Theorie der Unternehmung Herausgegeben von Reinhard Pfriem Band 38

37 Thomas Beschorner, Patrick Linnebach, Reinhard Pfriem und Günter Ulrich (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht 36 Marlen Arnold: Strategiewechsel für eine nachhaltige Entwicklung. Prozesse, Einflussfaktoren und Praxisbeispiele 35 Reinhard Pfriem, Thorsten Raabe, Achim Spiller (Hg.): OSSENA – Das Unternehmen nachhaltige Ernährungskultur 34 Ralf Antes: Nachhaltigkeit und Betriebswirtschaftslehre. Eine wissenschafts- und institutionentheoretische Perspektive 33 Klaus Fichter: Interpreneurship. Nachhaltigkeitsinnovationen in interaktiven Perspektiven eines vernetzenden Unternehmertums 32 Niko Paech: Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie 31 Michael Fürst: Risiko-Governance. Die Wahrnehmung und Steuerung moralökonomischer Risiken 30 Gebhard Rusch (Hg.): Konstruktivistische Ökonomik. Systemische und soziokognitive Konzepte in Marketing, Managementlehre und Wirtschaftswissenschaft 29 Klaus Fichter, Niko Paech, Reinhard Pfriem: Nachhaltige Zukunftsmärkte. Orientierungen für unternehmerische Innovationsprozesse im 21. Jahrhundert 28 Christian Lautermann, Reinhard Pfriem, Josef Wieland, Michael Fürst, Sebastian Pforr: Ethikmanagement in der Naturkostbranche. Eine Machbarkeitsstudie 27 Dirk Fischer: Strategisches Management in der Symbolökonomie 26 Andreas Aulinger: Entrepreneurship und soziales Kapital. Netzwerke als Erfolgsfaktor wissensintensiver Dienstleistungsunternehmen 25 Frank Ebinger: Ökologische Produktinnovation. Akteurskooperationen und strategische Ressourcen im Produktinnovationsprozess 24 Reinhard Pfriem: Unternehmen, Nachhaltigkeit, Kultur. Von einem, der nicht auszog, Betriebswirt zu werden 23 Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung

22 Henning Schmidt: Wissensmanagement: Wettbewerbsvorteil oder modernes Märchen? Reflexion über eine Managementmode am Beispiel der Nahrungsmittelindustrie 21 Marco Miklis: Coopetitive Unternehmungsnetzwerke. Problemorientierte Erklärungsund Gestaltungserkenntnisse zu Netzwerkbeziehungen zwischen Wettbewerbern 20 Holger Petersen: Ecopreneurship und Wettbewerbsstrategie. Verbreitung ökologischer Innovationen auf Grundlage von Wettbewerbsvorteilen 19 Karl Hackstette: Individualistische Unternehmensführung. Eine wirtschaftsphilosophische Untersuchung 18 Michael Mohe: Klientenprofessionalisierung. Strategien und Perspektiven eines professionellen Umgangs mit Unternehmensberatung. 17 U. Schneidewind, M. Goldbach, D. Fischer, S. Seuring (Hg.): Symbole und Substanzen. Perspektiven eines interpretativen Stoffstrommanagements 16 Ralf Weiß: Unternehmensführung in der Reflexiven Modernisierung 15 Sandra Jochheim: Von der Unternehmenskultur zum Netzwerk von Subkulturen 14 Thomas Beschorner: Ökonomie als Handlungstheorie 13 Stephan Grüninger: Vertrauensmanagement. Kooperation, Moral und Governance 12 Martin Tischer: Unternehmenskooperation und nachhaltige Entwicklung in der Region 11 Michael Mesterharm: Integrierte Umweltkommunikation von Unternehmen. Theoretische Grundlagen und empirische Analyse der Umweltkommunikation am Beispiel der Automobilindustrie 10 Georg Müller-Christ: Nachhaltiges Ressourcenmanagement. Eine wirtschaftsökologische Fundierung 9

Thomas Beschorner, Reinhard Pfriem (Hrsg.): Evolutorische Ökonomik und Theorie der Unternehmung

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Nicola Pless: Corporate Caretaking. Neue Wege der Gestaltung organisationaler Mitweltbeziehungen

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Klaus Fichter: Umweltkommunikation und Wettbewerbsfähigkeit. Wettbewerbstheorien im Lichte empirischer Ergebnisse zur Umweltberichterstattung von Unternehmen

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Uwe Schneidewind: Die Unternehmung als strukturpolitischer Akteur. Kooperatives Schnittmanagement im ökologischen Kontext

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Christoph Kolbeck, Alexander Nicolai: Von der Organisation der Kultur zur Kultur der Organisation. Kritische Perspektiven eines neueren systemtheoretischen Modells

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Andreas Aulinger: (Ko-)Operation Ökologie. Kooperationen im Rahmen ökologischer Unternehmenspolitik

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Achim Spiller: Ökologieorientierte Produktpolitik. Forschung, Medienberichte, Marktsignale

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Hendric Hallay: Ökologische Entwicklungsfähigkeit von Unternehmen

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Reinhard Pfriem: Unternehmenspolitik in sozialökologischen Perspektiven

Reinhard Pfriem

Unsere mögliche Moral heißt kulturelle Bildung Unternehmensethik für das 21. Jahrhundert

Metropolis-Verlag Marburg 2007

Bild auf dem Umschlag: „Veronicas Veil“ von Julian Schnabel, Sammlung Terrae Motus, Museum von Palazzo Reale, Caserta (I). Für die Genehmigung zum Abdruck danken wir dem italienischen Ministerium für Kulturgüter. ¤ Ministero per i Beni e le Attività Culturali della Repubblica Italiana.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Metropolis-Verlag für Ökonomie, Gesellschaft und Politik GmbH Bahnhofstr. 16a, 35037 Marburg, Deutschland http://www.metropolis.verlag.de Copyright: Metropolis-Verlag, Marburg 2007 Alle Rechte vorbehalten Druck Rosch-Buch, Scheßlitz bei Bamberg ISBN 978-3-89518-600-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ...................................................................................................7

Teil I: Gesellschaftstheoretische Reflexionen

Unternehmen und Wirtschaftskulturen. Glückwünsche für einen leidenschaftlichen Vermeider von Denkverboten....................................13 Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen ........................31 Unsere mögliche Moral heißt kulturelle Bildung. Eben deswegen: Ökonomie und Unternehmen als Gegenstände kultureller Entwicklung ................................................63 So war, wäre oder wird es irgendwie. Einige Anmerkungen über heutige Möglichkeiten kritischer Theorie der Gesellschaft .....................83

Teil II: Ethische Konzeptionen

Es darf gewollt werden. Plädoyer für eine Renaissance der Tugendethik ......................................95 Steuerung und Demokratie. Governanceethik und Diskursethik...........121 Strategische Unternehmenspolitik als Daseinsbewältigung. Grundzüge einer kulturalistischen Unternehmensethik wie Theorie der Unternehmung .............................................................143 Wollen können und können wollen. Die vermeintlichen Anpasser sind die Gestalter ....................................163

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Inhaltsverzeichnis

Unternehmenspolitische Verantwortung im außermoralischen und im moralischen Sinn........................................................................185

Teil III: Kulturelle Kompetenzen

Kulturwissenschaftliche Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Ernährungskonsum ...........................................................209 Zur Stärkung subjektbezogener Theorien. Kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ........................221 The manner of doing. Vom Nutzen des performative turn für eine kulturalistische Ökonomik ........................................................241 Kulturelle Bildung als mögliche Herausforderung für Unternehmensstrategien ...................................................................261

Quellenverzeichnis .................................................................................283

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Einleitung Die ethische Frage ist traditionell die Frage nach dem an sich Guten, das im Rahmen der christlichen Überlieferung mit Jesus Christus verbunden wird. Die Geschichte des Schweißtuches der Veronika ist die in den vergangenen zwei Jahrtausenden immer wieder erzählte Geschichte, dass die Menschheit ein wahres Bild Jesu besitze, fast eine Fotografie. So heißt es zu Beginn des Buches „Das Göttliche Gesicht“, das der Historiker und Journalist Paul Badde im vergangenen Jahr über „die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu“ veröffentlicht hat. 1506 wurde eine Säule des neuen Petersdoms extra zu dem Zweck errichtet, um den so genannten Schleier der Veronika zu verwahren. Nach päpstlicher Maßgabe wurde er damit allerdings auch den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. Dies sei zur Erklärung gesagt, warum ich im letzten Herbst beim Besuch der an das Erdbeben von Neapel vor einem Vierteljahrhundert erinnernden Ausstellung Terrae Motus in der Reggia von Caserta, in der Nähe von Neapel, über den Anblick von Julian Schnabels „Veronica’s Veil“ sofort auf die Idee kam, dies für den nun vorliegenden Sammelband eigener Aufsätze zur (nicht nur Unternehmens-)Ethik als Titelbild zu verwenden. Die gemeinsame Orientierung der auf viele Orte verstreuten Texte, die allesamt in den vergangenen eineinhalb Jahren erstellt wurden, bürstet die Frage nach dem an sich Guten für das 21. Jahrhundert allerdings gegen den Strich: Das Projekt einer kulturalistischen (Unternehmens- und Wirtschafts-)Ethik ist darauf gerichtet, von der Idee des an sich Guten abzulassen und das, was über ethische Reflexion als moralisch Gutes identifiziert werden kann, zwar im Rahmen regulativer Ideen verorten zu können, in jeder historisch-konkreten Situation aber immer wieder neu suchen und entwickeln zu müssen. Ich verwende dafür den Begriff der kulturellen Bildung, wohl wissend, dass der Bildungsbegriff für manche, die ähnlich denken, etwas Altbackenes hat. In Übereinstimmung mit der von Jürgen Mittelstraß herausgegebenen Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie und der dortigen Formulierung von Siegfried Blasche ist Bildung ein „die

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Einleitung

Gesamtformung des individuellen Menschen umfassender Begriff, der sich schon in der antiken und christlichen Tradition auf das Erfordernis bezieht, den aus tradiert-sittlichen Bindungen tendenziell entlassenen Menschen allgemein zu orientieren.“ Auch der weiteren Erläuterung dort folge ich gerne, insofern auf die subjektive Autonomie und Selbsttätigkeit dessen, der sich bilden will, abgestellt wird. Das lässt sich kritisch richten sowohl gegen überzogen pädagogische Ideen der schematischen Gegenüberstellung von denen, die bilden, und jenen, die zu bilden seien, als auch gegen verbreitete Vorstellungen, Bildung bloß als im wesentlichen kognitiven Prozess zu betrachten. Und die dort ebenfalls benannte „der aufklärerischen Vereinzelungstendenz entgegenwirkende Lebensgestaltung“, die als aufklärungskritisch mit dem Bildungsbegriff verbunden sei, passt sehr gut zu dem mit den Aufsätzen dieses Buches verbundenen Bemühen, kulturelle Bildung nicht nur auf Individuen zu beziehen, sondern auch auf Unternehmen, also ökonomische Organisationen, also kollektive Akteure. Das Projekt einer kulturalistischen (Unternehmens-)Ethik steht noch am Anfang. Auch wenn dieses Buch u. a. zur Verwendung in MasterStudiengängen an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg dienen wird, hat es keinerlei Lehrbuch-Charakter. Die Orientierung ist im Werden und präzisiert sich durch verschiedene anregende Bezüge. Ausdrücklich genannt an dieser Stelle sei das jährliche Zusammentreffen einer kleinen Gruppe bei Josef Wieland in Konstanz, bei dem es darum geht, vor dem Referenzrahmen seiner governanceethischen Konzeption besonders wichtige Fragen zukunftsfähiger Betrachtung und Gestaltung der moralischen Dimension des Wirtschaftens zu erörtern. Einen weiteren wichtigen Diskussionsrahmen stellt die im Moment von Thomas Beschorner koordinierte Oldenburger Forschergruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) dar, zuzüglich des Kommunikationsnetzes, das wir in Partnerschaft mit dem von Jörn Rüsen geleiteten Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen davon ausgehend entwickeln. Und neben den in diesem Band durch Mitautorschaft Beteiligten, nämlich Irene Antoni-Komar, Veronika Nölle und Christian Lautermann, sei ausdrücklich auch Niko Paech genannt und für viele Gespräche gedankt, dessen Programm, Nachhaltigkeit als kulturelle Herausforderung ernst zu nehmen, natürlich von fundamentalem ethischen Belang ist. Die folgenden Texte gliedern sich in drei Teile, die Quellen sind hinten angegeben. Inklusive der verwendeten Zitate anderer Autoren sind

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Einleitung

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die Texte nicht völlig überschneidungsfrei, wegen der jeweiligen Besonderheit der Thematik und der Argumentation scheint es mir aber sinnvoll, die Auswahl in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Im ersten Teil geht es um gesellschaftstheoretische Reflexionen. Die Rolle von Unternehmen als gesellschaftlichen Akteuren kann erst dann angemessen verstanden werden, wenn der Forschungsstrang revitalisiert wird, Wirtschaft nicht allein als Strukturen oder Regelmechanismen, sondern insbesondere auch als Kulturen zu verstehen. Zum 70. Geburtstag des Siegener Kollegen Eberhard Seidel war dieser Gedanke an passender Stelle platziert. Der Zusammenhang ist unter heutigen Bedingungen längst nicht mehr nationalstaatlich zu analysieren. Die mögliche Rolle von Unternehmen ist daher zu betrachten auf der Basis dessen, was der Begriff Mondialisierungen durch seinen Plural im Sinne noch ergebnisoffener Prozesse besser als der gebräuchliche Begriff der Globalisierung markiert. Der Aufsatz, der mit diesem Buch den Titel teilt, erschien in einem theoretischen Kontext liberaler Utopien, deren freiheitlicher Charakter gerade durch seine ausdrücklich kulturellen Gehalte zum Ausdruck gebracht wird. Die Anmerkungen über heutige Möglichkeiten kritischer Theorie der Gesellschaft entstammen einem traurigen Anlass: dem Tod des geschätzten Kollegen Alexander Krafft, der mit großem Engagement unsere Oldenburger Forschungsgruppe mit aufgebaut hat. Teil II behandelt ethische Konzeptionen. Das beginnt damit, aus dem notwendigen Abschied von jeglicher Art von Pflichtenethik einer Renaissance der Tugendethik das Wort zu reden, die natürlich hinreichend modern begründet werden muss. Kritisch schärft sich das Projekt einer kulturalistischen Unternehmensethik auch an der Diskursethik, die gerade wegen ihres Anspruchs ernst zu nehmen ist, dem kollektiven Charakter moralischer Prozesse hinreichend Beachtung zu schenken. Unter den Aspekten der Daseinsbewältigung, ferner der Gestaltungsmächtigkeit von Unternehmen sowie mit dem Fokus auf ein zeitgemäßes Verständnis von Verantwortung werden die Umrisse der theoretischen Selbstverortung genauer konturiert. Die Kritik an einseitig kognitivistischen Herangehensweisen ist ein wichtiges konstitutives Element des Projektes einer kulturalistischen (Unternehmens-)Ethik. Teil III widmet sich deshalb dem Feld der (möglichen Entwicklung von) kulturellen Kompetenzen. In zwei Texten geschieht dies mit Bezug auf die forschende Beschäftigung mit Ernäh-

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Einleitung

rungskultur(en), die seit 2003 gemeinsam mit Thorsten Raabes Lehrstuhl für Absatz und Marketing unter dem Namen OSSENA im Auftrag des Bundesforschungsministeriums durchgeführt wird. Der dritte Text erläutert die beabsichtigte performative Spezifizierung des kulturalistischen Zugangs. Der abschließende Beitrag für einen Band über Marktwirtschaft in der Verantwortung stellt den ausdrücklichen Versuch dar, nach den unternehmenspolitischen Möglichkeiten zu fragen, selbst zum Akteur kultureller Bildung zu werden. An den Schluss dieser einleitenden Worte gehört noch ein ganz besonderer Dank, der sich in der Erinnerung von meiner Frau Veronika Nölle und mir an wunderschöne Tage in dem gastfreundlichen Haus von Valeria und Luigi Lavorgna in Ponte in der Nähe von Benevento ausdrückt, den Eltern meines Doktoranden Roberto Lavorgna. Während dieser Tage haben wir im vergangenen September die Ausstellung Terrae Motus besucht, bei der wir auf das Bild von Julian Schnabel stießen. Roberto selbst gebührt heftigster Dank für seinen großen und geradezu kriminalistischen Einsatz, die Verwendung als Titelbild dieses Buches möglich zu machen. Oldenburg und Stapelmoor, im Februar 2007 Reinhard Pfriem

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Teil I: Gesellschaftstheoretische Reflexionen

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Unternehmen und Wirtschaftskulturen Glückwünsche für einen leidenschaftlichen Vermeider von Denkverboten

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„Die Wirtschaft ist nicht unser Schicksal. Eine ‚Eigengesetzlichkeit‘ der Wirtschaft gibt es nicht. Für den ‚Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit‘ brauchen wir nicht auf den Kommunismus zu warten.“ Werner Sombart 1932 in Berlin-Charlottenburg in einem Vortrag über „Die Zukunft des Kapitalismus“

Bei Niederschrift dieses Textes habe ich zwei Situationen vor Augen, in denen mir Eberhard Seidel begegnete. Die erste betrifft – noch vor dem ersten persönlichen Kennenlernen – die Veröffentlichung des mit Heiner Menn verfassten Buches „Ökologisch orientierte Betriebswirtschaft“. Das war 1988 eine echte Pionierleistung, drei Jahre vorher hatte der Gabler-Verlag noch eine Anfrage wegen unseres Wuppertaler Sammelbandes „Ökologische Unternehmenspolitik“1 mit der Auskunft beschieden, für ökologiebezogene Bücher sei wohl eher der Freiburger DreisamVerlag die richtige Adresse. In diesem Buch verfocht Eberhard Seidel unter dem Begriff „ORDO“ mit großem Nachdruck die Position, dass die Marktwirtschaft in einen angemessenen Ordnungsrahmen eingebettet werden muss, um sozial und ökologisch zu vernünftigen Ergebnissen zu

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Der dann 1986 im Campus-Verlag erschien.

