U n s e r e P a r t n e r s c h u l e n

Unsere Partnerschulen Partnerschule Gymnasium Trojestschyna in Kiew Friedhelm Niggemeier, didaktischer Leiter, im November 2002 : Wie es begann ... I...
Author: Matilde Böhler
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Unsere Partnerschulen

Partnerschule Gymnasium Trojestschyna in Kiew Friedhelm Niggemeier, didaktischer Leiter, im November 2002 : Wie es begann ... Im Rahmen der Projektwoche der Gesamtschule Fröndenberg im Oktober 2002 fuhr eine 10köpfige Schülergruppe mit ihren begleitenden Lehrern in die Ukraine, um als Gäste in einem Kiewer Gymnasium die Möglichkeiten einer Schulpartnerschaft zu prüfen. Ermöglicht wurde diese Fahrt durch die kostengünstige Mitfahrt in einem Bus der Firma Reusch aus Menden (Sauerland). Der Bus transportierte gleichzeitig Hilfsgüter für ein Waisenhaus in dem Dorf Polonki, 200 km östlich von Kiew. Gesamtschullehrer Winfried Steinhoff, in seiner Freizeit begeisterter Truck- und Busfahrer, hatte im Auftrag der Schulleitung zuvor bei einem weiteren Hilfstransport Kontakt mit dem Gymnasium Trojestschyna in Kiew aufgenommen, von dem wir dann eine Einladung bekamen.

Unser Fahrer Winfried Steinhoff, Lehrer, Freizeit-Truck- und Busfahrer. Zahlreiche Transporte mit Hilfsgütern für die Ukraine wurden von ihm durchgeführt.

Mutig sind wir, acht Schülerinnen, zwei Schüler und fünf begleitende Lehrer. Westliche Reiseziele sind uns nicht nur von Klassenausflügen, sondern von Urlaubsreisen mehr als bekannt. Im Atlas finden wir die Ukraine nicht auf der Europakarte. Polen, das demnächst der Europäischen Union angehört, bildet im Osten den Abschluss. Erst die Russlandkarte (europäischer Teil) zeigt die Größe der Ukraine mit ihrer Hauptstadt Kiew, die am Dnjepr liegt und südlich in das Schwarze Meer fließt.

Wir begleitenden Lehrer wissen noch von unserem Erdkundeunterricht, dass die Ukraine die Kornkammer der damaligen Sowjetunion ist und dass es am Schwarzen Meer Bodenschätze gibt. Wir wissen auch, dass der Nationalsozialismus unsäglich viel Leid über das Land und die Bevölkerung gebracht hat. Die Internet-Recherche weist Kiew als Kriegsschauplatz aus. Im September 1941 geraten bei der Kesselschlacht um Kiew über 600.000 sowjetische Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Bereits vier Tage später werden 34.000 Juden unter dem Vorwand einer Umsiedlung zusammengetrieben, um am Stadtrand von Kiew in einer Schlucht von Sonderkommandos der Wehrmacht erschossen zu werden. Wir wissen auch, dass 1986 das eingetreten ist, was die Atomindustrie immer geleugnet hat: der GAU, das ist der Größte Anzunehmende Unfall in einem Kernkraftwerk. Er ereignete sich in Tschernobyl, 100 Kilometer nördlich von Kiew, mit verheerenden Folgen, nicht nur für die Ukraine.

Viele nicht ausgesprochene Fragen bewegen die Teilnehmer der Fahrt Richtung Osten. Die vor der Abfahrt wiederholt in den Medien gebrachten Nachrichten von Demonstrationen gegen die gegenwärtige demokratisch gewählte Regierung, die ihr Mandat zu missbrauchen scheint, tragen nicht zur Beruhigung bei. Das Problem der gänzlich anderen Sprache kommt hinzu. Das kyrillische Alphabet auf einem Infoblatt dürfte kaum eine Hilfe bei der Verständigung sein. Ein Lehrer stellt ein Miniwörterbuch „Russisch für Kurzurlauber“ zusammen, hieraus einige Beispiele: deutsch ja nein bitte hallo! Guten Tag cool Tschüss! tanzen Wie geht es dir? Alles klar?

russisch da njet paschálusta privjét! Dobre djen prikólny paka! tanzywat kak ano? wsö masja?

