Therapie vor Diagnose

Da sie bemerkt hat, wie intelligent Isabell ist, hat sie ihr Sophies Welt zu lesen gegeben. Hat ihr eine leere Kassette ausgehändigt und sie gebeten, ...
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Da sie bemerkt hat, wie intelligent Isabell ist, hat sie ihr Sophies Welt zu lesen gegeben. Hat ihr eine leere Kassette ausgehändigt und sie gebeten, laut zu lesen und den Text für eine blinde Frau aufzunehmen. Mit ihrer Autorität als Frau Doktor erklärte sie diese Aktion zu Isabells Arbeitsprogramm und verpflichtete sie, jeden Tag eine halbe Stunde zu lesen. Das hat wider Erwarten gut geklappt. »Sie liest und unterhält sich mit mir darüber. Da ist sie so aufgeschlossen, dass du dir gar nicht vorstellen kannst, dass sie so ganz in dieser anderen Welt drin ist.«

Therapie vor Diagnose Anna gibt sich zwar keinen Illusionen hin, aber sie lässt sich von scheinbar ausweglosen Situationen auch nicht lähmen. Durch ihre Bereitschaft, sich auf Ungewöhnliches einzulassen, findet sie oft auch dort noch Wege, wo andere schon längst aufgeben haben. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Geschichte von Verena Sürig und Jens Gerstein. Jens Gerstein gehörte zu Annas ersten Methadonpatienten. Eines Tages, vor etwa acht Jahren, brachte er in der Sprechstunde stockend und vorsichtig ein Anliegen vor. Er sagte: »Meine Freundin Verena kann nicht mehr raus. Es zieht ihr. Sie braucht Methadon, aber ihr Arzt will es ihr nicht mehr geben, wenn sie nicht selber kommt. Er verweigert die Behandlung. Sie kann aber nicht mehr rausgehen und es abholen. So geht es nicht weiter. Sie braucht unbedingt einen Arzt – können Sie nicht mal nach ihr sehen?« Natürlich fuhr Anna hin. Eine Wohnung konnte man das, was sie damals betrat, eigentlich nicht nennen. Die beiden hausten regelrecht zusammen, lebten vollkommen isoliert. Sie hatten keinen Strom, kein Licht, kaum Wasser. Wie sie mit dem tröpfelnden Wasserhahn so lange ausgekommen waren, blieb ein Rätsel. Damals wusste Anna noch nicht, dass sie gerade dabei war, mit Jens Gersteins Freundin ihre zukünftige Sprechstundenhilfe kennen zu lernen. Verena Sürig war zu dem Zeitpunkt bereits seit zwanzig Jahren drogenabhängig. Von diesen zwanzig Jahren hatte sie die letzten zwei im Bett verbracht. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Arzt die weitere Versorgung mit Methadon verweigerte, war ihr Freund rausgegangen und hatte es für sie geholt. Anna erinnert sich gut: »Sie lag im Bett, ganz zugemummelt in einem vollkommen abge46

