Unipolare Depression

DGPPN BÄK, KBV, AWMF AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression Kurzfassung ...
Author: Eduard Fertig
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DGPPN BÄK, KBV, AWMF AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW

S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie

Unipolare Depression Kurzfassung Version 1.2 August 2011 basierend auf der Fassung von November 2009 AWMF-Register-Nr.: nvl-005

Die Langfassung inkl. Literaturverzeichnis sowie Ergänzungen und Modifikationen der Leitlinie sind über die Webseiten http://www.depression.versorgungsleitlinien.de und http://www.awmf-leitlinien.de zugänglich.

Wichtiger Hinweis: Bitte beachten Sie, dass nur die unter http://www.versorgungsleitlinien.de enthaltenen Dokumente des Programms für Nationale VersorgungsLeitlinien durch die Träger des NVL-Programms autorisiert und damit gültig sind. Bei NVL-Dokumenten, die Sie von anderen Webseiten beziehen, übernehmen wir keine Verantwortung für deren Gültigkeit. ©

S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression Kurzfassung August 2011 Vers. 1.2

Herausgeber der S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie „Unipolare Depression“

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde

Bundesärztekammer

Kassenärztliche Bundesvereinigung

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)

Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK)

Bundespsychotherapeutenkammmer (beratend) (BPtK)

Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAGSHG)

Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)

Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)

Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW)

Am Konsensprozess beteiligt und mitgetragen von

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Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Krankenhäuser (und Arbeitskreis Depressionsstationen) (BDK)

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)

Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands (BPM)

Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN)

Berufsverband Deutscher Psychiater (BVDP)

Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (BVVP)

Chefarztkonferenz psychosomatischpsychotherapeutischer Krankenhäuser und Abteilungen

Deutsche Ärztliche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DÄVT)

Deutsche Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DFT)

Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP)

Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT)

Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT)

Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG)

Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV)

Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV)

Deutscher Fachverband für Verhaltenstherapie (DVT)

Deutscher Hausärzteverband

Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG)

Kompetenznetz Depression, Suizidalität (KND)

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KORRESPONDENZ ÄZQ – Redaktion Nationale VersorgungsLeitlinien TiergartenTower, Straße des 17. Juni 106-108, 10623 Berlin Tel.: 030-4005-2504 – Fax: 030-4005-2555 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.versorgungsleitlinien.de - Kommentare und Änderungsvorschläge bitte nur an diese Adresse GÜLTIGKEITSDAUER UND FORTSCHREIBUNG Die Langfassung der Leitlinie wurde am 08.10.2009 fertig gestellt. Die vierjährliche Überarbeitung und Herausgabe, gemessen ab dem Zeitraum der Publikation, wird angestrebt. Verantwortlich für die kontinuierliche Fortschreibung, Aktualisierung und Bekanntmachung der S3-Leitlinie ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), für die Nationale VersorgungsLeitlinie das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gemeinsam mit der Leitlinien-Kommission der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). FASSUNGEN DER LEITLINIE Die S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression wird mit folgenden Komponenten publiziert: I. II. III. IV. V.

Kurzfassung mit Darlegung der Versorgungseckpunkte und graduierten Empfehlungen (das vorliegende Dokument); Langfassung, die zusätzlich zum Inhalt der Kurzfassung erläuternde Hintergrundtexte zur Evidenz sowie Links zu den zugrunde liegenden Quellenangaben enthält; S3/NVL-Leitlinien-Report; NVL-PatientenLeitlinie; NVL-Praxishilfen, ggf. z. B. kurze Informationen für medizinisches Personal/Kitteltaschenversionen für den Arzt.

Alle Fassungen sind zugänglich über das Internetangebot des NVL-Programms http://www.versorgungsleitlinien.de. Die offizielle Zitierweise der Kurzfassung ist wie folgt: DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression*. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression-Kurzfassung, 1. Auflage 2009. DGPPN, ÄZQ, AWMF - Berlin, Düsseldorf 2009. Internet: http://www.dgppn.de, http://www.versorgungsleitlinien.de, http://www.awmf-leitlinien.de. (*Organisationen, die in der Leitliniengruppe kooperierten: DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW, BDK,BDP,BPM,BVDN, BVDP, BVVP, CPKA, DÄVT, DFT, DGGPP, DGPT, DGVT, DPG, DPV, DPtV, DVT, Deutscher Hausärzteverband, GwG, KND). Besonderer Hinweis: Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, so dass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zur Zeit der Drucklegung der VersorgungsLeitlinie entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollen bitte im allgemeinen Interesse der NVL-Redaktion mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische und therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung. In dieser VersorgungsLeitlinie sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Bestimmung des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der NVL-Redaktion unzulässig und strafbar. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der NVL-Redaktion reproduziert werden. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Nutzung und Verwertung in elektronischen Systemen, Intranets und dem Internet.

Im folgenden Text wurde bei der Angabe von Personenbezeichnungen jeweils die männliche Form angewandt. Dies erfolgte ausschließlich zur Verbesserung der Lesbarkeit.

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Inhaltsverzeichnis 1.

Zielsetzung und Anwendungsbereich der Leitlinie ...................................... 5

2.

Diagnostik ........................................................................................................ 6

2.1

Diagnose nach ICD-10 ................................................................................................................. 7 2.1.1 Subtypisierung: Somatisches Syndrom und psychotische Symptome ............................ 7

2.2

Erkennen depressiver Störungen ................................................................................................. 9 2.2.1 Nutzen von Screening zur Früherkennung..................................................................... 10

2.3

Differenzialdiagnostik ................................................................................................................. 11 2.3.1 Suizidalität ...................................................................................................................... 11 2.3.2 Diagnostisches Vorgehen bei komorbiden Erkrankungen ............................................. 12 2.3.2.1 2.3.2.2

Psychische Komorbidität .............................................................................................................12 Somatische Komorbidität.............................................................................................................12

2.4

Stufenplan der Diagnostik .......................................................................................................... 13

2.5

Verlaufsdiagnostik ...................................................................................................................... 13

3.

Therapie.......................................................................................................... 14

3.1

Behandlungsziele und Behandlungstrategien ............................................................................ 15 3.1.1 Behandlungsphasen und phasenspezifische Behandlungsziele.................................... 15 3.1.2 Einbezug von Patienten und Angehörigen ..................................................................... 16 3.1.2.1 3.1.2.2

Partizipative Entscheidungsfindung.............................................................................................16 Psychoedukation .........................................................................................................................16

3.2

Versorgungskoordination und Interaktion der Behandler ........................................................... 17 3.2.1 Akteure in der Versorgung.............................................................................................. 17 3.2.2 Schnittstellen in der Behandlung .................................................................................... 17

3.3

Pharmakotherapie ...................................................................................................................... 19 3.3.1 Substanzgruppen und Wirksamkeit................................................................................ 19 3.3.2 Therapiegrundsätze für die Akutbehandlung.................................................................. 20

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3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6 3.3.2.7

Leichte depressive Episoden.......................................................................................................20 Mittelgradige und schwere depressive Episoden.........................................................................20 Hinweise zur Auswahl des Antidepressivums..............................................................................21 Therapiebeginn............................................................................................................................21 Wirkungsprüfung und Therapiemonitoring...................................................................................23 Absetzen der Medikation .............................................................................................................23 Erhaltungstherapie ......................................................................................................................23

3.3.3 3.3.4

Rezidivprophylaxe .......................................................................................................... 24 Maßnahmen bei Nichtansprechen.................................................................................. 24

3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.4.3 3.3.4.4 3.3.4.5

Serumspiegelbestimmung und Therapeutisches Drug-Monitoring ..............................................24 Dosiserhöhung ............................................................................................................................24 Augmentation (Wirkungsverstärkung) .........................................................................................24 Wechsel des Antidepressivums („Switching“)..............................................................................25 Antidepressiva-Kombination ........................................................................................................25

3.3.5 3.3.6 3.3.7

Pharmakotherapie chronischer Depressionen ............................................................... 27 Einsatz anderer Substanzen .......................................................................................... 27 Pharmakotherapie bei besonderen Patientengruppen................................................... 27

3.3.7.1 3.3.7.2 3.3.7.3 3.3.7.4 3.3.7.5

Ältere Patienten ...........................................................................................................................27 Demenz .......................................................................................................................................27 Schwangerschaft und Stillzeit......................................................................................................28 Depression in der Perimenopause ..............................................................................................28 Wahnhafte Depression ................................................................................................................28

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3.4

3.5

3.6

3.7

Psychotherapie ........................................................................................................................... 28 3.4.1 Empfehlungen zur psychotherapeutischen Akutbehandlung ......................................... 29 3.4.2 Empfehlungen zur Psychotherapie bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression...................................................................................................................... 30 3.4.3 Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie ................................................... 30 3.4.4 Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe durch Psychotherapie .............................. 30 3.4.4.1 3.4.4.2

Psychotherapie als alleinige Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe...................................31 Psychotherapie als Teil einer Kombinationsbehandlung .............................................................31

3.4.5

Effektivität von Psychotherapie bei behandlungsresistenter Depression....................... 31

Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren ................................................................ 31 3.5.1 Elektrokonvulsive Therapie............................................................................................. 31 3.5.2 Wachtherapie (Schlafentzugstherapie) .......................................................................... 31 3.5.3 Lichttherapie ................................................................................................................... 32 3.5.4 Körperliches Training...................................................................................................... 32 3.5.5 Neuere nichtpharmakologische therapeutische Möglichkeiten ...................................... 32 3.5.5.1

Repetitive Transkranielle Magnetstimulation ...............................................................................32

3.5.6

Unterstützende Therapieverfahren und therapeutische Maßnahmen............................ 32

Therapie bei Komorbidität .......................................................................................................... 33 3.6.1 Depression und komorbide psychische Störungen ........................................................ 33 3.6.1.1 3.6.1.2 3.6.1.3 3.6.1.4 3.6.1.5

Angst- und Zwangsstörungen......................................................................................................33 Alkoholabhängigkeit ....................................................................................................................33 Essstörungen...............................................................................................................................34 Persönlichkeitsstörungen.............................................................................................................34 Somatoforme Störungen..............................................................................................................35

3.6.2

Depression und komorbide somatische Erkrankungen.................................................. 35

3.6.2.1 3.6.2.2 3.6.2.3 3.6.2.4 3.6.2.5

Kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfall ........................................................................35 Tumorerkrankungen ....................................................................................................................36 Diabetes mellitus .........................................................................................................................36 Chronische Schmerzerkrankungen .............................................................................................36 Demenz bzw. Morbus Parkinson .................................................................................................37

Management bei Suizidgefahr.................................................................................................... 37 3.7.1 Risikofaktoren von Suizidalität........................................................................................ 37 3.7.2 Suizidprävention und Notfallinterventionen bei Suizidalität............................................ 38 3.7.2.1 3.7.2.2 3.7.2.3 3.7.2.4

Gesprächs- und Beziehungsangebot ..........................................................................................38 Diagnostik von Suizidalität...........................................................................................................39 Krisenmanagement .....................................................................................................................39 Therapieplanung nach der Akutsituation .....................................................................................39

3.7.3 3.7.4

Indikationen für eine stationäre Therapie ....................................................................... 39 Pharmakotherapie .......................................................................................................... 40

3.7.4.1 3.7.4.2 3.7.4.3

Antidepressiva .............................................................................................................................40 Stimmungsstabilisierer.................................................................................................................40 Andere Substanzen .....................................................................................................................40

3.7.5 3.7.6

Krisenintervention und spezifische Psychotherapien ..................................................... 40 Suizidprävention durch Nachsorge und Kontaktangebote ............................................. 41

Anhang 1: Antidepressiva – Wirkstoffe gegliedert nach Wirkstoffgruppen ............... 42 Anhang 2: Weitere zur Behandlung der Depression eingesetzte Arzneimittel.......... 43 Anhang 3: Evidenz- und Empfehlungsgrade ............................................................ 44 Anhang 4: Methodenkritische Aspekte ..................................................................... 46 Anhang 5: Verantwortliche für die Leitlinie................................................................ 49

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1. Zielsetzung und Anwendungsbereich der Leitlinie Depressive Störungen gehören zu den häufigsten Beratungsanlässen und Erkrankungen in der Versorgung. Die Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten hat in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht, dennoch bestehen in allen Bereichen der Versorgung von Patienten mit Depression Optimierungspotenziale, insbesondere hinsichtlich einer abgestuften und vernetzten Versorgung zwischen haus-, fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung sowie der Indikationsstellung für ambulante und stationäre Behandlungsmaßnahmen und deren Abstimmung. Auf Seiten der behandelnden Akteure und der Patienten bestehen nicht selten Vorbehalte gegenüber evidenzbasierten Therapieverfahren, wie Pharmako- oder Psychotherapie, die eine suffiziente Behandlung erschweren. Ziele dieser Leitlinie sind:  die Erkennung, Diagnostik und Behandlung von Depressionen in Deutschland zu verbessern;  Schlüsselempfehlungen zu prioritären Versorgungsproblemen zwischen allen an der Versorgung beteiligten Gruppen unter Einbeziehung von Patienten- und Angehörigenvertretern abzustimmen, darzulegen und zu implementieren;  die Empfehlungen entsprechend dem besten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Kriterien der Evidenzbasierten Medizin zu formulieren und zu aktualisieren;  durch Einbeziehung aller an der Versorgung beteiligten Disziplinen, Organisationen und Patienten sowie dem darauf beruhenden umfassenden Konsens eine effektive Verbreitung und Umsetzung der Empfehlungen zu ermöglichen;  die Versorgungsabläufe für depressive Erkrankungen über die verschiedenen Bereiche darzustellen, die dabei entstehenden Entscheidungssituationen zu benennen und das jeweilige Vorgehen der Wahl zu definieren;  spezifische Empfehlungen hinsichtlich der Abstimmung und Koordination der Versorgung aller beteiligten Fachdisziplinen und weiteren Fachberufe im Gesundheitswesen zu geben;  Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens zu identifizieren und darin begründete Prozessempfehlungen unter Berücksichtigung internationaler Literatur zu formulieren;  Barrieren der Umsetzung der Leitlinien-Empfehlungen zu identifizieren und Lösungswege aufzuzeigen;  auf die systematische Berücksichtigung der im Rahmen des Programms erstellten Empfehlungen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und in Qualitätsmanagementsystemen hinzuwirken. Der Geltungsbereich dieser Leitlinie bezieht sich auf unipolare depressive Störungen, d. h. depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störungen (F33), anhaltende affektive Störungen (hier nur: Dysthymie, F34.1) und sonstige affektive Störungen (hier nur: rezidivierende kurze depressive Störung, F38.1) ab einem Behandlungsalter von 18 Jahren. Bei dieser Leitlinie handelt es sich – ebenso wie bei jeder anderen medizinischen Leitlinie – explizit nicht um eine Richtlinie im Sinne einer Regelung des Handelns oder Unterlassens, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurde, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich ist und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht. Eine Leitlinie wird erst dann wirksam, wenn ihre Empfehlungen bei der individuellen Patientenversorgung Berücksichtigung finden. Sie muss vor ihrer Verwendung bei einem individuellen Behandlungsfall hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit auf regionaler oder lokaler Ebene überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Die Entscheidung darüber, ob einer bestimmten Empfehlung gefolgt werden soll, muss unter Berücksichtigung der beim individuellen Patienten vorliegenden Gegebenheiten und der verfügbaren Ressourcen getroffen werden.

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2. Diagnostik

Algorithmus 1: Diagnostischer Prozess depressiver Störungen

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2.1 Diagnose nach ICD-10 Im ICD-10 werden depressive Störungen als psychopathologische Syndrome von bestimmter Dauer innerhalb der diagnostischen Kategorie der „Affektiven Störungen“ definiert. Tabelle 1: Hauptkategorien affektiver Störungen nach ICD-10

F30

Manische Episode

F34

Anhaltende affektive Störungen

F31

Bipolare affektive Störung

F38

Sonstige affektive Störungen

F32

Depressive Episode

F39

Nicht näher bezeichnete affektive Störungen

F33

Rezidivierende Störungen

depressive

Die Ausführungen der Leitlinie beziehen sich auf die unipolare depressive Störung, d. h. depressive Episoden (F32), rezidivierende depressive Störungen (F33), anhaltende affektive Störungen (hier nur: Dysthymie, F34.1) und sonstige affektive Störungen (hier nur: rezidivierende kurze depressive Störung, F38.1). Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

2-1

Zur Abgrenzung der verschiedenen affektiven Störungen und ihres Schweregrades ist sowohl die aktuelle Symptomatik als auch der bisherige Verlauf ausschlaggebend.

Statement

Zur Diagnosestellung einer depressiven Störung und ihrer Schweregradbestimmung nach ICD-10 sind die folgenden diagnostischen Kriterien maßgeblich (siehe auch Algorithmus 2):  Mindestens zwei (schwere Episode: drei) Hauptsymptome müssen mindestens zwei Wochen anhalten. Kürzere Zeiträume können berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell aufgetreten sind.  Schweregradbestimmung: Die Patienten leiden zusätzlich zu den Hauptsymptomen unter mindestens zwei (leichte Episode, F32.0), drei- bis vier (mittelgradige Episode, F32.1) bzw. mindestens vier (schwere Episode, F32.2) Zusatzsymptomen.  Das somatische Syndrom ist bei leichter (F32.01) bzw. mittelgradiger depressiver Episode (F32.11) nur dann zu klassifizieren, wenn wenigstens vier dieser Symptome eindeutig feststellbar sind. Für die schwere depressive Episode ist diese Zusatzcodierung nicht vorgesehen, weil davon auszugehen ist, dass diese aufgrund ihrer Schwere die somatischen Symptome mit einschließt.  Eine schwere depressive Episode kann zusätzlich „mit psychotischen Symptomen“ (F32.3) klassifiziert werden, wenn Wahnideen (gewöhnlich Ideen der Versündigung, der Verarmung oder einer bevorstehenden Katastrophe), Halluzinationen oder ein depressiver Stupor auftreten. Eine rezidivierende depressive Episode unterschiedlichen Schweregrades (F33.X) liegt vor, wenn es neben der gegenwärtigen depressiven Episode in der Vorgeschichte wenigstens eine weitere gab.

