Thermische Behaglichkeit

Zeitunginnen3-06 Thema 05.05.2008 11:00 Uhr Seite 6 Thermische Behaglichkeit Das IBO hat eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen zum The...
Author: Lena Becke
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Thema

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Thermische Behaglichkeit Das IBO hat eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Behaglichkeit durchgeführt. Das Hauptziel der Untersuchungen war die Frage: „Ist Behaglichkeit physiologisch messbar?“.

1 Einleitung Ein Raumklima zu erzeugen, das Behaglichkeit und Gesundheit für alle sichert, ist eines der Hauptziele der Baubiologie. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die Gesundheit des Menschen sehr umfassend: „Gesundheit ist nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen, sondern der Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.“ Damit hat die WHO die Behaglichkeit als Teil der Gesundheit hoch gewichtet. Das IBO hat eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Behaglichkeit durchgeführt ([Waltjen 2003], [Lipp 1999], [Lipp 2000], [Rohregger 2004], [Lipp 2004]). Das Hauptziel der Untersuchungen war die Frage: „Ist Behaglichkeit physiologisch messbar?“. Trotz des Einsatzes modernster nichtinvasiver medizinischer Diagnosesysteme und Auswertungsmethoden konnte diese Frage jedoch noch nicht beantwortet werden. Daher sind wir auf dem Gebiet der thermischen Behaglichkeit weiterhin auf die von P.O. Fanger 1970 eingeführten psychophysischen Methoden zur Beurteilung des Raumklimas angewiesen. Diese Methode bildet auch die Grundlage der Raumklimabeurteilung in der EN ISO 7730. In der neuesten Fassung wurde die EN ISO 7730 (2003) um die sehr interessanten „Kategorien eines Raumklimas“ erweitert. Die Kategorien eines Raumklimas sind eine Art „summative Raumklimabeurteilung“. In den folgenden Abschnitten gehen wir zuerst den Begriffsbestimmungen Wohlfühlen, Wohnkomfort und Behaglichkeit nach. Der Abschnitt 3 ist der EN ISO 7730 (2003) und deren Beurteilungskriterien gewidmet. Anhand von Beispielen (Simulationsrechnungen) werden die wichtigsten Kriterien und deren Anwendung in der Praxis dargestellt. Im letzten Abschnitt wird der Frage nach der thermischen Behaglichkeit im Sommer nachgegangen. Denn aus der Sicht des IBO ist die thermische Behaglichkeit in der Heizperiode mit der Einführung des Passivhausstandards sehr gut gelöst, jedoch

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der Sommerfall wird noch immer stiefmütterlich behandelt. Dies erkennt man zB. daran, dass die „Glashausarchitektur“ mit all ihren Überhitzungsproblemen im Bürohausbau derzeit einen Höhenflug hat. 2 Kulturgeschichtliche Begriffsbestimmung: Wohlfühlen, Wohnkomfort und Behaglichkeit ([ROHREGGER 2003]) „Der Wunsch nach einem Zuhause, in dem man sich wohlfühlt“, schreibt der englisch-kanadische Architekt und Kulturgeschichtler Witold Rybczynski ([Rybczynski 1991], 251), „ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis, das tief in unserer Psyche wurzelt und nach Befriedigung verlangt.“ Die Entwicklung von Wohnkultur, also von Architektur und Bauwesen, Heizungs- und Lüftungstechnik, Beleuchtung etc., zeigt, dass Menschen sich in ihrer Umgebung bzw. ihrem Wohnumfeld wohlfühlen wollen und dabei den Komfort suchen. Das lässt sich durch mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen und belegen. Der Ausdruck Komfort spielt dabei nach Rybczynski ([Rybczynski 1991], 17) eine zentrale Rolle. Ursprünglich auf das Lateinische „confortare“ zurückgehend, das soviel bedeutet wie „stärken“ oder „trösten“, überlappt seine Bedeutung heute mit denen von Ausdrücken wie „Behaglichkeit“, „Bequemlichkeit“, „Gemütlichkeit“, „Wohnlichkeit“ und „Wohlfühlen“. Die Begriffe sind allerdings nicht identisch, sondern haben spezifische Nuancierungen, die sie voneinander unterscheiden. Die spezifische Nuance des Begriffs Komfort liegt, so Rybczynski ([Rybczynski 1991], 17), in seiner Beziehung zur Moderne. Denn der Begriff verweist auf jene Art von Behaglichkeit oder Bequemlichkeit, wie wir sie durch die Ausstattung unserer Wohnumwelt mit technischen Geräten erreichen, die uns körperliche Anstrengungen aller Art abnehmen. Rybczynskis These ist, dass die Schaffung einer behaglichen Wohnatmosphäre in zunehmendem Maße auf Technisierung und Funktionalisierung angewiesen ist. Eine Atmosphäre, in der sich Menschen wohl fühlen, wird also immer stärker von technischen Entwicklungen abhängig, die mehr und mehr zur Voraussetzung für die vom Zeitgeist beeinflusste Lebensqualität werden. So