dunkelten Zimmer. Und weil es ihr zog, musste ich ihr das Methadon unter der Bettdecke geben. So ging das über mehrere Wochen. Aus der Praxis habe ich alle möglichen Laken mitgebracht und der Freund und ich haben ihr ein richtiges Himmelbett gebaut. Wir sind einfach ihrem Wunsch gefolgt, alles zu tun, damit es ihr nicht mehr zieht. Ich wusste erst gar nicht, was mit ihr los war und was ihr helfen könnte. Ich dachte, vielleicht hat sie so eine komische Augenstörung. Vielleicht ist das eine nervlich bedingte Missempfindung im Gesicht. Durch den regelmäßigen Kontakt zu ihr bekam ich dann aber doch ein Gefühl dafür, was es sein könnte. Es wurde ja auch nicht besser und zog immer weiter. Dabei klagte sie über kein anderes Symptom, sondern immer nur über das Ziehen. Das war für sie jedoch so schlimm, dass niemand sie dazu bringen konnte, ihr Bett zu verlassen. Ohne mir meiner Diagnose sicher zu sein, habe ich ihr schließlich Taxilan gegeben, und siehe da, es wurde besser. Neuroleptika sind manchmal schon sehr hilfreich, wenn die Menschen es akzeptieren, sie zu nehmen. Das Ziehen jedenfalls hörte ganz auf und Frau Sürig kam allmählich wieder aus dem Bett. Erst später hat sie mir erzählt, dass sie schon vor dieser Sache mit dem Ziehen die Stimme ihres Vaters gehört hatte. Als das Taxilan so gut wirkte, war ich ziemlich sicher, dass es sich um schizophrene Symptome handelte. Hätte sie mir das mit den Stimmen schon früher erzählt, wäre ich sicher schneller darauf gekommen, dass es so etwas ist.« Ich frage Anna, was Frau Sürig denn selber von der Art ihrer Beschwerden denke. Anna sagt ohne weitere Umschweife: »Sie hält es für eine Schizophrenie. Sie weiß inzwischen genau, wie sie dosieren muss. Außer dem Taxilan gebe ich ihr noch ein bisschen Haldol. Sie ist ja bei mir angestellt und dadurch habe ich einen ziemlich guten Einblick, wie es ihr geht. Ich spreche jeden Tag mindestens eine halbe Stunde mit ihr. An manchen Tagen geht das nur, wenn sie mich bei Hausbesuchen begleitet. Wir sprechen dann im Auto. In den Gesprächen handeln wir auch aus, ob drei oder vier Tropfen angezeigt sind. Sie weiß selbst genau, wenn es da irgendwo ein bisschen zieht oder sie irgendetwas hört, dann muss sie mehr Taxilan nehmen. In anderen Zeiten nimmt sie weniger. Sie kann das ganz selbstständig regulieren, sie ist sehr pfiffig. Man kann alles sehr gut mit ihr besprechen, seit acht Jahren machen wir das so.« Zu der Anstellung von Frau Sürig merkt Anna schlicht und einleuchtend an: »Sie brauchte damals unbedingt Arbeit. Ohne Arbeit hätte sie 47

sich nie stabilisiert.« Erst später geht mir auf, dass solche und ähnliche Maßnahmen zu Annas Konzept der Behandlung von drogenabhängigen Menschen gehören. Da ich sozusagen bei der Konkurrenz arbeite, kann ich es nicht lassen, zu fragen, ob denn Frau Sürig nie in psychiatrischer Behandlung war. Doch sie war. Habe aber nichts gebracht. Annas Antwort auf mein insistierendes »Warum« ist peinlich für mein Arbeitsgebiet, entspricht aber leider der Realität: »Natürlich deshalb, weil die Psychiater nicht so viel Lust haben, sich um Drogenleute zu kümmern. Sie war ihnen schlicht zu süchtig. Ist sie ja jetzt gewissermaßen auch noch. Das ist ein Grundproblem, dass die Psychiater nicht gerne Drogenleute nehmen. Die sagen von vornherein, mit Süchtigen kann man nichts machen, das hat gar keinen Zweck. Deswegen kommt es nicht selten vor, dass ein drogenabhängiger schizophrener Mensch überhaupt nicht behandelt wird. Ich bin ja auch nur zufällig darauf gekommen, dass sie neben der Abhängigkeit auch noch an einer Schizophrenie leidet. Ich hatte anfangs auch nicht daran gedacht. Die Drogenabhängigen haben durch den Konsum von LSD und Kokain manchmal so seltsame Erlebnisse, dass du nur sehr schwer herausfinden kannst, was wirklich mit ihnen los ist. Ja, und dann bemüht sich mancher eben gar nicht mehr darum, zu einer Einordnung zu kommen, die eine Behandlung erlaubt.« Ich wittere ein interessantes Thema und frage: »Welchen Stellenwert haben psychiatrische Diagnosen denn überhaupt für dich?« »Meistens kann ich die gar nicht stellen. Wenn ich da irgendwo in eine Wohnung komme, kann ich das an dem Menschen gar nicht erkennen. Wenn es heißt, der hat eine Schizophrenie, dann betrifft es ja meist nur ein paar Teile der Person. Ich meine, da ist ja nicht gleich alles schizophren. Die kann mir ja trotzdem einen Kaffee geben, macht auch etwas, sitzt da und bewegt sich so wie jeder andere Mensch.« »Aber bei Verena Sürig, bei der es zog, hast du schließlich von Schizophrenie gesprochen.« »Ja, da habe ich wahrscheinlich gedacht, hier gehört das hin mit der Schizophrenie und Taxilan könnte ihr helfen.« »Mich beeindruckt, dass bei dir die Therapie vor der Diagnose kommt. Man könnte in Umkehrung des üblichen Credos sagen, erst eine gute Therapie macht eine richtige Diagnose möglich.« »Ja, vielleicht guck ich erst mal so, was mit jedem ist, was er will und braucht. Dann überlege ich, was man probieren kann. Ich bin mir eigent48