2.1.1 Subtypisierung: Somatisches Syndrom und psychotische Symptome In der ICD-10 kann bei leichten- bzw. mittelgradigen depressiven Episoden auch klassifiziert werden, ob zusätzlich zu den Haupt- und Zusatzsymptomen ein somatisches Syndrom vorliegt. Typische Merkmale des somatischen Syndroms sind: 1. Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten; 2. mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren; 3. frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit; 4. Morgentief; 5. der objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit; 6. deutlicher Appetitverlust; 7. Gewichtsverlust, häufig mehr als 5 % des Körpergewichts im vergangenen Monat; 8. deutlicher Libidoverlust. ©

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Algorithmus 2: Diagnose depressiver Episoden nach ICD-10 Kriterien

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2.2 Erkennen depressiver Störungen Tabelle 2: Beschwerden, die auf eine depressive Störung hinweisen

         

Allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Mattigkeit; Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen); Appetitstörungen, Magendruck, Gewichtsverlust, Obstipation, Diarrhöe; diffuser Kopfschmerz; Druckgefühl in Hals und Brust, Globusgefühl; funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf (z. B. Tachykardie, Arrhythmie, Synkopen), Atmung (z. B. Dyspnoe), Magen und Darm; Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Sehstörungen; Muskelverspannungen, diffuse neuralgiforme Schmerzen; Libidoverlust, Sistieren der Menstruation, Impotenz, sexuelle Funktionsstörungen; Gedächtnisstörungen. Empfehlungsgrad

Empfehlung/Statement

2-2

Da depressive Patienten selten spontan über typische depressive Kernsymptome berichten und eher unspezifische Beschwerden wie Schlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetitminderung, allgemeine Kraftlosigkeit, anhaltende Schmerzen und/oder körperliche Beschwerden angeben, soll das Vorliegen einer depressiven Störung bzw. das Vorhandensein weiterer Symptome einer depressiven Störung aktiv exploriert werden.

A

Tabelle 3: Beispielfragen zur Symptomerfassung

Hauptsymptome Depressive Stimmung

„Haben Sie sich in den letzten zwei Wochen niedergeschlagen oder traurig gefühlt?“ „Gab es Zeiten, an denen Ihre Stimmung besser oder schlechter war?“

Interessenverlust und Freudlosigkeit

„Haben Sie in der letzten Zeit das Interesse oder die Freude an wichtigen Aktivitäten (Beruf, Hobby, Familie) verloren?“ „Hatten Sie in den letzten zwei Wochen fast ständig das Gefühl, zu nichts mehr Lust zu haben?“

Erhöhte Ermüdbarkeit und Antriebsmangel

„Haben Sie Ihre Energie verloren?“ „Fühlen Sie sich ständig müde und abgeschlagen?“ „Fällt es Ihnen schwer, die Aufgaben des Alltags wie gewohnt zu bewerkstelligen?“

Zusatzsymptome

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Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

„Haben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren?“ „Haben Sie Mühe, die Zeitung zu lesen, fernzusehen oder einem Gespräch zu folgen?“

Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

„Leiden Sie an fehlendem Selbstvertrauen und/oder Selbstwertgefühl?“ „Fühlen Sie sich so selbstsicher wie sonst?“

Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit

„Machen Sie sich häufig Selbstvorwürfe?“ „Fühlen Sie sich häufig schuldig für alles, was geschieht?“

Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

„Sehen Sie die Zukunft schwärzer als sonst?“ „Haben Sie Pläne für die Zukunft?“

Suizidgedanken/

„Geht es Ihnen so schlecht, dass Sie über den Tod nachdenken

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Zusatzsymptome Suizidhandlungen

oder daran, dass es besser wäre, tot zu sein?“ „Hatten oder haben Sie konkrete Pläne, sich etwas anzutun?“ „Haben Sie versucht, sich etwas anzutun?“ „Gibt es etwas, was Sie am Leben hält?“

Schlafstörungen

„Hat sich an Ihrem Schlaf etwas geändert?“ „Schlafen Sie mehr/weniger als sonst?“

Verminderter Appetit

„Hatten Sie mehr/weniger Appetit in der letzten Zeit?“ „Haben Sie ungewollt abgenommen?“

Das Vorliegen einer depressiven Störung ist insbesondere bei Patienten, die einen oder mehrere der nachstehenden Risikofaktoren aufweisen, wahrscheinlich. Tabelle 4: Risikofaktoren für eine depressive Störung

      

Frühere depressive Episoden; bipolare oder depressive Störungen in der Familiengeschichte; Suizidversuche in der eigenen Vor- oder der Familiengeschichte; komorbide somatische Erkrankungen; komorbider Substanzmissbrauch bzw. komorbide Substanzabhängigkeit; aktuell belastende Lebensereignisse; Mangel an sozialer Unterstützung.

2.2.1 Nutzen von Screening zur Früherkennung Empfehlungen/Statement

Empfehlungsgrad

2-3

In der Versorgung von Patienten, die einer Hochrisikogruppe angehören – z. B. aufgrund früherer depressiver Störungen oder komorbider somatischer Erkrankungen – sollten Maßnahmen zur Früherkennung bezüglich Depression bei Kontakten in der Hausarztversorgung und in Allgemeinkrankenhäusern eingesetzt werden.

B

2-4

Die Diagnose einer behandlungsrelevanten depressiven Störung sollte, wenn in einem Screening erhöhte Depressionswerte festgestellt werden, durch die anschließende direkte und vollständige Erfassung der Haupt- und Zusatzsymptome (Schweregrad) sowie Fragen zu Verlauf und Dauer gestellt werden.

B

Für ein Screening geeignete Instrumente sind der WHO-5-Fragebogen zum Wohlbefinden, der Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D) sowie die Allgemeine Depressionsskala (ADS). Eine weitere Möglichkeit der schnellen Erfassung einer möglichen depressiven Störung ist der so genannte „Zwei-Fragen-Test“: 1. Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig bedrückt oder hoffnungslos? 2. Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun? Werden beide Fragen mit „Ja“ beantwortet, ist die klinische Erfassung der formalen Diagnosekriterien erforderlich, da nur durch die explizite Erhebung aller relevanten Haupt- und Nebensymptome eine adäquate Diagnosestellung nach ICD-10 möglich ist. Dies geschieht in aller Regel über eine fundierte Exploration des Patienten im Gespräch, wobei die Beispielfragen in Tabelle 5 leitend sein können.

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2.3 Differenzialdiagnostik Das Vorliegen von Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Traurigkeit, Selbstzweifeln und Resignation sowie das Auftreten einzelner depressiver Symptome ist nicht gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer depressiven Störung. Bei vielen psychischen Störungen gehören depressive Symptome zum typischen Krankheitsbild. Bei Patienten mit multiplen psychischen und körperlichen Erkrankungen oder älteren Patienten kann die Diagnose einer depressiven Störung erschwert sein, da bei ihnen Symptome wie allgemeine Schwäche oder Schlafstörungen auch unabhängig von einer Depression auftreten können. Folgende Screeningfragen, die sich auf den Zeitraum der vergangenen vier Wochen beziehen, können zur Differenzialdiagnose bei Verdacht auf Vorliegen einer anderen als einer depressiven Störung bzw. auf Vorliegen einer zusätzlichen, komorbiden psychischen Störung gestellt werden: Tabelle 5: Beispiele zu Screeningfragen zur Differenzialdiagnose

Panikstörung

„Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, bei dem Sie ganz plötzlich von starker Angst, Beklommenheit oder Unruhe überfallen wurden?“

Generalisierte Angststörung

„Haben Sie sich schon einmal über mindestens einen Monat oder länger ängstlich, angespannt und voll ängstlicher Besorgnis gefühlt?“

Soziale Phobie

„Hatten Sie jemals unbegründete Ängste, mit anderen zu reden, etwas in Gegenwart anderer zu tun oder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen?“

Agoraphobie

„Litten Sie jemals unter unbegründeten Ängsten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, in Geschäfte zu gehen oder sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten?“

Posttraumatische Belastungsreaktion

„Haben Sie jemals ein ungewöhnlich schreckliches oder bedrohliches Ereignis erlebt, unter dessen Nachwirkungen Sie monatelang litten?“

Spezifische Phobie

„Gab es jemals eine Zeitspanne, in der Sie unter einer unbegründeten Angst vor besonderen Situationen, Gegenständen oder Tieren litten?“

Zwangsstörung

„Haben Sie jemals unter Gedanken gelitten, die unsinnig waren und immer wieder kamen, auch wenn Sie es gar nicht wollten?“

Manische oder hypomanische Episoden

„Waren Sie jemals über mehrere Tage ungewöhnlich glücklich, überdreht oder reizbar, so dass sich Freunde oder Angehörige Sorgen machten?“

Essstörung

„Haben Sie sich jemals über mehrere Monate hinweg große Sorgen darüber gemacht, wie viel Sie essen, zu dick zu sein oder zuzunehmen?“

Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit

„Gab es einmal eine Zeit in Ihrem Leben, in der Sie fünf oder mehr Gläser Alkohol pro Tag getrunken haben?“

Medikamentenmissbrauch oder – abhängigkeit

„Haben Sie schon mehrmals Anregungs-, Beruhigungs-, Schlaf- oder Schmerzmittel ohne ärztliche Verschreibung oder in höherer Dosierung eingenommen?“

Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit

„Haben Sie in Ihrem Leben schon mehrmals irgendwelche Drogen wie z. B. Haschisch, Ecstasy, Kokain oder Heroin eingenommen?“

2.3.1 Suizidalität 8,6 % aller wegen Suizidalität und 4 % aller wegen einer depressiven Störung (ohne spezielle Suizidalität) einmal hospitalisierten Patienten versterben durch Suizid. 60-70 % der Patienten haben während einer aktuellen depressiven Episode auch Suizidgedanken. Daher ist es besonders wichtig, Patienten aktiv und empathisch im Rahmen der Erstdiagnostik zur Suizidalität zu explorieren. Auch im weiteren Behandlungsverlauf, in dem Suizidalität neu auftreten kann, ist eine regelmäßige Erfassung notwendig.

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Die Abschätzung des Suizidrisikos sollte durch Erfragen von Risikomerkmalen vorgenommen werden:  „Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, nicht mehr leben zu wollen?“  „Häufig?“  „Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? D. h. mit anderen Worten: Haben sich Suizidgedanken aufgedrängt?“  „Konnten Sie diese Gedanken beiseite schieben?“  „Haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es tun würden?“  „Haben Sie Vorbereitungen getroffen?“  „Umgekehrt: Gibt es etwas, was Sie davon abhält?“  „Haben Sie schon mit jemandem über Ihre Suizidgedanken gesprochen?“  „Haben Sie jemals einen Suizidversuch unternommen?“  „Hat sich in Ihrer Familie oder Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen?“ Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

2-5

Bei jedem Patienten mit einer depressiven Störung sollte Suizidalität regelmäßig bei jedem Patientenkontakt klinisch eingeschätzt und gegebenenfalls exploriert werden.

KKP

2-6

Bei akuter Suizidgefährdung und fehlender Absprachefähigkeit bis zum nächsten vereinbarten Termin sollen die Patienten unter Berücksichtigung der individuell erforderlichen Sicherheitskautelen in psychiatrische Behandlung überwiesen werden.

A

2.3.2 Diagnostisches Vorgehen bei komorbiden Erkrankungen 2.3.2.1 Psychische Komorbidität Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

2-7

Depressive Störungen treten oft gleichzeitig mit anderen psychischen Störungen auf.

Statement

Besonders häufig zeigt sich eine Komorbidität von depressiven Störungen mit Angst- und Panikstörungen, somatoformen Störungen, Substanzmissbrauch sowie Ess- und Persönlichkeitsstörungen. Eine psychologische Zusatzdiagnostik ist nicht per se indiziert. Die Indikation einer auf andere Störungen gerichteten Diagnostik hängt davon ab, ob konkrete Verdachtsmomente gegeben sind. Bestätigen Screeningfragen den Verdacht (s. Beispiele zu Screeningfragen zur Differenzialdiagnose), müssen Symptome weiter aktiv exploriert werden.

2.3.2.2 Somatische Komorbidität Viele somatische Erkrankungen (wie z. B. Tumorerkrankungen, muskuloskelettale, endokrinologische, kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen, metabolische Störungen, Allergien, Infektionserkrankungen, Hirnerkrankungen) können mit depressiven Symptomen verbunden sein. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

2-8

Bei depressiven Störungen sollten das Vorliegen von körperlichen Erkrankungen, die Einnahme von Medikamenten und Noxen, die mit depressiven Symptomen einhergehen können, sowie Komorbiditäten sorgfältig geprüft werden. Bei Patienten, die fortan ausschließlich in psychotherapeutischer Behandlung sind, soll der körperliche Status in jedem Fall zuverlässig abgeklärt werden.

B

2-9

Nach der Erhebung der gegenwärtigen depressiven Symptomatik sollte eine ausführliche Anamnese und Befunderhebung weiterer psychischer und/oder somatischer Erkrankungen erfolgen.

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B

12

Empfehlungsgrad

Empfehlung/Statement

2-10

Bei entsprechenden Hinweisen auf eine die Erkrankung komplizierende somatische Komorbidität sollte eine Überweisung des Patienten zum Facharzt und bei komplizierender psychischer Komorbidität zum Facharzt oder Psychotherapeuten erfolgen.

0

2.4 Stufenplan der Diagnostik Hauptsymptome (Störung von Stimmung, Antrieb und/oder Aktivität) vorhanden? nein

andere psychische Erkrankungen Hinweis auf organische Ursache?

ja

organische psychische Störungen prüfen

nein

Hinweis auf Verursachung durch psychotrope Substanzen?

ja

Störungen durch psychotrope Substanzen prüfen

nein

genaue Erfassung der Psychopathologie des depressiven Syndroms und Erhebung der Informationen zum bisherigen Verlauf und zur Familienanamnese und zu belastenden Faktoren

Abbildung 1: Prozedurales Vorgehen bei der Diagnostik der unipolaren depressiven Störung

2.5 Verlaufsdiagnostik Bei der Therapie der unipolaren Depression bedarf es einer behandlungsbegleitenden Verlaufsdiagnostik und Prozessevaluation. Besonders während der Akutbehandlung ist ein regelmäßiges Monitoring der Behandlung notwendig. Selbsteinschätzungsinstrumente sind hierbei der Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D), das Beck-Depressionsinventar (BDI), die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS), der Fragebogen zur Depressionsdiagnostik (FDD), die Allgemeine Depressionsskala (ADS) sowie, bei älteren Patienten, die Geriatrische Depressionsskala (GDS), Fremdeinschätzungsinstrumente die Hamilton Depression Rating Scale (HDRS), die Bech-Rafaelsen-Melancholie-Skala (BRMS) sowie die Montgomery-Asberg Depression Rating Scale (MADRS). Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

2-11

Stellt sich in der Akutbehandlung 3-4 Wochen nach Behandlungsbeginn keine positive Entwicklung im Sinne der Zielvorgaben ein, sollte ein bislang nicht wirksames Vorgehen nicht unverändert fortgesetzt werden.

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0

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3. Therapie

Algorithmus 3: Therapie depressiver Störungen

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3.1 Behandlungsziele und Behandlungstrategien Als allgemeine Behandlungsziele gelten für Patienten mit depressiven Störungen:  die Symptome der depressiven Störung zu vermindern und letztlich eine vollständige Remission zu erreichen;  die Mortalität, insbesondere durch Suizid zu verringern;  die berufliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit wiederherzustellen;  das seelische Gleichgewicht wieder zu erreichen sowie  die Wahrscheinlichkeit für einen direkten Rückfall oder eine spätere Wiedererkrankung zu reduzieren. Die Wahl der geeigneten Behandlungsalternative richtet sich nach klinischen Faktoren, wie der Symptomschwere und dem Erkrankungsverlauf sowie der Patientenpräferenz. Grundsätzlich gibt es vier primäre Behandlungsstrategien:    

aktiv-abwartende Begleitung („watchful waiting“); medikamentöse Behandlung; psychotherapeutische Behandlung; Kombinationstherapie.

Weitere Therapieverfahren, z. B. Elektrokrampftherapie, Lichttherapie oder Wachtherapie, Sport- und Bewegungstherapie bzw. Ergotherapie ergänzen die Behandlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus kommen Verfahren wie beispielsweise künstlerische Therapien zum Einsatz.

3.1.1 Behandlungsphasen und phasenspezifische Behandlungsziele Bei einer leichten depressiven Episode kann mit dem Beginn der Behandlung abgewartet werden, wenn die Patienten eine Behandlung ablehnen oder man davon ausgehen kann, dass die depressive Symptomatik sich ohne Therapie zurückbildet („watchful waiting“ – „aktiv-abwartende Begleitung“). Jedoch sollte üblicherweise innerhalb der nächsten beiden Wochen eine erneute Überprüfung der Symptomatik erfolgen. Die Behandlung einer Depression, insbesondere wenn es sich um eine rezidivierende Depression handelt, lässt sich in drei Phasen aufgliedern: die Akuttherapie, die Erhaltungstherapie (bei alleiniger Pharmakotherapie: vier- bis neun Monate nach Remission; bei alleiniger Psychotherapie: acht- bis zwölf Monate nach Remission) und die Langzeit- bzw. Rezidivprophylaxe. Eine Rezidivprophylaxe ist nicht für alle Patienten erforderlich, sondern nur für jene, die a. ein erhöhtes Risiko für ein Wiederauftreten der Depression aufweisen und/oder b. bei denen lebensgeschichtlich erworbene ungünstige, die Störung unterhaltende Einflussfaktoren und verminderte Bewältigungsressourcen vorliegen, die zur Auslösung weiterer Krisen oder zur Chronifizierung beitragen können. Tabelle 6: Definition von Symptomveränderungen

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Ansprechen („Response“)

Reduzierung der depressiven Symptomatik in einschlägigen Skalen um 50% des Ausgangswertes zu Behandlungsbeginn.