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bestimmt also primär der technische Standard das Wohlgefühl des Einzelnen in seinem Wohnumfeld und immer weniger das aus dem persönlichen Innenleben resultierende Empfinden der Zufriedenheit mit sich selbst und seiner Umwelt. Die aktive Einflussnahme des Menschen auf seinen Aufenthaltsort in Gebäuden ist geprägt von dem Wunsch, sich angenehm zu befinden bzw. sich wohl zu fühlen. Die Entwicklung von Architektur und Bauwesen, Heizungs- und Lüftungstechnik, Beleuchtung und Interieur verweist darauf, wie wichtig dieses Komfortempfinden für die Menschen ist. Gegenwärtig führen technische und gesellschaftliche Entwicklung immer stärker dazu, dass die unmittelbare, aktive Beeinflussung unseres Wohnklimas durch eine mittelbare, wissenschaftlich oder administrative ersetzt wird. Technische und gesellschaftliche Entwicklungen prägen immer auch individuelle Verhaltensweisen, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass in einer Epoche mehr oder weniger homogene Vorstellungen von Wohnkomfort, Wohlfühlen oder Behaglichkeit existieren ([Rybczynski 1991], 252f.). In Großraumbüros kann der einzelne Beschäftigte „sein Fenster“ nicht mehr öffnen, im Theater wird eine von der BesucherInnenzahl abhängige Frischluftmenge zugeführt und im Hotelzimmer muss der Gast die konstante Umgebungstemperatur akzeptieren bzw. ertragen. Die Zufriedenheit des Einzelnen mit der ihm angebotenen Umwelt wird also geprägt von der Qualität der Vorhersage und der technischen Befriedigung seiner Bedürfnisse. Eine angemessene Vorhersage individueller Bedürfnisse ist jedoch geradezu unmöglich, ebenso wie eine adäquate Definition von Komfort, Wohlfühlen und Behaglichkeit. 3 Der Begriff Behaglichkeit für PassivhausbewohnerInnen Der Begriff Behaglichkeit stand im Zentrum der gesamten Studie „Nachhaltige Behaglichkeit“ ([Rohregger 2003]). Im Rahmen eines Focus Group Interviews wurde versucht, die Bedeutung des Begriffs für PassivhausbewohnerInnen selbst herauszuarbeiten.

Thema In Abbildung 1 wurden alle von den TeilnehmerInnen vorgebrachten Assoziationen mit dem Begriff Behaglichkeit dargestellt. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, subsumieren die PassivhausbewohnerInnen unter dem Begriff Behaglichkeit in erster Linie äußere Faktoren wie große, offene, helle, lichtdurchflutete Räume, schöne, warme Farben, eine individuell angemessene, angenehme Temperatur, Wärme, ein geheizter Ofen, bei dem das Feuer sichtbar ist und die richtige Luftfeuchtigkeit sowie die Luftqualität, die für die TeilnehmerInnen an den Focus Group Interviews eine besonders wichtige Rolle spielt. Die Lüftungsanlage ist dabei ein zentrales Element, weil die Frischluftzufuhr vor lästigen Gerüchen schützt und ein behagliches Raumklima erzeugt. Wesentlich für die TeilnehmerInnen an dieser Studie ist dabei auch, dass die Behaglichkeit von äußeren Faktoren und Einflüssen abhängt. Wenn Raumtemperatur, Luftqualität und die gesamte Raumatmosphäre stimmen, dann führt das dazu, dass sich der Einzelne wohl fühlt. Dies hängt allerdings vom individuellen Empfinden ab, da jeder Mensch auf äußere Einflüsse anders reagiert. 4 Thermische Behaglichkeit nach der EN ISO 7730:2003 Das thermische Raumklima umfasst diejenigen Parameter, die den Wärmehaushalt des Menschen beeinflussen. Von P.O. Fanger [Fanger1972] wurden umfassende Untersuchungen zur thermischen Behaglichkeit durchgeführt. Auf Basis dieser stellte er eine Behaglichkeitsgleichung auf, welche mit Hilfe der thermischen Indizes PMV („predicted mean vote“) und PPD („percentage persons dissatisfied“) eine praktische Methode zur Beurteilung des thermischen Raumklimas ermöglicht. ➤