Alles klar? Nichts ist klar! Wie spricht man das aus? Das Gefühl sich auf ein Abenteuer eingelassen zu haben, beschleicht uns Teilnehmer. Die Gelassenheit unseres Kollegen und Busfahrers Steinhoff mit mehrfacher Ukraine-Tour-Erfahrung beruhigt uns. Wir sitzen im Bus, der voller ist als angekündigt. Die hinteren Bänke sind hochgestapelt mit Waren für die Tschernobyl-Hilfe in Kiew. 15 Personen sind unsere Mitreisenden. Sie haben, wie sich aus Gesprächen ergibt, unterschiedliche Interessen an der Mitfahrt. So gibt es deutschsprachige Aussiedler, die Verwandte in der Ukraine besuchen wollen; Vertreter der Hilfsgruppen für Tschernobyl aus Menden; eine junge Frau, die gerne ein ukrainisches Kind adoptieren möchte; vier Fahrer, die sich abwechseln, einer von ihnen hat auf einer Tour nach Kiew seine jetzige Ehefrau kennen gelernt, ein anderer ukrainischer Fahrer ist Student und fährt gerne deutsche Busse; schließlich der Organisator, gleichsam die Seele aller Beteiligten: der Mendener Busunternehmer Josef Reusch. Er stellt nicht nur den Bus zur Verfügung, sondern besitzt das nötige Know-How, wie man schneller über die Grenzen kommt, knüpft die Fäden mit den ukrainischen und deutschen Hilfsorganisationen. Rund 2000 Kilometer Richtung Osten liegen vor uns. Am 6. Oktober Start von der Gesamtschule in Fröndenberg um 24.00 Uhr. Über Hannover, Berlin und Frankfurt an der Oder kommen wir nach sieben Stunden an die polnische Grenze. Die Oder – ein Schicksalsfluss für Deutsche und Polen. Zusammen mit der Neiße bildet sie die Grenze zu Polen. Stalin hatte bereits vor der Potsdamer Konferenz 1945 die Gebiete östlich dieser Linie an Polen übergeben, die DDR kannte sie 1950 als deutsche Ostgrenze an, Willy Brandt initiierte mit seiner Ostpolitik 1970 ihre Anerkennung durch die Bundesrepublik. Polen gehört demnächst der Europäischen Union an. Wir überqueren die Oder im Dunkeln. Die erste Rast am frühen Morgen in einer polnischen Stadt: Amerika lässt grüßen: Mc Drive in Kleinformat. Da keiner Zlotys getauscht hat, beschränken wir uns auf Toilettengänge. Wir durchqueren Warschau, kaum historische Gebäude, sozialistischer Wohnungsbau, die ersten postmodernen Banken und Versicherungen. Elf Stunden Fahrt durch Polen, flaches graues herbstliches Land. Die polnisch-ukrainische Grenze passieren wir nach elf langen Stunden Montag spätabends. Die Abwicklung an den Grenzen verläuft trotz langer LKW-Schlangen zügig am Stau vorbei bis zu den Grenzbeamten. Ein selbstgemaltes Rotes Kreuz an der