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kommen. Präziser: mit Walter Eucken müsse der gegebenen Wirtschaftsordnung als realem Phänomen, in der Maß und Gleichgewicht bestehen, eine brauchbare und gerechte Ordnung der Wirtschaft als normative Vorstellung zum kritischen Reflektionsrahmen gemacht werden.2 Die zweite Situation liegt erst ein Vierteljahr zurück: bei der Veranstaltung in Kassel anlässlich des 60. Geburtstages von Jürgen Freimann (wir werden alle älter) hielt Eberhard Seidel eine flammende Philippika gegen die Dominanz der Kapitalmärkte, die den freiheitlichen Charakter der Marktwirtschaft zu untergraben drohe. Beide Situationen kennzeichnet eine Gemeinsamkeit, mit der sich der nachfolgende Text thematisch beschäftigt: das Wirtschaften ist eine kulturell spezifische Veranstaltung der Gesellschaft, in der es stattfindet, und kein sachzwangartiger Mechanismus, der nicht kritisch hinterfragt werden dürfte. Und entsprechend ist die moderne ökonomische Organisation Unternehmung, mit der wir uns als akademische Betriebswirte vor allem beschäftigen, etwas jeweils kulturell und gesellschaftlich Spezifisches und nicht etwa zeitlos Gleiches. Dass solche Einsichten nicht längst selbstverständlich sind, hat mit den politischen und kulturellen Bedingungen zu tun, unter denen sich Wirtschafts- und Unternehmenstheorie im 20. Jahrhundert entwickelten. Ich werfe deshalb im folgenden (1) einen kurzen Blick auf diese Geschichte. Anschließend werde ich (2) erläutern, inwiefern es sich gegenwärtig um eine zumindest mögliche Umbruchsituation wirtschafts- und unternehmenstheoretischen Denkens handelt und (3) skizzenhaft andeuten, welche wesentlichen Anforderungen an eine zukunftsfähige betriebswirtschaftliche Forschungsarbeit nach meiner Auffassung gerichtet sind.

1 Wirtschaftstheorie in der Sackgasse der ordnungspolitischen Vereinseitigung Die Jahre seit 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und in Politik wie Wirtschaftsordnung verwandter Staaten, lassen zunehmend in den Hintergrund treten, unter welchen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen sich ökonomische Theorie im 20. Jahrhundert weitgehend 2

Seidel/ Menn 1988, 87.

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entwickelte. Auch wenn die osteuropäischen Staaten nicht nur wegen des offenkundigen Mangels an Demokratie, sondern ebenso wegen ihrer wirtschaftlichen Ineffizienz für die meisten Menschen westlich des Eisernen Vorhangs längst keine Attraktivität mehr ausstrahlten: die Geschichte der Wirtschaftstheorien des 20. Jahrhunderts ist in wesentlichen Teilen geprägt von der antagonistischen Auseinandersetzung zwischen der marktwirtschaftlich-kapitalistischen und einer staatsbürokratischen Wirtschaftsordnung, die unter dem Begriff Sozialismus einmal als menschenfreundlichere Alternative zu kapitalistischen Gesellschaften angetreten war. Diese Verkopplung hatte weit reichende Folgen. Die Selbstbeschreibung, die marktwirtschaftliche Ordnung gegen existentielle Angriffe verteidigen zu müssen, lähmte den Blick auf die Vielfalt dessen, was Marktwirtschaft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit war bzw. sein kann. Im Kampf gegen die feindliche Alternative wurde Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus gleichsam theoretisch homogenisiert. Es fand im Ergebnis eine Konzentration auf Wirtschaftsordnungsfragen und damit die Strukturelemente des Wirtschaftens statt, Fragen des besonderen Wirtschaftsstils oder der Wirtschaftskultur traten völlig in den Hintergrund. Das war in der ökonomischen Theorieentwicklung gerade zu Anfang des 20. Jahrhunderts keineswegs angelegt. Bemerkenswerterweise handelt es sich um eine Zeit, in der Ökonomik und Soziologie erst begannen, sich fachlich auseinander zu entwickeln in Richtung der Eindeutigkeit, wie dies heute an den Universitäten gehandhabt wird. Thorstein Veblen3 widersprach der Annahme, eine ökonomische Theorie könne auf eher zeitlosen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut werden, und forderte, der rasche gesellschaftliche Wandel müsse Berücksichtigung finden können. Die Menschen handelten nicht ein für allemal gleich, und wie sie dächten und handelten, werde wesentlich von den gesellschaftlichen Institutionen geprägt, unter denen sie lebten. Max Weber veröffentlichte 1905 seine Untersuchung „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“.4 Obwohl er durch einige Formulierungen selbst dazu beitrug, später für das Programm einer wertfreien Wirtschafts- und Sozialwissenschaft in Anspruch genommen zu 3

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Am bekanntesten und geradezu explizit kulturökonomisch ist Veblen 1981, orig. 1899. Weber 1905.

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werden, war gerade er es, der mit dieser Arbeit den Blick für die Bedeutung geistig-kultureller Faktoren zur Erklärung spezifischer Wirtschaftsweisen öffnete. Ähnlich erforschte Werner Sombart etwa mit seinem 1913 erschienenen Buch „Der Bourgeois“ die Entwicklung und die Quellen des kapitalistischen Geistes.5 Diese Überlegungen weitete er später mit seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ aus.6 Die 1922, also zwischendurch entstandene Studie „Luxus und Kapitalismus“7 war, wie Sombart im Vorwort selbst sinngemäß ausführt, Ausdruck davon, dass eine historisch und kulturell hinreichend reflektierte Untersuchung über die Wirtschaft als Gegenstand zwangsläufig hinausführen muss. Nicht nur zeitlich wegen der Veröffentlichung seiner „Philosophie des Geldes“ 19008, sondern wegen des ebenfalls notwendigerweise historischen und kulturalistischen Zugangs zu der Frage nach der Rolle des Geldes in der modernen Wirtschaft ist auf jeden Fall Georg Simmel hier zu nennen.9 Die Tabuisierung der Rolle des Geldes in der Entwicklung der Ökonomik des 20. Jahrhunderts ist ja schon sehr bemerkenswert: wer sich kritisch mit der Funktion des Geldes in modernen kapitalistischen Marktwirtschaften beschäftigt, macht sich sehr schnell als grundsätzlicher Systemkritiker verdächtig. Ich möchte in der Ahnenreihe von Wirtschaftstheoretikern, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Versuchung widerstanden, sich vor allem (mit dem Ergebnis der Affirmation) darin zu betätigen, nach zeitlosen Gesetzmäßigkeiten eines homogen unterstellten Kapitalismus zu fahnden10, noch drei weitere aufführen. Da ist zum einen Spiethoff zu nennen. Zwar ist ihm aus heutiger Sicht die Konstruktion eher kritisch vorzuhalten, von der Mehrzahl der wirtschaftlichen Erscheinungen, die geschichtlichem Wandel unterliegen, doch so genannte Grunderscheinungen bzw. Wirtschaftserscheinungen an sich noch einmal abtrennen zu

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So die Bezeichnung der beiden Teile in Sombart 1913. Sombart 1987, orig. 1916-1927. Sombart 1967. Simmel 1989. Vgl. auch von Flotow 1995. Den man tunlichst (wegen der Marxschen Begrifflichkeit) nicht Kapitalismus zu nennen hatte, sondern (freie, liberale) Marktwirtschaft – die gegenwärtige USAdministration nennt das einfach „Demokratie“.

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wollen11. Gleichwohl geht es ihm unter dem Begriff des Wirtschaftsstils vor allem um eine historische und kulturwissenschaftliche Zugangsweise. Zum zweiten soll Müller-Armack Erwähnung finden, der 1940 eine Genealogie der Wirtschaftsstile veröffentlichte.12 Bei Müller-Armack gewinnen weltanschauliche Faktoren eher noch größere Bedeutung als seinerzeit bei Max Weber.13 Und schließlich sei derjenige aufs Tapet gehoben, der wegen seiner theoretischen Pionierrolle in Sachen Unternehmertum und Innovation in den letzten Jahren eine außerordentliche Renaissance erfährt: Joseph A. Schumpeter.14 Im mainstream der Ökonomik erfährt Schumpeter dabei allerdings eine bemerkenswerte Halbierung: hoch geschätzt wird der frühe Schumpeter, der sich selbst auf die Seite der unhistorisch-reinen Theorie schlug, während der späte, immer soziologischer werdende, der es in „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“15 sogar für ratsam hielt, sich erst einmal über 100 Seiten mit Karl Marx zu beschäftigen, nach Meinung etwa des Betriebswirts Dieter Schneider „in den Orkus“ gehört. Eine solche Halbierung wird allerdings der nicht nur privat, sondern auch wissenschaftlich wechselvollen Biographie Schumpeters keineswegs gerecht. In Richtung Mystifizierung von Unternehmertum mögen zwar Schumpeters Darlegungen zur schöpferischen und kreativen Rolle des Unternehmers in der Gesellschaft in dem anderen Hauptwerk, das er bereits 1911 veröffentlichte16, mainstream-Ökonomen gut in den Kram passen. Sie reproduzieren damit zum einen allerdings nur die theoretische Inkonsistenz, einer gleichgewichtsorientierten Vorstellung des Wirtschaftens folgen zu wollen und gleichzeitig den Unternehmer erfassen zu sollen, dessen Kern in der Aufsprengung von Gleichgewichten besteht. Zum zweiten signalisiert Schumpeters Titel von 1911, dass er von Anfang an um einen historischen Zugang bemüht war statt um Enthistorisierung, so sehr ihn vor allem in seinen frühen Jahren die Ökonomik als Gesetzeswissenschaft reizte. Es war dann allerdings gerade die theoreti11 12 13 14

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Vgl. Spiethoff 1933, 52 f. Müller-Armack 1940. So auch die Einschätzung von Kaufhold 1996, 29. Zu ihm gibt es glücklicherweise eine richtig gute und kompetente Biographie, s. Swedberg 1994. Schumpeter 1993, orig. 1942. Schumpeter 1997, orig. 1911.

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sche Weiterentwicklung Schumpeters, die Dynamik kapitalistischer Marktwirtschaften schärfer in den Blick nehmen zu können17, und die verstärkte sozialwissenschaftliche und gesellschaftsbezogene Orientierung war in der Folge dieses Prozesses dann ebenso logisch wie die ausdrückliche Beschäftigung mit Karl Marx, der sich als erster umfassend an einer Theorie des Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt der historischen Vergänglichkeit versucht hatte. „Der Kapitalismus ist also von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung und ist nicht nur nie stationär, sondern kann es auch nie sein. Dieser evolutionäre Charakter des kapitalistischen Prozesses ist nicht einfach der Tatsache zuzuschreiben, dass das Wirtschaftsleben in einem gesellschaftlichen und natürlichen Milieu vor sich geht, das sich verändert und durch seine Veränderung die Daten der wirtschaftlichen Tätigkeit ändert … Der fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft.“18 So heißt es in dem Abschnitt, der mit dem meistverwendeten Begriff Schumpeters überschrieben ist: „Der Prozess der schöpferischen Zerstörung“. Es ist die kapitalistische Unternehmung, die die moderne Wirtschaft und Gesellschaft endogen revolutioniert, und deswegen teile ich mit Eberhard Seidel die Leidenschaft dafür, dass engagierte Betriebswirtschaftslehre und konkrete Gesellschaftskritik hervorragend Hand in Hand gehen.

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Schumpeter war auch derjenige, der die Kondratieffschen Einsichten in längerfristige Etappen der wirtschaftlichen Entwicklung mit dem Begriff „Kondratieff-Zyklen“ verewigen half. Kondratieff war Russe und, obwohl kein Kommunist, vielen orthodoxen kapitalismustreuen Ökonomen von daher vermutlich eher verdächtig. Schumpeter 1993, 137.

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2 Wirtschaftlicher Strukturwandel und kulturelle Neuorientierungen in der Gesellschaft als mögliche Treiber innovativer unternehmenstheoretischer Entwicklungen Ich erlaube mir zu Beginn dieses Abschnitts ein längeres Eigenzitat, entnommen der Einleitung des Buches, in dem das Team des dreijährigen BMBF-Projektes „SUMMER – Sustainable Markets Emerge“ die Ergebnisse des Projektes zusammengeführt hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir nämlich sehr einschneidende Veränderungen der Wirtschaft, an denen wir unter dem Gesichtspunkt der Generierung von Zukunftsmärkten in unserem Projekt mit Perspektive auf Nachhaltigkeit angeknüpft haben: „– die ökonomischen Organisationsformen sind längst nicht mehr eindeutig, an die Stelle klar abgegrenzter und abgrenzbarer Unternehmen sind permanente Prozesse des Out-Sourcing, von Mergers & Aquisitions, Netzwerke und strategische Allianzen getreten,  die Handlungs- und Wettbewerbsbedingungen der ökonomischen Organisationen haben sich insofern nicht nur dramatisch verändert, sondern haben überhaupt aufgehört, auf Dauer berechenbar zu sein,  klassische Wettbewerbsverhältnisse zwischen Unternehmen werden in zunehmendem Maße durch Beziehungen zwischen Konkurrenz und Kooperation abgelöst (Coopetition),  allen Bemühungen um Wissensmanagement zum Trotz wird gerade für die wichtigen und strategischen Entscheidungen die Ungewissheit immer größer,  politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen wirken in vorher nicht gekanntem Maß in Erfolg und Misserfolg ökonomischer Aktivitäten hinein und sind selbst aufgrund von Prozessen, die mit Pluralisierung und Individualisierung bezeichnet werden, ausgesprochen unberechenbar geworden,  unter dem Druck gewaltiger Korruptionsaffären und moralischer Verwerfungen gewinnen Konzepte von Corporate Governance, Corporate Social Responsibility und Unternehmensethik neuen Auftrieb. Die wirtschaftlichen Probleme, die derzeit alle frühindustrialisierten Länder mehr oder weniger prägen, deuten auf mehr und anderes hin als

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eine jener Anpassungskrisen, wie sie mit Ausnahme von Kriegen und Währungszusammenbrüchen 150 Jahre Fabrikgesellschaft gekannt haben. Diese Anpassungskrisen waren vor allem durch technologische Schlüsselinnovationen gekennzeichnet, die zu Basisinnovationen einer neuen wirtschaftlichen Prosperitätsetappe wurden: Dampfmaschine, Stahl, Chemie und Elektrotechnik, Petrochemie und Automobil. Nach diesen von Schumpeter nach dem Ideengeber so benannten KondratieffZyklen sind wir mit der fünften langen Welle in Gestalt der Informationsgesellschaft bereits in veränderten Zuständen wirtschaftlicher Organisation: die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die Globalisierung der Wirtschaft darüber hinaus vor allem in organisatorischer und sozialer Hinsicht, die kulturellen Aufgeladenheiten der Kundenbedarfe in einer wachsenden Zahl von Bereichen und rekursiv der unternehmerischen Angebote haben für die Unternehmen und den unternehmerischen Wettbewerb Konsequenzen, die neu sind gegenüber den vorherigen 150 Jahren Fabrikgesellschaft.“19 So ändert sich im Zeitablauf nicht nur das Gesicht der kapitalistischen Marktwirtschaft, sondern auch ihr Charakter. Eberhard Seidels kürzliche Philippika gegen die Dominanz der Kapitalmärkte kam ja nicht von ungefähr: was einmal – symbolisiert an solchen Unternehmerpersönlichkeiten wie Alfred Krupp und Werner Siemens – sehr personenbezogen als unternehmerischer Kapitalismus begonnen hatte, wandelte sich im nächsten Schritt über die Herausbildung der großen Kapitalgesellschaften zu etwas, das man Managerkapitalismus nennen könnte. Die Kritik an den „Nieten in Nadelstreifen“ (so ein Buchtitel von Günter Ogger) wurde wegen des Fehlens eigentümerischer Verantwortung der angestellten Manager und kürzer werdender Verweildauer auf diesen Führungspositionen schon längst geführt, bevor daraus in den letzten Jahren aufgrund heftiger Firmenskandale wie Enron und WorldCom sowie in Deutschland insbesondere des Prozesses um die exorbitanten Honorare bei der Zusammenführung von Vodafone und Mannesmann eine geradezu heiße Debatte wurde. Während diese Debatte infolge des vom Bundesgerichtshof gesprochenen Urteils, dass der Prozess neu aufgerollt werden muss, erneut an Intensität gewinnt, hat sich eben im Sinne der kritischen Hinweise von Eberhard Seidel freilich längst ein Anlegerkapitalismus entwi-

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Fichter/ Paech/ Pfriem 2004, 29 f.

