeschädigten Patienten erhielt neben der gängigen Behandlung zusätzlich 3- bis 4mal wöchentlich ein sog. Neurotraining. Bereits nach der 2 1/2monatigen Behandlungsphase zeigte sich ein allgemein besseres Hirnleistungsniveau im Vergleich zur Patientengruppe ohne Neurotraining; wobei in der initialen neuropsychologischen Untersuchung die beiden Gruppen vergleichbare Testbefunde aufwiesen. Weiter konnte eine deutlich verbesserte Qualität der Konzentrationsfähigkeit festgestellt werden. Diese Ergebnisse waren ermutigend und gaben Anlaû zur Vermutung, daû das Neurotraining die Rückbildung gestörter Hirnfunktionen günstig zu beeinflussen vermag. Die Gruppe der 31 Patienten ohne Neurotraining, die als Kontrollgruppe diente, setzte sich aus 17 Patienten mit einem Schädel-HirnTrauma und 14 Patienten mit einer vaskulär bedingten Hirnschädigung zusammen. In der Gruppe der 39 Patienten mit Neurotraining hatten 12 Patienten ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten; bei 27 Patienten war die ¾tiologie vaskulär. Die Stichprobe umfaûte also vier Patientengruppen: zwei mit und zwei ohne Neurotraining. Die Kenngröûen der vier Patientengruppen sind in Tabelle 1.1 zusammengefaût. Tabelle 1.1. Angaben zu den Patientengruppen Patienten mit einem SHT

Alter (in Jahren) Schulbildung (in Jahren) Krankheitsdauer (in Monaten) Zeit zwischen der 1. und 2. Untersuchung (in Tagen) Hemisyndrom: rechts (%) links (%) Gangstörung mit Ataxie (%) Gesichtsfeldeinschränkung (%) Sprech- und/oder Sprachstörung (%)

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Kapitel 1 Theoretischer Teil

Patienten mit Hirnschädigung vaskulärer ¾tiologie

mit Neurotraining (n = 12)

ohne Neurotraining (n = 17)

mit Neuroohne Neurotraining (n = 27) training (n = 14)

24 11

28 11

44 12

10,5

10,5

74

77

79

89

33 33 58

53 35 47

19 78 11

14 71 14

0

18

52

14

67

76

44

43

6,5

45 11 6,5

1.2 Ziel des Neurotrainings Ziel des Neurotrainings ist es, eine Wiederherstellung gestörter Hirnfunktionen zu erreichen, d. h. den Patienten in die Lage zu versetzen, möglichst viele seiner früheren Aktivitäten wieder ausführen zu können. Es geht dabei vor allem um eine Verbesserung des Hirnleistungsniveaus. Neben den einzelnen Hirnfunktionen werden beim Training auch Lernund Problemlösungsstrategien berücksichtigt. Da es bei der Ausführung vieler Tätigkeiten auf die Abfolge und Koordination einzelner (Hand-) Bewegungen ankommt, zielt das Training auch auf eine Verbesserung der motorischen Fertigkeiten. Um eine optimale soziale Reintegration des Patienten zu erreichen, werden beim Training auch Verhalten und Krankheitsverarbeitung thematisiert. Dem Patienten bietet das Neurotraining eine Gelegenheit, in geschützter Umgebung und unter therapeutischer Führung neue Erfahrungen zu machen. Um dem verunsicherten Patienten neues Selbstvertrauen zu geben, liegt der Schwerpunkt des Neurotrainings zunächst darin, Funktionsbereiche, welche vergleichsweise gut erhalten sind, hervorzuheben und zu stärken. Der nächste Schritt ist dann das gezielte Eingehen auf die gestörten Funktionen. Im Verlauf des Trainings lernt der Patient, wie mit seinen Schwierigkeiten umzugehen ist und wie diese sich eingrenzen und/oder kompensieren lassen.

a

Indem der Patient praktisch erfährt, welche Hirnleistungen intakt sind und wo seine Schwierigkeiten liegen, gelangt er zu einer besseren Selbsteinschätzung und Selbstakzeptanz, was sich positiv auf die weitere psychosoziale und berufliche Eingliederung des Patienten auswirkt. Durch die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Therapieinhalt kann beim Patienten ein Interesse für neue Gebiete geweckt werden. Er wird angeregt, beispielsweise über ein bestimmtes Thema ein Buch zu lesen, Bilder genau zu betrachten, eine Fernsehsendung anzuschauen oder sich vermehrt seiner Umgebung zuzuwenden. Dies ist von besonderer Bedeutung, da oft frühere Hobbys durch die Behinderung nicht mehr gepflegt werden können. Durch das Interesse am Inhalt erhöht sich auch die Lernbereitschaft und die Motivation. Der Patient soll ja wieder ,,lernen zu lernenª und die für ihn nun geeignetste Lernstrategie herausfinden und im Alltag anwenden. Lernen bedeutet in diesem Fall die Verknüpfung und Anpassung alter Erfahrungen an neue Situationen.