lich nie ganz sicher, gerade bei Schizophrenie bin ich mir selten sicher. Die meisten behandele ich auch gar nicht. Also die, die schizophren sind in meiner Umgebung, die sind vielleicht auch nicht so schrecklich schizophren. Ich lasse sie einfach.« »Aber sie kommen zu dir wegen körperlicher Beschwerden?« »Ja, auch, oder irgendwer bringt sie. Zu mir in die Praxis kommt z.B. ein ehemaliger Mathematikprofessor. Er sieht auch aus wie ein Professor, ist ganz schmächtig, hat einen Rundrücken, trägt eine altmodische Nickelbrille und immer einen schmuddeligen schwarzen Anzug. Seine dünnen weißen Haare stehen glatt und strähnig vom Kopf ab. Er kommt, weil er zuckerkrank ist. Ich meine, er ist auch schizophren, aber deshalb würde er sich bestimmt nicht bei mir melden. Wegen des Zuckers kommt er zwar, lässt sich aber längst nicht immer behandeln. Aber wenn er sich heute nicht behandeln lässt, dann kommt er eben morgen wieder. Er schreibt Gedichte in ganz kleiner Schrift. Die bringt er mir manchmal mit. Er kennt auch philosophische Texte auswendig und kann manche französisch rezitieren. Die Unterhaltung mit ihm ist ziemlich anstrengend. Hinterher weiß ich oft nicht, worüber ich mit ihm geredet habe, weil ich mich so darauf konzentrieren musste, alle Kurven in dem Gespräch mitzubekommen. Regelmäßig, einmal im Jahr, kommt er, weil er Reisegeld braucht. Da muss er nach Hamburg zu einer bestimmten religiösen Gruppe fahren.« »Dein Fonds?« »Das muss sein, ist schon Ritual geworden. Übrigens, hinter meiner Praxis wohnt auch so jemand. Der spielt den ganzen Tag Flöte, zwölf Stunden am Tag und immer das Gleiche. Das ist wirklich furchtbar. Irgendwann sind die Nachbarn in die Praxis gekommen und haben gesagt: Kann das nicht mal aufhören mit der Flöte da? Der Mann ist doch krank.« »Und was hast du gemacht?« »Ich habe gesagt, wir können den nicht ändern. Warum soll der jetzt in die Klinik, nur weil er Flöte spielt? Ist mit dem sonst noch was? Man sieht ja, er geht einkaufen, er isst was. Hat den Nachbarn eingeleuchtet, die haben nur gesagt, dann machen wir unsere Musik eben auch an. Manchmal frage ich die Nachbarn, die über ihm wohnen, vorsorglich, wie kommt ihr eigentlich klar damit, dass der dauernd Flöte spielt? Wenn sie merken, mich nervt es auch, halten sie es besser aus. Also, ich kann‘s nicht mehr so gut aushalten. Zehn Jahre spielt er schon, immer 49