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ckelt, den es vom vorgängigen Managerkapitalismus unbedingt kategorial zu unterscheiden gilt. Die Debatte darüber hat kaum angefangen, es ist freilich offenkundig, dass es ganz unzutreffend wäre, bei den vom vormaligen SPD-Chef Franz Müntefering aus wahlkampfpolitischem Opportunismus heraus so bezeichneten Heuschrecken vor allem an die bösen Ackermänner zu denken. Die Aktien- und Fondsverwaltungen – das sind tendenziell wir alle. Wir parasitieren uns selbst. Wo Schumpeter noch, gerade weil er in der Unternehmung selbst die entscheidende endogene Triebkraft der kapitalistischen Entwicklung identifizierte, Stagnationstendenzen über die Transformation der Unternehmen zu Trusts und Monopolen befürchtete, muss unsere heutige Sorge eine andere sein. Die gestärkte Rolle jenes Typs von Shareholdern, der mehr denn je unter dem Gesichtspunkt der Renditemaximierung der Logik kurzfristiger Anlagewechsel verpflichtet ist, ist weiter weg denn je von jenem Unternehmertyps, den Schumpeter 1911 mit den Worten beschrieb: „Unter unserem Bild vom Unternehmertypus steht das Motto: plus ultra. Wer sich im Leben umsieht, hört es aus dem Typus heraus.“20 Neben dem Traum und Willen, ein privates Reich zu gründen, sowie Siegeswillen hebt Schumpeter bei seinem Bild vom Unternehmer in diesem Zusammenhang vor allem die Freude am Gestalten heraus. Die bezieht sich natürlich auf jenes unternehmerische Handeln im engeren Sinne, von denen die renditesüchtigen Anleger und ihre hektischen Verwalter geradezu grundsätzlich entfernt sind. Trotzdem resultiert als Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen daraus keineswegs Katastrophentheorie. Und angesichts der wohltuenden Lebensfreude von Eberhard Seidel bin ich mir sicher, dass er mir in diesem wichtigen Punkt zustimmen wird. Just gestern, also einen Tag, bevor ich diese Zeilen schreibe, sagte mir ein Student, ihm und manchen anderen, die bei mir gelernt hätten, ginge es so, dass wenn sie das bei mir Gelernte auf einen einzigen Begriff bringen sollten, dann hieße der: Ambivalenz. In der Tat. Ich habe schon vor zwanzig Jahren dem geschätzten IÖW-Mitgründer Otto Ullrich, der seinerzeit durch Bücher mit sehr luzider Kritik des technisch-ökonomischen Fortschritts große Anerkennung genoss, heftig widersprochen, als er auf einer Ta-

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Schumpeter 1997, 137 (orig. 1911).

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gung für die Moderne das Bild der immer schneller werdenden Lokomotive anführte, die man nur anhalten oder aus den Gleisen bringen könne. Die Gleise legen wir selber – genau in dem Sinne, wie Giddens seine Theorie über die rekursive Beziehung von Handeln und Struktur auf dem Marxschen Gedanken aufbaute, dass „Menschen…ihre eigene Geschichte (machen), aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“21 Wie die Menschen allgemein sind die ökonomischen Akteure im besonderen weder an sich böse noch an sich gut – die Verteufelung des Marktes ist intellektuell genauso zweifelhaft wie seine Euphorisierung. Was die theoretische wie politische Position des so bezeichneten Neoliberalismus übersieht und übrigens in deutlichen Unterschied etwa zu Adam Smith als theoretischem Wegbereiter moderner Marktwirtschaften bringt, ist die Engführung des marktwirtschaftlichen Ordnungsgedankens auf die schieren Funktionsmechanismen selbstregulierender Kräfte ohne staatliche Intervention. Was Eberhard Seidel schon in dem Buch von 1988, Walter Eucken, auf den er sich mit seinem ORDO-Gedanken bezieht, Alfred Müller-Armack und andere immer im Sinn hatten, sind die normativen und kulturellen Gehalte, unter denen die abstrakten marktwirtschaftlichen Funktionsmechanismen nur zum Wohle der Menschen zur Geltung gebracht werden können. Ob wir eine brutale und völlig unsolidarische Konkurrenzökonomie oder eine zum Wohle der Menschheit blühende Vielfalt von Angebot und Nachfrage haben, getragen von dem Willen der Menschen, sich selbst wie auch anderen Gutes zu tun – beides ist prinzipiell abdeckbar durch die zunächst einmal formalen Funktionsmechanismen kapitalistischer Marktwirtschaften. Deswegen sind erst recht alle Ideen, in diesen formalen Funktionsmechanismen die Gewähr wirtschaftsethischen Zusammenhalts zu sehen, völliger Unfug.22 Der ethisch-moralische Gehalt etwa nationaler oder regionaler Wirtschaftsgesellschaften liegt in ihren Wirtschaftskulturen, nicht dort, wo es um das möglichst reibungslose Funktionieren der ab-

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Marx 1953, 115. Vgl. a. Giddens 1984. Das wäre als Kritik an der so aufgebauten Wirtschaftsethik Homanns (vgl. Homann/ Blome-Drees) auszubauen, jenseits der auch zutreffenden Kritik, dass damit die ethisch-moralische Kraft der Unternehmen als im Schumpeterschen Sinn endogener Akteure vernachlässigt wird.

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strakten Funktionsmechanismen geht. Klump hofft darauf, nach dem Ende des globalen Systemgegensatzes könne die Erforschung unterschiedlicher Wirtschaftskulturen neue Schubkraft gewinnen: „An die Stelle des Konfliktes zwischen Markt und Plan ist damit heute der Weltmarkt-Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Wirtschaftskulturen getreten; die Wirtschaftskulturforschung ist aufgefordert, das Erbe der traditionellen Wirtschaftssystemforschung anzutreten.“23 Er geht dabei so weit, diesen Gedanken auf die Inhalte einer möglichen Zukunft globalen Wettbewerbs hin zu verlängern: „Realistischer und wahrscheinlicher ist dagegen, dass im Wettbewerb der Wirtschaftskulturen Spezialisierungsmuster auftreten werden, die im Sinn der alten Theorie von den komparativen Vorteilen zur Konzentration auf kulturelle Kernkompetenzen beitragen.“24 Man darf gespannt sein. Allenthalben sind noch Befürchtungen stark, das westliche Modell technisch-ökonomischen Fortschritts und kapitalistischer Rationalisierung werde sich homogenisierend und nivellierend global auf dem Erdball ausbreiten. Aber ist das selbst so homogen, wie in solchen Beschreibungen immer wieder unterstellt wird? Mir scheint eher, dass die Globalisierung neben allen Schattenseiten und Risiken eine bemerkenswerte Intensivierung der Diskussion mit sich bringt, wie wir in Zukunft leben und welche Rolle Unternehmen in unseren Gesellschaften spielen sollen.

3 Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung Der Betriebswirtschafts- und Managementlehre haftet gleichsam systemisch das Risiko an, die bei Entscheidungsträgern von Unternehmen verbreiteten Untugenden der Machermentalität und der Überschätzung der eigenen Handlungsreichweite zu unterstützen. Eingebaut in reflektierte Verwendungen mögen Tools und best practices ihren helfenden Wert haben. Der erneuten Homogenisierung werden aber Türen und Tore geöffnet, wenn vermeintlich standardisiertes Wissen für Praktiker aufbereitet wird mit der Botschaft, für mehr seien sie sowieso nicht in der 23 24

Klump 1996, 11. Klump 1996, 11.

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Lage. Die Wissenschaft von Unternehmen als selber kulturellen Gebilden im Kontext verschiedener Wirtschaftskulturen auf verschiedenen Ebenen erfordert also durchaus widerständiges wissenschaftliches Denken – den Typus von Denken, dem der Jubilar in ungebrochener Frische zu folgen gewillt ist. Bio- und Gentechnik, Wasserstoff- und Atomtechnologie, Energieund Mobilitätsdienstleistungen mit differenten stofflichen Grundlagen und in differenten institutionellen Settings, Wellness- und Gesundheitsindustrie, Freizeit- und Erlebnisökonomie und vieles mehr sind Stichwörter für technisch, ökonomisch, sozial, ökologisch und kulturell höchst unterschiedliche Zukunftsoptionen. Eine gesellschaftlich und kulturell aufgeklärte Betriebswirtschaftslehre als Theorie der Unternehmung wie der Unternehmensführung kommt also gar nicht umhin, angefangen von guter vergleichender empirischer Forschung, daran mitzuwirken, die weit reichende Unterschiedlichkeit verschiedener unternehmens- und wirtschaftspolitischer Orientierungen deutlich herauszuarbeiten. Das Wertfreiheitspostulat, das im mainstream betriebswirtschaftlicher Lehrbücher heute immer noch aufrechterhalten wird, ist ja nicht nur gegen normative Parteilichkeit betriebswirtschaftlicher Forschung gerichtet, sondern erschlägt zugleich Werte, Normen, Leitbilder, Visionen und kulturelle Orientierungen als wissenschaftlichen Gegenstand. Diese Art „klassischer“ Betriebswirtschaftslehre fällt insofern immer stärker zurück hinter einer unternehmenspolitischen Praxis, die im Gegenteil zunehmend mehr um die Bedeutung dieser Faktoren für erfolgreiches Strategisches Management weiß. In interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Soziologen und Philosophen haben wir an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg in den letzten Jahren mit einem Forschungsprogramm begonnen, das sich unter den Titel „Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung“ stellt.25 Gegenüber zu engen und zu eingeschränkten Sichtweisen, in der Ökonomik speziell auch gegenüber Modellen, die sich zu weit von der Wirklichkeit entfernen, um dafür noch angemessenen Aussagegehalt zu haben, geht es uns dabei um das, was Mittelstraß einmal als

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S. (Hrsg.) Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) 2004.

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„Rückgewinnung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten“ bezeichnet hat.26 Das 20. Jahrhundert ist auf dem Felde der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften durch eine starke Dominanz solcher Theorietypen gekennzeichnet, die auf subjektunabhängige Objektivität, Identifikation von Gesetzmäßigkeiten und Messbarkeit/ Quantifizierbarkeit zielen. Hermeneutische, interpretative und konstruktivistische Theoriebemühungen gehörten eher zu den Verlierern. Strukturalistische und funktionalistische Theorien haben erst einmal einen Jahrhundertsieg davongetragen. Ich möchte die durchaus zuversichtliche These wagen, dass sich daran in nächster Zeit etwas ändern könnte.27 Gerade für die betriebswirtschaftliche Forschung ergeben sich hier neue Möglichkeiten angesichts des oben angesprochenen Befundes, dass unter den heutigen Bedingungen struktureller und kultureller Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft strategische Unternehmensentscheidungen (a) in besonderem Maße unter Unsicherheit und Ungewissheit getroffen werden müssen und (b) nicht zuletzt dadurch weitere kulturelle Aufladung erfahren. Die Max Weber wissenschaftstheoretisch noch mögliche Trennung, weltanschauliche und kulturelle Orientierungen einerseits zu Gegenstand der Wissenschaft zu machen und für diese Arbeit andererseits Wertfreiheit einzufordern, kann heute nicht mehr gemacht werden. Aus den Diskussionen zum Konstruktivismus haben wir gelernt, dass die Subjektabhängigkeit jeglicher auch wissenschaftlichen Beobachtung bedeutet, dass subjektive Wertungen und Sortierungen mitlaufen. Dagegen, dass sich Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler/innen parteilich für dies oder jenes einsetzen, denn im Sinne eines beliebten Wortspiels ist Wissenschaft eine Leidenschaft, die gerade deshalb Leiden schafft, weil sie – gleichsam paradoxerweise – die Einsicht verstärkt, dass die Welt nicht mit der Kraft besserer Argumente verändert werden kann. „Die kulturwissenschaftliche Option unternehmenstheoretischer Überlegungen ließe sich … definieren als der Versuch, möglichst methodisch

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Mittelstraß 1987, 155. Fast zeitgleich mit unserem Sammelband erschien die von den beteiligten Autoren recht breit angelegte Publikation von (Hrsg.) Blümle/ Goldschmidt 2004. S. auch jüngst (Hrsg.) Rusch 2006. Auch die erneut stark anschwellende theoretische Diskussion zu Unternehmensethik, Corporate Social Responsibility etc. trägt hier das Ihrige bei.

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und systematisch den Blick auf die situativen und dynamischen Kontingenzen des Handelns von Unternehmen in Interaktion mit gesellschaftlichen Umwelten zu richten (inklusive selbstverständlich ihrer internen Interaktionen).“28 Wenn dies einschließt, nicht mehr länger den Weg künftiger Entwicklungen in irgendwelchen doch menschenunabhängigen überhistorischen Gesetzmäßigkeiten zu sehen, und die prinzipielle Offenheit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zukünfte konsequent anerkannt wird, stellt sich die Frage, was denn „möglichst methodisch und systematisch“ heißen kann. Die Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftssystems im Felde der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat ja zweifelsohne den Vorteil, die Beobachterselektionen vorzustrukturieren und damit zu erleichtern, dass auch etwas gesehen werden kann: wer alles gleichzeitig sehen will, sieht bekanntlich gar nichts. Klump sieht als Erklärungsgrund für den Niedergang der alten Wirtschaftsstilforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass es dieser nicht gelungen sei, von der bloßen Beschreibung zur Theoriebildung vorzudringen.29 Bezogen auf den viel zitierten Schlüsselbegriff des vor allem als Ethnologe tätig gewesenen Kulturwissenschaftlers Clifford Geertz von den „dichten Beschreibungen“30 entwickelt sich zwangsläufig eine Diskussion, inwiefern kulturwissenschaftliche Herangehensweisen auch theoretisch generalisieren und insofern echte neue Erkenntnisse generieren können, statt in allgemeinen Plädoyers für Entdifferenzierung und Transdisziplinarität stecken zu bleiben. Aufbauend auf den Erkenntnissen, die wir in dem bereits erwähnten SUMMER-Projekt und inzwischen mehr noch in einem Projekt gewonnen haben, das sich mit dem Wandel von Ernährungskultur(en) beschäftigt31, bin ich auch da zuversichtlich. Selbstverständlich sind der wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse hoch subjektiver Vorgänge engere Grenzen gesteckt als etwa den Folgen der Kombination zweier chemischer Stoffe in einem Reagenzglas. Aber das wissen wir ja auch längst aus Gebieten wie der Kreativitäts- oder der Innovationsforschung. Um diese Grenzen muss gewusst werden, wenn etwa Versuche unternommen werden, strategischen Optionen von Unternehmen „auf die 28 29 30 31

Pfriem 2004, 251. Klump 1996, 15. So auch der Titel von Geertz 1987. S. dazu www.ossena-net.de.

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Schliche zu kommen“: die Selbstbeschreibungen unternehmenspolitischer Entscheidungsträger nur für bare Münze nehmen, scheitert natürlich nicht nur an deren Rechtfertigungsneigungen oder gar zur Schönfärberei, sondern schon daran, dass sie häufig auch nicht wissen, was sie tun. Auch bei wichtigen unternehmenspolitischen Entscheidungen spielen sich viele Beweggründe im eher Unbewussten ab. Gleichwohl sehen wir, dass genaueres Hinschauen auf die Bedingungen und Möglichkeiten von (Verhaltens-)Veränderung, Innovation und kulturellem Wandel interessante Ergebnisse zutage fördert. Vor allem kann die wissenschaftliche Beschäftigung mit kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit dem Dabeisein der Sinne, mit der Entwicklung von Neugierde, mit Staunen, Lernen, Kennen und Können als Aktionsforschung dazu führen, dass in der Folge mit diesen Kompetenzentwicklungen reflektierter und klüger umgegangen wird. Für akademische Betriebswirte ist die Gleichsetzung von Fortschritt und Industrialisierung selbstverständlich. Industrialisierung in ihrer emphatischsten Betrachtung gefasst ist nun bei näherem Hinsehen nichts anderes, als Fertigkeiten und Fähigkeiten von (handwerklich) tätigen Menschen in die Maschine zu verlegen – in den frühesten emphatischen Konstruktionen natürlich nur zum Wohle der Menschen, zur Arbeitserleichterung, Arbeitszeitverkürzung etc. Abgesehen von sonstigen sozialen und den inzwischen anerkannten ökologischen Problemen geht in der logischen Folge mit der Industrialisierung allerdings auch eine Ent-Befähigung und Kompetenzverlust von Menschen einher. Eben in der Rückgängigmachung solcher Verlustprozesse, ja im Einfordern neuer Kreativität, kultureller Fähigkeiten und Fertigkeiten liegen die zukunftsbezogenen Chancen neuer unternehmerischer Angebote, wirklich zukunftsfähiger Produkte und Dienstleistungen. Die Betriebswirtschaftslehre braucht mehr Eberhard Seidels, um solchen menschen- und zukunftsgemäßen Perspektiven Rechnung zu tragen.