Abb. 1: Konstrukt „Behaglichkeit“

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Das thermische Raumklima wird im Wesentlichen durch vier klassische Parameter bestimmt, die den Wärmehaushalt des Menschen beeinflussen: • Lufttemperatur • mittlere Strahlungstemperatur • Luftgeschwindigkeit • Luftfeuchte Die Lufttemperatur ist die Temperatur in den Aufenthaltszonen von Personen, jedoch außerhalb der Grenzschicht erwärmter Luft in unmittelbarer Nähe der Körperoberfläche. Die Lufttemperatur beeinflußt die konvektive Wärmeabgabe des Menschen. Die mittlere Strahlungstemperatur wird als diejenige Temperatur aller umgebenden Flächen definiert, die denselben Strahlungswärmeaustausch einer Person hervorruft, wie die tatsächlichen (unterschiedlichen) Oberflächentemperaturen. Die Strahlungstemperatur ist für den Wärmehaushalt des Menschen genauso wichtig wie die Lufttemperatur.

Tab. 1: 7-Punkte-Beurteilungsskala des Raumklimas Bezeichnung zu warm (hot) warm (warm) etwas warm (slightly warm) neutral (neutral) etwas kühl (slightly cool) kühl (cool) kalt (cold)

PMV-Index +3 +2 +1 0 -1 -2 -3

PPD-Index 99,1% 76,8% 26,1% 5,0% 26,1% 76,8% 99,1%

Die relative Luftgeschwindigkeit beeinflusst über den konvektiven Wärmeübergangskoeffizienten den Wärmeaustausch des Menschen mit seiner Umgebung. Vor allem bei sitzenden Personen kann die Luftbewegung das Gefühl von Zug hervorrufen. Die Luftfeuchtigkeit beeinflusst die sensible und insensible Transpiration des Menschen. Neben den vorher genannten vier klassischen Raumklimaparametern werden folgende Größen häufig verwendet: • Operativtemperatur bzw. Raumtemperatur und • Strahlungstemperatur-Asymmetrie. Die Raumtemperatur ist diejenige Temperatur von Luft und Umgebungsflächen, die zur gleichen Wärmeabgabe des Menschen führt, wie die tatsächlichen (unterschiedlichen) Temperaturen. Räume mit gleichen Raumtemperaturen und Luftbewegungen rufen beim Menschen dasselbe Wärmeempfinden hervor. In den meisten praktischen Fällen lässt sich die Raumtemperature mit ausreichender Genauigkeit als Mittelwert zwischen mittlerer Strahlungs- und Lufttemperatur annehmen. Die Strahlungstemperatur-Asymmetrie ist die Differenz zwischen den Werten zweier, diametral gelegener Halbräume und damit ein Maß für die auf den Menschen wirkenden und von diesem fühlbaren Unterschiede in der örtlichen Wärmestrahlung. 4.1 Behaglichkeitsgleichung (Fanger-Gleichung) Thermische Behaglichkeit wird oft als der Zustand definiert, bei dem der Mensch mit seiner thermischen Umgebung zufrieden ist, sich thermisch neutral fühlt und weder eine wärmere, noch eine kältere Umgebung wünscht. Darüber hinaus sollte er an keiner Körperstelle störende lokale Abkühlung oder Erwärmung empfinden. Die Behaglichkeitsgleichung gibt die Kombinationen von Klimaparametern an, die in der Regel vom Menschen als thermisch neutral empfunden werden.