Remission

Vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Funktionszustands oder ein weitgehend symptomfreier Zustand nach der Akuttherapie.

Rückfall („Relapse“)

Wiederauftreten einer depressiven Episode während der Erhaltungstherapie.

Vollständige Genesung

Symptomfreie Zeit für ca. 6 Monate nach Remission.

Rezidiv

Wiederauftreten einer depressiven Episode nach vollständiger Genesung.

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3.1.2 Einbezug von Patienten und Angehörigen Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-1

Im Gespräch mit Patienten und Angehörigen soll eine verständliche Sprache verwendet werden. Soweit Fachausdrücke verwendet werden, müssen diese erklärt werden.

A

3-2

Patienten und Angehörige sollen über Selbsthilfe- und Angehörigengruppen informiert und, wenn angebracht, zur Teilnahme ermuntert werden.

A

3-3

Depressive Patienten sollen über Symptomatik, Verlauf und Behandlung der Depression aufgeklärt werden. Wenn es angebracht ist und die Patienten einverstanden sind, gilt dies auch für deren Angehörige.

A

3.1.2.1 Partizipative Entscheidungsfindung Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-4

Über die gesetzlich vorgeschriebene Aufklärungspflicht hinaus sollte mit dem Patienten im Rahmen einer Partizipativen Entscheidungsfindung über mögliche Behandlungsstrategien und die damit verbundenen erwünschten Wirkungen und möglichen Risiken gesprochen und entschieden werden.

B

Tabelle 7: Schritte der Partizipativen Entscheidungsfindung

Schritt 1

Aufklärung über Diagnose, Verlauf und Prognose der Erkrankung sowie Angebot einer Partizipativen Entscheidungsfindung

Schritt 2

Gleichwertigkeit der möglichen Behandlungsoptionen betonen („Equipoise“)

Schritt 3

Behandlungsmöglichkeiten und Risiken beschreiben

Schritt 4

Explorieren von Verständnis, Gedanken und Befürchtungen des Patienten

Schritt 5

Erwartungen und unterschiedliche Entscheidungspräferenzen erfassen

Schritt 6

Entscheidung besprechen, treffen oder aufschieben

Schritt 7

Folgevereinbarung treffen

3.1.2.2 Psychoedukation Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-5

Psychoedukative Angebote für Betroffene und Angehörige sollten zur Verbesserung des Informationsstands, der Akzeptanz und der Patientenmitarbeit im Rahmen einer Gesamtbehandlungsstrategie als sinnvolle Ergänzung angeboten werden.

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B

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3.2 Versorgungskoordination und Interaktion der Behandler 3.2.1 Akteure in der Versorgung Als zentrale Akteure in der Versorgung für depressive Erkrankungen gelten v. a.      

Hausärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin bzw. für Innere Medizin, praktische Ärzte); Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenheilkunde; Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie; Ärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie und Psychoanalyse; Psychologische Psychotherapeuten; weitere Leistungserbringer für psychosoziale Therapien (Ergotherapeuten, Sozialarbeiter und -pädagogen, Soziotherapeuten, häusliche psychiatrische Pflege);  Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen in Allgemeinkrankenhäusern für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, einschließlich zugeordneter Instituts- und Hochschulambulanzen und spezifische, z. B. gerontopsychiatrische Zentren;  Rehabilitationseinrichtungen (insbesondere psychosomatische Rehabilitationskliniken). Darüber hinaus sind vielerorts Selbsthilfegruppen von Betroffenen bzw. von Angehörigen entstanden.

3.2.2 Schnittstellen in der Behandlung Folgende Indikationskriterien für unterschiedliche Stufen der Versorgung sind sinnvoll: Bei leichten bis mittelschweren depressiven Störungen kann eine alleinige ambulante Behandlung, nach lege artis durchgeführter somatischer, psychopathologischer und psychologischer Diagnostik, von allen relevanten Behandlungsgruppen, d. h. Hausärzten oder Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder Nervenärzte, Ärzten mit Zusatztitel Psychotherapie und Psychoanalyse oder Psychologischen Psychotherapeuten erfolgen. Bei hausärztlicher Behandlung ist nach spätestens sechs Wochen bei nicht ausreichender Besserung die Konsultation bei einem Facharzt oder einem Ärztlichen bzw. Psychologischen Psychotherapeuten zu erwägen. Bei psychotherapeutischer Behandlung ist bei fehlender Besserung nach spätestens drei Monaten die Konsultation eines Facharztes zu empfehlen. Zusätzlich zur oben beschriebenen Problematik wird die Überweisung oder Mitbehandlung zum bzw. durch den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Nervenarzt empfohlen insbesondere bei     

unklarer psychiatrischer Differentialdiagnostik; schwerer Symptomatik; Therapieresistenz; Problemen bei der Pharmakotherapie und/oder in einer Psychotherapie; Interaktionsproblemen im Rahmen der Kombinationstherapie von Antidepressiva mit anderen Medikamenten;  akuter Selbst- und Fremdgefährdung;  psychotischen Symptomen oder depressivem Stupor;  Komorbidität einer depressiven Störung mit einer anderen schweren, psychischen Störung sowie mit anderen schweren körperlichen Erkrankungen. Bei der Notwendigkeit zur Behandlung durch ein multiprofessionelles Team soll eine Überweisung zu einer psychiatrischen Institutsambulanz, wo komplexe Behandlungsprogramme vorgehalten werden, geprüft werden. Psychologische Psychotherapeuten und Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie führen im Allgemeinen Richtlinienpsychotherapie durch. Eine Überweisung zu den o.g. wird außerdem empfohlen:

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 zur psychotherapeutischen Mitbehandlung bei schwerer Symptomatik im Rahmen einer Kombinationstherapie;  bei psychotherapeutisch zugänglicher Therapieresistenz;  bei Komorbidität einer depressiven Störung mit einer anderen schweren psychischen Störung;  zur psychotherapeutischen (Mit-)behandlung;  bei Problemen in einer Psychotherapie;  bei einer psychotherapeutischen Behandlung bei Komorbidität von Depression und chronischen körperlichen Erkrankungen. Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Ärztliche Psychotherapeuten können, wenn sie nicht ausschließlich Psychotherapie anbieten und bei entsprechender Qualifikation, auch pharmakotherapeutisch, konsultiert werden, insbesondere dann, wenn ohnedies eine Kombinationstherapie aus Pharmako- und Psychotherapie Anwendung findet. Bei schweren und/oder chronifizierten Depressionen ist in der Regel neben einer fachärztlichen Pharmakotherapie eine zusätzliche Psychotherapie (durch einen Facharzt oder Psychologischen oder Ärztlichen Psychotherapeuten) indiziert. Eine Notfallindikation zur stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung besteht insbesondere bei Vorliegen einer akuten suizidalen Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit sowie deutlichen psychotischen Symptomen. Eine Indikation zur psychiatrisch-psychotherapeutischen stationären Behandlung besteht  bei der Gefahr der depressionsbedingten Isolation und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren;  bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen;  bei Therapieresistenz gegenüber ambulanten Therapien und  bei der starken Gefahr einer (weiteren) Chronifizierung sowie  bei so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen. Soll in derartigen Fällen vorrangig eine Psychotherapie angeboten werden, kann auch eine Indikation zur psychosomatisch-psychotherapeutischen stationären Behandlung bestehen. Gemäß SGB IX ist eine Indikation für eine stationäre Rehabilitationsbehandlung v. a. dann gegeben, wenn die Therapieziele in der Festigung von Behandlungserfolgen, der Behandlung von Krankheitsfolgen, der Verbesserung des Umgangs mit der (chronischen bzw. chronifizierten) Erkrankung oder der Verbesserung oder Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit bestehen. Eine Indikation für ambulante Ergotherapie nach den Heilmittelrichtlinien besteht insbesondere dann, wenn Maßnahmen zur Verbesserung oder zum Erhalt der eigenständigen Lebensführung und/oder der Grundarbeitsfähigkeiten angezeigt sind. Eine Indikation für Soziotherapie oder für häusliche psychiatrische Krankenpflege liegt insbesondere bei schwerer Symptomatik mit deutlicher Funktions- und Teilhabestörung vor. In diesem Zusammenhang sind auch Kriterien bedeutsam, die eine Entscheidung für eine Überweisung zur Konsiliar- bzw. Weiterbehandlung erleichtern und transparenter gestalten. Im Rahmen der Akut- und Erhaltungstherapie stellen sich neben Kooperationsfragen zwischen Haus-, Fachärzten, Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten sowie Fachkliniken auch Kooperationsfragen der ambulanten Einrichtungen mit Tageskliniken, Institutsambulanzen, stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen sowie Leistungserbringern im Bereich der psychosozialen Therapien, z. B. niedergelassenen Ergotherapeuten oder ambulanter Behandlungen unter Einschluss von Soziotherapie bzw. häuslicher psychiatrischer Pflege. Im Algorithmus Diagnostischer Prozess depressiver Störungen ist der Diagnoseprozess mit den jeweiligen Schnittstellen und Kooperationsebenen schematisch dargestellt. Zur Abgrenzung der verschiedenen depressiven Störungen und ihres Schweregrades ist sowohl die aktuelle Symptomatik als auch der bisherige Verlauf bedeutsam. Hierbei ist eine behandlungsrelevante Diagnose depressiver Erkrankungen durch die direkte und vollständige Erfassung der Haupt- und Zusatzsymptome sowie Fragen zu Verlauf, Schwere und dem Vorliegen somatischer bzw. ©

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psychotischer Symptome möglich. Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung ist insbesondere bzgl. einer bipolaren Störung, einer psychotischen Erkrankung, einer Suchterkrankung sowie einer demenziellen Erkrankung wichtig. Da viele andere Erkrankungen auch mit depressiven Symptomen verbunden sein können, ist daher bei entsprechendem Verdacht auch eine ausführliche Anamnese weiterer psychischer Störungen und somatischer Erkrankungen nach der Erhebung der gegenwärtigen depressiven Symptomatik notwendig. Das zentrale Behandlungsziel ist die vollständige Symptomremission und Rückfallprophylaxe. Die hierzu geeignete Behandlungsplanung ist im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung mit dem Patienten abzustimmen. Im Anschluss an eine Akuttherapie sollte die Behandlung über vier bis neun Monate zur Stabilisierung des Behandlungserfolgs und Reduzierung des Rückfallrisikos beibehalten werden (Erhaltungstherapie) – siehe Algorithmus Therapie depressiver Störungen. Bei Erstmanifestationen kann anschließend eine vorsichtige Reduktion der Therapieintensität erfolgen. Bei rezidivierenden Depressionen ist eine Langzeitrezidivprophylaxe entweder in Form einer singulären Pharmako- oder Psychotherapie oder als Kombinationsbehandlung aus medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung indiziert. Bei psychotherapeutischen Behandlungen, z. B. im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie, wird eine Trennung von Akutbehandlung, Erhaltungstherapie und Langzeitrezidivprophylaxe nicht in ähnlicher Weise vorgenommen, da symptomlindernde und prophylaktische therapeutische Elemente stärker ineinander greifen. Neben der Pharmakotherapie und der Psychotherapie stehen weitere Behandlungsmethoden zur Verfügung.

3.3 Pharmakotherapie 3.3.1 Substanzgruppen und Wirksamkeit Für die Indikation zur Akutbehandlung einer depressiven Störung steht eine große Zahl von in Deutschland zugelassenen Medikamenten zur Verfügung, die je nach ihrem spezifischen Wirkmechanismus in verschiedene Klassen unterteilt werden. Die wichtigsten Substanzgruppen sind (vgl. Anhang 3: „Antidepressiva – Wirkstoffe gegliedert nach Wirkstoffgruppen mit Angaben zu Dosierung, Plasmaspiegel und Monitoring“):  Tri- (und tetrazyklische) Antidepressiva (TZA) bzw. nichtselektive Monoamin-RückaufnahmeInhibitoren (NSMRI);  Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI);  Monoaminoxidase (MAO)-Inhibitoren (MAOI);  Selektive Serotonin-/Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNRI);  Selektive Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SNRI);  Alpha2-Rezeptor-Antagonisten;  Selektiver Noradrenalin-Dopamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (Bupropion);  Melatonin-Rezeptor-Agonist (MT1/MT) und Serotonin 5-HT2C-Rezeptor-Antagonist (Agomelatin). Darüber hinaus gibt es nicht Phytopharmaka (Johanniskraut).

klassifizierte

Antidepressiva

(Trazodon),

Lithiumsalze

und

Weitere Substanzen, wie Benzodiazepine und Antipsychotika, bei denen es sich nicht um Antidepressiva im eigentlichen Sinne handelt, die jedoch praktisch von Bedeutung sind, werden zur Behandlung bzw. in spezifischen Situationen eingesetzt. Wirksamkeit bei leichten Depressionen: Unterschiede zwischen Placebo und Antidepressiva sind statistisch nicht nachweisbar, so dass nur sehr wenige Patienten von einer Behandlung mit Antidepressiva profitieren dürften. Wirksamkeit bei mittelschweren bis schweren Depressionen: der Wirkunterschied zwischen Antidepressiva und Placebo ist hier ausgeprägter, da bei den schwersten Formen bis zu 30 % der behandelten Patienten über die Placeborate hinaus von Antidepressiva profitieren.

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Erhebliche Unterschiede zwischen den Substanzklassen bestehen jedoch bezüglich Toxizität und bezüglich der Nebenwirkungen. Letzteres ist von erheblicher klinischer Relevanz, da mehr als die Hälfte der mit Antidepressiva behandelten Patienten über unerwünschte Nebenwirkungen klagt. Wirkungseintritt und Verlauf der Besserung: Antidepressiva führen nicht zu einer schnelleren Besserung als Placebo. Antidepressiva stoßen jedoch den Heilungsprozess bei wesentlich mehr Patienten an als Placebo (zusätzliche 10-30 % bei mittelschweren bis schweren Depressionen). Bei adäquater Dosierung setzt die Wirkung der Antidepressiva rasch ein: bei 70 % aller gebesserten Patienten innerhalb der ersten beiden Wochen der Behandlung. Beobachtet man in den ersten beiden Wochen der Behandlung keinerlei Zeichen einer Besserung, so sinkt die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Ansprechens auf unter 15 %. Nach drei Wochen ohne Besserung liegt diese Wahrscheinlichkeit bereits unter 10 %. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte die Behandlung modifiziert werden, entweder durch Dosiserhöhung, Zugabe eines anderen Präparates oder durch Wechsel des Medikamentes.

3.3.2 Therapiegrundsätze für die Akutbehandlung Pharmakotherapie ist generell am erfolgversprechendsten, wenn sie auf einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient und Behandler aufbaut bzw. wenn diese als wesentliches Behandlungsmoment angestrebt wird. Vertrauen zum Behandler ist auch für die Mitarbeit des Patienten von großer Bedeutung; dies gilt insbesondere auch für die erfolgreiche Kontrolle und Vermeidung etwaiger Medikamenten-Nebenwirkungen. Pharmakotherapie ist von Beginn eingebettet in ein entsprechendes Gesprächsangebot.

3.3.2.1 Leichte depressive Episoden Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-6

Bei einer leichten depressiven Episode kann, wenn anzunehmen ist, dass die Symptomatik auch ohne aktive Behandlung abklingt, im Sinne einer aktivabwartenden Begleitung zunächst von einer depressionsspezifischen Behandlung abgesehen werden. Hält die Symptomatik nach einer Kontrolle nach spätestens 14 Tagen noch an oder hat sie sich verschlechtert, soll mit dem Patienten über die Einleitung einer spezifischen Therapie entschieden werden.

0

3-7

Antidepressiva sollten nicht generell zur Erstbehandlung bei leichten depressiven Episoden eingesetzt werden, sondern allenfalls unter besonders kritischer Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses.

B

3-8

Für einen Einsatz von Antidepressiva bei einer leichten depressiven Episode können u.a. sprechen:

Statement

 Wunsch/Präferenz des Patienten;  positive Erfahrung des Patienten mit gutem Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie in der Vergangenheit;  Fortbestehen von Symptomen nach anderen Interventionen;  Episoden mittelgradiger oder schwerer Depression in der Vorgeschichte des Patienten.

3.3.2.2 Mittelgradige und schwere depressive Episoden Eine Behandlung mit Antidepressiva ist insbesondere bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden indiziert. Dabei besitzen alle zugelassenen chemischen Antidepressiva bei ambulanter Anwendung eine vergleichbare antidepressive Wirksamkeit, unterscheiden sich aber bezüglich des Nebenwirkungs- und Interaktionsprofils.

Empfehlung/Statement ©

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Empfehlungs20

grad

3-9

Zur Behandlung einer akuten mittelgradigen depressiven Episode soll Patienten eine medikamentöse Therapie mit einem Antidepressivum angeboten werden.

A

3-10

Bei akuten schweren depressiven Episoden soll eine Kombinationsbehandlung mit medikamentöser Therapie und Psychotherapie angeboten werden.

A

3-11

Wenn bei leichten oder mittelgradigen depressiven Episoden eine Pharmakotherapie erwogen wird, kann bei Beachtung der spezifischen Nebenwirkungen und Interaktionen ein erster Therapieversuch auch mit Johanniskraut unternommen werden.

0

3-12

Patienten, die Johanniskraut einnehmen, sollten über die unterschiedliche Wirkstärke der verfügbaren Zubereitungen und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten informiert werden. Sie sollten ebenfalls aufgeklärt werden über mögliche schwere Wechselwirkungen von Johanniskraut mit anderen Medikamenten (einschließlich oraler Kontrazeptiva, Antikoagulantien und Antiepileptika).