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Literatur

Blümle, G./ Goldschmidt, N. (Hrsg.) (2004): Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster Fichter, K./ Paech, N./ Pfriem, R. (2005): Nachhaltige Zukunftsmärkte. Orientierungen für unternehmerische Innovationsprozesse im 21. Jahrhundert, Marburg Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO, Hrsg.) (2004): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg Flotow, Paschen von (1995): Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt/ M. Geertz, C. (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/ M. Giddens, A. (1984): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/ New York Kaufhold, K.H. (1996): Zur Entwicklung des Wirtschaftsstildenkens in Deutschland, in (Hrsg.) Klump, R.: Wirtschaftskultur, Wirtschaftstil und Wirtschaftsordnung, Marburg Klump, R. (Hrsg., 1996): Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung, Marburg Marx, K. (1953, orig. 1852): Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MarxEngels-Werke (MEW) Bd. 8, Berlin Mittelstraß, J. (1987): Die Stunde der Interdisziplinarität? In (Hrsg.) Kocka, J.: Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderungen –Ideologie, Frankfurt/ M., S. 152 – 158 Müller-Armack, A. (1940): Genealogie der Wirtschaftsstile. Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart Pfriem, R. (Hrsg., 1986): Ökologische Unternehmenspolitik, Frankfurt/ New York Pfriem, R. (2004): Die kulturwissenschaftliche Option betriebswirtschaftlicher Forschung, in (Hrsg.) Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation: Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg, S. 241 – 269 Rusch, G. (Hrsg.) (2006): Konstruktivistische Ökonomik, Marburg

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Literatur

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Schumpeter, J. A. (1997, orig. 1911): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Berlin Schumpeter, J. A. (1993, orig. 1942): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen/ Basel Seidel, E./ Menn, H. (1988): Ökologisch orientierte Betriebswirtschaft, Stuttgart u. a. Simmel, G. (1989, orig. 1900): Philosophie des Geldes. Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt/ M. Sombart, W. (1913): Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Berlin Sombart, W. (1967, orig. 1922): Liebe, Luxus und Kapitalismus, München Sombart, W. (1987, orig. 1916-1927): Der moderne Kapitalismus, München Spiethoff, A. (1933): Die Allgemeine Volkswirtschaftslehre als geschichtliche Theorie. Die Wirtschaftsstile, in (Hrsg.) ders.: Festgabe für Werner Sombart, München Swedberg, R. (1994): Joseph A. Schumpeter. Eine Biographie, Stuttgart Veblen, Th. (1981, orig. 1899): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt/ M. Weber, M. (1905): Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20, S. 1-54 und 21, S. 110

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„Vielleicht beziehen die Dinge um uns ihre Unbeweglichkeit nur aus unserer Gewissheit, dass sie es sind und keine anderen, aus der Starrheit des Denkens, mit denen wir ihnen begegnen.“ Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

„Diejenigen, die sagen, es könne nicht gemacht werden, sollten denjenigen Platz machen, die handeln.“ Konfuzius

1 Betriebswirtschaftslehre, Globalisierung und die kulturellen Produktionen der Unternehmen Dies ist ein betriebswirtschaftlicher Beitrag. Der Betriebswirtschaftslehre wird gemeinhin nicht unterstellt, zu gesellschaftspolitischen oder gar philosophischen Reflexionen etwas beitragen zu können, und für gewöhnlich bestätigt sie dieses Vorurteil eindeutig. Wenn mit diesem Text trotzdem der Anspruch gestellt wird, aus der Sicht eines betriebswirtschaftlichen Hochschullehrers etwas zu Handlungsperspektiven im Kontext von Globalisierung bzw. Mondialisierungen beitragen zu wollen, so im Horizont einer kulturwissenschaftlichen Perspektive für die Theorie der Unternehmung, an der wir uns seit kurzer Zeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg versuchen.1

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Dazu grundlegend Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) 2004. Vgl. auch Pfriem 2004 und Pfriem 2004a. Inhalt-

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Als akademische Disziplin ist die Betriebswirtschaftslehre kaum mehr als ein Jahrhundert alt. Inwiefern sie über die systematische Sammlung und Sortierung von Wissen für erfolgreiche Unternehmensführung und damit über die Ausbildungsfunktion hinaus den Status wissenschaftlicher Theoriebildung hat, ist von Beginn an umstritten. In dem schon überdurchschnittlich theoriebezogenen Rahmen der deutschen Entwicklung des Faches setzte Schmalenbach als neben Rieger wichtigster Vorläufer des späteren Klassikers Erich Gutenberg die Betriebswirtschaftslehre noch als „Kunstlehre der Kapitalverwertung“ gegenüber reiner Wissenschaft ab. (Schmalenbach 1978, orig. 1911/12) Ob Globalisierung oder Mondialisierungen: im Rahmen eines (auch heute noch dominierenden) paradigmatischen Selbstverständnisses, dass es die Betriebswirtschaftslehre mit der Optimierung der betrieblichen Leistungserstellungsprozesse zu tun habe, handelt es sich dabei um Rahmenbedingungen und nicht um Gestaltungsparameter. Entsprechend wird das Thema in der Betriebswirtschaftslehre behandelt und, wenn überhaupt, im engen Sinn nur die ökonomische Dimension der Globalisierung betrachtet. Globalisierung ist aber freilich die große Erzählung unserer Tage. Das ist noch nicht lange so (vgl. Krücken 2005: 13), heute recht offenkundig gültig für den politischen wie sozialwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Raum, obwohl doch die Behauptung, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, selbst bereits zu einer bequemen MetaGroßerzählung geronnen war, wie Sloterdijk feststellt. (Sloterdijk 2005: 13) Sloterdijk prognostiziert für einige Merkmale, die heute zur Beschreibung von Globalisierung angeführt werden, in naher Zukunft zu „journalistischen Universalien“ zu werden (ebd. 233): ein neuer Modus zwischen dem Lokalen und dem Globalen, politische Gemeinschaftsverhältnisse jenseits des Nationalstaats, Verschärfung der globalen Differenzen zwischen Arm und Reich, globale ökologische Gefahren. Es ist offensichtlich, dass diese vier Punkte im gesamten Globalisierungsdiskurs auftauchen, ihre Gewichtung wie ihre jeweiligen inhaltlichen Akzentsetzungen fallen allerdings außerordentlich unterschiedlich

lich wird sich dies im weiteren Gang des Textes genauer erschließen. Das Buch war auch Ausgangspunkt eines Netzwerks „Kultur und Ökonomie“, das inzwischen auch als Arbeitsgruppe am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen fungiert.

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aus. So sind Hinweise auf große ökologische Gefahren und Risiken nur bei einem Teil der Diskursteilnehmer anzutreffen, wohingegen ein anderer Teil ökonomistisch wie eh und je nur die Standortwettbewerbe im Auge hat. Auch die Bewertung der globalen Differenzen zwischen Arm und Reich, denen als Problem neben den ökologischen Herausforderungen ja schon die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro gewidmet war, und die Anerkennung als Problem, das mit dem eigenen Handeln zu tun hat, werden global sehr unterschiedlich betrachtet. Selbstverständlich finden wir hinsichtlich der Regulierung zwischen Globalem und Lokalem ebenfalls viele zueinander widersprüchliche Positionen, also inhaltliche und politische Unterschiede, die nur mühsam durch solche rhetorischen Formeln wie „glocalization“ übertüncht werden. Der Befund, dass Globalisierung als singularer Begriff2 in solcher Breite heute trotzdem als große Erzählung existiert, trifft freilich zu, und das hat seine Gründe. Jenseits differenter Positionen ist nämlich eine deutlich gestiegene Handlungsreichweite privatwirtschaftlicher Unternehmen gegenüber Staat und Öffentlichkeit zu konstatieren. Unter den 50 größten Haushalten dieser Welt finden sich inzwischen mehrheitlich private.3 Und auch, wenn diesbezügliche Statistiken darüber Auskunft geben, dass die Handelsbeziehungen verschiedener Länder nach wie vor vorrangig mit benachbarten Gegenden stattfinden, so konstatieren wir doch ökonomisch, politisch, sozial, ökologisch und kulturell eine neue Stufe internationaler Verflechtung. Natürlich haben dabei die in dieser Weise erst seit zwei Jahrzehnten auf breiter Front Anwendung findenden elektronischen Kommunikationstechniken zwischen den verschiedenen individuellen und kollektiven Akteuren wesentlich beigetragen. Mit der forcierten Globalisierung von Kommunikation und ökonomischen Beziehungen wird in der Tat die Souveränität der Nationalstaaten unterlaufen, aufgrund des Zusammenwachsens der Europäischen Region mit der ausdrücklichen Delegation politischer Entscheidungsbefugnisse an supranationale Gremien ist dies hier nur besonders zu spüren. Von daher ist schon sehr erstaunlich zu beobachten, wie wenig die parteipolitischen Akteure als (potentielle oder aktuell tatsächliche) Repräsentanten 2 3

Auf die Mondialisierungen wird gleich noch zu sprechen zu kommen sein. Zur Rolle und Tätigkeit insbesondere transnationaler Unternehmen (TNU) s. Lautermann 2005.

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der Nationalstaaten damit aktiv umgehen und sich dazu auch bekennen können. Vielmehr entwickeln sie eine besondere Professionalität darin, so zu tun, als ob sie viel wichtiger wären, als sie in Wirklichkeit sind. Ein Teil des dramatischen Reputationsverlustes, dem staatliche Politiker in allen frühindustrialisierten Ländern heutzutage unterliegen, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie dieses ebenso stur wie permanent aufführen, unbeeindruckt davon, dass ein wachsender Teil der Bevölkerungen längst damit begonnen hat, hinter die Kulissen zu schauen. Was mit (es sei wiederholt und betont) sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen heute als Globalisierung bezeichnet wird, ist nichts anderes als das Resultat einer lang währenden menschlich-kulturellen Vorarbeit. Es ist eines der Verdienste von Peter Sloterdijk, dies herausgearbeitet zu haben.4 Insofern haben wir ein erneutes Belegstück vor uns, wie sehr es sich lohnt, Begriffe und Kategorien auf ihre wirkliche (Vor-)Geschichte zu beziehen. Verwandt sei an dieser Stelle verwiesen auf die in der jüngeren Ökonomiekritik häufig zitierte aristotelische Unterscheidung in Ökonomik, die der Versorgung des Haushalts (oikos) dient, und Chrematistik, womit der bloße Gelderwerb um des Gelderwerbs willen gemeint ist.5 Auch hier nützt es wenig, bei dem vermeintlich Besseren in Gedanken stehen zu bleiben und die praktische Kraft zu übersehen, die der Fernhandel seit der griechischen Antike gespielt hat. Mögliche Entwicklungen sind also vor dem Hintergrund wirklicher zu analysieren bzw. zu eruieren. Vor diesem Hintergrund soll mit diesem Text nicht zuletzt der Frage nachgegangen werden, wie offen Geschichte immer noch, weiterhin oder erst recht ist und welche Rolle Unternehmen als Organisationen mit größerer Handlungsreichweite als je zuvor dabei spielen (können). Manche Teilnehmer des Globalisierungsdiskurses reden uns das TINA-Prinzip ein: There is no alternative.6 Wir wollen die Sache einstweilen offen halten und davon ausgehen, dass es sich bei Globalisierung um einen ambivalenten Prozess handelt, voreilige Deter-

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Aktuell Sloterdijk 2005, aber im Grunde schon 1999, 801 ff. mit dem Kapitel „Die letzte Kugel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung“. Aristoteles 1973. Solche Einreden kommen bemerkenswerterweise, wenn man sich der alten, eher veralteten politischen Kategorien von rechts und links bedient, von beiden Seiten.

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minationen in der einen oder anderen Richtung eher zweifelhaft sind. Wir ziehen demgemäß für die Akteure Einschränkung wie Ermöglichung ihrer Handlungsbedingungen in Betracht, so wie wir von einer pazifizierenden und einer aggressiven Seite der Globalisierung ausgehen. Für ein solches Offenhalten der Befunde im weiteren Verlauf der Untersuchung (und überhaupt gesellschaftlicher Praxis) spricht auch, dass der Prozess der Globalisierung, wie schon angedeutet, in verschiedenen Dimensionen abläuft: ökonomisch, sozial, politisch, ökologisch, kulturell usw. Und da ist bei näherer Betrachtung die Lage schon innerhalb der einzelnen Dimensionen verwickelt und widersprüchlich genug. Dazu passt der vom Herausgeber dieses Bandes vorgegebene Begriff der Mondialisierungen, denn eine Philosophie der Mondialisierungen zielt darauf, die Pluralität der wirklichen Welt stark zu machen und den groben Vereinfachern entgegenzutreten, die sich nicht nur im politischen Raum bewegen. Dies ist erst in zweiter Linie eine normative Position, in erster ein Befund: die von Sloterdijk so bezeichnete „letzte Kugel“ (unsere heutige Erde) wird den „Gedanken an eine Super-Monosphäre oder ein machthabendes Zentrum aller Zentren….in Zukunft nicht unterstützen.“7 Nicht nur, aber gerade auch für Betriebswirte ist es eher selbstverständlich, die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaften8 dahingehend zu spezifizieren, dass dem gesellschaftlichen Teilsystem Wirtschaft eine besondere und in der wirklichen Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend dominierendere Rolle zukommt. Theoriegeschichtlich lässt sich

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Sloterdijk 2005, 232, wo es von der letzten Kugel auch heißt: „Sie stimuliert neighbourhoods, joint ventures, interkulturelle Transaktionen unter künstlichen, nicht zu steilen Himmeln; sie verlangt nach Foren, Podien, Baldachinen, Schirmherrschaften, Allianzen, Mäzenaten; sie begünstigt Konvente aus Interessengruppen an verschieden formatierten Tischen, in Konferenzsälen von abgestufter Größe.“ Noch vor dem Tod des alten, der Wahl des neuen Papstes (in diesem Punkt weitsichtig!) und der dabei vorübergehend entstandenen religiösen Hysterie übrigens der Hinweis, dass es auch in dieser Hinsicht kein Zurück zu einer Sphäre aller Sphären geben wird: „…denn wer mit Habermas und Ratzinger weiter auf die vereinigende Macht der Religion setzt, würde ein enttäuschungsfesteres Gemüt brauchen, als die Heutigen es besitzen.“ (230 f.) Soziologisch auf das Eingehendste analysiert von Luhmann. Hier sei aus dem umfangreichen Werk nur verwiesen auf Luhmann 1984 und 1997.

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dies anschließen an das ebenfalls umfangreiche Werk von Karl Marx9 sowie die wirtschaftshistorischen Untersuchungen und Überlegungen von Karl Polanyi. (Polanyi 1978, orig. 1944) Bezogen auf ihre aktuelle Zeit bzw. die Aufgabe der historischen Rekonstruktion waren diese Konzeptionen vor allem darauf gerichtet, die Verselbständigung einer Sphäre des Ökonomischen in den Blick zu nehmen und damit die gewaltigste Veränderung dessen verstehen zu wollen, was die Herausbildung kapitalistischer Marktwirtschaften eigentlich war. Bei der theoretischen Ausarbeitung dessen kam bei Marx die Beachtung der umgekehrten und ebenso richtigen und wichtigen Einsicht zu kurz, dass wirtschaftliches Handeln gleichwohl kein Selbstzweck ist, sondern eingebettet in kulturelle und historische Einflüsse.10 An dieser Stelle kommt das Eingangsmotto von Marcel Proust zur Geltung, als philosophische Erkenntnis formuliert von einem Griechen, der den späteren Teil seines Lebens ebenfalls in Frankreich zugebracht hat: „Selbstredend sind die gesellschaftlichen Dinge keine ‚Dinge‘; gesellschaftliche Dinge, und zwar diese, sind sie nur, insofern sie gesellschaftliche Bedeutungen ‚verkörpern‘ oder, besser gesagt, abbilden und darstellen. Die gesellschaftlichen Dinge sind das, was sie sind, nur aufgrund der Bedeutungen, die in ihnen unmittelbar oder mittelbar, direkt oder indirekt Gestalt annehmen.“11 Erst recht interessant ist für uns natürlich die Anwendung dieser Einsicht auf die Ökonomie und damit auch die Ökonomik als zugehörige Wissenschaft: nach Castoriadis sind „die ‚Ökonomie‘ und das ‚Ökonomische‘ zentrale gesellschaftliche imaginäre Bedeutungen, die sich nicht auf ‚etwas‘ beziehen, sondern die umgekehrt den Ausgangspunkt darstellen, von dem aus zahllose Dinge in der Gesellschaft als ‚ökonomisch‘ vorgestellt, reflektiert, behandelt beziehungsweise zu ‚ökonomischen‘ gemacht werden.“ (Castoriadis 1984: 592) Daraus werden wir im weiteren Konsequenzen zu ziehen haben.

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Hier sei nur verwiesen auf Marx 1974 und 1967 (orig. 1844 und 1867). Insofern sind aus heutiger Sicht Marxens Vorstellungen zu den kapitalistischen Unternehmern als Charaktermasken des Kapitals eben ökonomistisch verengt, übrigens auch seine Sicht von der historischen Mission der Arbeiterklasse. Aus heutiger Sicht muss und kann ein weiterer Blick auf handlungsprägende Faktoren genommen werden, s. etwa Meyer/ Jepperson 2005. Castoriadis 1984, 582. Zur gründlicheren Auseinandersetzung mit dieser Einsicht auch Pfriem 2004b.