Windschutzscheibe weist unseren Bus als Hilfstransport aus. Es reduziert ebenfalls die Straßenbenutzungsgebühren erheblich. Trotz großer Müdigkeit ist an Dauerschlaf nicht zu denken. Maximal 45 Minuten hält man eine Schlafstellung durch, dann verkrampfen sich die Beine, wird man von den notdürftig geflickten Straßenlöchern und Bodenwellen, von plötzlichen Stopps vor unbeschrankten Bahnübergängen, auf deren Gleise seit Jahren kein Zug gefahren ist, in neue Sitzpositionen geworfen. Das genaue Anhalten hat einen pekuniären Grund: hinter den Übergängen lauert die Polizei zum Abkassieren. Nach 2000 km langer 30stündiger Busfahrt erreichen wir Kiew um sechs Uhr am Dienstag morgen. Das Aussiedlerehepaar wird am Hauptbahnhof abgesetzt. Von dort aus fahren sie noch vier Stunden mit dem Zug, bis sie bei ihren Verwandten sind. Wo ist eigentlich ihre Heimat?

Kiew, Blick auf das LawraHöhlenkloster und den Dnjepr

Um sieben Uhr halten wir mitten in einer Plattenbausiedlung. Im Erdgeschoss eines Hochhauses hat die Vereinigung zur „Hilfe der Kinder von Tschernobyl“ ihr Lager. Alle freuen sich, dass sie sich bewegen können, helfen gerne beim Ausladen der Hilfsgüter. Nach acht Uhr kommen wir in das Wohnviertel, in dem das Gymnasium Trojestschyna sich befindet. Ein Haus wie das andere, sagen wir bei uns. Angesichts der Plattenbauten und Wohnblöcke mit bis zu 16 Geschossen erscheint uns das von Haus abgeleitete Verb angebrachter. Die Wohnsiedlungen in Ostberlin erscheinen dagegen noch menschlicher zu sein. Eine breite vierspurige Erschließungsstraße, die nur im Eiltempo zu überqueren ist, schmale Abzweigungen zu den Wohnblocks, kaum Grün, nur zufällig sich selbst anpflanzende Bäumchen, vereinzelt marode Kinderspielplätze.

Unsere neue Partnerschule, das Gymnasium Trojestschyna

Mitten dazwischen nach langer Suche und für uns überraschend – das Gymnasium, ein Gebäude mit menschlichen Maßen mitten zwischen Wohnblocks, ein dreigeschossiger Flachbau, genau so hoch wir unsere Schule, vom Volumen kleiner. Durch ein verschließbares Gittertor gelangt man in einen großen hellen Innenhof, der als Pausenraum genutzt wird.

Müde, zerschlagen, ungewaschen, aber froh, endlich am Ziel zu sein, werden wir vom Schulleiter und von den Kolleginnen – innerhalb des 80-köpfigen Kollegiums befinden sich nur zwei männliche Lehrer – begrüßt. Begrüßt ist untertrieben: wir spüren die Offenheit und Freude unserer Gastgeber, uns endlich zu sehen. Es wird viel gelacht, die Ansprachen sind kurz; wir wollen eigentlich entspannen, schlafen, schlafen. Nach dem Frühstück in der Mensa gibt uns der Schulleiter einen ersten Überblick über seine Schule: Anklopfen an eine Klassenraumtür, Öffnen der Tür, alle Schüler – uniformiert, die Mädchen z.T. mit individueller Note - springen auf, stellen sich hinter ihre Stühle, grüßen und warten auf weitere Anweisungen. Wir versuchen, mit unseren Russischkenntnissen für Auflockerung zu sorgen. Das Gymnasium wurde 1992 gegründet. Um es zu besuchen müssen die Schüler eine Aufnahmeprüfung ablegen, 900 Schüler besuchen die Schule.