1.3 Auswirkungen kognitiver Funktionsstærungen als Folge der Hirnschådigung Hirnschädigungen unterschiedlichster Art führen nicht selten zu kognitiven Funktionsstörungen. Die Patienten haben Mühe, sich zu konzentrieren, weisen verminderte Lern- und Gedächtnisleistungen auf, sind nur noch bedingt in der Lage, alltägliche Verrichtungen zielorientiert auszuführen, haben Schwierigkeiten in der räumlichen Orientierung (finden beispielsweise den Weg vom Arztbüro in ihr Krankenzimmer a1.3 Auswirkungen kognitiver Funktionsstærungen als Folge der Hirnschådigung

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nicht mehr) und erkennen vertraute Personen und Situationen kaum mehr. Manche Patienten können sich nur noch in eingeschränktem Maûe sprachlich mitteilen und verstehen gesprochene wie geschriebene Wörter und Sätze unvollständig. Eine Störung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit fällt unmittelbar auf, zumal die Sprache unser eigentliches Kommunikationsmittel ist. Demgegenüber werden Gedächtnisstörungen, Schwierigkeiten in der räumlichen Orientierung und in der Planung sowie Durchführung von Handlungsabläufen nicht immer von den Patienten und ihren Angehörigen sofort erkannt oder vorerst nicht als solche eingeschätzt. So bemerkte z. B. die Ehefrau eines ehemaligen Professors, dem der Gebrauch von Zahnbürste und Zahnpaste nicht mehr zugänglich war, daû ihr Mann schon vorher ungeschickt und zerstreut gewesen sei. Je nach Art und Schweregrad der Funktionsstörung treten die Ausfälle bereits in vertrauten Alltagssituationen auf, die früher mühelos bewältigt wurden. Manchmal werden sie aber erst wahrgenommen, wenn erhöhte Anforderungen gestellt werden, d. h. wenn bei der Lösung einer Aufgabe mehrere Faktoren gleichzeitig zu beachten sind oder die Lösung innerhalb einer bestimmten Zeit zu erbringen ist. Kognitive Funktionsstörungen sind nicht nur mit folgenreichen Einschränkungen im selbständigen Handeln verbunden, sie wirken sich auch auf das Verhalten aus. Manche Patienten, die im beruflichen und/ oder familiären Alltag gewohnt sind, eine Führungsrolle einzunehmen, neigen dazu, ihre offenkundigen Ausfälle zu bagatellisieren und als eine momentane Unachtsamkeit abzutun; durch diverse Ausweichmanöver werden die kognitiven Funktionsstörungen zuweilen auch überspielt. Andererseits haben Angehörige, unvertraut mit den verschiedenen Folgen einer Hirnschädigung, oft Mühe, das Unvermögen des Erkrankten richtig einzuschätzen und es nicht für Unwilligkeit oder gar Böswilligkeit zu halten. Gerade zu Beginn der Erkrankung ist es meist recht schwierig, die Leistungsfähigkeit eines Patienten angemessen einstufen zu können, weil sie hirnorganisch bedingt sehr schwankend ist. Was heute gelingt, gelingt nicht zwingend auch morgen, und zwar trotz dem redlichen Bemühen des Patienten, die gleiche Leistung nochmals zu erbringen. Das unerwartete Gelingen einer alltäglichen Verrichtung darf aber auch nicht zur ,,Meûlatteª erhoben werden. Die Freude über den Erfolg sollte nicht zu erhöhten Anforderungen anspornen; langfristig hat dies oft Frustration zur Folge. Die plötzliche Einbuûe körperlicher Fertigkeiten und intellektueller Fähigkeiten macht zunächst hilflos und unsicher. Ausführliche Gespräche darüber, wie sich die jeweiligen Funktionsausfälle im Alltag zeigen und wie mit ihnen am besten umzugehen ist, wirken nicht nur klärend, sondern können auch dazu beitragen, daû es nicht zu Verhaltensweisen kommt, welche die Krankheitsverarbeitung unnötig belasten. Nicht selten wird die Krankheitsverarbeitung durch eine gesellschaftlich bedingte Wertauffassung erschwert: Liegt eine Lähmung vor, erfährt der Betroffene Verständnis für seine Behinderung, da sie ,,bloûª eine Einschränkung der körperlichen, nicht aber der intellektuellen Leistungsfähigkeit signalisiert. Demgegenüber stöût eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten nicht immer auf das erforderliche Verständnis. Diese ist meist nicht unmittelbar zu erkennen, so daû der Anschein völliger Gesundheit entsteht oder der Verdacht erweckt wird, daû das Unvermögen nur vorgetäuscht ist. Eine Verminderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit wird aber auch als Makel empfunden, da sie gesellschaftlich als Disqualifizierung gewertet wird. 4