B

3.3.2.3 Hinweise zur Auswahl des Antidepressivums Tabelle 8: Auswahlkriterien für Antidepressiva Verträglichkeit

Überdosierungssicherheit Ansprechen in einer früheren Krankheitsepisode Handhabbarkeit

Anwendungserfahrung Möglichkeiten bei Nichtansprechen Komorbidität und Komedikation

Patientenpräferenzen

 Anderes Nebenwirkungsprofil von SSRI im Vergleich zu TZA, v. a. bei ambulanten Patienten und im Vergleich zu klassischen, älteren TZA;  Im stationären Bereich kaum Verträglichkeitsunterschiede zwischen TZA und SSRI;  qualitative Unterschiede im Nebenwirkungsprofil von TZA und SSRI (mehr gravierende Komplikationen unter TZA wie Delir, kardiale Blockbildungen/Rhythmusstörungen oder Harnverhalt);  bei der Verschreibung von Antidepressiva für weibliche Patienten sollte berücksichtigt werden, dass diese eine geringere Toleranz gegenüber Imipramin aufweisen.  Einnahme einer Wochenration von TZA kann bei suizidalen Patienten letal sein; im ambulanten Bereich daher nur Verschreibung kleiner Packungsgrößen.  Wirksamkeit und Verträglichkeit einer früheren Antidepressivagabe sollte in die erneute Indikationsstellung einbezogen werden.  TZA verlangen eher eine individuelle Eintitrierung und Kontrolle als die SSRI oder neuere Antidepressiva (schrittweises Aufdosieren, Plasmaspiegel, EKGKontrollen);  schrittweises Aufdosieren ist auch bei SSRI und neueren Antidepressiva wie Venlafaxin und Mirtazapin sinnvoll.  Individuelle Anwendungserfahrung des Arztes mit einzelnen Antidepressiva ist für die Wirkstoffauswahl bedeutsam.  Bei TZA ist eine Serumspiegelbestimmung sinnvoll, da für die meisten TZA ein therapeutischer Serumspiegelbereich etabliert ist. Für TZA ist eine Hochdosisbehandlung effektiv, da eine Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht.  Komorbidität siehe Hinweise zu älteren Patienten unter Kapitel „Pharmakotherapie bei besonderen Patientengruppen“, Komedikation siehe Arzneimittelinteraktionen in der Langfassung“;  bei Komorbidität mit Zwangsstörung: SSRI oder Clomipramin;  bei Komorbidität mit ADHS: NRI.  Patienten reagieren physisch und psychisch unterschiedlich hinsichtlich Wirkung und Nebenwirkung von Antidepressiva, weswegen die individuelle Gewichtung der unerwünschten Wirkungen bei der Stoffauswahl eine Rolle spielt.

3.3.2.4 Therapiebeginn Empfehlung/Statement

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Empfehlungsgrad

21

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-13

Bei jedem Patienten sollte die antidepressive Medikation mit der niedrigen, als „Anfangsdosis“ bezeichneten Tagesdosis begonnen werden. Bei älteren Patienten ist es sinnvoll, bei Trizyklika diese Anfangsdosis zu halbieren und gegebenenfalls langsam aufzudosieren.

Statement

3-14

Bei trizyklischen Antidepressiva sind deren anticholinerge und chinidinartige Nebenwirkungen zu beachten. Daher ist deren Gabe für Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung, Engwinkelglaukom, Prostatahypertophie, Pylorusstenose und anderen ausgeprägten intestinalen Stenosen, schwerer Obstipation, kognitiven Störungen, Krampfleiden oder Verwirrtheitszuständen/Delir mit einem erhöhten Risiko verbunden.

Statement

3-15

Besonders zu Beginn der Therapie mit SSRI sollte auf  Hinweise auf ein Serotoninsyndrom (Verwirrtheit, Delir, Zittern/Frösteln, Schwitzen, Veränderungen des Blutdrucks, Myoklonus und Mydriasis);  Blutungsneigung in Verbindung mit der Gabe von nichtsteroidalen Antirheumatika;  Hyponatriämie v. a. bei älteren Patienten (SIADH = vermehrte Produktion oder Wirkung des antidiuretischen Hormons ADH);  Diarrhöe;  Suizidgedanken;  eine erhebliche Zunahme von motorischer Unruhe und von Angst und Agitiertheit geachtet werden. Die Patienten sollten auf die Möglichkeit solcher Symptome zu Beginn der medikamentösen Behandlung hingewiesen werden und bei deren Auftreten umgehend ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.

B

3-16

Eine intensive Aufklärung und engmaschige Betreuung (wöchentlich) in den ersten 4 Wochen ist zu empfehlen, um die Mitarbeit des Patienten zu fördern.

KKP

3-17

Wichtige Inhalte des Aufklärungsgesprächs sind:

Statement

 Bedenken gegenüber Antidepressiva (z. B. Sucht-, Toleranzentwicklung, Persönlichkeitsveränderungen) erkennen und ausräumen;  biologische Wirkmechanismen erklären;  auf Wirklatenz und mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten hinweisen;  Nebenwirkungen erläutern;  Behandlungsdauer begründen; dabei kann es vorteilhaft sein, Angehörige und/oder Selbsthilfegruppen einzubeziehen.

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22

3.3.2.5 Wirkungsprüfung und Therapiemonitoring Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-18

In den ersten 4 Behandlungswochen wird ein wöchentliches Monitoring, danach in Intervallen von 2-4 Wochen und nach 3 Monate in längeren Intervallen empfohlen.

Statement

 Spätestens nach 3-4 Wochen sollte eine genaue Wirkungsprüfung erfolgen und entschieden werden, ob ein Wechsel oder eine Ergänzung der Behandlungsstrategie indiziert ist oder nicht.  Ist keine Verbesserung erkennbar, sollte die Mitarbeit des Patienten und bei den dafür in Frage kommenden Medikamenten der Plasmaspiegel geprüft werden.  Grundsätzlich angeraten sind Plasmaspiegelkontrollen bei Behandlung mit der Maximaldosis, Verträglichkeitsproblemen, multimedizierten oder komorbiden Patienten, Symptomverschlechterung bei dosisstabiler antidepressiver Medikation und Non-Respondern bzw. Problemen in der Mitarbeit des Patienten.  Das Monitoring der Konzentrationen von Antidepressiva im Serum ist nur für trizyklische und tetrazyklische Substanzen gut etabliert.  Bei Beginn einer Medikation mit Antidepressiva sollten Blutbild und Transaminasen untersucht werden.  Bei Gabe von Lithium sind initial und im Verlauf der Kreatininwert, die KreatininClearance, die Elektrolyte und das Erfassen der Schilddrüsengröße sowie der TSH-Wert wichtig.  Gewichtskontrollen sind bei einigen Pharmaka wegen der möglichen Gewichtszunahme wichtig, vor allem unter Mirtazapin und den meisten Trizyklika (z. B. Trimipramin und Amitriptylin) sowie Lithium.  Wegen der chinidinartigen Effekte von TZA auf die Reizleitung mit der Gefahr von Blockbildungen und Arrhythmien sind vor Behandlungsbeginn, nach Aufdosierung und in Abhängigkeit von Dosierung und Risiko auch im Verlauf EKG-Kontrollen notwendig.  Jedem Patient, der mit Antidepressiva behandelt wird, sollte zu Beginn der Behandlung besondere Aufmerksamkeit gewidmet und auf mögliche Symptome, die auf eine Erhöhung des Suizidrisikos hindeuten, geachtet werden.  Beim Absetzen der Medikation sollten Antidepressiva in der Regel schrittweise über einen Zeitraum von 4 Wochen reduziert werden.

3.3.2.6 Absetzen der Medikation Antidepressiva sollten in der Regel schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen reduziert werden. In einigen Fällen werden auch längere Zeiträume benötigt. Fluoxetin hingegen kann gewöhnlich wegen seiner sehr langen Halbwertszeit über einen kürzeren Zeitraum abgesetzt werden. Solange die Absetzerscheinungen mild ausgeprägt sind, sollten die Patienten beruhigt und die Symptome überwacht werden. Falls die Symptome schwer sind, sollte das Wiederansetzen des ursprünglichen Antidepressivums (oder eines mit längerer Halbwertszeit aus derselben Wirkstoffklasse) in wirksamer Dosierung erwogen und es unter Überwachung noch langsamer abgesetzt werden.

3.3.2.7 Erhaltungstherapie Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-19

Antidepressiva sollen mindestens 4-9 Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus eingenommen werden, weil sich hierdurch das Risiko eines Rückfalls erheblich vermindern lässt. In dieser Erhaltungsphase soll die gleiche Dosierung wie in der Akutphase fortgeführt werden.

A

Eine Dosisreduktion impliziert ein erhöhtes Rückfallrisiko. Zur Beendigung der remissionsstabilisierenden Behandlung hat es sich bewährt, Antidepressiva zur Vermeidung von Absetzsymptomen ausschleichend zu dosieren.

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23

3.3.3 Rezidivprophylaxe Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-20

Patienten mit 2 oder mehr depressiven Episoden mit bedeutsamen funktionellen Einschränkungen in der jüngeren Vergangenheit sollten dazu angehalten werden, das Antidepressivum mindestens 2 Jahre lang zur Langzeitprophylaxe einzunehmen.

B

3-21

Zur Vorbeugung eines Rezidivs sollte die gleiche Dosierung des Antidepressivums verabreicht werden, die bei der Akuttherapie wirksam war.

0

3-22

Bei suizidgefährdeten Patienten soll in der Rezidivprophylaxe zur Reduzierung suizidaler Handlungen (Suizidversuche und Suizide) eine Medikation mit Lithium in Betracht gezogen werden.

A

3.3.4 Maßnahmen bei Nichtansprechen 3.3.4.1 Serumspiegelbestimmung und Therapeutisches Drug-Monitoring Unterschiede in der Metabolisierung/Enzymaktivität können dafür verantwortlich sein, dass trotz bestimmungsgemäßer Einnahme keine therapeutisch wirksame Serumkonzentrationen (Plasmaspiegel) erreicht werden. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-23

Spricht ein Patient nach 3-4 Wochen nicht auf eine Antidepressivamonotherapie an, sollten zunächst Ursachen für diesen Verlauf evaluiert werden. Zu diesen Ursachen gehören gegebenenfalls die mangelnde Mitarbeit des Patienten, eine nicht angemessene Dosis und ein zu niedriger Serumspiegel.

0

3.3.4.2 Dosiserhöhung Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-24

Bei zahlreichen Antidepressiva (z.B. TZA, Venlafaxin, Tranylcypromin) kann eine sinnvolle Maßnahme bei Non-Response im Aufdosieren der Substanz im Einklang mit den Anwendungsempfehlungen des Herstellers bestehen. Dies gilt nicht für SSRI.

0

Falls das Aufdosieren der Substanz allein nicht ausreichen sollte, ist eine der folgenden Strategien zu erwägen:  Die Verstärkung der antidepressiven Wirkung eines gegebenen Antidepressivums durch die zusätzliche Gabe einer weiteren Substanz, die selbst kein Antidepressivum ist. Diese Maßnahme wird als „Augmentation“ bezeichnet.  Das Umsetzen von einem Antidepressivum auf ein anderes Antidepressivum. Diese Maßnahme wird als Wechsel oder „Switching“ bezeichnet.  Die zusätzliche Gabe eines weiteren Antidepressivums zu einer bestehenden, aber nicht ausreichenden Medikation mit einem Antidepressivum. Diese Maßnahme wird als „Kombination“ bezeichnet.  Die Kombination mit einer Psychotherapie bzw. der Wechsel zur Psychotherapie.

3.3.4.3 Augmentation (Wirkungsverstärkung) Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-25

Ein Versuch zur Wirkungsverstärkung (Augmentation) mit Lithium sollte vom erfahrenen Arzt bei Patienten erwogen werden, deren Depression auf Antidepressiva nicht angesprochen hat.

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B

24

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-26

Wenn bei einem Patienten 2-4 Wochen nach Erreichen wirksamer Lithiumspiegel keine Wirkung festzustellen ist, sollte Lithium wieder abgesetzt werden.

KKP

3-27

Patienten, die gut auf ein Antidepressivum mit Lithium-Augmentation ansprachen, sollten unter diesem Regime für mindestens 6 Monate bleiben.

B

3-28

Die Augmentation von Antidepressiva mittels Carbamazepin, Lamotrigin, Pindolol, Valproat, Dopaminagonisten, Psychostimulanzien, Schilddrüsen- oder anderen Hormonen wird als Routineeinsatz bei therapieresistenter Depression nicht empfohlen.

0

3.3.4.4 Wechsel des Antidepressivums („Switching“) Beim Wechsel auf ein Antidepressivum einer anderen (oder derselben) Wirkstoffgruppe sollte immer zunächst eine andere Einzelsubstanz verordnet werden. Der Wechsel des Antidepressivums ist die am häufigsten nach Non-Response auf eine Antidepressivatherapie durchgeführte Strategie, deren Wirksamkeit durch Studien jedoch nicht gut belegt ist. Überwiegend wird empfohlen, beim Wechsel des Antidepressivums auch die Substanzklasse zu wechseln. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-29

Beim Wechsel zwischen Antidepressiva sollten wegen möglicher Wechselwirkungen eine schrittweise Aufdosierung des neuen und ein ausschleichendes Absetzen des alten Antidepressivums erfolgen.

B

3-30

Der Wechsel des Antidepressivums ist bei Nichtansprechen nicht die Behandlungsalternative erster Wahl. Jeder Wechsel sollte daher sorgfältig geprüft werden.

B

3-31

Bei der Umstellung von SSRIs, SNRI und Clomipramin auf MAO-Hemmer ist ein ausreichender Sicherheitsabstand von 2 Wochen, bei Fluoxetin von 5 Wochen zu berücksichtigen. Eine Kombination der MAO-Hemmer mit diesen Antidepressiva ist kontraindiziert.

Statement

3.3.4.5 Antidepressiva-Kombination Die Kombination eines Antidepressivums mit einem zweiten kann bei Patienten sinnvoll sein, deren Depression sich als therapieresistent erweist und die bereit sind, mögliche Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Für den therapeutischen Nutzen der Verordnung von mehr als zwei verschiedenen Antidepressiva gibt es keine Evidenz. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-32

Bei einem Patienten, der auf eine Antidepressivamonotherapie nicht respondiert hat, kann als einzige Antidepressivakombination die Kombination von Mianserin (unter Berücksichtigung des Agranulozytoserisikos) oder Mirtazapin einerseits mit einem SSRI oder einem TZA andererseits empfohlen werden. Nur für diese Kombination wurde in mehreren randomisierten und doppelblinden Studien gezeigt, dass sie wirksamer ist als die Monotherapie mit nur einem der Wirkstoffe.

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Statement

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Algorithmus 4:Medikamentöse Behandlung der therapieresistenten Depression

©

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26

3.3.5 Pharmakotherapie chronischer Depressionen Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-33

Bei Dysthymie und Double Depression soll die Indikation für eine pharmakologische Behandlung geprüft werden.

A

3-34

Bei einer chronischen (mehr als 2 Jahre persistierenden) depressiven Episode sollte eine pharmakologische Behandlung erwogen werden.

B

3.3.6 Einsatz anderer Substanzen Antipsychotika sind wegen des Nebenwirkungsprofils (Gefahr von Spätdyskinesien, Gewichtszunahme, Diabetes mellitus usw.) und ungenügendem Wirkungsnachweis nur bei wahnhaften Depressionen indiziert. Dies gilt auch für konventionelle Depotantipsychotika (z. B. Fluspirilen, Haloperidol-Decanoat), die insbesondere die Gefahr von Spätdyskinesien bergen. Benzodiazepine haben praktisch keine antidepressive Wirkung und sind für die Behandlung der Depression auch nicht zugelassen. Die Indikation von Benzodiazepinen muss letztlich im Individualfall geprüft und hinsichtlich möglicher Risiken (z. B. Sedierung, psychomotorische und kognitive Beeinträchtigung, Komedikation, Abhängigkeitspotential) diskutiert werden, die Anwendung sollte aber nur kurzfristig erfolgen (unter vier Wochen).

3.3.7 Pharmakotherapie bei besonderen Patientengruppen 3.3.7.1 Ältere Patienten Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-35

Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist auch für ältere Patienten belegt. Ältere Patienten sollten daher in gleicher Weise behandelt werden wie jüngere. Im Vergleich zu jüngeren Patienten ist das Nebenwirkungsprofil bzw. die Verträglichkeit noch stärker zu beachten. Wirksamkeitsunterschiede zwischen den beiden großen Antidepressivagruppen TZA und SSRI, aber auch zu anderen bzw. neueren Antidepressiva (z. B. Moclobemid, Venlafaxin, Mirtazapin) wurden bislang nicht nachgewiesen. Bei älteren Patienten sollte eine Behandlung mit TZA in einer erniedrigten Anfangsdosis begonnen werden.

Statement

Neurotoxische Reaktionen unter Lithiumsalzen sind häufiger bei älteren Patienten und insbesondere in Kombination mit anderen Psychopharmaka (klassische und atypische Antipsychotika) beschrieben worden.

3.3.7.2 Demenz Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-36

Grundsätzlich können Patienten mit Depression und gleichzeitig vorliegenden hirnorganischen Erkrankungen in gleicher Weise mit Antidepressiva behandelt werden wie ältere Patienten ohne hirnorganische Erkrankungen. Dabei sollten allerdings Wirkstoffe mit sedierender und/oder anticholinerger Komponente vermieden werden.

0

Zur medikamentösen Behandlung der Depression bei Patienten mit Demenz liegen nur sehr wenige Untersuchungen vor, die die Überlegenheit von Antidepressiva gegenüber Placebo nicht ausreichend stützen. Gegebenenfalls sollten jedoch Substanzen ohne anticholinerge Wirkkomponente verwendet werden. Bei schwerer Depression bzw. Depressionen in der Vorgeschichte erscheint eine Behandlung jedoch in gleicher Weise wie bei anderen älteren Erwachsenen gerechtfertigt, soweit möglich auch mit dem Präparat, das bereits früher Wirksamkeit beim individuellen Patienten gezeigt hat.

