Unter anderem: die Dinge

Unter anderem: die Dinge Bearbeitet von Ute Guzzoni 1. Auflage 2008. Taschenbuch. 192 S. Paperback ISBN 978 3 495 48312 1 Format (B x L): 13,9 x 21,...
Author: Eduard Siegel
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Unter anderem: die Dinge

Bearbeitet von Ute Guzzoni

1. Auflage 2008. Taschenbuch. 192 S. Paperback ISBN 978 3 495 48312 1 Format (B x L): 13,9 x 21,4 cm Gewicht: 270 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert

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Dinge – geliebt, vergessen, benutzt

Die herausgesehenen Dinge Im Folgenden werde ich mit «Dingen» nicht mehr nur die Dinge im engeren Sinne ansprechen. Ich verstehe «Dinge» jetzt in dem weiten Sinn, wonach sie alles bezeichnen, womit wir es je in der einen oder anderen Weise zu tun haben. Man könnte, etwas anders ausgedrückt, auch sagen, daß wir die Dinge als pars pro toto nehmen. Nachdem ich im Bisherigen so etwas wie eine Erweiterung des Dingbegris versucht habe, ist, wenn im Folgenden von den Dingen die Rede sein wird, sowohl die Welthaftigkeit mitzudenken wie die Tatsache, daß uns auch Nicht-Dingliches gleichwohl «dinghaft», also als ein Dieses, sogar als ein Selbständiges begegnet. Geht es mir dagegen ausdrücklich um das, was ich bisher betont die Dinge genannt habe, so spreche ich von den «Dingen im engeren Sinne». *** Die Dinge begegnen immer in Geweben, Gefügen, Zusammenhängen. Ein radikal isoliertes Ding – so wie es in der Tradition aus dem welthaften Zusammenhang herausabstrahiert wurde – wäre nicht nur kein Ding im eigentlichen Sinne, sondern «wäre» überhaupt nicht, d.h., es käme in unserer Welt gar nicht vor, – oder eben nur als Gedankending. Zugleich gibt es Dinge als Dinge schlechthin nicht ohne unser 77

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Zutun, so wie es keine Welt gibt ohne das menschliche Inder-Welt-sein. Gewöhnlich und alltäglich bilden die meisten Dinge zusammen mit Anderen die jeweilige Umwelt, den Lebenshintergrund, die Gesamtheit dessen, worin oder wozwischen wir uns bewegen. Sie bestimmen uns durch die Atmosphäre oder Färbung, die Dichte oder Enge oder Weite, in der sie zusammenstehen, durch die relative Ständigkeit oder umgekehrt Beweglichkeit und Veränderlichkeit, die ihre oene Ganzheit jeweils kennzeichnen und die uns oftmals in ihr Ensemble mit hineinziehen. Einzelne besondere Dinge können aus diesem Bewandtniszusammenhang herausstehen bzw. sie können aus ihm herausgesehen werden, ohne deswegen völlig aus ihm herauszufallen. Diese Dinge sprechen uns in einer jeweiligen Situation als sie selbst an, wir nehmen sie jeweils auf unterschiedliche Weise wahr und fühlen uns durch sie zu einer spezifischen Antwort herausgefordert, – zu einem Verhalten, einer Handlung, einer Einstellung oder Stimmung. In der Vielzahl der unau älligen, in gewissem Sinne gleich-gültigen Dinge sind es ausgezeichnete Dinge, die sich in unterschiedlichen Graden der Ausdrücklichkeit von den übrigen abheben. Indem ein Ding überhaupt in der Welt ist, besteht immer schon die reale Möglichkeit einer ausdrücklichen Zuwendung des Menschen zu ihm wie auch seines eigenen Au ällig- oder Erstaunlichwerdens –, oder umgekehrt des Verbleibens in einem Feld der Gleichgültigkeit oder auch des Übergangs in Vernutzung und Mißachtung. Die Gründe und Weisen, wodurch und wie die herausstehenden Dinge sich auszeichnen, können sehr unterschiedliche sein. Sie können von sich aus auallen; ihre Farbe, Form oder Größe oder ihr Kontext können erstaunlich und anders sein als das Gewohnte und uns damit provozieren. Oder wir können sie selbst pro-vozieren, hervor-rufen. Unser Tun 78