Begrüßung mit Brot in ukrainischer Tracht

Die Teilnahme an verschiedenen Unterrichtsstunden gibt uns einen ersten Einblick in das ukrainische Schulsystem. Es gibt keine Klassenräume in unserem Sinne, es sind Fachräume, die man hier Kabinette nennt. Neben den auch bei uns bekannten Räumen für die Naturwissenschaften, Kunst oder Musik, haben hier Deutsch-, Ukrainisch-, Englisch- und Geschichtslehrer eigene Räume. Die Schüler wechseln im Ein- oder Zweistundentakt die Räume. Liebevoll sind sie nach dem Geschmack der jeweiligen Lehrerin ausgestattet. Im Englischraum ist es der mannsgroße Bobby, in Geschichte sind es ordentlich eingerahmte Motive aus der Historie des Landes. Vereinzelt sind auch Schülerarbeiten zu sehen. Die Gardinen vor den Fenstern erinnern die Schüler an Omas Wohnzimmer. Die Unterrichtsformen wie bei uns: Frontalunterricht, aber auch Gruppenarbeit, so im

Englischunterricht. Auffallend in diesem Fach die extrem kleinen Lerngruppen mit bis zu 12 Schülern. Wie man das finanziert, kann uns keiner sagen. Wir bekommen normalen, ungestellten Unterricht zu sehen, aber auch, für uns überraschend, eigens für uns geplante Aktionen: im Deutschunterricht hören wir Gedichte in Ukrainisch und Deutsch: Goethes Erlkönig ist auch dabei; wir hören Johannes Bachs Toccata und Fuge in D-Moll auf einem lädierten Klavier; im Fach Ukrainisch tragen singende und vorlesende Mädchen ukrainische Folklorekleidung, es scheint ihnen nicht unangenehm zu sein. Wir bekommen Brot mit Salz als Begrüßungsgabe. Die angekündigte Aufführung einer Theatergruppe mit dem Stück „Aschenputtel“ lässt uns gespannt sein, ob eine zeitgemäße Umsetzung machbar ist. Wir sind überrascht. In der eiskalten, zur Ostseite liegenden Aula – geheizt wird in Kiew erst ab dem 15. Oktober – werden uns als Warming-up zur Musik der Rockgruppe STATUS QUO „In The Army Now“ originelle Sketche geboten, Slapstick pur. Dann Aschenputtel mit dem Blut im Schuh, die arme gequälte Schwester mit Kopftuch, Rock und Blechschüssel, die andere dagegen als mondäner Vamp, langhaarig, Hut, ganz in Schwarz: die Kleidung wirkt nicht als Kostüm, sie scheint dem Mädchen zu gehören. Auch hier immer wieder Situationskomik. Die Entschlüsselung einer Figur, die in die Handlung nicht einbezogen ist, macht zunächst Probleme: eine Tragetasche mit einem elektronischen Gerät um den Hals gehängt, einem Stab mit einer mikrophonartigen Spitze ist mit dem Gerät durch ein Kabel verbunden. Erst die schwenkende Bewegung des Stabes auf dem Boden und der Blick auf das elektronische Gerät macht es deutlich: ein Geigerzähler. Für uns die erste Konfrontation mit Tschernobyl. Keine Miene verzieht der Inspekteur, alles lacht und tobt über Aschenputtels Kampf gegen die schöne Schwester, der Inspekteur bewahrt sein ernstes Gesicht, auch beim Schlussapplaus. Die ukrainischen Lehrerinnen scheinen selbst über diese Einlage überrascht gewesen zu sein. Die Lehrerinnen wirken auf uns ernst und gewissenhaft, immer hilfsbereit, wenn es um Fragen und Übersetzungen geht. Die Schülerinnen und Schüler sind wie unsere: froh, offen, wissbegierig, kontaktfreudig, eine Jugend, der die Zukunft gehört. Sie tragen in den Familien durch ihre qualifizierten Englischkenntnisse zur Kommunikation bei.