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2 Ökonomie als kulturelle Veranstaltung, damit auch: Nivellierung oder Vielfalt – ein Rennen, das noch lange nicht entschieden ist Bevor wir auf die (mögliche) Rolle von Unternehmen im Sinne des Titels zu sprechen kommen, wollen wir bei der kulturellen Selbstvergessenheit der ökonomischen Wissenschaften noch ein wenig verharren. Die zunehmende Relevanz von Kultur für die ökonomische Praxis haben wir in unserer Oldenburger Konzeption eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes von Unternehmenstheorie in vier Hinsichten markiert. Es geht um: „1. die kulturelle Aufladung der betrieblichen Organisation, die sich durch alle relevanten Funktionsbereiche eines Unternehmens zieht, 2. die kulturelle Einbettung von Unternehmen in ihre gesellschaftlichen Umwelten, dabei insbesondere 3. die kulturelle Aufladung der Beziehung zwischen Unternehmen und Konsumenten, die sich wiederum 4. in den, den Produkten anhaftenden Bedeutungen widerspiegelt.“ (Beschorner/ Fischer/ Pfriem/ Ulrich 2004: 11) Die kulturelle Aufladung der Ökonomie und dann noch einmal speziell der Unternehmen ist also ein sich permanent vollziehender Prozess, der in seiner Rekursivität zu begreifen ist: kulturelle Faktoren wirken auf das ein, was wir als Ökonomisches aus dem Gesamt der Gesellschaft herauslösen, umgekehrt wirken innerhalb des so markierten Ökonomischen generierte Entwicklungen auf alles Übrige zurück.12 Rekursivität gilt insbesondere für die beiden Seiten der ökonomischen Interaktion, nämlich Angebot und Nachfrage. Sind auf der einen Seite Unternehmensstrategien zu lesen als kulturelle Angebote an die Gesellschaft (so der Titel von Pfriem 2004c), so expandiert Marktforschung weiterhin in den verschiedensten Ausprägungen, um unternehmensseitig möglichst genaue Informationen über neue Nachfragetrends zu gewinnen. Es war deshalb nicht nur immer schon zweifelhaft, es wird ganz handfest immer unmöglicher, diese Prozesse theoretisch in Bemühungen 12

Eine im 20. Jahrhundert besonders wirksame imaginäre Figur im Sinne von Castoriadis war der Zentralismus. Dass zu Zeiten der massenindustriellen Epoche der Wirtschaft zentralistische Betriebsstrukturen besonders effektiv erschienen, und der „draußen“ verbreitete Glaube an die Nützlichkeit von Gehorsam im politisch-gesellschaftlichen Bereich stabilisierten sich rekursiv.

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der einseitigen Nutzenmaximierung zu erfassen, ohne die Nähe zur Empirie ganz zu verlieren. Die Sache ist gegenwärtig deshalb so brisant, weil wir es insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern mit der Verschränkung zu tun haben zwischen einer immer schon gegebenen kulturellen Aufgeladenheit (ja: Konstruktion) des Ökonomischen damit, dass das, was immer schon war, aus beschreibbaren Gründen heute besonders deutlich zutage tritt. Der Schein, ökonomische Transaktionen würden wesentlich nur zur Deckung physiologischer Bedürfnisse der Menschen getätigt, um den sich immerhin zentrale Ideen der modernen Ökonomik ranken wie etwa das Knappheitsparadigma, kann von uns heute leichter entmystifiziert werden, als dies weitsichtige Theoretiker wie Veblen, Simmel oder auch reflexive Praktiker wie Walter Rathenau zur Hochzeit der industriellen Massenproduktion vermochten. Diesbezügliche Analysen der „Erlebnisgesellschaft“13 oder „jenseits der Not“14 dürfen nicht missverstanden werden als Leugnung real existierender materieller Armut. Sie verhelfen vielmehr zu deren genauerer Analyse, weil sie der Aufklärung über die kulturellen Mechanismen dienen, mit denen heutzutage materielle Armut verkoppelt ist. Materielle und kulturelle Verarmung sind nämlich selbst in bisweilen tragischer Weise miteinander verknüpft.15 Das führt uns zu der Frage, ob Wirtschaftsordnungen weiter so simpel und schematisch betrachtet werden sollten, wie das nicht nur im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein, sondern auch im akademischen Raum während des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war. Und heute immer noch ist, wie man daran erkennen kann, in welcher Breite von Marktwirtschaft oder Kapitalismus immer noch im Singular gesprochen oder geschrieben wird.16 Die Rede vom Kapitalismus im Singular suggeriert zum einen, als 13

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Schulze (1993) darf für den deutschen Sprachraum hier als einer der Pioniere gewürdigt werden. So der Titel des ersten Abschnitts des letzten Kapitels bei Sloterdijk 2004, das den bemerkenswerten Titel trägt: „Auftrieb und Verwöhnung. Zur Kritik der reinen Laune“. Das inzwischen so markierte Unterschichtenfernsehen und besondere Ausprägungen von Ernährungskultur scheinen erstaunlich miteinander verkoppelt. Nur zwei Beispiele aus gerade diesen Tagen: die Wochenzeitung DIE ZEIT publiziert eine Artikelserie über die „Zukunft des Kapitalismus“. Und Guido

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ob wir zumindest gedanklich über etwas Anderes verfügen könnten. Nach dem Scheitern der staatsbürokratischen Zwangswirtschaften als Beleg dafür, dass es sich hier um keine eigenständigen entwicklungsfähigen Wirtschaftsordnungen handelt, ist dies eher keine hilfreiche Denkfigur, macht doch ein Begriff nur in dem Maße Sinn, in dem man sich das Andere, von dem er abgrenzt, einigermaßen brauchbar vorstellen kann. Gewichtiger ist uns der Einwand, dass unter dem Dach des Singulars Marktwirtschaft oder Kapitalismus die Vielfalt dessen verloren geht bzw. erst gar nicht beachtet wird, auf die wir stoßen, wenn wir uns die Wahrnehmung zu eigen machen, in Wirtschaftsstilen oder Wirtschaftskulturen zu denken und Wirtschaft auf diese Weise zu analysieren.17 Denn zwischen nationalen Wirtschaftskulturen18 und dann auch noch einmal innerhalb dieser gibt es erhebliche Differenzen. Gerade die letzteren sind übrigens Ausdruck der Eigensinnigkeit, über die Regionen als Handlungsebene individueller und kollektiver Akteure trotz aller Globalisierung anscheinend weiterhin verfügen. Eine kulturwissenschaftlich geprägte Wahrnehmung und Herangehensweise öffnet uns in Bezug auf Wirtschaft also nicht nur jenen Blick, den wir mit den überkommenen Ökonomismen reichlich verschlossen haben19, nämlich den auf die kulturellen Bedingungen und Folgen des ökonomischen Treibens, sondern ferner jenen auf die real existierende Vielfalt (Pluralität) dessen, was uns als Ökonomisches entgegen tritt. Ob im 21. Jahrhundert oder sogar noch später sich die Art zu wirtschaften dergestalt entwickeln wird, dass dies mit den elementarsten all-

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Westerwelle, der wohl irgendwann mal aufgeschnappt hat, Kapitalismus sei etwas Böses, bestreitet eben deshalb heftig für Deutschland, dass es sich dabei um Kapitalismus handle. Vgl. hingegen den schon vom Titel „Kapitalismus im Plural“ her bemerkenswerten Text von Müller 2003. Für die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland stellt Schefold an diesem Punkt eine der wenigen Ausnahmen dar, s. Schefold 1994. Dasselbe gilt für (Hrsg.) Klump 1996. Unter den tatsächlichen Unfähigkeiten der gegenwärtigen Bundesregierung ist sicher die, die eigene Politik nicht in einer überzeugenden Neubestimmung sozialer Marktwirtschaft verorten zu können, besonders hervorzuheben. Aufgeklärte Neoklassiker würden nie behaupten, dass die Welt so ist wie in ihren Modellen, leben freilich von der Behauptung, dass man mit ihrem Als-ob besonders gut sehen könnte. Bei Licht besehen erinnern ihre Methoden allerdings eher an väterliche Sprüche nach der Art „Mach die Augen zu, und was Du dann siehst, das gehört Dir“.

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gemeinen Bestimmungsmerkmalen von Kapitalismus nicht mehr in Einklang zu bringen wäre, kann derzeit gar nicht ernsthaft prognostiziert werden. Gerade deshalb sollte aber zwischen verschiedenen Erscheinungsformen, die mit dem allgemeinen Begriff von Kapitalismus oder Marktwirtschaft vereinbar sind, genauer unterschieden werden. Das betrifft etwa die mit dem Stichwort Zentralismus schon angesprochene Frage verschiedener Führungskonzepte und –methoden in der Wirtschaft und speziell in Unternehmen. Das betrifft ganz fundamental die verschiedenen Ausprägungen, mit denen materieller und technischer Fortschritt auf die forcierte Ausbeutung von Natur gestützt wird.20 Daran hat sich der ökologische Diskurs immerhin einmal entzündet. Momentan scheint er sich in einer Phase zu befinden, bei der man noch nicht so genau weiß, ob es eine Atempause ist, um neue Kraft zu schöpfen für gesellschaftlich resonanzfähige Kritik an den Grundlagen der modernen Konsumgesellschaft, oder ein Rückschlag auf breiterer Front. Der wäre davon gekennzeichnet, dass die technisch-instrumentelle Engführung im Sinne von Umweltmanagement nicht nur mit sich selbst zufrieden ist, sondern darüber hinaus hinreichend breite Anerkennung zur Legitimation findet und die ökologischen Grundsatzkritiker nur noch die Beachtung eines freundlichen Lächelns finden, ohne mit ihren Kritikpunkten und Ideen noch ernst genommen zu werden. Hat Charles Taylor recht mit seiner Beschreibung, dass die Parallelität von Fortschritt und (nicht nur, aber gerade auch ökologischer) Zerstörung ein unhintergehbares Dilemma des Kapitalismus ist? Was folgt daraus, wenn er formuliert: „Ohne den Kapitalismus können wir nicht leben…., aber mit ihm können wir es kaum aushalten.“? (Taylor 2005: 52) Recht hat er mindestens damit, dass man die grundlegend dilemmatische Beziehung zwischen Schöpfung und Zerstörung aus dem Blick verliert, wenn man wie gegenwärtig in den USA unter dem Begriff der Freiheit den Kapitalismus als Religion verklärt. Die Formel vom Kapitalismus als Religion ist allerdings gerade auch als kritische keineswegs so geistreich, wie sie auf den ersten Blick daher kommt.21 Denn nicht das Allgemeine von Kapitalismus macht die besonderen kulturellen Muster aus, die dann 20

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Das hängt natürlich mit dem „Prinzip Überfluss“ zusammen. Vgl. das so betitelte Kapitel 38 bei Sloterdijk 2005. Auch an diesem Punkt Zustimmung zu Sloterdijk, hier hinsichtlich seiner Andeutungen zu Walter Benjamins Begriffsschöpfung, s. Sloterdijk 2005, 26.

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als religiös bezeichnet werden könnten, vielmehr das, was sich aus den historischen und kulturellen Besonderheiten eines Landes oder einer Region dieser Welt mit den allgemeinen Merkmalen von Kapitalismus verbindet, also das, was wir das effektive Normengefüge einer Gesellschaft nennen könnten – wiederum keineswegs homogen, sondern eher als Kräfteparallelogramm heterogener Akteure verstehbar. Die US-amerikanische Entwicklung liefert dafür deutliche Belege. Wo Gesellschaftskritik früher dazu neigte, von einer Stufe der Allgemeinheit möglichst noch auf die nächsthöhere zu klettern (Kapitalismus führt zu Faschismus oder zu sonst was) und damit in den praktischen Konsequenzen Unterschiede einzuebnen, zeigte in den letzten Jahren gerade die Breite des weltweiten Nichtmitmachens inklusive der meisten Regierungen, dass die aggressive hegemoniale Weltpolitik der Bush-Administration keine Frucht des natürlichen Entwicklungsprozesses einer bestimmten Wirtschaftsordnung ist, sondern das spezifische Produkt einer spezifischen ideologischen Clique mit messianischen Ansprüchen. Wenn unter den 158 Ländern der Vereinten Nationen in jüngster Zeit die Vereinigten Staaten von Amerika hinsichtlich der Lesefähigkeit auf Platz 49 stehen und rund 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der USA noch niemals ein Buch irgendeiner Art gelesen haben (Berman 2002: 56), dann wäre es weder intelligent noch hilfreich, dies allgemein auf Kapitalismus zurückzuführen. Der historische AEG-Chef Walter Rathenau mag für Bildung und historische Reflexion im deutschen Unternehmertum ein besonders leuchtendes Vorbild sein, er war mit Sicherheit genau so Kapitalist wie jener Manager, den man heute Bild-Zeitung lesend auf einem Flughafen antreffen mag. Um die kulturellen Aufgeladenheiten des Ganzen und aller Bestandteile dessen, was wir als ökonomisch bezeichnen, ebenso die kulturellen Aufgeladenheiten der Akteure „im ökonomischen System“ begrifflich zu fassen, wollen wir von Symbolökonomie22 und Symbolanalytikern23 sprechen. Zwischen Symbolökonomie(n) als Konstruktion(en) und Sym-

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Erläuterungen zu diesem Begriff bei Fischer 2005, der ihn im Titel verwendet. Dieser Begriff stammt von dem US-Ökonomen Robert Reich, seinerzeit Minister der ersten Clinton-Regierung (das waren noch Zeiten), s. Reich 1996, 191 ff. In Abgrenzung zu routinemäßigen Produktionsdiensten und kundenbezogenen Diensten definiert Reich die symbolanalytischen Dienste mit „Aktivitäten der Problemlösung, -identifizierung und strategischen Vermittlung“. (198)

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bolanalytikern als Konstrukteuren besteht „natürlich“ wieder ein rekursives Verhältnis. Selbstverständlich basteln an den Konstruktionen = gesellschaftlich imaginären Institutionen im Sinne von Castoriadis alle mit, nicht nur jene, die bei Robert Reich unter die symbolanalytischen Dienste fallen. Die Machtverhältnisse, was die prägende Beeinflussung der Konstruktionen angeht, scheinen allerdings auch hier ungleich verteilt. Breitere Beteiligung daran, zu den Gewinnern zu gehören, scheint gegenwärtig nämlich wenig modern zu sein. Wie im Fußball und anderen Leistungssportarten, wo immer mehr schon der zweite Platz als Niederlage verbucht werden muss und die alte olympische Idee „Mitmachen ist wichtiger als gewinnen“ nicht nur längst nicht mehr gilt, sondern sich ins genaue Gegenteil verkehrt hat, verstärken sich für den Bereich des Ökonomischen die symbolischen Konstruktionen des „The winner takes it all“. Unter materiellen Bedingungen, die wenigstens einem Teil der Menschen auf dieser Erde so viel Zufriedenheit und Gelassenheit ermöglichen könnten, wie dies in der menschlichen Geschichte bis dato unmöglich war, werden erst recht die vermeintlichen Spitzenleistungen vermeintlich Bester in das alleinige Licht gesetzt und in ebenfalls vorher nicht gekanntem Ausmaß Misanthropien und psychische Krankheiten produziert.24 Diese hier nur angedeuteten Erscheinungsformen sind nun allerdings keineswegs auf die USA beschränkt, auch wenn sie kulturkritisch manchmal mit Begriffen wie Amerikanisierung belegt werden. Und es hilft wiederum nichts, sie allgemein auf den Nenner von Kapitalismus oder Primat der Ökonomie zu bringen, auch wenn sie teilweise über Ökonomisierung der Verhältnisse erklärt werden. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch aktuell heute existieren andere Weltkulturen nicht ohne Ökonomie, und über die bisherigen Bemühungen von Unternehmen mit interkulturellem Management hinaus würde mit Sicherheit lohnen, einen neuen Diskurs zu organisieren, der die Besonderheiten des abendländischen Westens einordnet in Vergleiche mit dem Anderen und den Anderen, statt einseitig nur die eigene Identität zum Thema zu machen und ins Feld zu führen.25 24

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Wie dieser Mechanismus im Wissenschaftssystem um sich greift, wird im vierten Kapitel noch behandelt. Zur Selbstverortung europäischer Werte in übergreifendem Kontext s. aktuell (Hrsg.) Joas 2005, darin insbesondere den Beitrag von Senghaas als Blick auf

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Für die praktische Überlegenheit von in der Rückschau als reifer angesehenen Kulturen gibt es keine historischen Garantien, das haben die Etrusker vor der von uns markierten Zeitenwende gegenüber den Römern und eineinhalb Jahrtausende später die Mauren in Spanien gegen die katholische Reconquista schmerzlich erfahren müssen. In beiden historischen Fällen haben wir die Niederlage von Vielfalt gegen Homogenisierung vor Augen. Vielfalt, effektive kulturelle Pluralität gegenüber Homogenisierung stark zu machen, könnte von daher immerhin als kleines Erfolgsrezept für kulturelle Errungenschaften gedeutet werden. Was folgt daraus für Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen?