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kann zweckrational auf sie gerichtet sein, wir können etwas Bestimmtes mit ihnen anfangen wollen. Es mag auch eine gewisse Liebe zu ihnen oder Vorliebe für sie sein, die sie heraushebt, wir können uns, aus welchen Gründen auch immer, für sie interessieren. Oder sie können uns von sich aus durch eine bestimmte Bewandtnis, die es mit ihnen hat – z.B. als geschenkte oder gezeigte –, ansprechen, positiv oder auch negativ, sie können uns an etwas erinnern, das uns wichtig war, und so zu Trägern einer Erinnerung werden. Warum immer sie uns auallen, – sie ziehen unser Auge auf sich, lassen uns aufmerken, so daß wir uns ihnen mit Behutsamkeit oder Neugier oder Begehren zuwenden oder uns auch mit Angst oder Abscheu, mit Enttäuschung oder Trauer von ihnen abwenden. Als besondere treten die Dinge also ein Stück weit aus den gewohnten welthaften Zusammenhängen von Erfahrung und Wahrnehmung heraus und heben sich von ihrem Hintergrund ab. Wir schlagen eine bestimmte Blickrichtung ein, wir fokussieren unsere Aufmerksamkeit innerhalb einer bestimmten Einstellung auf etwas, oder es zieht unseren Blick auf sich. Es macht für die Tatsache dieses Herausstehens keinen Unterschied, ob die Dinge uns oder ob wir sie provozieren, ob sie an sich selbst erstaunlich sind oder werden oder ob wir ihnen ihre Erstaunlichkeit im Grunde «antun». Die Dinge, auf die wir in ausgezeichneter Weise unser Augenmerk richten, d.h. die wir eigens als Dinge bzw. als diese spezifischen Einzelnen ansprechen, die herausstehenden oder herausgesehenen Dinge heben sich von Anderem ab und begegnen als jeweilige vor einem Horizont von unbestimmt Bleibendem. Sowohl die einzelnen Anderen wie der Rahmen, Horizont oder Hintergrund, aus oder vor dem sie herausstehen, gehören weiterhin zu ihnen dazu; gleich79

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wohl sind jene etwas nur Mitgegebenes, Beiherspielendes, aus dessen Gesamtheit dieses Spezifische sich heraushebt, aus dem wir es heraus-sehen und in diesem Sinne e-vident haben. Dabei können es auch zwei oder drei oder eine Gruppe von Dingen sein, die in ihrem besonderen Verhältnis zueinander als herausstehend wahrgenommen werden. Das Herausstehende selbst – sei es im jeweiligen Fall ein Vogel, ein Stein oder eine Baumgruppe, eine aufreizende Farbe, ein aus einer Stille entstehender Klang, ein plötzlicher Gedanke, ein unerwartetes Geschehnis oder ein ganzes Ensemble von Dingen – begegnet uns als ein Begrenztes, ein Dieses, mit dem wir in eine wie immer geartete Kommunikation treten. Unser heutiges philosophisches Interesse richtet sich, wie bereits betont, u.a. gerade auf die alltäglich gebrauchten, die vielen unau älligen Dinge, die für die Tradition uninteressant waren und von ihr vernachlässigt wurden. Doch wir sprechen philosophisch über das Erfahren und die Besonderheit der Dinge, ohne uns eigens einem Begegnenden als solchem zuzuwenden, also z.B. der Gabel, die ich, ohne mir dessen richtig bewußt zu sein, in die Hand nehme, um eine Kartoel zum Mund zu führen. Sollten wir aber nicht noch einen Schritt weiter gehen? Es geht ja nicht nur um die endlichen, besonderen Dinge im Allgemeinen, sondern um sie in ihrer konkreten Jeweiligkeit, d.h. als dieses oder jenes Begegnende, – bzw. um die Weise, wie wir sie erfahren. Damit kommt dann aber auch die Unterscheidung von gewohnten, zumeist nicht eigens intendierten und im engeren Sinne besonderen, nämlich herausgesehenen Dingen in den Blick. Der genannten Gabel begegne ich gewöhnlich nicht im strengen Sinne, weil ich sie nicht ausdrücklich als dieses spezifische Ding intendiere, weil sie vielmehr ganz unau ällig in den Zusammenhang meines Mittagessens hineingehört, 80