Kapitel 1 Theoretischer Teil

1.4 Verhaltensverånderungen als Folge der Hirnschådigung Hirnschädigungen sind oft mit einer Veränderung der Persönlichkeit verbunden. Die beobachteten Wesensveränderungen können einerseits psychoorganisch bedingt, andererseits aber auch Ausdruck einer psychischen Reaktion auf das Ereignis sein. Ohne entsprechende Fachkenntnisse ist es recht schwierig, zwischen diesen beiden Ursachen der Wesensveränderung zu differenzieren. Im Hinblick auf einen verständnisvolleren Umgang mit hirngeschädigten Menschen seien hier einige Veränderungen angeführt:  Prämorbide Persönlichkeitsmerkmale können nach einer Hirnschädigung stärker hervortreten. Wesenszüge, die vor der Erkrankung allseits groûe Anerkennung fanden, wirken jetzt durch Übersteigerung manchmal negativ. So entwickelte sich z. B. bei einem Bauführer, der wegen seiner exakten und zuverlässigen Arbeitsweise in seinem Beruf sehr geschätzt wurde, diese positive Eigenschaft nach einem Hirntrauma zu einer Pedanterie, die den Patienten wie seine Umgebung belastete.  Mangelnde Krankheitseinsicht und Euphorie wirken sich erschwerend auf das soziale Beziehungsnetz aus. Ein Patient, der seine Ausfälle negiert, sieht den Sinn von therapeutischen Maûnahmen oft nicht ein. Aufgaben werden mit Bemerkungen wie ,,das habe ich schon früher nicht gekonntª, ,,dafür habe ich nie ein Interesse gehabtª abgelehnt. Da hilft es oft wenig, in langen Diskussionen den Patienten auf seine Defizite aufmerksam zu machen. In solchen Situationen ist mehr dadurch zu erreichen, daû man den Patienten in die Planung der Therapie einbezieht und versucht, ihn dadurch zur Mitarbeit zu motivieren.  Antriebsverminderte Menschen brauchen viel Stimulation. Sie sind kaum in der Lage, von sich aus etwas zu unternehmen, eine alltägliche Tätigkeit auszuführen. Bei jedem Handlungsschritt bedarf es einer ausdrücklichen Aufforderung. Für Angehörige wie Betreuungspersonal ist dies zuweilen schwer nachvollziehbar. Oft hört man dann ¾uûerungen wie: ,,Er könnte schon, wenn er nur wollte, er hat halt kein Interesse (mehr) an solchen Dingenª. Solche ¾uûerungen tun diesen Patienten unrecht. Es fehlt ihnen nicht an der Motivation, aber sie brauchen zur Ausführung einer Tätigkeit eine Anregung von auûen. Antriebsstörungen können auch Ausdruck einer Depression sein.  Menschen, die unter Affektlabilität leiden, können ihre Gefühle nicht mehr steuern. Ein Wort oder der Anblick eines zufällig daliegenden Gegenstandes können lautes Lachen oder heftiges Weinen auslösen. Oft tritt dieses Lachen oder Weinen ohne erkennbare äuûere Ursache auf. Wird eine Ablenkung angeboten, hört das Lachen oder Weinen rasch auf. Diese Affektlabilität hat nichts mit einer Depression zu tun; antidepressive Medikamente sind hier auch nicht von Nutzen. Auf das unkontrollierte Weinen reagiert die Umwelt meist mehr mit verständnisvoller Anteilnahme als beim unkontrollierten Lachen. Das unkontrollierte Lachen wird von der Umwelt, aber oft auch vom betroffenen Patienten, eher als unangenehm erlebt. Es kann jedoch zuweilen als solches ,,verkanntª werden. Beispielsweise meinte eines Tages ein Patient, der bei seinen Betreuern den Eindruck eines fröhlichen und gut gelaunten Menschen erweckte, weil er häufig in Lachen ausbrach: ,,Wissen Sie, alle meinen, es gehe mir recht gut, weil ich viel lache. Ich kann dieses Lachen aber nicht unterdrücken. Oft lache ich über Dinge, die ich gar nicht lustig finde und die mich zutiefst berühren. a1.4 Verhaltensverånderungen als Folge der Hirnschådigung

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Dies stört mich sehrª. Ein anderer Patient äuûerte sich treffend: ,,Ich möchte gar nicht lachen; es lacht mit mirª. Zuweilen äuûert sich die Affektlabilität in aggressiven Ausbrüchen. Menschen, die vor dem Ereignis bereits aufbrausend waren, können nachher zu heftigen, unkontrollierbaren Reaktionen neigen. Diese Ausbrüche sind manchmal auch Ausdruck von Gefühlen der Ohnmacht, beispielsweise wenn sich der Patient wegen seines Sprachverlustes nicht mehr anders wehren kann. Viele Patienten klagen auch über eine erhöhte Reizbarkeit. Sie werden schnell ungeduldig und reagieren empfindlich auf Straûenlärm, Menschenansammlungen, Kindergeschrei etc. Sie vertragen keine Streûsituationen und können nicht mehr unter Zeitdruck arbeiten. Kognitive Ausfälle können zu schweren Lebenskrisen führen, die mit reaktiven Depressionen verbunden sind. Verhaltenstherapeutische Maûnahmen, die der Krankheitsverarbeitung dienen, können in solchen Fällen hilfreich sein. Nach einem Hirntrauma ist manchmal eine Abflachung der Gefühle zu beobachten. Die Patienten wirken teilnahmslos und gleichgültig, die Mimik ist verarmt, das Sprechen monoton und der Gesamteindruck aspontan. Diese Menschen können ohne sichtbare innere Beteiligung über traurigste Ereignisse berichten. Sie sind wie ,,emotionell nicht beteiligtª. So berichtet eine junge Patientin, daû sie sich seit dem Hirntrauma nicht mehr richtig freuen könne. Aber auch Leid könne sie nicht mehr empfinden; nicht einmal der Tod eines Bruders habe sie getroffen. Seit dem Unfall habe sie nicht mehr geweint. Sie nehme irgendwie am Leben nicht mehr richtig teil.