die gleiche Piepserei und immer ein bisschen falsch. Aber andererseits, was ist die Alternative? Der geht ja zu keinem Doktor. Soll man den nun aufscheuchen?« »Du meinst, er würde sowieso keine Therapie akzeptieren und dann kann man‘s mit der Diagnose auch auf sich beruhen lassen? Anders als bei Frau Sürig, der es zog?« »Ja, da konnte ich hingehen, weil ihr Freund zu mir kam und sagte, meiner Freundin geht es so schlecht, können Sie nicht mal kommen? Und weil ich gar nicht wusste, wie ich es anpacken sollte, habe ich es erst mal sechs bis acht Wochen alles so gemacht, wie sie es gerne hatte. Durch diesen täglichen Kontakt bekam ich ein Gefühl für die Frau. Ich spürte z.B. deutlich, dass sie mir nicht irgendetwas vorspielte oder mich ärgern wollte. Sie konnte absolut nicht raus aus ihrem Bett. Es war nicht Bequemlichkeit, es musste einfach eine Zeit lang so sein. Die Wäschekörbe mit den ganzen Tüchern, aus denen wir das Himmelbett gebaut haben, es war wirklich ein Aufstand! Auch das musste sein. Ich habe es nicht bereut. Es war nötig, es passte dahin. Das hat sie mir übrigens erst neulich gesagt, also viel später: Dass Sie das damals so gemacht haben, das war eigenartigerweise schön für mich. Es war so wichtig, dass Sie nicht gesagt haben, nun hören Sie schon auf, es zieht bestimmt nicht. Es kann doch gar nicht ziehen. Es ist doch schon alles zu. Dass ihr Freund und ich damals versuchten, es für sie so gut zu machen, wie wir konnten, das hat sie irgendwie beruhigt.« »Erinnert mich ziemlich an die Entdeckung der Langsamkeit.« »Wenn du einen Menschen noch nicht gut kennst, musst du ihn irgendwie bei Laune halten, um an ihn heranzukommen. Du willst, dass er sich beruhigt, und da gehst du besser auf ihn ein, als ihm irgendetwas auszutreiben. Wenn du ihn später besser kennst und schon Kontakt hast, musst du ihn nicht mehr bei Laune halten, dann kannst du ihn auch mal antreiben oder sagen, hier ist jetzt die Grenze.« Mir lässt die geringfügige Rolle, die meine eigene Fachdisziplin bei all diesen interessanten Menschen spielt, keine Ruhe und so frage ich noch mal: »Geht es nicht manchmal auch andersherum, dass du von psychiatrischen Stellen wie z.B. dem Sozialpsychiatrischen Dienst Unterstützung und fachliche Hilfe bekommst?« Anna beißt nicht recht an: »Wüsste ich gar nicht. Höchstens, wenn da so ein ganz alter, verwirrter Mensch nicht mehr zu Hause sein kann und er einen Heimplatz braucht, dann habe ich schon mal mit dem So50

zialpsychiatrischen Dienst zu tun, bei so was Formalem kommt es vor. Eher läuft es umgekehrt. Die haben oft ziemlich eigenwillige Leute, die keinen Arzt wollen, und weil der Sozialpsychiatrische Dienst mich inzwischen kennt, holen die mich bei solchen Menschen. Ich kehre dann auch nicht die Ärztin hervor, damit sie nicht gleich einen Schrecken kriegen. Neulich haben sie mich wegen einer alten Lehrerin geholt, die in einer Kellerwohnung lebt, einem feuchten, dreckigen Loch, voller Ratten. Es gibt nicht viele Ärzte, die da hingehen würden und wenn, würden sie sofort sagen: Die muss hier raus. Aber auf diese Art kann man nichts erreichen. Die Frau braucht jemanden, der trotz der Ratten zu ihr in das Loch geht, sie dort versorgt und ihr dort eine Spritze gibt. So herum geht es, wenn überhaupt. Der Sozialpsychiatrische Dienst hat sich natürlich auch um die Frau gekümmert. Von mir wollten sie eigentlich nur Medizinisches. Für so ganz isoliert lebende, allein stehende, verrückte Leute holen die mich manchmal. Meistens sind das Leute, die man nur minimal versorgen kann und sonst einfach so lassen muss.« Mir wird immer deutlicher, dass Annas hausärztliche Praxis auf ganz natürliche Weise das ist, was man in der psychiatrischen Szene als »gemeindenah« und »niedrigschwellig« zu bezeichnen pflegt. Ich staune über die Chancen, die darin liegen, und zwar besonders für eigenartige und eigenwillige Menschen, die die Psychiatrie scheuen oder umgekehrt, vor denen sich die Psychiatrie immer noch zu sehr scheut. Sicher ist Annas Einsatz sehr hoch und ihre Arbeitsweise höchst individuell, aber ich frage mich doch, ob nicht ansatzweise auch andere Hausarztpraxen auf bescheidene und unauffällige Weise mit einer Klientel umgehen, das den offiziellen Vertretern der Psychiatrie ausweicht. Wenn das so wäre, könnten beide Seiten viel voneinander lernen und fruchtbarere Kooperationsmöglichkeiten, als Anna sie erlebt hat, wären denkbar.

Ein stolzes Team Die Geschichte von Frau Sürigs Wandlung zur Mitarbeiterin hat mich neugierig gemacht, wer außer ihr und Anna noch in der vergleichsweise großen Praxis mitarbeitet. Juni 2000 fahre ich eigens deswegen nach Berlin, um Anna genauer nach der Praxisorganisation bzw. nach ihren Mitarbeiterinnen zu fragen und diese gegebenenfalls auch selbst zu 51

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