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3.3.7.3 Schwangerschaft und Stillzeit Bei einer geplanten Schwangerschaft und vorbestehender rezivierender Depression ist eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen. Bei hohem individuellem Rezidivrisiko ist – in Abwägung der Auswirkung einer erneuten Erkrankung – eine niedrig dosierte Monotherapie auch während der Schwangerschaft sinnvoll. Die Auswahl des Medikaments vor einer geplanten Schwangerschaft oder während der Schwangerschaft bzw. während des Stillens nach der Geburt richtet sich vor allem danach, inwieweit die Substanz teratogen bzw. in der Muttermilch nachweisbar und daher für das Kind nachteilig sein könnte. Neben Lithium, das zu Herzfehlbildungen, insbesondere Ebstein-Anomalien beim Embryo führen kann, besitzen die Antiepileptika Valproinsäure und Carbamazepin teratogene Effekte, wie Fehlbildungen am Herzen und Skelett. Die Geburt bei antidepressiv medizierten Frauen sollte möglichst in einer Geburtsklinik mit angeschlossener Neonatologie stattfinden, so dass beim Auftreten von Absetzeffekten und Nebenwirkungen der Medikation beim Kind jederzeit eine intensive Überwachung möglich ist. Unter einer guten Nutzen-Risiko-Abwägung ist Stillen grundsätzlich mit einer antidepressiven Medikation vereinbar. Schließlich könnte bei Patientinnen, die bislang unbehandelt sind oder pharmakotherapeutisch behandelt wurden, alternativ zusätzlich auch eine Psychotherapie oder der gänzliche Verfahrenswechsel zur Psychotherapie erwogen werden.

3.3.7.4 Depression in der Perimenopause Affektive Störungen werden bei Frauen im mittleren Lebensalter oft den hormonellen Veränderungen der Perimenopause zugeschrieben. Derzeit können keine Empfehlungen von Hormontherapien bzw. so genannten Hormonersatztherapien zur Depressionsbehandlung gegeben werden.

3.3.7.5 Wahnhafte Depression Schwere depressive Störungen können von psychotischen Symptomen, wie Wahnideen und/oder Halluzinationen begleitet sein. Bei wahnhaften Depressionen wird oft die Kombination von Antidepressiva mit einem Antipsychotikum angewandt. Diese Empfehlung ist auf die allgemeinen klinischen Erfahrungen und weniger auf stringente klinische Studien begründet. Bei Patienten mit wahnhafter Depression ist eine fachpsychiatrische Mitbetreuung notwendig. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-37

Bei Patienten mit psychotischer Depression sollte die Kombination des Antidepressivums mit Antipsychotika erwogen werden, wobei die optimale Dosierung und Anwendungsdauer dieser Medikamente unbekannt sind.

B

3.4 Psychotherapie Psychotherapie ist die Behandlung von Individuen auf der Basis einer Einwirkung mit überwiegend psychologischen Mitteln. In der Behandlung depressiver Erkrankungen hat sich Psychotherapie heute in großem Umfang mittels unterschiedlicher Verfahren etabliert, sowohl im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich. Bei Psychotherapien sind auch mögliche unerwünschte und schädliche Wirkungen zu beachten wie z.B. bei falscher Indikationsstellung oder Erfolglosigkeit durch unprofessionelle Ausübung, mangelnde „Passung“ zwischen Patientenund Therapeutenpersönlichkeit sowie durch unethisches Verhalten des Therapeuten. Die psychotherapeutische Basisbehandlung depressiver Störungen beinhaltet folgende Aspekte:  aktives flexibles und stützendes Vorgehen, Vermittlung von Ermutigung und Hoffnung;  empathische Kontaktaufnahme, Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung;  Exploration des subjektiven Krankheitsmodelles, Klärung aktueller Motivationen und der Therapieerwartungen des Patienten;

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 Vermittlung eines Verständnisses der Symptome, ihrer Behandelbarkeit und ihrer Prognose, Vermittlung eines „biopsychosozialen Krankheitsmodelles“ zur Entlastung des Patienten von Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Versagensgefühlen;  Klärung aktueller äußerer Problemsituationen, Entlastung von zurzeit überfordernden Pflichten und Ansprüchen am Arbeitsplatz und in der familiären Situation;  Verhinderung depressionsbedingter Wünsche nach überstürzter Veränderung der Lebenssituation, Unterstützung beim Formulieren und Erreichen konkreter, erreichbarer Ziele zum Wiedergewinnen von Erfolgerlebnissen (positive Verstärker);  Vermittlung von Einsicht in die individuelle Notwendigkeit adäquater Therapien (z. B. Antidepressiva, Richtlinien-Psychotherapie);  Einbezug von Angehörigen, Stärken der Ressourcen;  Ansprechen von Suizidimpulsen, Erarbeitung eines Krisenmanagements. Als psychotherapeutische Verfahren, die durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) finanziert sind (so genannte „Richtlinienverfahren“), stehen in Deutschland für die ambulante Behandlung von Patienten mit depressiven Erkrankungen Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie zur Verfügung. Andere Verfahren, wie die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) oder die Gesprächspsychotherapie (GPT) sind im Rahmen der ambulanten GKV-Versorgung nicht erstattungsfähig. Sämtliche Konzepte der Richtlinienpsychotherapie implizieren eine umfassende Behandlung, die sowohl die Symptombeseitigung, die Stabilisierung der Verbesserungen sowie die Rezidivprophylaxe beinhaltet. Im stationären Bereich kommen unterschiedliche Psychotherapieverfahren zum Einsatz: psychodynamische, modifiziert analytische, verhaltenstherapeutische, gesprächstherapeutische und systemische (familien-) therapeutische Verfahren sowie die Interpersonelle Psychotherapie. Diese werden durch weitere psychotherapeutisch mitgeprägte Behandlungsverfahren, wie z. B. Psychoedukation, Ergotherapie, Angehörigengruppen, Musik-, Kunst- und Gestaltungstherapie oder Entspannungstechniken und körper- und bewegungsbezogene Therapien ergänzt. Die meisten Belege für eine psychotherapeutische Monotherapie liegen für leichte und mittelgradige depressive Störungen vor. Bei mittelschweren- bis schweren depressiven Episoden ist eine Differenzialindikation erforderlich. Es ist zu berücksichtigen, dass bei schweren depressiven Episoden die Wirklatenz einer alleinigen Psychotherapie gegenüber einer alleinigen Pharmakotherapie oder einer Kombinationsbehandlung aus Pharmako- und Psychotherapie erhöht sein kann. Analog zum Vorgehen bei einer pharmakotherapeutischen Behandlung kann bei einer leichten depressiven Episode mit dem Beginn einer störungsspezifischen Psychotherapie abgewartet werden, wenn anzunehmen ist, dass die depressive Symptomatik sich ohne Therapie zurückbildet. Innerhalb der nächsten 14 Tage sollte dann jedoch eine erneute Kontrolle der Symptomatik stattfinden („aktiv-abwartende Begleitung“ („Watchful Waiting“) und über die Einleitung einer spezifischen Therapie entschieden werden (vgl. Algorithmus Therapie der Depression“). Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-38

Grundlage jeder psychotherapeutischen Intervention sollte die Entwicklung und die Aufrechterhaltung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung sein, deren Qualität in der Regel zum Behandlungserfolg beiträgt.

B

3.4.1 Empfehlungen zur psychotherapeutischen Akutbehandlung Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-39

Bei einer leichten depressiven Episode kann, wenn anzunehmen ist, dass die Symptomatik auch ohne aktive Behandlung abklingt, im Sinne einer aktivabwartenden Begleitung zunächst von einer depressionsspezifischen Behandlung abgesehen werden. Hält die Symptomatik nach einer Kontrolle nach spätestens 14 Tagen noch an oder hat sie sich verschlechtert, soll mit dem Patienten über die Einleitung einer spezifischen Therapie entschieden werden.

0

3-40

Zur Behandlung akuter leichter- bis mittelschwerer depressiver Episoden soll eine Psychotherapie angeboten werden. ©

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A 29

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-41

Bei akuten schweren Depressionen soll eine Kombinationsbehandlung mit medikamentöser Therapie und Psychotherapie angeboten werden.

A

3-42

Wenn ein alleiniges Behandlungsverfahren in Betracht gezogen wird, soll bei ambulant behandelbaren Patienten mit akuten mittelschweren- bis schweren depressiven Episoden eine alleinige Psychotherapie gleichwertig zu einer alleinigen medikamentösen Therapie angeboten werden.

A

3-43

Depressive Patienten mit psychotischen Merkmalen sollten in jedem Falle eine medikamentöse Therapie erhalten.

Statement

3.4.2 Empfehlungen zur Psychotherapie bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression Bei Patienten mit Dysthymien, Double Depression und chronischer Depression wurden bisher insgesamt vergleichsweise weniger Psychotherapiestudien und solche mit relativ kleinen Stichproben und relativ kurzen Therapiezeiträumen durchgeführt. Die Studienergebnisse zeigen, dass Psychotherapie auch bei den chronischen Depressionsformen wirksam, eine Kombinationstherapie mit Antidepressiva jedoch überlegen ist. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-44

Bei Dysthymie, Double Depression und chronischer Depression soll der Patient darüber informiert werden, dass eine Kombinationstherapie mit Psychotherapie und Antidepressiva gegenüber einer Monotherapie wirksamer ist.

A

3.4.3 Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie Psychotherapie wird in der Praxis im Rahmen der Behandlung depressiver Störungen häufig mit einer Pharmakotherapie kombiniert. Hierbei lassen sich drei Formen unterscheiden: 1. Psychotherapie wird nach einer Pharmakotherapie in der Akutbehandlungsphase eingeführt. 2. Die eine oder andere Behandlungsform wird zusätzlich bei Nicht- bzw. geringer Effektivität einer alleinigen Behandlungsform eingeführt (augmentierend) bzw. wenn Aspekte hinzukommen, die eine spezifische Indikation zur Pharmakotherapie oder zur Psychotherapie ergeben. 3. Beide Behandlungsformen werden gleichzeitig angewendet. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-45

Bei schweren und rezidivierenden sowie chronischen Depressionen, Dysthymie und Double Depression sollte die Indikation zur Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und geeigneter Psychotherapie vorrangig vor einer alleinigen Psychotherapie oder Pharmakotherapie geprüft werden.

B

3-46

Studienergebnisse liefern Hinweise, dass die Compliance bei einer medikamentösen Therapie höher ist, wenn zugleich auch eine Psychotherapie stattfindet.

Statement

3.4.4 Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe durch Psychotherapie Wegen des häufig rezidivierenden Verlaufs depressiver Störungen und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Therapieerfolgs und zur Rezidivprophylaxe haben psychotherapeutische Strategien, die einen einmal eingetretenen Behandlungserfolg beibehalten helfen, wachsende Bedeutung, ebenso geeignete Verfahren zur Behandlung einer Residualsymptomatik bei partieller Remission.

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3.4.4.1 Psychotherapie als alleinige Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-47

Zur Stabilisierung des Therapieerfolgs sowie zur Senkung des Rückfallrisikos soll im Anschluss an eine Akutbehandlung eine angemessene psychotherapeutische Nachbehandlung (Erhaltungstherapie) angeboten werden.

A

3.4.4.2 Psychotherapie als Teil einer Kombinationsbehandlung Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-48

Längerfristige stabilisierende Psychotherapie (Rezidivprophylaxe) soll Patienten mit einem erhöhten Risiko für ein Rezidiv angeboten werden.

A

3.4.5 Effektivität von Psychotherapie bei behandlungsresistenter Depression Als behandlungsresistent werden depressive Störungen angesehen, wenn Patienten auf mindestens zwei unterschiedliche, adäquat (auf-)dosierte Antidepressiva aus verschiedenen Wirkstoffklassen keine Response gezeigt haben. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-49

Bei therapieresistenter Depression sollte den Patienten eine angemessene Psychotherapie angeboten werden.

B

3.5 Nichtmedikamentöse somatische Therapieverfahren 3.5.1 Elektrokonvulsive Therapie Die elektrokonvulsive Therapie (Elektrokrampftherapie = EKT) basiert darauf, dass in Narkose und unter Muskelrelaxation durch eine kurze elektrische Reizung des Gehirns ein generalisierter Krampfanfall ausgelöst wird. EKT ist ein sicheres Behandlungsverfahren, bei dem die Mortalitäts- und Morbiditätsraten extrem gering sind. Die Rückfallrate ohne Erhaltungstherapie nach EKT ist hoch: Zwischen 50 % und 95 % der Patienten, die auf eine EKT hin remittiert sind, erleiden innerhalb von sechs Monaten einen Rückfall. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-50

EKT soll bei schweren, therapieresistenten depressiven Episoden als Behandlungsalternative in Betracht gezogen werden.

A

3-51

EKT kann auch zur Erhaltungstherapie eingesetzt werden bei Patienten, die  während einer Krankheitsepisode auf EKT angesprochen haben;  nicht angesprochen haben auf eine andere leitliniengerechte antidepressive Therapie;  psychotische Merkmale aufweisen oder  eine entsprechende Präferenz haben.

0

3.5.2 Wachtherapie (Schlafentzugstherapie) Partieller Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte beziehungsweise vollständiger Schlafentzug ist die einzige antidepressive Intervention mit ausgeprägten und sichtbar positiven Wirkungen noch am gleichen Tag. Angesichts ihrer relativ leichten Umsetzbarkeit in einem ambulanten oder stationären Setting, Nichtinvasivität, Kosteneffizienz und raschen Wirkung kann die Wachtherapie als ein die antidepressive Therapie ergänzendes Element eingesetzt werden. Dies gilt besonders, wenn ©

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31

eine rasche Response notwendig ist oder bei Schlafentzug als Add-On-Therapie die Effekte einer ungenügenden medikamentösen Therapie augmentiert werden sollen. Der antidepressive Effekt ist in der Regel jedoch nicht anhaltend. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-52

Wachtherapie sollte in der Behandlung depressiver Episoden als Behandlungsform erwogen werden, wenn eine rasche, wenn auch kurz anhaltende Response therapeutisch gewünscht wird oder eine andere leitliniengerechte Behandlung ergänzt werden soll.

B

3.5.3 Lichttherapie Die saisonal abhängige Depression (saisonale depressive Störung nach F33) ist ein bestimmter Subtyp der rezidivierenden depressiven Störung, die mit einem saisonalen Muster auftritt. Dabei ist die „Winter“-Depression die am meisten verbreitete Art der saisonal abhängigen Depression, bei der Patienten Symptome einer klinischen Depression zeigen, speziell im Herbst und Winter, mit einer vollständigen Remission im Frühling und Sommer. Lichttherapie („Phototherapie“) oder die Medikation mit SSRI gelten als Behandlung erster Wahl bei saisonal abhängiger Depression Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-53

Lichttherapie soll als Behandlungsform bei Patienten mit leicht- bis mittelgradigen Episoden rezidivierender depressiver Störungen, die einem saisonalen Muster folgen, erwogen werden.

A

3-54

Mit Lichttherapie behandelte Patienten mit saisonal abhängiger depressiver Episode, die auf diese Therapieform ansprechen, können die Lichttherapie den gesamten Winter über fortsetzen.

0

3.5.4 Körperliches Training Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-55

Körperliches Training kann aus klinischer Erfahrung heraus empfohlen werden, um das Wohlbefinden zu steigern und depressive Symptome zu lindern.

KKP

3.5.5 Neuere nichtpharmakologische therapeutische Möglichkeiten 3.5.5.1 Repetitive Transkranielle Magnetstimulation Repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist eine neue Technologie, um nichtinvasiv kortikale Neurone durch magnetische Induktion zu stimulieren. Dabei wird wiederholt (über zwei Wochen hinweg täglich) der linke oder rechte präfrontale Kortex durch ein kurzes, hochintensives magnetisches Feld stimuliert Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-56

Für die Repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) und die Vagus-NervStimulation (VNS), neue somatische Therapieverfahren bei Depression, gibt es noch zu wenig Evidenz, um Empfehlungen für ihre allgemeine klinische Nützlichkeit und Anwendbarkeit aussprechen zu können.

Statement

3.5.6 Unterstützende Therapieverfahren und therapeutische Maßnahmen Ergotherapie zielt auf die Wiederherstellung und den Erhalt von Handlungsfähigkeit, Teilhabe und Lebensqualität in für den Einzelnen wichtigen Lebensbereichen (z. B. Selbstversorgung, Haushaltsführung, Wirtschaftliche Eigenständigkeit, Beruf und Ausbildung). ©

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Soziotherapie stellt eine Unterstützung und Handlungsanleitung für chronisch psychisch kranke Menschen zur Überwindung krankheitsspezifischer Defizite und daraus entstehender Beeinträchtigung im sozialen Umfeld dar. Depressive Patienten, die schwer erkranken, sind häufig nicht in der Lage, Leistungen, auf die sie Anspruch haben, selbständig in Anspruch zu nehmen. Soziotherapie soll ihnen die Inanspruchnahme ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen ermöglichen. Sie soll dem Patienten durch Motivierung und strukturierte Trainingsmaßnahmen helfen, psychosoziale Defizite abzubauen; der Patient soll in die Lage versetzt werden, die erforderlichen Leistungen zu akzeptieren und selbständig in Anspruch zu nehmen. Häusliche psychiatrische Krankenpflege (HKP) ist ein gemeindeorientiertes Versorgungsangebot. Sie soll dazu beitragen, dass psychisch kranke Menschen ein würdiges, eigenständiges Leben in ihrem gewohnten Lebenszusammenhang führen können. Durch die Pflege vor Ort soll das Umfeld beteiligt und die soziale Integration gewährleistet werden. Im Kontext des „Home treatment“Konzeptes, das Behandlung auch Schwerkranker im häuslichen Milieu ermöglicht, ist die HPK ein wesentlicher Bestandteil. Die ambulante psychiatrische Pflege kann wiederkehrende Klinikaufenthalte, die von den Betroffenen und dem sozialen Umfeld häufig als stigmatisierend empfunden werden, vermeiden. Die ambulante Pflege soll mit ihren flexiblen, aufsuchenden Angeboten Behandlungsabbrüchen vorbeugen. Sie dient der Stärkung des Selbsthilfepotenzials und der Kompetenzerweiterung des Patienten im Umgang mit seiner Krankheit und Kenntnis von Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe. Rechtzeitiges Erkennen von Krisen und sachgerechtes Bewerten von Symptomen einer Krise sind wesentliche Elemente, die eine Abschwächung des Verlaufes einer Krise bewirken sollen.