Eine Hirnschädigung bringt einschneidende Veränderungen der Lebenssituation mit sich, und zwar für den Betroffenen wie für seine Angehörigen. So steht z. B. die Ehefrau eines Mannes, der vor seinem Hirnschlag als Abteilungsleiter gewohnt war, zu organisieren und zu bestimmen, völlig hilflos vor Aufgaben, die sie unvorbereitet übernehmen muû. Alle finanziellen Entscheidungen hatte sie ihrem Mann überlassen, der nun eine rechtsseitige Hemiplegie mit Aphasie hat und sich überflüssig vorkommt, weil er ihr dabei nicht helfen kann. Solche Veränderungen wirken sich auf das Rollenverhalten in der Partnerschaft und in der Familie aus. Dies wiederum hat psychische Reaktionen zur Folge, und zwar vom gesunden wie auch vom betroffenen Familienmitglied und verlangt von allen Beteiligten eine Anpassung an die veränderte Situation, was sich nicht selten als ein schwerer Prozeû erweist.

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Psychoorganische Veränderungen sind beim Therapieaufbau ebenfalls zu berücksichtigen. Sie lassen sich positiv beeinflussen durch eine gute Gestaltung der Lernmöglichkeiten sowie durch ein verständnisvolles Therapeutenverhalten.

1.5 Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstærungen Zur diagnostischen Erfassung kognitiver Funktionsstörungen liegen seit Jahren klinisch orientierte Testverfahren vor, die meist auch standardi6

Kapitel 1 Theoretischer Teil

siert sind, d. h. die allgemeinen Kriterien der psychologischen Diagnostik erfüllen (Spreen u. Strauss 1991; Ellis u. Young 1991; von Cramon et al. 1995). Seit den 80er Jahren bemühen sich vor allem kognitive Psychologen darum, die verschiedenen kognitiven Störungsbilder anhand differenzierter Verarbeitungsmodelle zu erfassen, um Aussagen über den funktionalen Ort der Störung machen zu können. Gestützt auf diese Verarbeitungsmodelle sind denn auch theorieorientierte Behandlungsverfahren entwickelt worden, deren Wirksamkeit meist nur an ausgewählten Patienten aufgezeigt wurde (Riddoch u. Humphreys 1994).

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Neuropsychologische Befunde bilden die Grundlage für das in diesem Buch dargelegte Neurotraining. Auch wenn Ergotherapeutinnen diese Befunde nicht selber erheben, sollten sie doch einige Kenntnisse von den durchgeführten Tests haben. Sie sollten wissen:  wie die einzelnen Funktionen geprüft werden,  was für Funktionen mit einem bestimmten Test geprüft werden (d. h. wofür ein bestimmter Testname steht),  was es bedeutet, wenn eine Funktion normal, leicht oder schwer gestört ist,  wie sich die Störungen im Alltag auswirken. Nachfolgend werden einzelne Hirnfunktionen sowie Hinweise auf einige Verfahren, die zur Prüfung dieser Funktionen in der klinischen Diagnostik verwendet werden, dargestellt. Neuropsychologische Testverfahren sind ausführlich beschrieben in Beaumont (1987), Spreen u. Strauss (1991) sowie in von Cramon et al. (1995).

Orientierung Mit kurzen Fragen zur Person (z. B. Alter, Beruf) und zu bestimmten zeitlichen (z. B. Wochentag, Jahreszeit) wie örtlichen (z. B. Wohnort, Arbeitsplatz) Gegebenheiten wird ermittelt, ob der Patient orientiert ist. Oft wähnt sich der Patient in der Vergangenheit und realisiert ¾nderungen nicht. Dabei spielt das Gedächtnis eine maûgebende Rolle. Bei aphasischen Patienten läût sich die Orientierung mit sprachlichen Mitteln (Frage ± Antwort) schwer erfassen. Die sprachliche Ausdrucksstörung dieser Patienten kann nur bedingt mit Entscheidungsfragen (ja/nein) umgangen werden. Oft ist eine mangelhafte Orientierung die Folge einer diffusen Hirnleistungsschwäche, die unmittelbar nach dem Ereignis auftreten kann. Mit der Verbesserung des Allgemeinzustandes und der therapeutischen Behandlung bildet sich diese mit der Zeit teilweise oder ganz zurück. Übrig bleiben dann die spezifisch gestörten Funktionen.

Raumsinn Ein gestörter Raumsinn behindert sehr im Alltag. Je nach Schweregrad der Ausfälle sind folgende Funktionen mehr oder weniger betroffen:  Das Herstellen von Beziehungen zwischen dem eigenen Körper und der Umgebung bzw. zu Gegenständen (z. B. etwas Groûes oder Unförmiges durch einen engen Durchgang tragen ohne anzustoûen). a1.5 Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstærungen

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 Die Lokalisation von Elementen und Gegenständen und ihre gegenseitige Beziehung.  Die Orientierung in fremder Umgebung (z. B. WC in einem Restaurant aufsuchen).  Der Umgang mit einem Plan (z. B. Stadtplan, Fahrplan).  Die räumliche Zuordnung von Einzelteilen und/oder ihre Zusammenfügung, wie es beim Zeichnen und Bauen erforderlich ist (z. B. Schnittmusterteile möglichst stoffsparend aufstecken; die richtige Papiergröûe für ein Paket zuschneiden).  Der Umgang mit räumlichen Begriffen wie rechts/links, oben/unten, hinten/vorn. Bei der visuell-räumlichen Wahrnehmung geht es um die Fähigkeit, visuelle Vergleiche räumlicher Reize herzustellen, und zwar ohne manuelle Manipulation, z. B. Einschätzen von Längen oder Distanzen, Winkelschätzung (wichtig beim Ablesen einer analogen Uhr), Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Objekten im Raum. " " " "