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ebenso wie die Kartoel, der Teller, der Tisch (und vielleicht sogar mein Tischgenosse). Aber jedes dieser Dinge kann zu einem herausstehenden werden durch das Aufmerken eines besonderen Gebrauchs oder einer besonderen Hinsichtnahme. Als Kinder hatten wir Eßbestecke, in die unsere Namen eingraviert waren. Hat sich ein solcher Löel, wer weiß wie, bis heute erhalten und nimmt man ihn zuweilen in die Hand, so kann er je nach der Situation – oder allgemein aufgrund dessen, daß er aus dem kriegsbedingten Untergang des gesamten Hausrats gerettet wurde – unvermittelt als ein Ding im herausstehenden Sinne begegnen, ein Ding, in dem die Vergangenheit einer ganzen Kindheit aufscheinen kann. Heidegger entwickelt in «Sein und Zeit» den Begri des «Zeugs» als des in einem bestimmten Bewandtniszusammenhang Vorfindlichen und gewöhnlich nicht weiter Auffälligen. Dabei macht er auch deutlich, daß die Zeugdinge jederzeit aus ihrer Unau älligkeit heraustreten können, z.B. wenn ein routiniert gebrauchter und insofern gar nicht eigens beachteter Hammer einmal danebenschlägt und meinen Daumen tri. Bei Heidegger sind es im dortigen Zusammenhang gewöhnlich defizitäre Erfahrungen, die zur Au älligkeit und damit Besonderheit führen. Aber wenn wir nicht nur an das Zeug, sondern an die Dinge überhaupt denken, so kann sich ihr Sie-selbst-Sein durchaus auch auf andere Weise bemerkbar machen. Sie können uns z.B. unversehens durch ihre Schönheit oder besondere Zweckmäßigkeit verblüen. Oder es kann eben auch sein, daß gar nicht sie unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern daß wir selbst sie, etwa durch eine besondere, wache Stimmung oder umgekehrt durch eine verträumte Hingegebenheit, gewissermaßen auswählen, sie uns vornehmen. Ein Denken, das auch dem Besonderen, Übergänglichen gerecht werden will, muß vermutlich auch einen Weg finden, das 81

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Begegnen solcher herausgesehenen Dinge zur Sprache zu bringen. (Vilém Flusser, Paul Virilio, Edmond Jabès oder Walter Benjamin, Ernst Bloch, auch Peter Sloterdijk wären hier unter manchen anderen als je ganz unterschiedliche Beispiele zu nennen.) Vilém Flusser hat einmal gesagt: «Wir leben in zwei Welten: in einer uns gegebenen Welt und der anderen, die von der Aufmerksamkeit, die wir ihr schenken, provoziert wird.» (Vogelflüge, ) Um uns herum sind zum einen die vielen – in vielerlei Weise miteinander verbundenen und untereinander zusammenhängenden – Dinge, die gegeben sind und die, zumeist unabgehoben voneinander, das Ganze der Welt mit ausmachen, die unzähligen Pinselstriche sozusagen, die zusammen das Bild der Welt malen und die wir zunächst einmal je für sich aufzuzählen beginnen, wenn wir nach den uns umgebenden Dingen gefragt werden. Im allgemeinsten Sinn erscheint ein Ding einfach als «etwas»; in anderen europäischen Sprachen ist das noch deutlicher, z.B. im englischen everything, some-thing und auch no-thing, wo man das «thing», das Ding, kaum mehr mithört; oder etwa im französischen quelque chose wie im italienischen qualcosa. Im Deutschen gebrauchen wir oft den Plural «Dinge», wenn wir eine unbestimmte Vielzahl von «etwassen» bezeichnen wollen, die zwar da sind, aber – zumindest scheinbar – «keine besondere Rolle spielen». Zum anderen aber ist da auch die andere, die «provozierte» Welt, und damit die Dinge, auf die wir eigens unsere Aufmerksamkeit richten und die, indem wir uns ihnen zuwenden, zu sprechen anfangen, – z.B. die Dinge, die als Erinnerungsträger und Nostalgieobjekte eine starke aektive Bedeutung für uns haben, Dinge, mit denen wir uns in unserem Wohnbereich umgeben, Einzelheiten, auf die wir in einer Landschaft aufmerksam werden, Erinnertes, das 82

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DIE HERAUSGESEHENEN DINGE

wir schätzen und lieben, weil es für uns mit vertrauten Personen in Beziehung steht usw. Jeweils haben diese Dinge durch Gebrauch oder besondere Erfahrung eine Bedeutung erlangt, die sie aus der unbestimmten Vielzahl anderer heraushebt und so zu «besonderen», ausgezeichneten macht.

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