3 Von unternehmenspolitischen Möglichkeiten, zu Knotenpunkten der Mondialisierungen zu werden Die einseitige Vorstellung, Unternehmen würden sich an stattfindenden Wertewandel der Gesellschaft draußen und analog an konkrete Nachfragen situativ optimal anpassen, dient als Voraussetzung für die wirtschaftswissenschaftliche Fiktion der Konsumentensouveränität. Schon vom Standpunkt der betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie, wie diese vor allem von Gutenberg seit 1951 entwickelt wurde26, hätte allerdings ein theoretischer Bezugsrahmen entwickelt werden können, aus der Gesellschaft auf die Unternehmung einwirkende kulturelle Kräfte als Input zu definieren, der in der Produktion des Unternehmens weiter verarbeitet werden muss. Dazu war die Gutenbergsche Theorie allerdings im Sinne der der klassischen Mechanik der Physik folgenden Wirtschaftswissenschaften noch zu weit davon entfernt, mit soft skills oder soft factors umgehen zu können (bzw. zu wollen). Im Rahmen der von Heinen, Schanz u. a. betriebenen sozialwissenschaftlichen Öffnung der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland (vgl. Pfriem 2004a, 115 ff.) wurden die Grundlagen für den unternehmens-

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die historischen Auseinandersetzungen verschiedener Weltkulturen. Zum selben Thema mit viel Rhetorik von Kampf und Kriegen s. Huntington 1997. Im Jahr 1951 erschien die erste Auflage des ersten Bandes von Erich Gutenbergs „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“, in dessen Einleitung er seine Konzeption der betrieblichen Elementarfaktoren inklusive deren Kombination durch den dispositiven Faktor Betriebs- und Geschäftsleitung darlegte. S. Gutenberg 1951.

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theoretischen Umgang mit den nicht zu quantifizierenden und nicht rechenbaren Faktoren gelegt, ergab sich demzufolge auch eine Aufgeschlossenheit für den aus den USA importierten Diskurs über Unternehmenskultur(en). Von daher wäre es prinzipiell möglich gewesen, kulturelle Produktionen von Unternehmen sogar in Gestalt unbewusster und unreflektierter Produktionen wahrzunehmen, war man doch offen auch gegenüber Befunden, dass Unternehmen, deren Leitungen nichts von Unternehmenskultur wissen wollen, sehr wohl über eine solche verfügen bzw. sogar solche sind – vielleicht gerade die, die nichts davon wissen wollen. Die Tatsache, dass mit diesem Typus sozialwissenschaftlicher Öffnung von Betriebswirtschaftslehre der Blick immer noch nicht freigelegt wurde auf die Interaktionen zwischen Unternehmen und Gesellschaft27, hinderte allerdings daran, hinsichtlich der Entwicklung kultureller Orientierungen in der Gesellschaft unternehmenstheoretische Schlüsse zu ziehen. Das Blickfeld auf für Unternehmenspolitik relevante Faktoren erweiterte sich nur instrumentell aus der Innensicht der Unternehmen heraus, die im Grunde weiter als Effizienzmaschinen konzipiert blieben. Knotenpunkte von Mondialisierungen können Unternehmen nur werden, wenn sie lernen, die angefangene innere Befreiung, nämlich den Abbau von organisatorischem Zentralismus und die Respektierung der Entfaltungsmöglichkeiten prinzipiell aller Organisationsmitglieder, auch nach außen zu kehren. Das wiederum hieße, der gesellschaftlichen Imagination, Unternehmen seien vor allem Anpassungsoptimierer, den Rücken zu kehren und ein aktives und reflektiertes Verhältnis zu den eigenen Wirkungen in die Gesellschaft hinein zu entwickeln.28 Sachzwänge zu bestreiten, bedeutet nicht, für jede unternehmenspolitische Handlungs- und Entscheidungssituation völlige Autonomie zu unterstellen. Wie für Individuen gilt auch für (Unternehmens-)Organisationen als kollektive Akteure (emergente Systeme) die Eingebundenheit in eine Vielfalt historischer, kultureller usw. Bedingtheiten, wofür in der Evolutorischen Ökonomik gern der Begriff der Pfadabhängigkeit ver-

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Im Unterschied zu dem zeitgleich entwickelten St. Galler Ansatz einer systemorientierten Betriebswirtschaftslehre, s. Ulrich/ Krieg 1974 und Ulrich 1984. Das gilt übrigens ebenso für die Beraterszene, die selbst in ihren fortgeschrittensten Teilen eher an der einseitigen Innensicht der Unternehmen hängen geblieben ist. Kritisch dazu Pfriem 2005.

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wendet wird.29 Im unternehmerischen Wettbewerb ist deswegen erst recht reflexives Vermögen gefordert30, in Anlehnung an einen Text des Herausgebers dieses Bandes wäre von kultivierter Selbst-Verstörung zu sprechen.31 Das führt zu einem Begriff unternehmenspolitischer Verantwortung im außermoralischen Sinne. Was ist damit gemeint? Ich habe an verschiedenen Stellen bereits Zygmunt Baumans fundamentalen Satz zitiert: „Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.“32 Dieser Satz gilt zum einen innerhalb des ethischen Diskurses, um zu verstehen, dass es mit den Möglichkeiten der übergreifenden gesellschaftlichen Geltung von Pflichtenethik zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirklich zu Ende ist und die Möglichkeit ethisch-moralisch geleiteter Handlungsvollzüge nur über eine Renaissance und gleichzeitig Neubestimmung tugendethischer Orientierungen machbar. Ich will an dieser Stelle aber ausdrücklich einen außermoralischen Sinn hinzufügen. Wir konstatieren ja nicht nur einen Mangel an gesellschaftsgültigen moralischen Vorgaben. Wir sind angesichts der prinzipiellen Ungewissheiten über zukünftige Entwicklungen außerdem gezwungen, schon für das im engsten Sinne erfolgsstrategische Handeln mit einem Mangel an Vorgaben zurechtzukommen. Wir sind zur Kontingenz verdammt. Unter diesen Bedingungen meint Verantwortung im außermoralischen Sinne (für uns als quasi beliebige Individuen wie für Unternehmen als unterschiedlich handlungsmächtige kollektive Akteure), dass wir dem ständigen Zwang, so oder anders entscheiden zu müssen, und zwar verantwortlich gegenüber dem, was wir als wichtig definieren, nicht entfliehen können.33 Wenn dieser argumentative Schritt akzeptiert wird, fällt es eigent29 30

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Vgl. Lehmann-Waffenschmidt/ Reichel 2000. Wohlgemerkt: aus erfolgsstrategischen Gründen, nicht primär aus ethischmoralischen. Diese kommen allenfalls bekräftigend noch hinzu. Denn die Fremd-Verstörungen kommen häufig in erfolgsstrategischer Hinsicht zu spät. Bauman 1995, 87. Zu der Umstellung von pflichten- auf tugendethische Perspektiven im kulturwissenschaftlichen Kontext gerade hinsichtlich des Akteurs Unternehmen s. Lautermann/ Pfriem 2005. Daran ändert übrigens die aktuelle intellektuelle Mode, uns mit neurobiologischen Mitteln die Freiheit des Handelns rundheraus absprechen zu wollen, nicht das Geringste. Es reicht, dass wir selbst an die Freiheit des Handelns in diesen Entscheidungssituationen glauben – unabhängig von den wirklichen oder ver-

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lich nicht schwer, die ganze Diskussion zur Unternehmensverantwortung inklusive praktischer Konzeptionen ebenfalls im außermoralischen Sinne zu lesen. Die ersten systematischen Überlegungen dazu und wohl die meisten heutigen Positionen halten freilich immer noch an der möglichst sauberen Trennung zwischen der ökonomischen und der ethisch-moralischen Welt fest. Für Corporate Social Responsibility unterscheidet etwa das viel zitierte Modell von Caroll (1999) zwischen vier verschiedenen Typen von Unternehmensverantwortung: der ökonomischen, der rechtlichen, der ethischen und der philantropischen. Zu Recht argumentiert Lautermann gegen die damit häufig verbundene Zweiteilung, ökonomische und rechtliche Verantwortung als obligatorisch, ethische und philantropische Verantwortung als freiwillig zu charakterisieren: „Manche scheinbar ganz zwanglosen Handlungsweisen (z. B. bestimmte Umweltschutzmaßnahmen), die im vorhinein gerne lapidar als ‚freiwilliges Engagement‘ der Unternehmen bezeichnet werden, können schneller, als man denkt, die faktische Verbindlichkeit und Dringlichkeit von ‚obligatorischen‘ ökonomischen oder rechtlichen Zwängen erlangen. Umgekehrt scheinen ‚harte‘ gesetzliche Zwänge de facto oftmals gar nicht so verbindlich zu sein, wie allgemein behauptet – und das nicht nur in ‚Bananenrepubliken‘.“34 Wir konstatieren also einerseits, dass eine saubere Trennung zwischen ökonomischer und ethischer Welt bei der Beschreibung von gesellschaftlicher Verantwortung der Unternehmen wegen wechselnder Übergänge bei konkreten Maßnahmen keinen vernünftigen Sinn macht. Auf ein weiteres Argument dafür, eindeutigen Unterscheidungen zwischen erfolgsstrategischem Kalkül und ethisch-moralischen Verhaltensweisen der Unternehmung zu widerstehen, stoßen wir, wenn wir das Strategische Management von Unternehmen als Bündel von Suchprozessen verstehen und diese Suchprozesse dann natürlich wesentlich auch mit Selektionsentscheidungen darüber zu tun haben, welche Stakeholders (Anspruchs-

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meintlichen Erkenntnissen der Roths und Singers, die uns für die konkrete Entscheidungssituation sowieso nichts abnehmen und nicht weiter helfen können, die vor allem zur Sozialität allen menschlichen Handelns nichts Substantielles zu sagen haben. Lautermann 2005, 63. Für den letzten Punkt mag als gerade aktuelles Beispiel die Aufdeckung dienen, dass in Deutschland ungefähr jedes fünfte Unternehmen, das Nahrungsmittel herstellt oder verkauft, gegen geltendes Lebensmittelrecht verstößt.

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gruppen) jenseits der Shareholders (Anteilseigner) denn für das Unternehmen zukunftsbezogen von Bedeutung sind. Nicht zufällig ist ja das Stakeholdermanagement35 von Beginn an ein wichtiges Thema aller Erörterungen über Corporate Social Responsibility gewesen. Gerade die aktive und positive Bezugnahme auch auf außermarktliche Stakeholders kann außer über Verantwortung im engeren ethisch-moralischen Sinne auch über kluges erfolgsstrategisches Vorgehen erklärt werden – Kernproblem des Strategischen Managements ist halt das Wissen darum, dass die Zukunft ungewiss ist. Erst ex post wird sich herausstellen, welche Bemühungen um die Kooperations- oder Zustimmungsbereitschaft spezifischer Stakeholders im engen erfolgsstrategischen Sinne wichtig oder gar notwendig waren, und welche vielleicht nicht. Der neben Corporate Social Responsibility ebenfalls häufig verwendete Begriff von Corporate Citizenship36 hat die Sache nicht einfacher gemacht. Denn zum einen geht es hier im engeren Sinne um solches bürgerschaftliche Engagement von Unternehmen37, wozu durchaus etwa Aktivitäten von Sponsoring u. ä. zählen, denen dann von kritischen Geistern der Vorwurf gemacht werden kann, damit wolle ein Unternehmen von den ethisch-moralischen Schattenseiten seines Kerngeschäfts ablenken. Auf der anderen Seite38 wird Corporate Citizenship aber auch gleichsam gesellschaftstheoretisch in Anspruch genommen: Unternehmen werden als kollektive Akteure nunmehr selbst als Bürger begriffen. Denn unter den Bedingungen der Globalisierung, des relativen Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten, innerstaatlich zunehmender Unfähigkeiten von Regierungen, öffentliche Aufgaben effektiv und effizient zu erledigen, steige bei den Unternehmen, und nicht nur bei den so bezeichneten global players, schon analytisch von der Rollenbeschreibung her die Verantwortung, neben die Inanspruchnahme bürgerlicher Rechte die Übernahme bürgerlicher Pflichten zu setzen. 35

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Stakeholdermanagement und Ethik ist Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu), Jahrgang 5, Heft 3 (2004), Tübingen/ München und Mering. Vgl. als systematische Darstellung Habisch 2003, kritischer und differenzierter Wieland 2002. Vgl. dazu Bundestagsdrucksache 14/8900, 219 ff (Deutscher Bundestag, 14.Wahlperiode) sowie Europäische Kommission 2001. Diese Richtung wird in den letzten Jahren etwa von Dirk Matten prononciert vertreten, s. z. B. Matten/ Crane/ Chapple 2003.

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Mit dem bis hierhin Gesagten zu Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship lässt sich unsere eingangs geführte kulturwissenschaftliche Argumentation ausgezeichnet verknüpfen: für Unternehmen gibt es im Strategischen Management, das die prinzipielle Ungewissheit von Zukunft zum Ausgangspunkt hat, unterschiedliche kulturelle (Entwicklungs-)Pfade bei der Gestaltung der Beziehung zwischen sich und verschiedenen gesellschaftlichen Umwelten, verschiedenen Stakeholders, allgemein: der Gesellschaft. Solche Pfade sind einerseits abhängig von der Geschichte und den Traditionen der Unternehmen: bestimmte Unternehmen können so pfadabhängig im Sinne von verriegelt sein, dass sie zu bestimmten Aufbrüchen in Richtung gesellschaftsorientierter Unternehmenspolitik gar nicht in der Lage sind. Auf der anderen Seite kommt hier die kulturwissenschaftliche Perspektive zum Tragen, dass es nicht nur um kulturelle Geprägtheiten geht, sondern ebenso um kulturelle Innovationen als Neudefinitionen der eigenen Rolle, der Selbstverortung in der Gesellschaft etc. Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship können insofern ohne weiteres als begriffliche Fassungen der unternehmenspolitischen Aufgabe aufgefasst werden, die eigene Rolle in und gegenüber der Gesellschaft vernünftig zu gestalten, wobei der Begriff der Vernunft das ganze Spektrum zwischen eng erfolgsstrategischen über aufgeklärt gesellschaftsorientierte bis hin zu altruistisch unternehmensethischen Verortungen einschließt. Selbst die operative Umsetzung eines Ethikmanagementsystems (Lautermann/ Pfriem u. a. 2005) braucht nicht länger nur als reflexives Aufbrechen moralischer Selbstverständlichkeiten im Unternehmen betrachtet zu werden. Es handelt sich ebenso um die Einsicht in die Überlegenheit selbstkritischer Reflexion gegenüber Affirmation aus vielleicht nur erfolgsstrategischen Gründen.39 Insofern ließe es sich als Entlastung für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen bezeichnen, wenn die unternehmensethischen Diskurse die Unternehmenspraxis nicht länger mit dem quasi-religiösen Code von böse und gut traktieren würden. Das

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Deswegen ziehen wir im Vergleich zu Konstanz in Oldenburg den Begriff des Ethikmanagementsystems dem des Wertemanagementsystems vor (vgl. dazu Wieland 2004) und sind erst recht skeptisch, wenn Begriffe wie Werte-Controlling auf den Plan treten, s. dazu Hirsch 2002.

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Schmutzige ist tatsächlich das Saubere40, will sagen: die moralischen Parteilichkeiten müssen in jeder konkret-historischen Entscheidungssituation aufgespürt und (hoffentlich) genutzt werden. Die moralischen Zustände sind nach wie vor häufig schlecht genug, mit Denunziationen allgemeinen Charakters leisten wir allerdings keinerlei Hilfe.41 Die Institutionalisierung oder Operationalisierung des sauber Ausgedachten in der schmutzigen Wirklichkeit bringt allemal Probleme, zumal die gesellschaftliche Imagination weiter stark ist, moralische Entscheidungskriterien seien für Unternehmen als ökonomische Organisationen eher sachfremd. Wenn wir uns einlassen darauf, die sauberen Trennstriche unternehmens- und wirtschaftsethischer Beiträge zwischen Gut und Böse als hinderlich eher beiseite zu lassen, dann gelingt es uns vermutlich eher, Anhaltspunkte für mögliche Perspektiven zu gewinnen aus der genaueren Beobachtung, wie Unternehmen mit Problemen und Dimensionen umgehen, die unter dem Blickwinkel der Mondialisierungen relevant sind. Nach meinem Dafürhalten sind hier (a) der Umgang mit Raum und Zeit, (b) die Generierung des Neuen und (c) das Kriterium der Nachhaltigkeit von Unternehmenspolitik besonders bedeutsam. Selbstverständlich sind diese drei Felder wiederum miteinander verschränkt, aber es lohnt doch, sie jeweils für sich zu betrachten. Was (a) den Umgang mit Raum und Zeit betrifft, so stoßen wir auf heftige Ambivalenzen. Grundsätzlich scheint Globalisierung absolut darauf aus zu sein, jegliche räumlichen und zeitlichen Schranken zu überwinden. Daraus resultieren nivellierende und das Besondere niedertrampelnde Eigenschaften, an denen sich ein Teil der Globalisierungskritik entzündet. Im Gegensatz zu früheren kolonialistischen Zeiten beobachten wir auf der anderen Seite ernsthafte Bemühungen transnationaler Unternehmen, Formen interkulturellen Managements auf den Weg zu bringen, die der eigenen Tätigkeit eine wirkliche Einbettung in fremde Länder und 40 41

Das verweist auf den Titel von Pfriem 2004d. Zu stark in der Richtung auch der Herausgeber dieses Bandes in Badura 2004, 7. Seinen „4 Geboten“ zum Schluss desselben Textes ist allerdings voll zuzustimmen: 1. konstruktive Destabilisierung moralischer Selbstverständlichkeiten im Unternehmen, 2.unternehmerische Lobbyarbeit dafür, dem ökonomischen Rahmen die Frage „Warum?“ stellen zu können, 3. Unternehmen als Orte der Bürgerlichkeit, 4. kontinuierliches Fragen, welche Zukünfte wünschenswert sind, und unternehmerisches Abarbeiten daran.