Linienorientierung (Benton et al. 1993). Vergleich unterschiedlicher Neigungswinkel. Linienhalbierung. Halbieren von parallel angeordneten horizontalen Linien, die von unterschiedlicher Länge sind. Benton-Test (Benton 1993). Vergleichen von einfachen geometrischen Figuren mit ähnlichen Vorlagen. Visuell-räumliche Wahrnehmung (,,Spatial Sª, nach Thurstone 1962). Erkennen von geometrischen Formen, die entsprechend der Vorlage im Uhrzeigersinn gedreht sind. Räumlich-konstruktive Fähigkeiten sind mit manuellen Leistungen verbunden, d. h. sie erlauben, Elemente räumlich zu organisieren, wie dies beim Bauen oder Zeichnen der Fall ist. Einzelteile können zu einem Ganzen zusammengefügt (z. B. einzelne Bretter zu einer Kiste zusammenfügen) oder etwas Ganzes in Einzelteile zerlegt werden (konstruktivpraktisch).

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Mosaik-Test nach HAWIE: Farbige Würfel werden nach Vorlage zusammengesetzt. Bender-Gestalttest: Einfache Figuren werden der Reihe nach abgezeichnet. Rey-Osterrieth-Figur (Osterrieth 1944): Eine komplexe Figur wird abgezeichnet, was eine gute visuell-räumliche Organisation sowie gute konstruktive Fähigkeiten voraussetzt. Einige Zeit später erfolgt der spontane Spätabruf derselben Figur, was das figurale Langzeitgedächtnis zu erfassen erlaubt.

Praxien (Willkçrmotorik) Hier geht es vorwiegend um die klinischen Störungsbilder der ideomotorischen und/oder ideatorischen Apraxie. Bei der ideomotorischen Apraxie ist die Fähigkeit beeinträchtigt, Anweisungen, wie z. B. den Kopf von links nach rechts zu drehen (z. B. zur Verneinung), sich mit dem Zeigefinger an die Stirn zu tippen (als Zeichen dafür, daû jemand einen ,,Vogelª hat) praktisch auszuführen. Bei der ideatorischen Apraxie können Anweisun8

Kapitel 1 Theoretischer Teil

gen, die mit einer bestimmten Abfolge der Handlungsschritte verbunden sind (z. B. eine Kerze anzünden), nicht mehr korrekt ausgeführt werden.

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Beispiel

Eine Apraxie beeinträchtigt die Ausführung von Bewegungen mit oder ohne Objekt, ohne daû eine Lähmung vorliegt. Häufig ist der unwillkürliche (automatisierte) motorische Ablauf einer alltäglichen Verrichtung jedoch möglich. Ein Patient mit einer Apraxie hat Mühe, Einzelbewegungen zu Bewegungsfolgen zusammenzusetzen. Er nimmt Gegenstände ungeschickt in die Hände, weiû nicht mehr, was zweckmäûig mit ihnen zu machen ist. Er kann Schwierigkeiten haben, die für eine bestimmte Tätigkeit richtigen Werkzeuge auszuwählen, Handlungsfolgen werden ratlos abgebrochen. Verbale Anleitungen helfen dabei wenig.  Ein Patient will sich die Zähne putzen. Er schraubt die Zahnpastatube auf und schmiert sich die Zahnpasta in die Haare statt auf die Zahnbürste.  Aufgefordert sich zu kämmen, nimmt eine Patientin den Kamm und dreht ihn in der Hand herum, legt ihn wieder auf den Tisch und schaut verlegen um sich.

Lernen und Gedåchtnis

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Lernen ist die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und diese so abzuspeichern, daû sie unterschiedlich kombiniert wieder verwendet werden können. Eine Störung der Lernfähigkeit erschwert die therapeutische Behandlung in dem Sinne, daû Ziele tiefer gesteckt werden müssen. Durch die veränderte Situation, die eine Hirnschädigung mit sich bringt, ist der Betroffene gezwungen, Neues bzw. Umwegstrategien zu lernen. Gelingt dies wegen schwerer Lern- und Gedächtnisstörungen nicht mehr, bleibt fast nur die Konditionierung. Verbaler Bereich, Wortpaare lernen nach Wechsler (1970): 10 Wortpaare müssen gelernt werden. Sie werden 3mal vorgelesen. Nach jedem Vorlesen wird das erste Wort des Paares gegeben und der Patient ergänzt mit dem zweiten Wort. Vom ersten bis zum dritten Durchgang sind immer mehr Wortpaare richtig zu ergänzen. Ein stagnierendes Lernen oder eine regressive Lernkurve, z. B. bessere Resultate im 2. Lernschritt als im 3., werden als Hinweis für eine Lernschwäche im Sprachbereich interpretiert. Figuraler Bereich, Labyrinth-Test: Ein vorgezeigter Weg durch ein Labyrinth soll nach möglichst wenigen Versuchen richtig nachgezeigt werden. Hinweise des Versuchsleiters müssen dabei berücksichtigt werden. Eine Perseverationstendenz (die Wiederholung des gleichen Fehlers am gleichen Ort) oder der fehlende Überblick über die Gesamtsituation durch Neglect oder Hemianopsie erschweren oder verunmöglichen dieses Lernen. Zum Gedächtnis gehört die Speicherung und das Abrufen von Informationen. Dabei wird zwischen einem Kurzzeitgedächtnis, zuweilen auch Arbeitsgedächtnis genannt, (einige Sekunden bis 1 min) und einem Langzeitgedächtnis (Minuten bis Jahrzehnte) unterschieden. Dieses wird wie folgt unterteilt: a1.5 Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstærungen

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 Deklaratives (explizites) Gedächtnis, das ein episodisches und ein semantisches Gedächtnis umfaût. Das semantische Gedächtnis setzt sich aus Informationen zusammen, die als Allgemeinwissen gelernt wurden (z. B. Wortbedeutungen). Die Inhalte des episodischen Gedächtnisses stehen in Beziehung zu persönlichen autobiographischen Daten (z. B. wo ich letztes Jahr in den Ferien war).  Prozedurales (implizites) Gedächtnis: Dieses umfaût Fertigkeiten (,,skillsª), die ohne viel Nachdenken ausgeführt werden. Man braucht kein genaues Wissen ,,wieª man etwas macht (z. B. Schuhe binden). Die Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses sind dem Bewuûtsein wenig zugänglich.  Prospektives Gedächtnis (zukunftbezogenes Gedächtnis): z. B. das Erinnern von Terminen. Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis werden mit unterschiedlichen Tests erfaût.

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Kapitel 1 Theoretischer Teil

"

Kurzzeitgedächtnis: " Sprachlich: z. B. Zahlennachsprechen nach HAWIE: Dies entspricht einer sofortigen Aufnahmefähigkeit, die nur eine geringe kognitive Verarbeitung erfordert. Die Wiedergabe von Informationen erfolgt spontan ohne differenzierte Transformation und Strukturierung. Die Aufnahme der Information setzt neben einer zuverlässigen Wahrnehmungsmodalität eine ausreichende Konzentration voraus. Sie suchen z. B. eine Adresse aus dem Telefonbuch, merken sich diese, schlieûen das Buch und schreiben sie auswendig auf den Briefumschlag. " Visuell-räumlich: Corsi-Block-Tapping-Aufgabe: Holzblöcke, die auf einem Brett befestigt sind, werden vom Untersucher in festgelegter Reihenfolge angetippt, anschlieûend ist diese Reihenfolge vom Patienten korrekt zu reproduzieren.

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Langzeitgedächtnis: " Sprachlich: Kurze Geschichten nach Wechsler (1970): Zwei kurze Geschichten werden vorgelesen und sollen sofort nach der Darbietung möglichst wörtlich nacherzählt werden. Dies setzt eine zuverlässige Aufnahme der Information voraus, ebenfalls eine ausreichende sprachliche Ausdrucksfähigkeit sowie auch die Fähigkeit, gespeicherte Informationen abzurufen. Nach 1 1/2 h soll der Patient die Geschichten nochmals wiedergeben. Der Unterschied zwischen einer sofortigen zuverlässigen Wiedergabe und einer späteren mangelhaften entspricht einer klassischen Gedächtnisstörung. " Die spätere Wiedergabe der vorher gelernten Wortpaare gibt ebenfalls Hinweise auf die Qualität des verbalen Gedächtnisses. " Figural: Figurenerkennen: 12 einfache Figuren sollen nach einer Einprägungszeit aus einer gröûeren Auswahl wiedererkannt werden, dann nochmals 1 1/2 h später. (Für eine figurale Lernschwäche spricht vor allem eine schlechte Leistung bei der sofortigen Wiedergabe). " Rey-Osterrieth-Figur (Osterrieth 1944), die zur Erfassung visuokonstruktiver Leistungen gebraucht wird, soll spontan nach einer bestimmten Zeit reproduziert werden (Gedächtnisleistung).

Sprache Zu den Sprachfunktionen zählen die rezeptive und expressive Verarbeitung von gesprochener und geschriebener Sprache:  das auditive Sprachverständnis,  das Lesesinnverständnis,  das Benennen,  das Nachsprechen,  das laute Lesen  sowie das Schreiben. "

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Der Aachener Aphasietest (AAT, Huber et al. 1983) erfaût die Spontansprache und die einzelnen sprachlichen Funktionen aufgrund bestimmter sprachlicher Kriterien. Der Test erlaubt eine psychometrisch abgestützte Verlaufskontrolle. Der Token-Test (nach de Renzi u. Vignolo 1962) ermöglicht rasch eine Aphasie und deren Schweregrad zu ermitteln. Plättchen von unterschiedlicher Gröûe (kleine und groûe) und Form (Kreise und Vierecke) in 5 Farben liegen vor dem Patienten. Es sind verschiedene Anweisungen von unterschiedlicher Komplexität auszuführen, z. B.: ,,Berühren Sie den blauen Kreisª, oder: ,,Nehmen Sie den groûen blauen Kreis und das kleine rote Viereckª.

Rechenfåhigkeit "

Zur Erfassung des Umgangs mit Zahlen und der Rechenfähigkeit (mündlich und schriftlich) eignet sich eine Testbatterie, die im Rahmen eines von der EU geförderten Projektes erarbeitet wurde (Deloche u. Seron 1989, deutsche Adaptation: Claros-Salinas 1991). Neben Störungen in der Ausführung von Rechenoperationen können visuell±räumliche Beeinträchtigungen sowie ein Neglect das schriftliche Rechnen erschweren.