Stadtrundfahrt mit Kolleginnen und den Gastschülerinnen. Kalt und windig, aber herrlicher Sonnenschein, die Müdigkeit ist verflogen. Zahlreiche, kaum aufzuzählende, aufwändig renovierte Kirchen häufig als Zentralbauten mit vergoldeten Zwiebeldächern im ukrainischen Barock. Die Kuppeln heben sich kontrastreich gegen den blauen Himmel ab. Viele historische Bauten, durchweg gut saniert. Mitten im Zentrum ein großer Platz als Rondell mit Bauten aus der Zeit des Stalinismus, auf deren Spitzen riesige Werbetafeln des kapitalistischen Westens krähengleich Platz genommen haben. Im Untergrund die uns bekannten Einkaufspassagen, wiederum mit den Waren unserer Lebenswelt, unerschwinglich für den Normalbürger der Ukraine. Wer hat hier eigentlich das Geld? Es überrascht das großstädtische Flair der Hauptstadt der Ukraine, die erst seit 1991 ein selbständiger Staat ist. Dann der Gang zum Ufer des Dnjepr. Gut 40 Meter ist das Ufer hier hoch, steil abfallend. Wir haben einen herrlichen Blick über den großen langsam dahinfließenden Fluss, mindestens fünfmal breiter als der Rhein bei Köln, kein Schiff ist zu sehen. Jenseits des Ufers reihen sich die Wohnblöcke aneinander, einer Stadtmauer gleich, monoton variiert, Megatrabantenstädte, die die Vertriebenen aus dem verstrahlten Gebieten um Tschernobyl aufnahmen. Baukräne weisen auf die Erschließung weiterer Wohngebiete hin. Am diesseitigen Ufer auf einer Anhöhe eine riesige Frauenfigur von 68 Metern mit hocherhobenem Schwert, das Monument „Mutter Heimat“. 1981 wurde die Figur, die größer als die Freiheitsstatue ist, mit der Gedenkstätte zur Geschichte des Vaterländischen Krieges von 1941 bis 1945 errichtet. Wir entschieden uns aufgrund der Kürze der Zeit für ein anderes Museum. Nördlich am Horizont in 100 Kilometer Entfernung muss irgendwo Tschernobyl liegen, in diese Richtung schaut auch „Mutter Heimat“. Eine ukrainische Kollegin weist uns auf das TschernobylMuseum hin, das nach der Selbständigkeit der Ukraine eingerichtet wurde.

Ich kenne kein Museum, das in solch eindringlicher Weise die Katastrophe vermittelt. Russischkenntnisse sind dazu nicht unbedingt erforderlich. Man betritt die Museumsräume über eine lange Treppe, über der rechts und links zahlreiche Ortseingangsschilder in kyrillischer Schrift hängen. Wirft man den Blick beim weiteren Aufstieg zurück, so haben die Schilder die Kennzeichnung eines diagonalen roten Streifens: Ortsende. Das sind die toten Dörfer der Region um Tschernobyl: ihr Aus, ihr Ende, die Evakuierung der Menschen, die ihre Heimat verloren, später – je nach Verstrahlung - auch ihr Leben. Neben zahlreichen technischen Details und Geräten, gibt es immer wieder die personalisierte Konfrontation mit den Relikten betroffener Menschen, so die Ausweise und Fotos der verstrahlten und verstorbenen Helfer. Im Gedächtnis haften bleibt uns allen auch die riesige Wand von Schwarzweißfotografien, die Kinder aus der Region von Tschernobyl zeigen, über deren Schicksal nichts ausgesagt wird. Die Hilfstransporte nach Kiew haben das Ziel, das Leid der an Leukämie erkrankten Kinder durch Medikamente zu lindern. Ein Videofilm gibt auch in Deutsch einen äußerst kritischen Bericht über die Ereignisse. Schonungslos wird mit der Sowjetunion und auch Gorbatschow abgerechtet. Erst 32 Stunden nach der Katastrophe transportierte man 90 000 Menschen, die in zwei Städten und 74 Dörfern lebten, aus dem verstrahlten Gebiet mit dem Versprechen, dass sie nach wenigen Tagen wiederkommen könnten, mit 6000 Bussen fort, schickte Helfer ohne jeglichen Schutz auf den Reaktor und ließ vier Tage später im ganzen Lande den 1. Mai feiern, als sei nichts geschehen. 200 000 Menschen verloren ihre Heimat. Die Schätzungen zur Zahl der Todesopfer schwanken zwischen 10 000 und 125 000. Die Rauminstallation erschließt sich dem Besucher erst nach und nach. Hinter dem Fernseher die riesige Wand mit den traurigen Kindergesichtern; während der Filmvorführung sitzen die Besucher auf Hockern, mit nur einem runden Metallbein, das in quadratische Metallplatten versenkt ist: wie Brennstäbe in einem Reaktor. Der Mensch sitzt auf einem Pulverfass. Da sich nicht alles in „objektive“ Bilder fassen lässt, hat man Künstler und Dichter beauftragt, sich mit der Katastrophe zu befassen. Die großformatigen Bilder haben alle gemeinsam das Element des Kreuzes. Die Gedichte, die uns von den Lehrern ins Englische übersetzt wurden und von unseren Schülern dann ins Deutsche, geben einen intensiven Eindruck der Gefühlswelt der Ukrainer wieder. Hierzu einige Beispiele:

Die Welt! Kannst du dir vorstellen

Wie schlimm das Gras weint und Wie schlimm es mein Volk schmerzt? B. Oliynyk

Menschen halten zusammen – Man hört ein Dröhnen Seid ruhig – Eine sechsfache Sicherheitsmauer erhebt sich Sie sind dein Körper und dein Geist, Die gekommen sind, um sich für euch zu opfern. (B. Oliynyk)

Die Augen der leeren Häuser sehen wahnsinnig aus Ein dreieckiges Zeichen mahnt an der Ecke Eine grauhaarige Mutter flüstert Etwas unter Tränen. Wie kannst du wissen, ob sie traurig ist Oder flucht? (V. Shovkoshythny)

Die Felder ungepflügt, verlassene Dörfer Und der hohe Himmel wie eine Schüssel. Warum ist meine Erinnerung so traurig Wenn ich an dich denke – Tschernobyl-Zone. (M. Dubrovin)

Es ist nicht bekannt, wer die Welt regiert

Gott scheint es vergessen zu haben. Wenn wir uns nicht ändern, Werden wir sterben ohne irgendeine Sintflut. (I. Hnatyruk)

Versöhnlich stimmen die Vitrinen, die Solidaritätsbekundigungen von Kindern aus der ganzen Welt zeigen, von den gefalteten Papierkranichen aus Hiroshima bis zu Kinderzeichnungen und Briefen in Deutsch aus unseren Nachbarstädten. Der Museumsbesuch erfolgte mit den Gastschülerinnen. Unsere Schüler hatten den Eindruck, dass dieses Thema in den Familien Tabu war, man wünschte nicht darüber zu sprechen. Wir selbst mussten viel Kraft aufwenden, um den Schulleiter davon zu überzeugen, dass wir auch mit den Gastschülern die Ausstellung sehen wollten. Die drei Tage Aufenthalt lassen noch die Besichtigung des Lawra-Höhlenklosters am Uferhang des Dnjepr zu. Es wurde im 11. Jahrhundert gegründet und bildet das Zentrum des russisch-orthodoxen Schrifttums. Es bildet die führende Rolle bei der Entwicklung der slawischen Kultur, der Schriftsprache, der Wissenschaft und Kunst. Hier entwickelte ein Mönch die Ikonenmalerei. Was im Klosterberg Mont St. Michel in der Normandie in die Höhe gebaut wurde, dehnt sich hier auf riesiger Fläche aus: Neun Kirchen, die meisten mit mehreren vergoldeten Glockentürmen und drei einzeln stehende Glockentürme, zahlreiche Wirtschaftsräume, Esssäle und Büchereien, Druckerei sind durch überdachte Laubengänge mit einander verbunden. Eine Festungsmauer umgibt das gesamte Ensemble. Typisch für die Anlage sind die Torkirchen, die Stadttoren gleich, den Zugang zum Kloster eröffnen. Alle Baustile von der Romanik über den ukrainischen Barock bis hin zum Klassizismus sind zu finden. Hier steht auch der mit 96 Metern höchste Kirchturm Russlands und der Ukraine, um 1740 erbaut von dem deutschen Johann Gottfried Schädel. Immer wieder geht der Blick über den tiefer liegenden Dnjepr zum Horizont, wo Tschernobyl liegt. Die Besonderheit des Klosters liegt aber unter der Erde. Das Labyrinth der unterirdischen Gänge ist über 