3.6 Therapie bei Komorbidität Komorbidität ist in der Praxis der Regelfall und meint das Auftreten von zwei oder mehr verschiedenen Krankheiten zur selben Zeit. Unter „lebenszeitlicher Komorbidität“ wird das Auftreten von zwei oder mehr verschiedenen Störungen über die Lebenszeit eines Individuums verstanden.

3.6.1 Depression und komorbide psychische Störungen Das gleichzeitige Vorhandensein komorbider psychischer Störungen kann den Verlauf erheblich komplizieren und die Therapie erschweren bzw. zu einer Therapieresistenz führen. Daher besitzt eine genaue Differenzialdiagnostik bei Vorliegen depressiver Störungen einen besonderen Stellenwert.

3.6.1.1 Angst- und Zwangsstörungen Komorbide Syndrome aus depressiver und Angststörung sind mit erhöhter Symptomstärke, Chronizität, stärkeren funktionellen Einschränkungen und höherem Leidensdruck verbunden, außerdem mit einer schlechteren Response auf eine antidepressive psychopharmakologische und psychotherapeutische Monotherapie und einer höheren Suizidrate. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-57

Bei Vorliegen von depressiven Episoden und komorbiden Angststörungen sind sowohl Psychotherapie (empirische Belege liegen vor für KVT und IPT) als auch Pharmakotherapie (empirische Belege liegen vor für SSRIs und Venlafaxin) wirksame Behandlungsverfahren.

Statement

3.6.1.2 Alkoholabhängigkeit Ungefähr ein Drittel der Patienten mit affektiven Störungen weist, auf die Lebenszeit bezogen, einen Substanzmissbrauch auf. Bei ca. einem Viertel aller alkoholkranken Männer und der Hälfte aller alkoholkranken Frauen treten Depressionen auf. Da sowohl Depressionen als auch Suchterkrankungen mit einer erhöhten Suizidalität einhergehen, ist hierauf besonderes Augenmerk zu richten. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-58

Bei Komorbidität von Alkoholabhängigkeit und depressiver Störung reduziert eine Pharmakotherapie mit Antidepressiva (empirische Belege liegen vor für Fluoxetin, ©

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Statement

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Desipramin und Mirtazapin) sowohl die depressiven Symptome als auch die Wahrscheinlichkeit eines Alkoholrückfalls. 3-59

Bei Vorliegen einer depressiven Störung und einer komorbiden Alkoholabhängigkeit reduziert eine antidepressive Psychotherapie depressive Symptome, sowohl als alleiniges Verfahren als auch als Teil einer Kombinationsbehandlung mit einer Pharmakotherapie oder einer alkoholspezifischen Psychotherapie (empirische Belege liegen für die KVT vor).

Statement

3-60

Unabhängig von einer möglicherweise notwendigen Krisenintervention sollte bei Komorbidität von Depression und Alkoholabhängigkeit eine Depressionsbehandlung nicht vor einer 2-4-wöchigen Abstinenz begonnen werden, da erst dann eine valide Depressionsdiagnostik und entsprechende Indikationsstellung möglich ist. In einer akuten Situation (z. B. bei schwerer depressiver Episode oder bestehender Suizidalität) ist der Behandlungsbedarf sofort gegeben.

B

3.6.1.3 Essstörungen Die Lebenszeitprävalenz einer komorbiden Depression bei Essstörungen liegt einigen Studien zufolge bei 75 %. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-61

Zur Psychotherapie der komorbiden Depression bei Essstörungen existieren keine systematischen Untersuchungen, so dass über die störungsbezogenen Empfehlungen zur Behandlung der Essstörungen und der Depression hinaus keine evidenzbasierten Empfehlungen bei dieser Komorbidität gegeben werden können.

Statement

3-62

Bei einer Komorbidität aus depressiver Episode und Bulimia nervosa kann eine Pharmakotherapie mit Fluoxetin zur Verbesserung der depressiven Symptomatik angeboten werden.

Statement

3-63

Bei der Pharmakotherapie der Depression bei Essstörungen sollten substanzspezifische Effekte auf die jeweilige Essstörung beachtet werden, z. B. Gewichtszunahme unter Mirtazapin, Mianserin und sedierenden trizyklischen Antidepressiva, Übelkeit und Appetitreduktion unter SSRI. Eine Reduktion von Essattacken ist für Fluoxetin empirisch belegt.

Statement

Die Wirkung von Antidepressiva kann insbesondere bei schlechtem Ernährungszustand und niedrigem Gewicht herabgesetzt sein.

3.6.1.4 Persönlichkeitsstörungen Zwischen depressiven Störungen und Persönlichkeitsstörungen besteht nach klinischen Stichproben eine Komorbidität von 30-40%, wobei die am häufigsten berichteten komorbiden Persönlichkeitsstörungen die ängstlich-vermeidende, die Borderline- und die paranoide Persönlichkeitsstörung sind. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-64

Für die Wirksamkeit einer Pharmakotherapie mit einem SSRI oder einem MAOHemmer oder einem atypischen Antipsychotikum bei Patienten mit einer Komorbidität von depressiver Störung und Borderline-Persönlichkeitsstörung liegen empirische Belege vor.

Statement

3-65

Für die Wirksamkeit einer Psychotherapie (empirische Hinweise existieren für die KVT, die IPT und die psychodynamische Kurzzeitpsychotherapie) bei Patienten mit einer Komorbidität von depressiver Störung und Persönlichkeitsstörung (Borderline, paranoid, ängstlich-vermeidend und dependent) liegen empirische Hinweise vor als alleiniges Verfahren oder als Teil einer Kombinationsbehandlung mit ©

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Statement

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Pharmakotherapie. Darüber hinaus liegen Hinweise dafür vor, dass bei Komorbidität mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie wirksamer ist als eine alleinige Pharmakotherapie.

3.6.1.5 Somatoforme Störungen In der Kategorie somatoforme Störungen erfasst die ICD-10 die Somatisierungsstörung, die somatoforme autonome Funktionsstörung, die anhaltende somatoforme Schmerzstörung, die dissoziative oder Konversionsstörung, die hypochondrische Störung sowie die dysmorphophobe Störung. In stationären klinischen Stichproben wurde für die Komorbidität mit depressiven Störungen eine Häufigkeit zwischen 50 und 90 % unter somatoform gestörten Patienten gefunden. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-66

Obwohl depressive Störungen und somatoforme Störungen relativ häufig gemeinsam auftreten, können aufgrund der unzureichenden Studienlage keine Empfehlungen über eine Pharmako- oder Psychotherapie bei dieser Komorbidität ausgesprochen werden. Entsprechend gelten die evidenzbasierten Behandlungsempfehlungen für beide Störungen, z. B. die Leitlinie „Somatoforme Störungen“.

Statement

3.6.2 Depression und komorbide somatische Erkrankungen Depression und somatische Erkrankungen treten häufig gemeinsam auf. Die Lebenszeitprävalenz für eine depressive oder eine Angststörung bei somatisch Kranken liegt bei ca. 40 %. Neurologische, endokrine und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie Tumorerkrankungen werden häufig durch depressive Störungen kompliziert. Das gleichzeitige Vorhandensein einer depressiven Störung kann eine Verstärkung der körperlichen Symptome, eine schlechtere Anpassung an die Erkrankung, eine reduzierte Behandlungsadhärenz sowie vermehrte psychosoziale Funktionseinschränkungen prädisponieren. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-67

Über die Wirksamkeit von Psychotherapie bei einer Komorbidität von depressiven Störungen und körperlichen Erkrankungen können aufgrund der unzureichenden Studienlage nur sehr eingeschränkt spezifische Empfehlungen ausgesprochen werden.

Statement

3-68

Pharmakotherapeutische Behandlungen (empirische Belege liegen vor für SSRIs, aber auch TZAs) sind bei Komorbidität aus depressiven Störungen und körperlichen Erkrankungen wirksam in der Reduzierung depressiver Symptome.

Statement

3.6.2.1 Kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfall Eine depressive Störung gilt als Risikofaktor sowohl für die Entwicklung einer KHK als auch für die Mortalität. Bei KHK-Patienten müssen medikamentöse Behandlungsmaßnahmen insbesondere auf ihre kardiale Verträglichkeit und ihre möglichen Nebenwirkungen überprüft werden. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-69

Bei koronarer Herzerkrankung und komorbider mittelgradiger bis schwerer depressiver Störung soll eine Pharmakotherapie vorzugsweise mit Sertralin oder Citalopram angeboten werden.

A

3-70

Bei koronarer Herzerkrankung und komorbider depressiver Störung sollen trizyklische Antidepressiva wegen ihrer kardialen Nebenwirkungen nicht verordnet werden.

A

3-71

Hinsichtlich psychotherapeutischer Interventionen bei depressiver Störung und komorbider koronarer Herzerkrankung kann bei derzeitigem Wissensstand keine ©

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Statement

35

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

eindeutige Empfehlung ausgesprochen werden. 3-72

Patienten mit einer Depression nach Schlaganfall sollte unter Beachtung der Gefahren anticholinerger Begleitwirkungen eine Pharmakotherapie angeboten werden (empirische Hinweise liegen vor für Fluoxetin, Citalopram und Nortriptylin).

B

3.6.2.2 Tumorerkrankungen Im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung und ihrer Behandlung entstehen in vielen Fällen Beeinträchtigungen des psychischen Befindens. Durch die medizinischen Behandlungen und die Erkrankung selbst treten häufig in verschiedenen Bereichen funktionelle Belastungen und Störungen auf. Weiterhin wirkt sich die Krankheit oftmals auf Partnerschaft und Familie aus. Je nach Versorgungsbereich, Tumorart, Schweregrad und Geschlecht weisen 30-40 % der Patienten mit Tumorerkrankungen eine komorbide psychische Störung innerhalb der letzten zwölf Monate auf Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-73

Bei einer Komorbidität von mittelgradiger bis schwerer depressiver Störung und Tumorerkrankung kann eine Pharmakotherapie mit einem Antidepressivum, insbesondere einem SSRI angeboten werden.

0

3-74

Hinsichtlich der Psychotherapie der Depression bei Patienten mit einer Komorbidität von depressiver Störung und Krebserkrankung kann aufgrund fehlender spezifischer Studien nur allgemein auf die Empfehlungen zur Psychotherapie verwiesen werden.

Statement

3.6.2.3 Diabetes mellitus Patienten mit Diabetes mellitus leiden unter einem doppelt so hohen Risiko für depressive Störungen wie Stoffwechselgesunde, mit einer Prävalenz von bis zu 30 %. Bei bis zu 75 % der Diabetespatienten mit Depression ist dieser Verlauf chronisch im Sinne rezidivierender depressiver Episoden. Eine Depression geht einher mit einer schlechteren Stoffwechseleinstellung bzw. ist mit Komplikationen assoziiert. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-75

Bei der Pharmakotherapie der Depression bei Diabetes mellitus sollten substanzspezifische Effekte auf den Diabetes beachtet werden, z. B. der reduzierte Insulinbedarf bei SSRI sowie eine Gewichtszunahme unter Mirtazapin, Mianserin und sedierenden trizyklischen Antidepressiva.

B

3-76

Wenn bei einer Komorbidität von Diabetes mellitus und depressiver Störung eine Pharmakotherapie vorgesehen ist, sollten SSRI angeboten werden.

B

3-77

Bei einer Komorbidität von Diabetes mellitus mit diabetischer sensomotorischer schmerzhafter Neuropathie und depressiver Störung kann eine Pharmakotherapie mit einem trizyklischen Antidepressivum oder Duloxetin angeboten werden, da diese auch analgetische Wirkung haben. Allerdings können mit TZA eine Gewichtszunahme und eine Verschlechterung der glykämischen Kontrolle verbunden sein.

0

3-78

Bei einer Komorbidität von Diabetes mellitus und depressiver Störung sollte eine Psychotherapie zur Verringerung der Depressivität und zur Verbesserung des allgemeinen Funktionsniveaus angeboten werden.

B

3.6.2.4 Chronische Schmerzerkrankungen Depression ist insbesondere unter Patienten mit chronischen Schmerzen verbreitet, wobei die Prävalenzschätzungen von bis zu 70 % Komorbidität ausgehen. Die Schwere und Dauer des chronischen Schmerzes sind direkt proportional zur Schwere der Depression. ©

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36

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-79

Wenn eine Pharmakotherapie der Depression bei Komorbidität mit chronischem Schmerz begonnen wird, sollten bevorzugt trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin, Imipramin, Desipramin und Clomipramin) aufgrund ihrer analgetischen Eigenschaften angeboten werden.

B

3-80

Eine Psychotherapie (empirische Belege liegen vor für KVT und IPT) kann Patienten mit einer Komorbidität von depressiver Störung und chronischem Schmerz zur Reduzierung der depressiven Symptome angeboten werden.

0

3.6.2.5 Demenz bzw. Morbus Parkinson Die Häufigkeitsangaben zu depressiven Symptomen und Syndromen bei Demenz schwanken stark. Die verschiedenen Schweregrade scheinen etwa gleich häufig zu sein (sehr wenige depressive Symptome: 51 %; leicht: 27 %; mittelgradig bis schwer: 22 %). Eine depressive Episode entwickeln am ehesten die Demenzkranken, die in der Vorgeschichte oder familiär bereits mit Depressionen belastet sind. Eher häufiger, nämlich mit Prävalenzangaben von bis zu 50 %, finden sich Depressionen bei vaskulären und neurodegenerativen Hirnerkrankungen, die subkortikale Funktionskreise beeinträchtigen. Dies gilt vor allem für den Morbus Parkinson und die vaskuläre Demenz bzw. die Depression nach Schlaganfall. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-81

Die Studienlage zur Unterstützung von spezifischen Empfehlungen zur Behandlung der Komorbidität mit einer Demenz ist nicht hinreichend.

Statement

3-82

Wenn eine Pharmakotherapie eingeleitet wird, sollte die Auswahl des Antidepressivums bei einer Komorbidität von Demenz und depressiver Störung das anticholinerge Nebenwirkungspotential und damit die Potenz der Induktion eines Delires und der weiteren Verschlechterung der kognitiven Funktionen berücksichtigen.

B

3.7 Management bei Suizidgefahr 3.7.1 Risikofaktoren von Suizidalität Unter Suizidalität werden alle Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen verstanden, die in Gedanken, durch aktives Handeln oder passives Unterlassen oder durch Handeln lassen den Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-83

Suizidalität sollte bei depressiven Patienten immer direkt thematisiert, präzise und detailliert erfragt und vor dem Hintergrund vorhandener Ressourcen beurteilt werden.

KKP

Tabelle 9: Risikofaktoren für Suizidalität

Suizidintention       ©

Frühere Suizidversuche (wichtigster Risikofaktor!) Drängende Suizidgedanken, konkrete Suizidpläne oder Vorbereitung suizidaler Handlungen „Harte“ Methode Keine Distanzierung von Suizidideen/Suizidversuch nach längerem Gespräch Abschiedsvorbereitungen Suizidarrangement 2009

37

Aktuelle klinische Symptomatik            

Gefühle von großer Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit und Schuld Keine Zukunftsvorstellungen Starke Eingeengtheit auf den Suizid (präsuizidales Syndrom), starker Handlungsdruck Zunehmender sozialer Rückzug, Verabschiedung von Menschen, Verschenken von Wertgegenständen, Regelung letzter Dinge (Testament, Versicherungen, Papiere) Offene und verdeckte Ankündigungen von Suizid Patient reagiert gereizt, aggressiv, agitiert, ängstlich oder panisch Altruistische (pseudoaltruistische) Suizidideen Selbstopferungsideen Ideen erweiterter Suizidalität (Einbeziehung z. B. der Partner oder Kinder) Depressiver Wahn oder anderweitig psychotische Depression (Gefahr des raptusartigen Suizids) Persistierende Schlafstörung, Anhedonie, Gewichtsverlust und schlechte Konzentrationsfähigkeit Substanzabusus bzw. –abhängigkeit

Allgemeine Faktoren  Männliches Geschlecht, höheres Alter (v. a. Männer > 70 Jahre)  Familiengeschichte mit suizidalem Verhalten  Lebenssituation: alleinstehend, arbeitslos, chronische körperliche Erkrankung, mehrfache tatsächliche aktuelle Belastungen oder Kränkungen  Aktuell Suizide in der Umgebung  Keine religiöse o. ä. Bindung

3.7.2 Suizidprävention und Notfallinterventionen bei Suizidalität Tabelle 10: Hauptaspekte der Suizidprävention

1. Gesprächs- und Beziehungsangebot; 2. Diagnostik von Suizidalität einschließlich Risikofaktoren; 3. Klärung und Regelung der aktuellen Situation; 4. Therapieplanung unter Berücksichtigung der Suizidgefahr.