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Kulturen erlauben. Es wäre unangebracht, diese Bemühungen allgemein und vorab als besonders raffinierte Methoden neo-kolonialistischer Ausbeutung zu denunzieren. Die Vernichtung der fremden Ferne hat selbst 1492 ja nicht erst begonnen, sondern wäre eher als Resultat menschlicher Neugier zu rekonstruieren. (Hrsg. Bausinger/ Beyrer/ Korff 1991; Leed 1993) Nicht die Aufhebung der Abgeschiedenheit früher Zeiten als solche ist das Problem, sondern mangelnde Wertschätzung des konkreten Raumes. Die scheinbar witzige aktuelle Fernsehwerbung eines Unternehmens der Kommunikationstechnologie, wo zwei miteinander telefonieren und ständig den momentanen Standort des anderen irgendwo auf der Welt missverstehen, gibt von dieser Tendenz zur Beliebigkeit konkreter Räume lebendige Anschauung. Insofern es unter dem Dach von Globalisierung aber derzeit zu einer ökonomischen, politischen und kulturellen Revitalisierung von Regionen als Handlungsebenen kommt (was den Plural Mondialisierungen unterstreicht), sind Unternehmen aktiv daran beteiligt, die Wieder-In-Wertsetzung konkreter Räume zu unterstützen. Im Sinne des Titels bietet sich hier ein Feld, als Knotenpunkte von Mondialisierungen tätig zu werden. Ein weiteres bietet der Umgang mit Zeit. Auch hier stoßen wir wieder auf ein ambivalentes Bild. Zum einen hat die Ökonomie der Zeit schon in der frühen Massenproduktion bedeutet, Zeit nur insofern wertzuschätzen, als es um ihre Minimierung bei der Herstellung von Produkten geht. Und in den Auswüchsen, die die Konsumgesellschaft auf der Nutzungsseite längst erreicht hat, wird die mögliche Zeit lernenden Genießens und lustvollen Lernens ebenfalls vernichtet: „Der User ist der Agent, der es nicht mehr nötig hat, ein bildungsmäßig geformtes Subjekt zu werden, weil er sich von der Last, Erfahrungen zu sammeln, freikaufen kann.“ (Sloterdijk 2005: 344) Auf der anderen Seite lässt sich der inhaltliche Kern inzwischen inflationär vieler, teils geradezu therapeutischer Traktate wie Beratungsformen zum Zeitmanagement dahingehend interpretieren, dass die Rastlosigkeit und Zeitvernichtung der heutigen Moderne selbst zum Problem geworden ist.42 Für Unternehmen läuft das zunächst darauf hinaus, in der Arbeitswelt der Herstellung von Gütern und des Angebots von Dienstleistungen (wieder) bewusster mit Zeit umzugehen. Stärkere Inwertsetzung von Zeit zielt darüber hinaus aber auf die Wiederaufwer42

Einen sehr instruktiven historischen Beitrag zum Problem der knappen Zeit liefert Weinrich (2004).

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tung guter alter Dinge wie auf den positiven Wert, im Sinne von Genuss für Konsum bzw. Nutzung Zeit aufzuwenden. Mit den guten alten Dingen ist sehr direkt das Unternehmen Manufactum angesprochen, das nach anfänglicher Skepsis inzwischen eine Reihe von Nachahmern gefunden hat. Und die positive Bewertung zeitlicher Aufwände im Sinne von Genuss wird gegenwärtig besonders intensiv auf dem Felde der Ernährungskultur(en) diskutiert, wozu an meinem Lehrstuhl aktuell ein sehr praxisorientiertes Forschungsprojekt durchgeführt wird, das insbesondere das Ziel verfolgt, Erkenntnisse über die ernährungskulturellen Handlungsmöglichkeiten von Unternehmen zu gewinnen. (www.ossenanet.de; vgl. Pfriem 2004e) Mit dem Problem der Entwertung von Zeit sind wir natürlich direkt angelangt bei (b) der Generierung des Neuen, zeitgemäß unter dem Begriff der Innovation gefasst. Inflationäre Begriffsverwendungen und Übertreibungen scheinen hier keine Grenzen mehr zu kennen. So ist in einer aktuellen IBM-Werbung von „Innovation der Innovation“ die Rede, obwohl zur Definition dieser Begrifflichkeit in den Erläuterungen keine anderen als graduelle Veränderungen angegeben werden. Je mehr von Innovationen die Rede ist, desto unklarer wird, wovon eigentlich gesprochen wird. Typologisch lassen sich jedenfalls Prozessinnovationen, Produktinnovationen, Systeminnovationen, Dienstleistungsinnovationen sowie organisatorische und institutionelle Innovationen unterscheiden.43 Diese Unterscheidung ist im ersten Schritt schon deshalb hilfreich, weil in der Regel Innovationen mit technischen Neuerungen gleichgesetzt werden. Weil Innovationen unter den heutigen Bedingungen nicht nur unternehmensinterne Voraussetzungen haben, sondern „eine offenere, intensivere Zusammenarbeit mit Kunden, Partnern, Händlern, ja sogar Wettbewerbern“ erfordern, wie es in der IBM-Werbung heißt, geht es also auch um organisatorische und kommunikative Dimensionen. Ein solches Verständnis bleibt freilich häufig funktionalistisch auf die Innovationsfähigkeit bezogen. Wofür diese eingesetzt wird bzw. werden soll, bleibt dann im Dunkeln. Mit der Rhetorik von Innovation ist heute kein Hund mehr hinter dem Ofen hervorzuholen. Das Betonen der Bedeutung von Innovationen hat auf dem Wege der Diffusion dieser Plädoyers paradoxerweise zur Ent43

Vgl. Paech 2004, 41. Als zweites Kapitel liegt es inzwischen auch in Buchform vor, s. Fichter/ Paech/ Pfriem 2005.

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wertung von Innovationen geführt. Angesichts dieser Situation wäre es angebracht, die Möglichkeiten der Generierung von Neuem aus dessen Sebstzweckhaftigkeit zu lösen und im strengeren Sinne auf die Frage zu beziehen, welche Probleme denn mit einer Innovation besser gelöst werden können als ohne sie und welche Schattenseiten diese Innovation möglicherweise mit sich führt. Bei Licht besehen laufen die Begrifflichkeiten von Innovationshemmnissen und innovationsfeindlich nämlich ins Leere. Es kann auch in recht engem ökonomischen Sinne als Alternative zur Innovation durchaus vernünftiger sein, ein bestimmtes Problem mit den vorhandenen Methoden gut und solide zu bearbeiten. Der ständige Druck, Neues zu generieren, bedroht in seiner Permanenz die Fähigkeiten dazu und gefährdet insbesondere die Konzentration auf Qualität im herkömmlichen Rahmen. Anknüpfend an die Bemerkungen zu Raum und Zeit ließe sich unternehmenspolitische Verantwortung im Sinne einer Rolle als Knotenpunkt von Mondialisierungen hier über die Bereitschaft und Fähigkeit verstehen, mehr Gelassenheit in die Welt zu bringen: Gelassenheit bei der Identifikation der zu lösenden Probleme, aber auch Gelassenheit bei der Beurteilung neuer Methoden und Konzepte, die sich häufig genug als schnell überholungsbedürftig erweisen. Mit der Mystifizierung und zugleich Entwertung von Innovationen überfordern Unternehmen jedenfalls sich und andere. Die wirtschaftlichen Akteure werden darüber hektischer, orientierungsloser und am nicht sehr späten Ende auch noch therapiebedürftig. Innovation ist also kein Allheilmittel, sondern bedarf der ständigen Prüfung. Für diese ständige Prüfung soll (c) das Kriterium der nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft in Vorschlag gebracht werden. Das scheint zunächst einmal weder originell noch einfach. Nicht originell, weil die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro nun schon mehr als zehn Jahre zurückliegt und die Verbreitung des Begriffs nach wie vor auf Schwierigkeiten stößt. Nicht einfach, weil diese Schwierigkeiten natürlich damit zu tun haben, dass es sich bei der Nachhaltigkeit nicht um eine eindeutige und rasch nachvollziehbar operationalisierbare Handlungsmaxime handelt, vielmehr um eine regulative Idee, die Idee nämlich, „die Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle insbesondere der frühindustrialisierten Länder so zu gestalten, dass sie bei aller Vielfalt, die dabei natürlich nicht nur

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notwendig ist, sondern auch wünschenswert, prinzipiell auf dem gesamten Globus übertragbar sind“. (Pfriem 2004c: 380) Das akzentuiert nebenbei den pluralen Begriff der Mondialisierungen gegenüber jenem singularen der Globalisierung, weil es bei der Gerechtigkeitsidee, die dem Ziel einer global nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zugrunde liegt, gerade nicht um Gleichmacherei geht.44 Wohl aber geht es darum, die Zugangsmöglichkeiten von Völkern und Kulturen dieser Welt zu dem, was sie spezifisch als gelingendes Leben identifizieren, von jenen verzerrenden Einschränkungen zu befreien, die nach wie vor gegeben sind. Nachhaltigkeit ist gerade deshalb eine kulturelle Herausforderung, weil wir heute wissen, dass dieses ohne weiter reichende kulturelle Veränderungen insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern nicht zu haben ist. Sloterdijk markiert das als die „systemische Unmöglichkeit, eine Einbeziehung aller Mitglieder der Menschengattung in ein homogenes Wohlfahrtssystem zu den heutigen technischen, energiepolitischen und ökologischen Bedingungen materialiter zu organisieren.“ (Sloterdijk 2005: 303 f.) Die praktizierte Botschaft „Wie im Westen so auf Erden“ (Sachs 1993) verschärft einstweilen alle Probleme. An der im schlechtesten Sinne des Wortes Unbekümmertheit, mit der in der immer noch so titulierten Volksrepublik China derzeit die Nachindustrialisierung betrieben wird, lässt sich zunächst einmal ablesen, wie wenig mögliche internationale Lernprozesse zustande kommen. In China und ähnlichen Weltregionen tätige Unternehmen aus solchen frühindustrialisierten Ländern, die über die Schattenseiten rücksichtsloser Industrialisierung bereits einiges gelernt haben, stehen hier natürlich in besonderer Verantwortung. Das verbindende Problem der genannten Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, wie nämlich die weniger entwickelten Länder der Erde ihre wirtschaftliche und Wohlfahrtsentwicklung voranbringen können, ohne erst recht globale ökologische Risiken zu vergrößern und Katastrophen zu befördern, kennt selbstverständlich nicht die eine große Lösung. Allerdings liegt es nicht nur an staatlichen und überstaatlichen politischen Gremien, sondern wesentlich auch an Unternehmen, die vielen kleinen Lösungen dafür zu entwickeln. Ähnliche Verantwortung stellt sich für Unternehmen hinsichtlich sozialer Probleme und Ungleichheiten. Nicht nur global ist die vorherr44

Zur Beziehung von Gleichheit und Gerechtigkeit vgl. Krebs 2004.

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schende Dynamik gegenwärtig noch auf Vertiefung von Unterschieden gestellt. Berman konstatiert für die USA: „1973 verdiente der typische Chef einer großen Firma etwa 40 Mal so viel wie ein Arbeiter; heute verdient er 190 bis 419 Mal so viel.“ (Berman 2002: 38) Und: „Zwischen 1979 und 1990 stieg die Zahl der amerikanischen Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben, um erstaunliche 22 Prozent an.“ (Berman 2002: 40) Selbst der nach vorgängiger Entwicklungslogik durchgeführte globale Exklusionsprozess, die materielle Wohlfahrt einer Minderheit von Ländern zu Lasten der Mehrheit zu sichern, funktioniert also nicht. Das Nicht-besser-gestellt-werden der Exkludierten und die Vertiefung sozialer Ungleichheiten innerhalb des Inklusionsfeldes der dominierenden frühindustrialisierten Teile der Welt sind miteinander verkoppelt. Die strategische Führung von Unternehmen lässt sich verstehen als ein Bündel von Suchprozessen. Nachhaltigkeit ist ein möglicher Orientierungsrahmen für solche Suchprozesse.45 Er handelt nicht einseitig von den externen Anforderungen, die an Unternehmen heute gestellt werden, sondern ebenso von der langfristigen Überlebens- und Entwicklungsfähigkeit des Unternehmens selber. Ein homogener Trend von Fortschritt und Innovation existiert nur als ideologischer Schein. Die aktuelle Anwandlung von Fortschritt zu Innovation könnte dabei als Zeichen ausgemacht werden, dass frühmoderne Hoffnungen eher begraben sind. Jenseits einer ins Leere laufenden Innovationsrhetorik stellt sich allerdings die Frage, wie eine zukunftsfähige Verbindung von Bewahrung und Generierung des Neuen gefunden werden kann. Unterschiedliche Strategien von Unternehmen befördern unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstränge und Handlungsmuster. Gesellschaftlicher Verantwortung weisen Unternehmen auf diesem Wege in unterschiedlicher Weise Bedeutung bei. So können Unternehmen der Ernährungswirtschaft etwa die Auflösung familiärer Strukturen insbesondere in den großen Städten und die arbeitsbedingten Veränderungen der Zeitmuster dazu ausnutzen, industrielle Lebensmittel sehr geringer Qualität unter das Volk zu bringen, sie können sich freilich auch an der Aufgabe beteiligen, wie unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen trotzdem gesunde, umweltschonende und preiswerte Ernährung möglich ist und sich vielleicht gerade dadurch neue Märkte erschließen. 45

Zur Verbindung von Corporate Citizenship und Sustainability s. Zadek 2001, insbesondere S. 105 ff.

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Wenn Unternehmen lernen, die tatsächliche Offenheit Strategischen Managements als Umgang mit prinzipiell offener Zukunft für sich ernst zu nehmen, werden sie besser in der Lage sein, gegenüber Kunden und anderen Marktpartnern auf qualitativ wünschenswerte Entwicklungen hin zu kommunizieren. Knotenpunkt von Mondialisierungen werden zu können, verlangt nach solcher strategischer Aktivität.

4 Wertfreiheit, Moral und Parteilichkeit: von wissenschaftlichen Möglichkeiten, Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen analysieren zu können Wir befinden uns in der Moderne und schauen doch schon zurück. Erwerbswirtschaftliche Unternehmen, die den frühen wissenschaftlichen Beobachtern eingezwängt schienen in eine Struktur von Sachzwängen, die sie als Anpasser zu vollziehen hätten, können inzwischen aus einer Perspektive betrachtet werden, die der Kunsthistoriker Hofmann mit dem Begriff der Polyfokalität belegt hat. (Hofmann 1998)46 Polyfokalität des Beobachters und Pluralität des Gegenstandes sind miteinander verkoppelt: Unternehmen sind als ökonomische Organisationen erkannt, die so oder anders handeln, so oder anders entscheiden können. Als Wissenschaftler die hinreichende Offenheit für die Beobachtung solcher Prozesse kultivieren zu können, ist allerdings an gewisse Voraussetzungen geknüpft. Aktuell in Deutschland forcierte Bemühungen, mehr wissenschaftliche Exzellenz zu fördern und zu selektieren, vermitteln in ihrer Art und Weise eher einen kontraproduktiven Eindruck. Die mögliche kritische Funktion von Wissenschaft gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft geht eher verloren, wenn die Maximierung von Artikeln in anerkannten Zeitschriften und die Menge von eingeworbenen Drittmitteln in den Vordergrund gedrückt werden. Quantität tritt an die Stelle von Qualität, denn die noch so hohe Qualität veröffentlichter Aufsätze ändert nichts an der Dynamik, dass immer mehr geschrieben als gründlich gelesen und vor allem darüber in der nötigen Gelassenheit kommuniziert wird, also etwa ohne den Druck, die eigene Rezeption dazu möglichst schnell wieder zu veröffentlichen. Die Tendenz zur permanenten Über-

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Eben in diesem Sinne werden bei Pfriem 2004a die Unternehmen als Gebilde in verschiedenen Dimensionen betrachtet.