500 Meter lang. Die Höhlen befinden sich in einer Tiefe von fünf bis 20 Metern. Einige Bereiche sind zu besichtigen. Elektrisches Licht gibt es nicht. Mit Kerzen tasten wir uns durch die niedrigen und engen Gänge. Hier haben sich die Gründer des Klosters eingegraben und lebten als Eremiten unter der Erde bei Wasser und Brot, ohne je das Tageslicht wieder zu sehen. Später wurden die Katakomben als Grabstätte genutzt. In Buchten sieht man die Hände der mumifizierten Mönche. Die Gänge öffnen sich plötzlich in der Breite und wir stehen vor einem Barockaltar, vor dem Kiewer Frauen murmelnd ihre Gebete sprechen. Das Leben unter der Erde erinnert an die Tschernobyl-Katastrophe. Nur hier scheint man vor den unheilvollen Strahlen sicher zu sein. Wir fragen uns, ob der Mensch überhaupt vor seinen technischen Errungenschaften fliehen kann. Am Freitag fahren wir zurück, überladen mit Gastgebergeschenken und überwältigt von der Gastfreundlichkeit und den zahlreichen Eindrücken.

Die Rückfahrt bei Tage macht die Dimensionen der ukrainischen Landschaft deutlich: weites, ehemals fruchtbares Ackerland. Heute ist alles verkarstet und von Unkraut überwuchert. Nur in der Nachbarschaft der wenigen Dörfer sieht man einzelne Bauern, die mit Pferd und Pflug schmale Landstreifen bestellen. Plötzlich taucht am Horizont ein Industriegelände auf, das als Kernkraftwerk erkannt wird. Tschernobyl ist überall. Einspännige Panjewagen begegnen uns auf dem weiteren Weg zur polnischen Grenze. Wohin führt der Weg der atomaren Gesellschaft?

Gastgeber und Gäste

"Junge" Lehrerinnen und Lehrer unter alter Eiche

Wir freuen uns auf den Gegenbesuch der ukrainischen Schüler und glauben, dass wir einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung geschaffen haben. (Friedhelm Niggemeier) Literatur: •

Scheer, E., Schmidt, G. Die Ukraine entdecken, Trescher-Reihe Reisen, Berlin 2002 Umfangreiche Darstellung des Landes mit touristischem Schwerpunkt



Lüdemann,E. Ukraine, Becksche Reihe Länder, Bremen 2001 Außergewöhnliche Darstellung der Geschichte, der Politik und Wirtschaft und der Kultur und Religion des Landes

Internetadressen: www.salsatecas.de/x/chris/ukraine Guter Überblick über Kiew mit vielen Bildern www.lybid-kiev.com.ua/De/kyiv.htm Schneller Überblick über Land und Leute, Geschichte und Kultur und aktuelle Nachrichten www.reyl.de/tschernobyl Empfehlenswerte Website mit Fakten zum Unfall, zur Technik, zu den häufigst gestellten Fragen und Links zu Tschernobyl www.tschernobyl-folgen.de/ Website der Internationalen Ärzte zur Verhinderung des Atomkrieges www.wostok.de/archiv/3-01/kultur/inhaltframe.html Homepage des Wostok-Verlages, Infos zum TschernobylMuseum

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