3.7.2.1 Gesprächs- und Beziehungsangebot Wesentliche Merkmale des Gesprächs- und Beziehungsangebots an suizidale Patienten sind:  Raum und Zeit zur Verfügung stellen (Zuwendungsangebot);  Sicherung eines emotionalen Zugangs und einer entsprechenden emotionalen Reaktion des Patienten;  beruhigende Versicherung, dass Hilfe möglich ist;  offenes, direktes, ernst nehmendes Ansprechen von Suizidalität;  Entdramatisierung sowie Vermeidung von Bagatellisierung;  Fragen nach bindenden, d. h. am Suizid hindernden äußeren (z. B. Familie, Kinder, religiöse Bindung usw.) und inneren Faktoren (z. B. Hoffnung auf Hilfe, frühere Erfahrungen, Vertrauen); je mehr bindende Faktoren genannt werden können, je mehr Gründe Patienten finden, die für das Leben sprechen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihren Suizidgedanken entsprechend handeln;  Vermittlung von Hoffnung, Hilfe und Chancen auf Veränderung (Zukunftsorientierung) sowie ein Angebot für weitere Therapie (selbst oder Vermittlung) und eine entsprechende Planung;  konkrete Vereinbarung über regelmäßigen zusätzlichen Kontakt (direkt oder telefonisch, mit Uhrzeit und Ort) und Klärung des Behandlungssettings (ambulant/stationär). Empfehlung/Statement

©

2009

Empfehlungsgrad

38

3-84

Suizidale Patienten müssen eine besondere Beachtung und Betreuung im Sinne einer Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung erhalten. Das konkrete Betreuungsangebot richtet sich nach den individuellen Risikofaktoren, der Absprachefähigkeit des Patienten und Umgebungsfaktoren.

KKP

3.7.2.2 Diagnostik von Suizidalität Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-85

Die Diagnostik bei suizidalen Patienten schließt die Erfassung der graduellen Ausprägung der Suizidalität und die Abschätzung des aktuellen Handlungsdrucks bzw. die aktuelle Distanziertheit von Suizidalität ein.

Statement

3.7.2.3 Krisenmanagement Die Klärung und Regelung der aktuellen Krisensituation umfasst:  Herstellung einer tragfähigen Beziehung, Klärung des aktuellen Anlasses und der Notwendigkeit akuter psychopharmakotherapeutischer Maßnahmen;  Zulassen von Trauer, Wut und Angst;  Erkennen von Suizidalität, z. B. bei einem aktuell bestehenden Konflikt (z. B. schwere Partnerschaftsproblematik) bzw. in psychopathologischem Kontext (tiefe depressive Herabgestimmtheit, Wahnsymptomatik, schwere Hoffnungslosigkeit);  Klärung der „sichernden Fürsorge“: Vermeiden von Alleinsein, Einbeziehung positiv erlebter Bezugspersonen und Beziehungspflege als konstante Begleiter durch die aktuelle Krise im Sinne von „Kommunikationen und Kontrolle“, ggf. Zusammenarbeit mit den entsprechenden Krisendiensten für suizidale Menschen;  Klärung des adäquaten Behandlungssettings (ambulante, ggf. unter Einbezug ambulanter psychiatrischer Pflege [APP], teilstationäre oder stationäre Behandlung; Einweisung freiwillig/nach Unterbringungsgesetz in stationäre Behandlung; Veranlassung indizierter medizinischer Versorgung);  nach internistischer/chirurgischer Erstversorgung bei Suizidversuch konsiliarische Abklärung durch einen entsprechend qualifizierten Facharzt;  weitere Hilfsmöglichkeiten aktiv klären und planen;  psychotherapeutisch orientierte Krisenintervention: Beginn sofort (Gespräch/Beziehung), Erkennen des Anlasses/Auslösers;  Verbündung mit dem Patienten gegen Existenzangst, Verlustangst, Hilflosigkeitsgefühle, usw.

3.7.2.4 Therapieplanung nach der Akutsituation Zur konkreten Therapieplanung auf der Basis der depressiven Störung und unter Umständen vorliegender komorbider psychischer Störungen unter Berücksichtigung der Suizidalität gehören folgende Punkte:  Klärung und Besprechung der weiteren Therapie (ambulant oder stationär);  Behandlung der Grundstörung (psychische Störung/Krise; hier depressive Störung) nach den entsprechenden Regeln von Psychopharmakotherapie, Psychotherapie und psychotherapeutischer Basisbehandlung;  Planung und Beginn von Psychopharmakotherapie und/oder Psychotherapie unter Berücksichtigung von Suizidalität.

3.7.3 Indikationen für eine stationäre Therapie Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3- 86

Eine stationäre Einweisung sollte für suizidale Patienten erwogen werden,

B

 die akut suizidgefährdet sind;  die nach einem Suizidversuch medizinischer Versorgung bedürfen;  die wegen der zugrunde liegenden depressiven Störung einer intensiven psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung bedürfen; ©

2009

39

 wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität anders nicht möglich ist, oder  wenn die Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung nicht gelingt und die Person trotz initialer Behandlung akut suizidal bleibt. Bei Suizidgefahr und fehlender Behandlungsbereitschaft muss die Krankenhauseinweisung gegen den Willen des Patienten erwogen werden.

3.7.4 Pharmakotherapie 3.7.4.1 Antidepressiva Obwohl es nahe liegt, von antidepressiv wirksamen Medikamenten auch eine suizidalitätsverringernde Wirkung anzunehmen, konnte ein solcher Effekt bislang für Antidepressiva nicht gesichert werden. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-87

Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva nicht eingesetzt werden.

B

3-88

Antidepressiva können jedoch bei suizidalen depressiven Patienten zur Depressionsbehandlung im Rahmen der allgemeinen Empfehlungen eingesetzt werden.

0

3-89

Bei einem suizidalen Patienten soll die Auswahl von Antidepressiva hinsichtlich ihres Nutzen-Risiko-Verhältnisses (Pharmaka mit Letalität in hoher Dosis, Agitationssteigerung in der Frühphase) abgewogen werden.

KKP

3.7.4.2 Stimmungsstabilisierer Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-90

In der Rezidivprophylaxe bei suizidgefährdeten Patienten soll zur Reduzierung suizidaler Handlungen (Suizidversuche und Suizide) eine Medikation mit Lithium in Betracht gezogen werden.

A

3.7.4.3 Andere Substanzen Da eine eventuell suizidalitätsfördernde Wirkung von Antidepressiva (insbesondere SSRIs) in erster Linie auf vermehrte Unruhe, Akathisie und exzitatorische Wirkungen zurückgeht, wird häufig eine Kombination mit einem Anxiolytikum und Hypnotikum zumindest in der akuten Phase bis zum Eintritt des antidepressiven Effekts empfohlen. Benzodiazepine wirken dabei kurzfristig entspannend, beruhigend, angstlösend, schlafinduzierend und emotional distanzierend und führen zu einer Dämpfung depressiven oder psychotischen Erlebens. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-91

Eine Akutbehandlung (möglichst < 14 Tage) mit einem Benzodiazepin kann bei suizidgefährdeten Patienten in Betracht gezogen werden.

0

3-92

Bei suizidgefährdeten Patienten mit einer depressiven Episode mit psychotischen Merkmalen sollte die antidepressive Medikation mit einem Antipsychotikum ergänzt werden.

B

3.7.5 Krisenintervention und spezifische Psychotherapien In der Regel besteht die Hauptstrategie bei akuter Suizidalität darin, zuerst stützend und entlastend vorzugehen, bis die akute Selbstgefährdung abklingt, um dann anschließend eine weitere, mehr ursachenbezogene Behandlung einzuleiten. Suizidalität erfordert eine zugewandte, empathische und

©

2009

40

direkte Haltung des Behandlers und die Bereitschaft, sich möglichst frei von Zeitdruck auf den Patienten einzulassen. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-93

Das kurzfristige Ziel von Kriseninterventionen oder Psychotherapie bei akuter Suizidalität besteht in intensiver Kontaktgestaltung und der aktiven unmittelbaren Unterstützung und Entlastung bis zum Abklingen der Krise. Eine tragfähige therapeutische Beziehung kann bei suizidgefährdeten Patienten per se suizidpräventiv wirken.

Statement

3-94

Bei suizidgefährdeten Patienten mit einer depressiven Episode sollte eine Psychotherapie in Betracht gezogen werden, die zunächst auf die Suizidalität fokussiert.

B

3.7.6 Suizidprävention durch Nachsorge und Kontaktangebote Folgende Schritte im Umgang mit Patienten, die (a) wegen Suizidalität stationär aufgenommen worden sind und entlassen werden sollen bzw. (b) die nicht stationär aufgenommen werden, obwohl sie suizidales Verhalten zeigen oder ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten aufweisen, werden als sinnvoll erachtet:  Vereinbarung fester persönlicher oder zumindest telefonischer Termine für die ersten Tage nach Entlassung;  Einbezug der Familie oder anderer unterstützender Personen in die Entlassplanung;  Einbezug derjenigen Personen in die Entlassplanung, die professionell die weitere Behandlung übernehmen, vor der Entlassung zumindest mündlicher Bericht an sie;  vollständiger Bericht an den weiterbehandelnden Haus- oder Facharzt unmittelbar nach Entlassung (Diagnostik, bisherige Therapie und die Entlassplanung);  bei Verzicht auf eine stationäre Aufnahme trotz erhöhtem Risiko für suizidales Verhalten: Detaillierte schriftliche Aufzeichnungen, weshalb auf eine Aufnahme verzichtet wurde und welche Vereinbarungen über eine weitere Betreuung getroffen wurden. Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

3-95

Eine Nachuntersuchung von Patienten, die wegen Suizidalität stationär aufgenommen wurden, soll kurzfristig, maximal 1 Woche nach Entlassung, geplant werden, da in der Zeit nach der Entlassung das Risiko für weitere suizidale Handlungen am höchsten ist.

A

3-96

Patienten, die wegen Suizidalität stationär behandelt wurden und einen Termin zur Nachuntersuchung nach Entlassung nicht wahrnehmen, sollen unmittelbar kontaktiert werden, um das Risiko für einen Suizid oder Selbstverletzungen abzuschätzen.

©

2009

A

41

Anhang 1: Antidepressiva – Wirkstoffe gegliedert nach Wirkstoffgruppen Wirkstoff (Wirkstoffgruppe)

Dosierung

Anfangsdosis [mg/Tag]

Plasmaspiegel

StandardTagesdosis [mg/Tag]

Serumkonzentration [ng/ml]

Therapeutisches Drug Monitoring (TDM) Zusammenhang zwischen Serumspiegel und klinischer Wirkung

Tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) – nichtselektive MonoaminRückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI) Amitriptylin Amitriptylinoxid Clomipramin Desipramin Doxepin Imipramin Maprotilin Nortriptylin Trimipramin

25-50 30-60 25-50 25-50 25-50 25-50 25-50 25-50 25-50

100-300 100-300 100-250 100-250 100-300 100-300 100-225 50-200 100-300

80-200 -175-450 100-300 50-150 175-300 125-200 70-170 150-350

sehr hoch -sehr hoch hoch nachgewiesen sehr hoch nachgewiesen sehr hoch nachgewiesen

30-130 15-89 120-300 150-300 70-120 10-50

nachgewiesen geringfügig nachgewiesen geringfügig nachgewiesen nachgewiesen

Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) Citalopram Escitalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin

20 10 20 50 20 50

20-40 10-20 20-40 100-250 20-40 50-100

Monoaminoxidase (MAO)-Inhibitoren Moclobemid Tranylcypromin

150 10

300-600 20-40

300-1000 -

geringfügig nicht nachgewiesen

Selektive Serotonin-/ Noradrenalin- Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNRI) Venlafaxin Duloxetin

37,5-75 30-60

75-225 60

195-400 20-100

hoch

Selektive Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SNRI) Reboxetin

4-8

8-12

10-100

60-120 15-45

15-70 40-80

geringfügig

Alpha2-Rezeptor-Antagonisten Mianserin Mirtazapin

30 15

nachgewiesen nachgewiesen

Selektiver Noradrenalin- und Dopamin-Rückaufnahme-Hemmer Bupropion

150

150-300

bis 100

geringfügig

Melatonin-Rezeptor-Agonist und Serotonin-5-HT2C-Rezeptor-Antagonist Agomelatin

©

2009

25

25-50

Keine Angabe

wegen sehr kurzer HWZ nicht empfohlen

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Anhang 2: Weitere zur Behandlung der Depression eingesetzte Arzneimittel Wirkstoff (Wirkstoffgruppe)

Dosierung

Anfangsdosis [mg/Tag]

StandardTagesdosis [mg/Tag]

Plasmaspiegel

Therapeutisches Drug Monitoring (TDM)

Serumkonzentration [ng/ml]

Zusammenhang zwischen Serumspiegel und klinischer Wirkung

Nichtklassifizierte Antidepressiva Trazodon Lithiumsalze

50-100

200-400

Ausschließlich anhand des Plasmaspiegels dosieren. Übliche Anfangsdosis: 8-12 mmol/Tag

Zielwert: 0,6-0,8 mmol/l

650-1500

nachgewiesen

sehr hoch

Phytopharmaka Hypericum perforatum (Johanniskraut)

Unsicherheit bezüglich des Wirkmechanismus und des verantwortlichen Wirkstoffes. Dosierung unsicher wegen schwankender Wirkstoffkonzentrationen der pflanzlichen Zubereitung. Angeboten werden 500-1000 mg Trockenextrakt.

©

2009

43

Anhang 3: Evidenz- und Empfehlungsgrade S3-Leitlinien der AWMF und NVL haben das Ziel, die in ihnen enthaltenen Empfehlungen auf Basis der best verfügbaren Evidenz und im Konsens aller an der Erstellung Beteiligten zu formulieren. Das evidenzbasierte Vorgehen beinhaltet, dass a priori für einzelne Fragestellungen die best verfügbare Evidenz festgelegt wird, welche nach methodischen Kriterien klassifiziert wird. Für die Bewertung der Wirksamkeit (efficacy) einer medizinischen oder psychotherapeutischen Intervention liefern – in aller Regel – randomisierte klinische Studien (RCTs) die zuverlässigsten Ergebnisse, weil sie, sofern methodisch adäquat und der jeweiligen Fragestellung angemessen durchgeführt, mit der geringsten Ergebnisunsicherheit (Zufall, systematische Verzerrung) behaftet sind. Aus dem Fehlen von RCTs für einzelne Verfahren kann aber nicht der Rückschluss gezogen werden, dass diese Verfahren nicht wirksam sind. Lagen zu einer Fragestellung keine RCTs oder Metaanalysen bzw. systematische Reviews (auf der Basis der Quell-Leitlinien oder der Literaturrecherche) vor, wurde zunächst nach kontrollierten, nichtrandomisierten Studien gesucht, in der nächsten Ebene nach Korrelations- oder Vergleichsstudien bzw. nach Fallserien. Die Evidenzebenen waren maßgeblich für die Ableitung der Grade einer Empfehlung: Je höher die Evidenzebene, desto stärker auch die Empfehlung. Andererseits wurden bei der Vergabe der Empfehlungsgrade neben der Evidenz auch weitere ergänzende, klinische Faktoren berücksichtigt, insbesondere:  ethische Verpflichtungen;  klinische Relevanz der Effektivitätsmaße der Studien;  Anwendbarkeit der Studienergebnisse auf die Patientenzielgruppe;  Präferenzen der Patienten und  Umsetzbarkeit im Alltag, insbesondere in den diversen Versorgungsbereichen. Tabelle 11: Evidenzebenen

Ia

Evidenz aus einer Metaanalyse von mindestens drei randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trials, RCTs).

Ib

Evidenz aus mindestens einer randomisiert kontrollierten Studie oder einer Metaanalyse von weniger als drei RCTs.

IIa

Evidenz aus zumindest einer methodisch gut kontrollierten Studie ohne Randomisierung.

IIb

Evidenz aus zumindest einer methodisch guten, quasi-experimentellen deskriptiven Studie.

III

Evidenz aus methodisch guten, nichtexperimentellen Beobachtungsstudien, wie z. B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien und Fallstudien.

IV

Evidenz aus Berichten von Expertenkomitees oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten.

Entsprechend dieser Konsensusaspekte konnte eine Auf- oder eine Abwertung des Empfehlungsgrades gegenüber dem Evidenzgrad erfolgen. Zusätzlich zu Empfehlungen wurden von der Konsensrunde auch so genannte Statements verabschiedet. Diese fanden Verwendung, wenn es für praktische Behandlungs- oder Vorgehenshinweise keine Evidenzen gab, obwohl sie aus Expertensicht der Konsensrunde plausibel waren, oder wenn auf fehlende Evidenzen und entsprechenden Forschungsbedarf hingewiesen werden sollte. Alle in der Leitlinie enthaltenen Empfehlungen und Statements wurden im Rahmen eines Nominalen Gruppenprozesses konsentiert. Folgende Quell-Leitlinien wurden berücksichtigt: -

©

„National Clinical Practice Guideline Depression“ des britischen National Institute for Health and Clinical Excellence; „Behandlungsleitlinie Affektive Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde; „Versorgungsleitlinien für depressive Störungen in der ambulanten Praxis“ des Kompetenznetzes Depression, Suizidalität;

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-

„Practice Guideline for the Treatment of Patients With Major Depressive Disorder“ der American Psychiatric Association; „Clinical Guidelines for the Treatment of Depressive Disorders“ der Canadian Psychiatric Association und des Canadian Network for Mood and Anxiety Treatments; „Gemeinsame Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, des Deutschen Kollegiums Psychosomatische Medizin und der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“; „Evidenzbasierte Leitlinie zur Psychotherapie Affektiver Störungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie; Leitlinie „Empfehlungen zur Therapie der Depression“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Tabelle 12: Grade der Empfehlung

A

„Soll“-Empfehlung: Zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib).

B

„Sollte“-Empfehlung: Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt.

0

„Kann“-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III. Diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.

KKP*

„Klinischer Konsenspunkt“: Empfohlen als gute klinische Praxis („Good Clinical Practice Point“) im Konsens und aufgrund der klinischen Erfahrung der Mitglieder der Leitliniengruppe als ein Standard in der Behandlung, bei dem keine experimentelle wissenschaftliche Erforschung möglich oder angestrebt ist.