Abb. 2: Zusammenhang PMV und PPD

PMV-Index Der PMV-Index wurde aus der Behaglichkeitsgleichung abgeleitet und ist die Abkürzung für „Predicted Mean Vote“. Dieser Index gibt die erwartete durchschnittliche Beurteilung des Raumklimas anhand einer 7-Punkte-Skala an. Setzt man eine große Zahl von Personen einem definierten Raumklima aus, so läßt sich die mittlere Beurteilung mit dem PMV-Index vorhersagen (siehe Tab. 1). PPD-Index Der PMV-Index sagt zwar voraus, wie die mittlere Beurteilung des Raumklimas durch eine größere Personengruppe erfolgen wird, die Beurteilung der Einzelpersonen wird jedoch um den Mittelwert

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streuen. Der PPD-Index (Predicted Percentage of Dissatisfied) gibt die Anzahl der mit den thermischen Bedingungen Unzufriedenen an. 4 2 PPD = 100 – 95 · e (– 0,03353 · PMV – 0,2179 ·PMV )

Aus Abbildung 2 ist ersichtlich, dass es selbst bei vorausgesagter thermischer Neutralität (PMV=0, optimales Raumklima) immer mindestens 5 % Unzufriedene gibt, d.h. es existiert kein Raumklima, mit dem alle zufrieden sind. 4.2 Lokales thermisches Unbehagen PMV- und PPD-Index berücksichtigen den Einfluss des Raumklimas auf den Körper als Ganzes. Aber selbst wenn der PMV-Index thermische Neutralität vorhersagt, kann Unbehagen entstehen, wenn ein Teil des Körpers zu warm und ein anderer zu kalt ist. Dieses Unbehagen kann durch • hohe Luftgeschwindigkeiten • große vertikale Lufttemperaturunterschiede • kalte und warme Fußböden • große Strahlungstemperatur-Asymmetrie hervorgerufen werden. Zugluft Die Zugluft ist beim heutigen Baustandard jene Einflussgröße, welche das lokale Unbehagen hauptsächlich bestimmt. Die anderen Einflussgrößen sind bei einem guten Baustandard relativ leicht im optimalen Bereich zu halten. Zugluft ist eine unerwünschte lokale Abkühlung des menschlichen Körpers, die durch Luftbewegung verursacht wird. Die Beeinträchtigung durch Zugluft kann als der vorausgesagte Prozentsatz an Menschen angegeben werden, die sich durch Zugluft beeinträchtigt fühlen (Zugluftrisiko DR). Das Zugluftrisiko kann nach folgender Gleichung berechnet werden:

Aus Abbildung 3 wird ersichtlich, dass schon Luftgeschwindigkeiten deutlich unter 0,1 m/s ausreichen um mehr als 5 % Unzufriedene aufgrund des Zugluftrisikos zu produzieren. Wichtig ist auch, dass man sich die Steilheit der Kurve bzw. den schnellen Anstieg der Unzufriedenen mit der Zunahme der Luftgeschwindigkeit vergegenwärtigt. Die folgenden Abbildungen auf Seite 10 (Simulationsrechnungen) stammen von Wolfgang Richter ([Richter 2005]) und zeigen das Zugluft DR bei einem Niedrigenergiehaus in Abhängigkeit des Fensteranteils, Heizungssystem, der Heizkörperanordnung und der Zuluftöffnungsposition. Die Farbkodierung gibt für jeden Punkt das Raumes das Zugluftrisiko an. Neben der Farbskala sind die „neuen“ summativen Behaglichkeitskategorien der EN ISO 7730 angegeben (siehe weiter unten). A ist die beste Kategorie. Wenn zu einem Bereich z.B. A, B angegeben wird, dann bedeutet dies, dass für die Kategorie A und B der selbe Wertebereich gilt. Das helle Rechteck stellt den definierten Aufenthaltsbereich dar. Aus den Abbildungen wird klar, welche Bedeutung für die beste Behaglichkeitskategorie A die Art der Belüftung, das Heizsystem und der Baustandard hat. Bei Einhaltung des Passivhausstandards kann davon ausgegangen werden, dass immer die beste Raumklimabewertungskategorie A erreicht wird. Beim Niedrigenergiehausstandard ist die Kategorie A auch erreichbar, jedoch nicht automatisch. Die erreichte „Behaglichkeitskategorie“ ist sehr von den eingesetzten Komponenten abhängig. ➤ Abb. 3: Darstellung des Zugluftrisikos (aus [Feist 2004])

ta die lokale Lufttemperatur in Grad Celsius, 20°C bis 26°C; va die lokale mittlere Luftgeschwindigkeit in Meter je Sekunde,