Denken Von Cramon et al. (1995) unterscheiden verschiedene Formen des Denkens:  Das problemlösende Denken umfaût die Bearbeitung einer Aufgabe, bei der gewisse Teilaspekte zu beachten sind und deren Lösung nicht unmittelbar ersichtlich ist. Es wird weiter zwischen einem induktiven und einem deduktiven Denken differenziert.  Beim induktiven Denken handelt es sich um die Fähigkeit, aus spezifischen Erfahrungen allgemeine Regeln oder Gesetzmäûigkeiten abzuleiten und auf neue Sachverhalte zu übertragen. Es erlaubt eine strukturierte Verarbeitung und Organisation des Lernmaterials in dem Sinne, daû erworbene Kenntnisse mit neu vorliegenden Sachverhalten verknüpfbar werden.  Beim deduktiven (schluûfolgernden) Denken führt die Analyse eines Sachverhaltes zu Erkenntnissen über die Struktur bzw. Organisation des Sachverhaltes als Ganzes.

a1.5 Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstærungen

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Störungen im konzeptuellen Denken und in der Umstellfähigkeit beeinflussen die gesamte Hirnleistungsfähigkeit. Liegt eine Denkstörung vor, vermag der Patient ein Problem nur noch in eingeschränktem Maûe zielorientiert anzugehen. So wird beispielsweise an einem verfolgten Lösungsweg festgehalten, auch wenn sich dieser als untauglich erweist. "

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Standard Progressive Matrices (SPM) von Raven (1956): Eine Vorlage von einfachen geometrischen Formen ist zu ergänzen mit einer Form, die in einer Auswahlsmenge zu identifizieren ist. Die Aufgabe erfordert neben visuell-räumlichen Fähigkeiten auch die Fähigkeit, logische Schluûfolgerungen zu ziehen. Beim Wisconsin Card Sorting Test (WCST) (Grant u. Berg 1948, Lezak 1983) geht es um das Erkennen von visuellen Merkmalen, die der Kategorienbildung dienen. Aufgabe des Patienten ist es, die mit diesen Merkmalen gebildeten Kategorien zu erkennen.

Planen und Handeln Planen bedeutet die zeitliche wie visuell-räumliche Organisation eines Handlungsablaufes. Einzelne Handlungsschritte müssen auf ihre Folgen hin geprüft und zu einem zweckmäûigen Ganzen zusammengefügt werden. Dabei müssen bestimmte Voraussetzungen, welche die Durchführbarkeit betreffen, berücksichtigt werden. Mehrere Bedingungen müssen beachtet und verschiedene Aspekte in die Handlung miteinbezogen werden. Patienten mit einer Hirnschädigung haben damit oft groûe Mühe. Die Planung ist nicht zielorientiert strukturiert, der Überblick fehlt und nicht selten tritt ein impulsives und vorschnelles Handeln auf. Beispiel

Ein Patient soll aus groûen Papierbögen Blätter für einen DIN-A5-Ordner zuschneiden. Er schneidet alle Blätter in der Gröûe DIN-A4 zu, locht sie, legt sie in den Ordner, und erst als er diesen ins Regal stellen möchte, bemerkt er, daû die Blätter auf allen Seiten vorstehen. Sein Kommentar dazu: ,,Der Ordner ist zu kleinª. Das Lösungsverhalten vieler hirngeschädigter Patienten ist von Perseverationen gekennzeichnet. Im täglichen Leben zeigt sich dies so, daû der Patient immer wieder das gleiche sagt, immer wieder die gleichen Fehler macht, am soeben Gesagten oder Gemachten kleben bleibt und sich nicht umstellen kann.

Beispiel

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Kapitel 1 Theoretischer Teil

 Ein Patient bekommt die Aufgabe, ein Muster abzuzeichnen. Er macht dies korrekt, kann dann aber nicht aufhören und zeichnet dieses Muster weiter bis über den Rand des Blattes hinaus.  Ein Patient schlägt einen Nagel in ein Brett und fährt mit dem Einschlagen weiter, obwohl der Nagel schon längst ganz eingeschlagen ist. Turm von London (Shallice 1982): Verwendet werden 3 verschieden farbige Holzkugeln, die nach einem Schema auf Stäbe aufzureihen sind. Dabei sind die 3 auf einem Brett montierten Stäbe von unterschiedlicher Länge: Auf einem Stab hat nur eine, auf dem 2. Stab 2 und auf dem 3. Stab haben 3 Kugeln Platz. Die 3 Kugeln werden dem Patienten in einer sog. Startkonfiguration auf den Stäben präsentiert. Die vorgegebene Endposition soll mit möglichst geringer Zugzahl erreicht werden.

Aufmerksamkeit/Konzentration Wie von Cramon et al. (1995) ausführen, ist zwischen verschiedenen Aspekten der Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Die selektive Aufmerksamkeit wird oft identisch mit dem Begriff der Konzentrationsfähigkeit verwendet: Es ist die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte Reizquelle auszurichten und nicht relevante Reize auszuschalten, d. h. aus einer Vielzahl ankommender Reize nur jene Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten, die zur Bewältigung der vorliegenden Aufgabe beitragen. Die Fähigkeit, irrelevante Reize auszublenden, ist oft bei hirngeschädigten Patienten gestört und wird als erhöhte Ablenkbarkeit erlebt. Beispiel