* Klinische Konsenspunkte (KKP) wurden abweichend vom üblichen NVL-Verfahren eingeführt, um den besonderen Bedingungen der gemeinsamen Erstellung von S3-Leitlinie und Nationaler VersorgungsLeitlinie Rechnung zu tragen.

In der vorliegenden Leitlinie liegt der Graduierung der Empfehlungen folgende Einteilung der Evidenz hinsichtlich ihrer methodischen Qualität zugrunde: Grundlage zur Evidenzdarlegung sind die Evidenzkategorien des britischen NICE in der Modifikation, die in der Quell-Leitlinie verwendet wurde. Die Überleitung in Empfehlungsgrade der NVL ist in der nachstehenden dargestellt und erfolgt unter Bezugnahme auf den aktuellen NVL-Methoden-Report (siehe http://www.versorgungsleitlinien.de). Tabelle 13: Überleitung der Evidenzgrade der S3-Leitlinie in Empfehlungsgrade und Symbolik der NVL Unipolare Depression

Evidenzgrad (analog zu NICE)

Vereinfachte Definition der Quellen Metaanalysen; hochwertige randomisierte kontrollierte Studien Kontrollierte Studien ohne Randomisierung; BeobachtungsStudien

Empfehlungsgrad S3 / NVL

Symbol NVL

Beschreibung

A



Starke Empfehlung

B



Empfehlung

IV

Expertenmeinung

0



Empfehlung offen

-

Klinischer Konsenspunkt*

KKP*

-

Gute klinische Praxis*

I

II oder III

* Klinische Konsenspunkte (KKP) wurden abweichend vom üblichen NVL-Verfahren eingeführt, um den besonderen Bedingungen der gemeinsamen Erstellung von S3-Leitlinie und Nationaler VersorgungsLeitlinie Rechnung zu tragen; Erläuterung siehe Langfassung (www.versorgungsleitlinien.de) ©

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Anhang 4: Methodenkritische Aspekte (Quellen: siehe Langfassung) Zu den Wirksamkeitsuntersuchungen in der Pharmakotherapie ist kritisch anzumerken, dass die überwiegend verwendete Hamilton-Rating-Skala Depression als Basis der Wirksamkeitsbeurteilung kein optimales Instrument darstellt. Dennoch weist sie eine sehr hohe Korrelation (r = 0,8) mit anderen klinisch relevanten Parametern, beispielsweise Beschwerdeschilderungen der Patienten, auf. Ihr größter Vorteil liegt in der einfachen Anwendbarkeit und der Möglichkeit von weltweiten Vergleichen zwischen Studien. Die meisten Akutstudien sind von kurzer Dauer (typisch sechs bis sieben Wochen), denn eine Verlängerung dieser Studien über sechs Wochen hinaus bringt keine prinzipiell neuen Erkenntnisse bezüglich Response- und Remissionsraten. Von einigen Autoren wurde die klinische Bedeutung der Antidepressivawirksamkeit kritisch hinterfragt. Sie argumentieren, dass der Großteil der Antidepressivawirkung auf unspezifische Effekte, Spontanbesserungen oder Placebowirkung zurückgehe, Studien ohne signifikante Unterschiede seltener publiziert würden (publication bias) und das doppelblinde Design teilweise durch die Nebenwirkungen der Verummedikation gebrochen werde. In einem Cochrane-Review war die Überlegenheit von Antidepressiva (Trizyklika) gegenüber so genannten aktiven Placebos (Substanzen, die Nebenwirkungen imitieren) nur marginal. Die Differenzen in der Depressionsschwere am Ende der Studien wurden als zu gering eingestuft, um klinisch als relevant gelten zu können. Andere Autoren hielten dem entgegen, dass die hohen und steigenden Placeboresponseraten durch den zunehmenden Einschluss lediglich leicht depressiver Patienten bedingt sind. Diese Patienten hätten eine höhere Spontanbesserungsrate und würden allein aufgrund der Machbarkeit der Studien und geringerer ethischer Bedenken bevorzugt in placebokontrollierte Studien aufgenommen. Bei Studien mit schwerer depressiven Patienten würde sich der Vorteil der Antidepressiva klarer zeigen. Darüber hinaus sei die im Laufe der Jahre zunehmende Behandlungsdauer der placebokontrollierten Studien mitverantwortlich für die Zunahme von Spontanbesserungen unter Placebomedikation. Ferner sei die deutliche Überlegenheit der Antidepressiva gegenüber Placebo in der Erhaltungstherapie, in der die Placebowirkung eine geringere Rolle spiele, ein guter Hinweis auf die pharmakologische Effektivität der Antidepressiva. Die Berichte des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln tragen dem Umstand eines möglichen Publikationbias’ dadurch Rechnung, dass sie unpublizierte Daten identifizieren und in die Metaanalysen mit einbeziehen. Die systematische Überprüfung der Effektivität von Reboxetin in der Depressionsbehandlung durch das IQWiG ergab keinen klaren Wirksamkeitsnachweis. Die Erstellung des IQWiG-Berichts war zudem dadurch erschwert, dass die Firma Pfizer Studien zu Reboxetin über einen langen Zeitraum zurückhielt. Auch beim systematischen, metaanalytischen Vergleich von zwölf neuen Antidepressiva durch Cipriani et al. 2009 landete Reboxetin sowohl bezüglich der Wirksamkeit, als auch bezüglich der Verträglichkeit auf dem letzten Platz. Diese Erkenntnisse veranlassten den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zu beschließen, dass die Kosten einer Reboxetin-Medikation nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden sollen. Diese Regelung trat zum 1. April 2011 in Kraft. Reboxetin ist aber für Selbstzahler weiterhin als zugelassenes Medikament erhältlich. Aufgrund der geschilderten Datenlage wird der Einsatz von Reboxetin zur Depressionsbehandlung nicht empfohlen. Die Aussagekraft randomisierter kontrollierter Studien (RCTs), insbesondere zum Nachweis der Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren, wird seit längerem in Deutschland kontrovers diskutiert (z. B. im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (gem. § 11 PsychThG) oder im Unterausschuss Psychotherapie des Gemeinsamen Bundesausschuss). Zwar ist unbestritten, dass RCTs i. d. R. zu den reliabelsten Aussagen hinsichtlich der Wirksamkeit (efficacy) von Therapieverfahren führen, die Aussagekraft der so gewonnenen Zusammenhänge für die klinische Versorgung (effectiveness) wird aber kritisch gesehen. Insbesondere hinsichtlich des Paradigmas der randomisierten Zuweisung in Studien werden Schwierigkeiten gesehen, die die Umsetzbarkeit in die Praxis erschweren können. Im Bereich der Psychotherapie haben die „Passung“, d. h. die vertrauensvolle und emotional tragfähige Beziehung zwischen Patient und Therapeut, und auch die Präferenz der Patienten für ein bestimmtes therapeutisches Vorgehen im klinischen Alltag eine hohe Bedeutung. Weiter ist die fehlende

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Möglichkeit einer „Verblindung“ relevant, da es auch in der Psychotherapieforschung einen starken „Allegiance-Effekt“ gibt, wonach die therapeutische Orientierung des Forschenden das Studienergebnis beeinflusst. Ein weiteres Problem wird in der Entwicklung eines adäquaten Kontrolldesigns für Psychotherapiestudien gesehen. Die Kontrolle durch andere psychotherapeutische Verfahren ist wegen des, verglichen mit Pharmastudien, ungleich höheren Aufwandes (Gewinnung angemessen ausgebildeter und supervidierter Therapeuten in einem nicht primär verfügbaren Therapieverfahren) häufig schwierig. Metaanalysen zu zahlreichen randomisiert-kontrollierten Studien zeigen, dass der Effekt einer Psychotherapie tatsächlich mit dem Grad der „Aktivität“ der Kontrollbedingung variiert. So ist er im Vergleich zu einer Wartegruppe oder zu einem Medikamentenplacebo höher als zu einer aktiven Kontrolle beispielsweise mit Antidepressiva oder unsystematischen, unterstützenden Gesprächen. Bezüglich der Effektivität einer Psychotherapie besteht kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den beiden Kontrollbedingungen Warteliste oder Medikamentenplacebo. Die Forderung nach versorgungsnahen kontrollierten oder Feldstudien, die Praxisbedingungen besser abbilden, trägt dabei auch der Tatsache Rechnung, dass die in RCTs aufgenommenen Patientenkollektive in der Regel – im Vergleich zur ambulanten psychotherapeutischen Praxis in der BRD – deutlich kürzer behandelt wurden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass zurzeit kaum Studien vorliegen, die nicht nur die Wirksamkeit unter kontrollierten Bedingungen (efficacy), sondern auch den Nutzen unter Versorgungsbedingungen (effectiveness) untersuchen sowie über ausreichend lange Behandlungs- und Katamnesezeiträume verfügen (dies gilt im Übrigen auch für Studien zur Antidepressivatherapie). Daher erscheint es sinnvoll, neben randomisiert-kontrollierten Studien auch andere Forschungsdesigns, z.B. ursprüngliche Fallserien und Versorgungsstudien zur Überprüfung des Nutzens einer Therapie in der Routineversorgung in die Bewertung des Gesamtnutzens einzelner Psychotherapieverfahren einzubeziehen. Schließlich wird angeführt, dass in der Versorgungspraxis die Mehrheit der Patienten unter vielfältigen, zu berücksichtigenden komorbiden Erkrankungen leiden, die eine manualisierte Durchführung der Therapieverfahren erschweren können. Diesen möglichen Einschränkungen stehen umfassende systematische Analysen von Psychotherapiestudien gegenüber, die zeigen, dass durch RCTs valide Aussagen zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen Verfahren gemacht werden können, d. h. die Frage beantworten können, inwieweit die Veränderungen tatsächlich auf das Verfahren und nicht auf andere Faktoren zurückgehen. Zwei aufwändige Sekundäranalysen von Metaanalysen fanden als zentrales Ergebnis, dass Labor- und Feldstudien hinsichtlich der Effektindikatoren (also z. B. symptomatische Besserungen) im Wesentlichen übereinstimmende Ergebnisse zeigen. Schließlich wurde auch gezeigt, dass eine methodisch hochwertige Kontrolle durch andere Therapieverfahren auch unter Praxisbedingungen realisierbar ist. In der Konsensgruppe bestand keine Einigung, ob RCTs im Bereich der Psychotherapieforschung die herausragende Bedeutung und Wertung zusteht, wie sie sie z. B. im Bereich der Nutzenbewertung von Medikamenten haben. Konsens bestand darüber, dass es in der Psychotherapieforschung aufwendiger sein kann, valide RCTs zu konzipieren und durchzuführen (z. B. Randomisierung, größere Bedeutung von Kontextfaktoren, lange Beobachtungsdauer). Das hat unter anderem dazu geführt, dass für einzelne psychotherapeutische Verfahren eine größere Anzahl RCTs vorliegt als für andere. Aus dem Fehlen von RCTs für einzelne Verfahren kann aber nicht der Rückschluss gezogen werden, dass diese Verfahren nicht wirksam sind. In der richtlinienpsychotherapeutischen Versorgung wird darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Akutund Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe aus konzeptionellen Gründen nicht getroffen (siehe Kapitel H 3.4.6.2 in der Langfassung „Psychotherapie als alleinige Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe“). Aufgrund der oben dargestellten Diskussion entschloss sich die Konsensgruppe zu einer differenzierten Vorgehensweise in der Empfehlungsvergabe für das Kapitel Psychotherapie:  für keines der Verfahren wurde eine spezifische Empfehlung ausgesprochen;  alle angewendeten Verfahren der Richtlinienpsychotherapie wurden genannt;  für alle untersuchten Verfahren wurden die vorliegenden Studien (RCTs und Metaanalysen) aufgeführt. Bei einzelnen Verfahren, wenn solche nicht vorlagen, wurden auch naturalistische Studien berücksichtigt.

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Hiermit soll es dem Nutzer der Leitlinie ermöglicht werden, sich schnell einen Überblick über die Evidenzlage zu den einzelnen Verfahren zu verschaffen. Dieses Vorgehen wurde im Konsens aller Beteiligten abgestimmt.

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Anhang 5: Verantwortliche für die Leitlinie HERAUSGEBER Die Leitlinie Unipolare Depression wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) als S3-Leitlinie initiiert und koordiniert und wird gemeinsam von den beteiligten Organisationen inklusive Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und der DGPPN als kombinierte S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie herausgegeben. Verantwortliche Organisationen  Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)  Bundesärztekammer (BÄK) Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Ärztekammern  Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)  Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)  Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)  Bundespsychotherapeutenkammer (beratend) (BPtK)  Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK)  Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAGSHG)  Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)  Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)  Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)  Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW)

http://www.dgppn.de

Federführung für S3-Leitlinie

http://www.baek.de

http://www.kbv.de http://www.awmf-online.de http://www.akdae.de http://www.bptk.de http://www.bapk.de http://www.dag-selbsthilfegruppen.de http://www.degam.de http://www.dgpm.de http://www.dgps.de http://www.uke.de

Am Konsensprozess beteiligt und mitgetragen von  Bundesdirektorenkonferenz psychiatrischer Krankenhäuser (und Arbeitskreis Depressionsstationen) (BDK)  Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)  Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands (BPM)  Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN)  Berufsverband Deutscher Psychiater (BVDP)  Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (BVVP)  Chefarztkonferenz psychosomatischpsychotherapeutischer Krankenhäuser und Abteilungen  Deutsche Ärztliche Gesellschaft für ©

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http://www.bdk-deutschland.de

http://www.bdp-verband.org http://www.bpm-ev.de

http://www.bv-nervenarzt.de http://www.bv-psychiater.de http://www.bvvp.de http://www.cpka.de

http://www.daevt.de 49

Verhaltenstherapie (DÄVT)  Deutsche Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DFT)  Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP)  Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT)  Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT)  Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG)  Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV)  Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV)  Deutscher Fachverband für Verhaltenstherapie (DVT)  Deutscher Hausärzteverband  Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG)  Kompetenznetz Depression, Suizidalität (KND)

http://www.dft-online.de

http://www.dggpp.de http://www.dgpt.de

http://www.dgvt.de http://www.dpg-psa.de http://www.dpv-psa.de http://www.dptv.de http://www.verhaltenstherapie.de http://www.hausarzt-bda.de http://www.gwg-ev.org http://www.kompetenznetz-depression.de

Verantwortlich für die S3-Leitlinie Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Freiburg Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie

Koordination und Redaktion Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Härter – Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie (jetzt Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie) Dipl.-Psych. Christian Klesse – Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie Dr. phil. Isaac Bermejo – Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. med. Mathias Berger – Universitätsklinikum Freiburg, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie

Methodische Unterstützung des Koordinations- und Redaktionsteams und Moderation Prof. Dr. med. Ina Kopp – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) Dr. med. Monika Lelgemann, M.Sc, – Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Dr. med. Susanne Weinbrenner, MPH – Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Dr. med. Frank Thalau, MPH, M.Sc. (bis Dezember 2006) – Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Dr. med. Berit Meyerrose (ab Januar 2007) – Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Günter Ollenschläger – Leitung des Programms für Nationale VersorgungsLeitlinien, Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ)

Verantwortlich für die Nationale VersorgungsLeitlinie Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) (Gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung)

im Auftrag von BÄK, KBV, AWMF Koordination und Redaktion der Kurzfassung für das NVL-Programm Dr. med. Berit Meyerrose Dr. med. Susanne Weinbrenner, MPH Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Günter Ollenschläger

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EXPERTENKOMITEE (ALPHABETISCH) Mitglieder der NVL-Steuergruppe Angela Bleckmann (BApK) PD Dr. med. Tom Bschor (AkdÄ) Prof. Dr. med. Dipl.-Päd. Jochen Gensichen MPH (DEGAM) Dipl.-Psych. Timo Harfst (BPtK) Prof. Dr. phil. Martin Hautzinger (DGPs) Carsten Kolada (BApK) Prof. Dr. sc. hum. Christine Kühner (DGPs) Dipl.-Psych. Jürgen Matzat (DAG SHG) Prof. Dr. med. Christoph Mundt (DGPPN) Prof. Dr. med. Wilhelm Niebling (DEGAM) Prof. Dr. phil. Rainer Richter (BPtK) Prof. Dr. med. Henning Schauenburg (DGPM) Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider (DGPPN) PD Dr. phil. Holger Schulz (DGRW) Mitglieder der Konsensgruppe Prof. Dr. med. Georg Adler (DGGPP) PD Dr. med. Lothar Adler (BDK) Dr. med. Karin Bell (BPM) Dr. med. Frank Bergmann (BVDN) Prof. Dr. med. Heinz Böker (DPV) Dr. med. Jobst Finke (GwG) Prof. Dr. med. Matthias Franz (DPG) Dipl.-Psych. Detlev Haimerl (GwG) Dr. med. Norbert Hartkamp (DPG) Dr. med. Iris Hauth (BDK) Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl (KND) Prof. Dr. phil. Thomas Heidenreich (DGVT) Dr. med. Gerhard Hildenbrand (CKPA) Dr. med. Wolfram Keller (DGPT) Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff (DPV) Dipl.-Psych Christa Leiendecker (DGPT) Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Luderer (GwG) Dr. med. Herbert Menzel (BPM) Dr. med. Wolfgang Merkle (CKPA) Dipl.-Psych. Rudi Merod (DGVT) Dr. med. Norbert Mönter (BVDN) Dipl.-Psych. Inge Neiser (BDP) Dr. phil. Annelie Scharfenstein (Deutsche Psychotherapeutenvereinigung) Prof. Dr. med. Ulrich Schweiger (DVT) Dr. med. Regine Simon (BVVP) Prof. Dr. med. Gabriela Stoppe (DGGPP) Dr. med. Diethard Sturm (BDA) PD Dr. rer. soc. Karin Tritt (DFT) Dr. med. Christian P. Vogel (BVDP) Dipl.-Psych. Benedikt Waldherr (BVVP) Prof. Dr. med. Georg Wiedemann (DÄVT) Dr. med. Tobias Wiehn (DÄVT) Prof. Dr. med. Dr. h.c. Manfred Wolfersdorf (BDK)

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