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Ein Patient sucht in einer Zeitschrift Artikel zu einem bestimmten Thema. Er braucht dafür sehr viel Zeit, da er andere Artikel auch interessant findet und liest; danach hat er Mühe zu entscheiden, was zum gesuchten Thema gehört. Beim Farb-Wort-Interferenz-Test nach Stroop (1935) geht es um das Erkennen und richtige Benennen von Farben. Der Test setzt sich aus 3 Vorlagen zusammen: Die erste enthält farbige Punkte, die 2. farbig geschriebene Funktionswörter und die 3. farbig geschriebene Farbwörter, wobei keine Übereinstimmung besteht zwischen Druckfarbe und Wort, z. B. das Wort ,,rotª ist blau geschrieben. Aufgabe ist es, bei jeder Vorlage die Farbe der Punkte bzw. der Wörter anzugeben. Bei der 3. Vorlage ist das Lesen des Farbwortes zu unterdrücken. d2-Test nach Brickenkamp (1967): Auf einem Blatt müssen alle d-Buchstaben, die oben oder unten noch 2 Striche haben, durchgestrichen werden. Es dürfen keine ausgelassen und keine falschen durchgestrichen werden. Entscheidend dabei sind Qualität und Quantität. Die geteilte Aufmerksamkeit beinhaltet die Fähigkeit, mehrere Reize gleichzeitig zu beachten oder mehrere Tätigkeiten parallel durchzuführen, z. B. Telefonieren und dabei Notizen machen, Autofahren und gleichzeitig sprechen. Zahlen-Symbol-Test nach Wechsler (1964): Zahlen sind nach einem vorgegebenen Kodiersystem in Symbole zu übertragen. Zahlenverbindungstest (ZVT, Oswald u. Roth 1978). Auf 4 Din-A4-Blättern sind die Zahlen 1±90 unregelmäûig verteilt. Die Zahlen müssen in aufsteigender Form so schnell wie möglich miteinander verbunden werden. Es sind 4 Blätter nacheinander zu lösen; dabei wird die Zeit gemessen, die für die Bearbeitung der 4 Blätter benötigt wird. Mit Daueraufmerksamkeit ist die Fähigkeit gemeint, den ganzen Tag ,,wachª zu sein und die Aufmerksamkeit gezielt und über längere Zeit auf bestimmte Reize zu fokussieren, d. h. die Aufmerksamkeit über längere Zeit auch bei monotoner Aufgabenstellung aufrechtzuerhalten.

a1.5 Neuropsychologische Erfassung der Funktionsstærungen

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1.6 Grundprinzipien des Neurotrainings

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Das Neurotraining ist eine Therapieform, die die aktive Mitarbeit des Patienten erfordert. Vorausgesetzt werden eine gewisse Belastbarkeit und eine eher gute Kooperationsfähigkeit, Krankheitseinsicht sowie einen Realitätsbezug. Fehlt bei einem Patienten die Krankheitseinsicht völlig, müssen zuerst über praktische Alltagsaktivitäten in der Ergotherapie die Voraussetzungen für das Neurotraining geschaffen werden. Das Neurotraining ist für den Patienten eine Lernsituation, in der verschiedene Lernstrategien ausprobiert und trainiert werden können. Aufgabe der Therapeutin ist es festzustellen, welche Strategie in einer bestimmten Situation am besten weiterhilft. Einige grundlegende Lernarten seien hier kurz erwähnt:  Lernen durch bedingten Reflex (Pawlow) ± Konditionierung,  Lernen durch Versuch und Irrtum ± erfolgbestimmtes Lernen,  Lernen durch Verknüpfen (Kugemann 1978) ± wiederholen, üben, Bilden von Assoziationen, bildhafte Vorstellungen,  Lernen durch Strukturieren (Kugemann 1978) ± überlegen, nachdenken, ordnen, aufgliedern, strukturieren, logische Schlüsse ziehen, lernen durch Einsicht. Im Neurotraining kommen vorwiegend die beiden letzten Lernarten zur Anwendung. Lernen ist nicht immer ein passives Aufnehmen und Einprägen von vorher bestimmtem Wissen. Nur das Lernen durch Verknüpfen, der Erwerb von Einzelelementen erfolgt so. Lernen durch Strukturieren ist eine aktive individuelle Auseinandersetzung mit den Problemen; also mitdenken beim Lernen und nicht nur Lernen durch Eintrichtern (Kugemann 1978). Neben der Lernart ist auch die Modalität wichtig, in der ein Mensch am besten lernt. Besonders zu berücksichtigen ist das bei Patienten nach einer Hirnschädigung. Wenn ein Patient z. B. ein schlechtes verbales Gedächtnis hat, kann ihm sein gutes visuelles Gedächtnis eine Stütze sein, indem er das, was er lernen will, stark mit visuellen Assoziationen unterstützt.

Vielseitigkeit Das ganze Neurotraining wie auch die einzelne Therapiestunde ist möglichst vielseitig zu gestalten. Diese Vielseitigkeit bezieht sich nicht nur auf den Therapieinhalt und das Therapiematerial; es ist auch darauf zu achten, daû an der Lösung der gestellten Aufgaben unterschiedliche Funktionen und Modalitäten beteiligt sind. Der Inhalt soll die Interessen des Patienten berücksichtigen, da dadurch die Motivation erhöht wird. Bei guter Lernbereitschaft lassen sich dem Patienten auch unvertraute Inhalte anbieten ± was zur Entdeckung neuer Interessensgebiete führen kann. Abwechslung in der Auswahl des Materials ist in zweifacher Hinsicht notwendig: Einerseits ist die Motivation aufrechtzuhalten, andererseits sollte der Patient nicht ,,konditioniertª werden, sondern lernen, sich auf 14

Kapitel 1 Theoretischer Teil