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forderung, die nach der Produktionssphäre den gesellschaftlichen Bereich von Konsum und Nutzung der Güter und Dienstleistungen längst erreicht hatte, droht sich nun das Wissenschaftssystem einzuverleiben. Unter der ständig schneller mahlenden Mühle von Akquisitionen, Publikationen und Konferenzen könnte das eigensinnige kritische Denken eher zermahlen werden. Die forcierte Unterordnung unter bestehende Regeln wissenschaftlicher Exzellenz macht es Regelbrechern noch schwerer, als echte Innovatoren zur Geltung zu kommen. Dieses Problem wird dadurch weiter verschärft, dass die Durchsetzung wissenschaftlicher Exzellenzmaßstäbe über die vorhandenen Institutionen der akademischen Fachdisziplinen erfolgt. Schon vorhandene Einsichten über den Wert inter- oder gar transdisziplinärer Forschung (vgl. Balsiger 2005) werden damit de facto verworfen. Der kritische Blick auf aktuelle Entwicklungen des Wissenschaftssystems ist hier deshalb so wichtig, weil die Herausbildung auch wissenschaftlicher Konzepte und Untersuchungen, die den mit dem Begriff der Mondialisierungen verbundenen Perspektiven Rechnung tragen, vermutlich von großem Gewicht sein wird. Vor der von Sloterdijk (2005: 331) befürchteten Konvergenz von Freiheit und Banalität ist nämlich auch das Wissenschaftssystem keineswegs gefeit. Das gilt zumal für die Betriebswirtschafts- und Managementlehre, der gleichsam systemisch das Risiko anhaftet, die bei Entscheidungsträgern von Unternehmen verbreiteten Untugenden der Machermentalität und der Überschätzung der eigenen Handlungsreichweite zu unterstützen. Eingebaut in reflektierte Verwendungen mögen Tools und best practices ihren helfenden Wert haben. Der erneuten Homogenisierung werden aber Türen und Tore geöffnet, wenn vermeintlich standardisiertes Wissen für Praktiker aufbereitet wird mit der Botschaft, für mehr seien sie sowieso nicht in der Lage. Die Wissenschaft von Unternehmen als Knotenpunkten von Mondialisierungen erfordert also durchaus widerständiges wissenschaftliches Denken. Die kulturwissenschaftliche Herangehensweise, für die wir in Teilen der Oldenburger Betriebswirtschaftslehre bei der Analyse und Beratung von Unternehmen plädieren, braucht den Vorwurf der mangelnden Wertfreiheit nicht zu scheuen. Nachdem die Betriebswirtschaftslehre bis in die jüngste Vergangenheit hinein bemüht war47, unter dem Begriff praktisch47

Und im mainstream der Lehrbücher für das Grundstudium immer noch ist, vgl. Wöhe 2000.

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normativ Werturteile für bloß umsetzungsbezogene Entscheidungen zu reservieren, wird sie abermals von den Entwicklungen der Unternehmenspraxis überrollt. Diese ist mit ihrer Arbeit an Leitbildern und Visionen, über ihre Interaktionen mit den gesellschaftlichen Umwelten längst darauf angewiesen, gerade dafür aus der Wissenschaft hilfreiche, wertgeladene Hinweise zu bekommen. Wie Charles Taylor in seinem bereits genannten Beitrag für die ZEIT feststellt, ist die unablässige Bejahung des ökonomischen Fortschritts die verheerendste Verneinung von allen. Wenn es wie oben angeführt stimmt, dass nicht der Kapitalismus im allgemeinen die Religion ist, vielmehr diese aufgespürt werden sollte in spezifizierenden gesellschaftlichen Imaginationen, unternehmerischen und Wirtschaftsstilen und -kulturen, dann wäre diese Bemerkung zu präzisieren: Bio- und Gentechnik, Wasserstoff- und Atomtechnologie, Energie- und Mobilitätsdienstleistungen, Wellness- und Gesundheitsindustrie, Freizeit- und Erlebnisökonomie und eine ganze Reihe anderer mehr sind Stichwörter für technisch, ökonomisch, sozial, ökologisch und kulturell höchst unterschiedliche Zukunftsoptionen. Eine gesellschaftlich und kulturell aufgeklärte Betriebswirtschaftslehre als Theorie der Unternehmung wie der Unternehmensführung könnte angefangen von guter vergleichender empirischer Forschung daran mitwirken, die Orientierungen auf wünschenswerte Zukünfte zu befördern. Die vom Herausgeber mit dem gewünschten Titel „Unternehmen als Knotenpunkte von Mondialisierungen“ verbundene Idee ist deshalb sehr mutig, weil sie zum Ziel hat, im Wechselspiel zwischen Unternehmen und Wissenschaft neue gesellschaftliche Imaginationen zu generieren, solche, die dem Handeln von Unternehmen im 21. Jahrhundert einen zukunftsfähigen Sinn geben. Nichts weniger wird gebraucht.

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Unsere mögliche Moral heißt kulturelle Bildung Eben deswegen: Ökonomie und Unternehmen als Gegenstände kultureller Entwicklung

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„Die Wissenschaft gibt dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen. Dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr wenig.“ Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches

„Wo Deine Füße stehen, da ist der Mittelpunkt der Welt.“ Sven Regener, Element of Crime

„Die Kritik der Vernunft ... wird zur Kritik der Kultur.“ Ernst Cassirer

Richard Rorty hat schon vor langem vorgeschlagen, „den Pragmatismus als einen Versuch der Änderung unseres Selbstbildes zu begreifen, durch den es in Einklang gebracht wird mit der darwinistischen These, der Unterschied zwischen uns und den übrigen Tieren liege lediglich in der Komplexität unseres Verhaltens.“1 Diese Selbstbildänderung hat für Rorty weit reichende erkenntnistheoretische Folgen: „Indem die Pragmatisten alles als durch und durch relational begreifen, bemühen sie sich, den Gegensatz zwischen Realität und Erscheinung aus dem Weg zu räu1

Rorty 1994, 67.

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men, also den Gegensatz zwischen dem Ansichsein der Dinge und der Art, in der sie uns erscheinen, in der wir sie wiedergeben oder über sie reden.“2 Der folgende Text erscheint in einem Buch, das dem möglichen Wandel kultureller Handlungsweisen gewidmet ist und sich dazu (im Anschluss an Rortys „Hoffnung statt Erkenntnis“) der Begrifflichkeit des pragmatischen Aufbruchs bedient. Die fachdisziplinäre Zugehörigkeit des Autors steht dieser gedanklichen Richtung zunächst scheinbar entgegen, denn nicht nur nach allgemeinem externem, sondern auch nach dem weiterhin dominant eigenen Verständnis liegt der akademischen Betriebswirtschaftslehre eine andere Logik zugrunde. Mit ausdrücklichem Bezug auf den zitierten Rorty-Text lässt sich sagen, dass (1) eine mit Rorty betriebene Re-Animalisierung des Menschen dabei hilft, die Gefühle, kulturellen Orientierungen und sozialen Praktiken der Menschen jenseits zu enger rationaler Konfigurationsversuche wie homo oeconomicus in der Ökonomik und homo sociologicus in der Soziologie ernster zu nehmen, dass (2) eine zukunftsfähige Theorie der Unternehmung und des weiteren der Ökonomie eben eine solche Öffnungsperspektive braucht und über die theoretische Bearbeitung strategischer Suchprozesse ökonomischer Akteure und Organisationen auch finden kann und (3) zukunftsfähige betriebswirtschaftliche wie volkswirtschaftliche Theorie damit als pragmatische Kulturwissenschaft ans Licht tritt. Eben dieser Schrittfolge entspricht auch der Aufbau der folgenden Ausführungen, wobei zwischen (1) und (2) die nach Auffassung des Verfassers notwendige besondere Argumentation tritt, im Gegensatz zu den meisten gesellschaftswissenschaftlichen Konzeptionen die Mensch-Natur-Beziehung als kulturwissenschaftlich elementare ausdrücklich zu berücksichtigen. Damit wird Rortys Brückenschlag zwischen Philosophie und den Darwinschen Erkenntnissen übrigens hinreichend ernst genommen.

1 Die Re-Animalisierung des Menschen als wissenschaftliches Programm Das gerade in dem hier zugrunde gelegten Text Rortys starke Plädoyer dafür, zukunftsfähiges philosophisches Denken an die Darwinsche Evo2

Rorty 1994, 68.

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lutionstheorie anzukoppeln, scheint mir in mehrerer Hinsicht sehr folgenreich. Rorty formuliert nämlich, dass der Pragmatismus, wenn er überhaupt etwas Spezifisches an sich habe, „dann dies: dass er die Begriffe der Realität, der Vernunft und des Wesens durch den Begriff der besseren menschlichen Zukunft ersetzt. Was Novalis über die Romantik gesagt hat, kann man auch auf den Pragmatismus übertragen, nämlich dass er die Apotheose der Zukunft ist.“3 Damit ist weit mehr transportiert als erkenntnistheoretische Bescheidung der Art, die ja bekanntlich Immanuel Kant selbst durchaus weitgehend betrieben hatte. Nein, es geht um mehr und um anderes: die Umkehrung der Denkrichtung, die aus der erkenntnistheoretischen Selbstbescheidung folgt. Von den sinnlichen Tatbeständen des wirklichen Lebens emanzipiertes Denken wird nicht erst recht legitimiert, sondern prinzipiell delegitimiert. Mit dem Begriff der besseren Zukunft wird „natürlich“ nicht nur eine Lösung geschaffen, sondern auch ein Problem: was macht sie aus, wer definiert dafür die Maßstäbe, und über welche Beobachtungen wird festgelegt, welche Beschreibungen davon mehr Gültigkeit besitzen als andere? Wir werden auf dieses Problem bis zum Ende des Textes immer wieder zurückkehren müssen … Wir sollten uns aber zunächst auch hinreichend der Lösungsqualität erinnern, die diese Analyse bereitstellt. Sie relativiert den Menschen im Geschehen von Natur- und Kulturgeschichte und stellt sich auch solchen Modernisierungen philosophischer Konstruktionen in den Weg, die Bewusstsein durch Sprache ersetzt haben, damit aber auf außerordentlich gleiche gedankliche Probleme stoßen.4 Wir kommen weiter, so der zugrunde liegende Sinn, wenn wir die Menschen als in ein kontingentes evolutorisches Geschehen eingebettet sehen. Auch wenn Darwin in dem langen Titel seines Buches von „favoured races“ und „struggle for life“ sprach5, so ist weder prä-determiniert, wie die Artenentwicklung verläuft, noch damit ausgesagt, dass denen, die sich durchsetzen, damit normativ eine höhere kulturelle Qualität zukommt6. Und im Gegensatz zu so ge3 4 5 6

Rorty 1994, 16. S. Rorty 1994, 60. Darwin 1998 (orig. 1859). Straffere militärische Organisation oder gar Terror hat häufig genug in der Menschengeschichte denen eine Niederlage bereitet, deren Niedergang wir heute bedauern mögen, s. etwa den der Etrusker gegen die Römer oder den der Mauren

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nannten sozialdarwinistischen Interpretationen ging es Darwin bei seinem traurig häufig falsch zitierten „struggle for life“ in einem weiten metaphorischen Sinne um die Abhängigkeit der Wesen voneinander.7 Die Kontingenz bisheriger Entwicklung gilt gleichermaßen für die Zukunft. „Wenn es irgendeine Quintessenz des modernen Darwinismus gibt, dann die, dass ein idealtypisches Genom nicht existiert.“8 Das mag nicht nur als Warnung dienen gegenüber den Optimierungsvisionen moderner Gentechnik, sondern insbesondere als Hinweis auf die prinzipielle Offenheit natürlich-kultürlicher Zukünfte. Spekulationen über das Ende der Geschichte9 erweisen sich im evolutionstheoretischen Kontext jedenfalls als allzu dürftige Analyse. Die Einsicht in die prinzipielle Ungewissheit der weiteren Entwicklung menschlich-gesellschaftlicher Zukünfte wirft nun erhebliche Zweifel auf gegenüber allen wissenschaftlichen Konzeptionen, die eher daran festhalten wollen, Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, um daraus Schlüsse zu ziehen für vernünftiges oder gar richtiges menschliches Handeln. Von ihren konstituierenden Ursprüngen her zählen zu solchen Konzeptionen zweifellos die Wirtschaftswissenschaften. Ihre wesentlichen modell- und insbesondere gleichgewichtstheoretischen Annahmen folgen bekanntermaßen der Newtonschen Mechanik und sind durch neuere naturwissenschaftliche Entwicklungen noch nicht sehr affiziert. In der praktischen Wirtschaftsforschung sind Ökonomen häufig gerade dann von der Brauchbarkeit ihrer wirtschaftspolitischen Vorschläge sehr überzeugt, wenn sie sehr einfachen Kausalketten folgen (z. B. niedrigere Löhne = höhere Beschäftigung). Und in der vom Autor vertretenen Betriebswirtschaftslehre10 hatte es in deren klassischer Phase geheißen, es gebe in jeder Entscheidungssituation stets eine an sich richtige Entscheidung.11 Bei näherem Hinsehen transportiert die moderne Ökonomik als wissenschaftliche Wahrnehmung des Wirtschaftens unter den Bedingun-

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11

in Al-andalus, dem heutigen Andalusien, gegen die katholische Reconquista in Spanien. Vgl. die Ausführungen bei Fischer 2003 . Göldenboog 2003, 9. So der nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des vormaligen Ost-West-Konflikts international Furore machende Titel von Fukuyama 1992. Dass diese Fachdisziplin durchaus gegen den Strich gebürstet werden kann, dazu Pfriem 2005. Gutenberg 1929, 10.

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gen moderner kapitalistischer Marktwirtschaften ein ganzes Bündel dessen, was der Philosoph Cornelius Castoriadis imaginäre Bedeutungen genannt hat.12 Solche imaginären Bedeutungen zeigen sich unter modernen ökonomischen Verhältnissen etwa in der Idee der Isolierbarkeit individueller Nutzenmaximierungskalküle, im Gedanken der Input-OutputEffizienz, im Glauben an die vielleicht gar völlige Monetarisierbarkeit von Werten u. ä.13 Solche imaginären Bedeutungen können im Rahmen dessen, was wir allgemein als einen Typus von Wirtschaftsordnung identifizieren (egal ob Marktwirtschaft, Kapitalismus oder anders), noch einmal sehr verschiedene Ausprägungen haben. Das verweist auf historisch, räumlich oder wie immer bedingte kulturelle Unterschiede. Mit seinem offenen Auge für die Vielfalt des Lebendigen zeigt sich der Kulturbegriff insofern als gut geeignet dafür, auch in der Ökonomik dem Programm der Re-Animalisierung des Menschen zu folgen. Kultur annonciert das Bemühen, Verschiedenheit zu verstehen. Kultur macht schon dadurch auf das Phänomen von (kulturellem) Wandel aufmerksam. Und Kultur wird durch Institutionalisierungsprozesse markiert, die gesellschaftlichen Wandel sowohl ausmachen wie begleiten.14 Wenn wir diesen Kulturbegriff auf ein wissenschaftliches Handlungsmodell beziehen wollen, so ergibt sich mit Reckwitz15 die kulturtheoretische Handlungserklärung als ein drittes Handlungsmodell jenseits des vor allem in der Ökonomik verbreiteten der zweckorientierten Handlungserklärung (homo oeconomicus) und des vor allem in der Soziologie verbreiteten der normorientierten Handlungserklärung (homo sociologicus).16

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S. vor allem sein Hauptwerk Castoriadis 1984. S. ausführlich dazu auch Pfriem 2004. Dieser heuristischen Brauchbarkeit des Kulturbegriffs für wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung (verstehen, ändern, institutionalisieren) folgen wir auch bei der derzeitigen Durchführung eines mehrjährigen Forschungsprojekts für das Bundesforschungsministerium im Feld der Ernährungskultur(en), s. www.osse na-net.de. Reckwitz 2000, 143. Theoriefortschritte in Ökonomik und Soziologie resultieren – dann auch als methodische – in jüngerer Zeit nicht zuletzt daraus, aufgeschlossener als in der Vergangenheit zwischen homo oeconomicus und homo sociologicus auf die andere Seite zu schauen (als nur ein Beispiel aus der Ökonomik dazu Frank 1992). Im dritten und vierten Kapitel werde ich weiter verdeutlichen, dass noch nicht

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Eine besondere Herausforderung, die aus einem kulturwissenschaftlichen Zugang mit dem besonderen Blickwinkel „Re-Animalisierung des Menschen“ folgt, besteht für die Wirtschaftswissenschaften in der Rückbesinnung auf Sinnlichkeit und Gefühle. Illustrierbar an dem berühmten Beispiel von Adam Smith, die ökonomische Transaktion zwischen Bäcker und Kunden solle nichts mit persönlichen Sympathien oder Antipathien zu tun haben, sind die Wirtschaftswissenschaften über die vermeintlich mögliche Substitution der Leidenschaften durch Interessen geradezu groß geworden.17 Rortys Gedankenrichtung verlangt nun danach, den sinnlichen und leiblichen Dimensionen menschlichen Handelns wieder mehr Aufmerksamkeit beizumessen, insbesondere auch für moralische Fragen.18 Bemerkenswerterweise erleben wir in der aktuellen philosophischen Diskussion eine Renaissance des Gefühls.19 Das zielt alles in die Richtung, der Naturhaftigkeit des Menschen wieder mehr Bedeutung beizumessen und die scheinbar völlige Emanzipation der Menschen von der Abhängigkeit von ihren natürlichen Lebensgrundlagen kritisch zu reflektieren. Rorty kann drastisch sein: „Vom evolutionstheoretischen Gesichtspunkt gibt es außer der Komplexität keinen Unterschied zwischen den Grunzlauten und den Abhandlungen.“20 Werfen wir deshalb mit der Perspektive einer kulturwissenschaftlich aufgeklärten ökonomischen Forschung einen Blick auf die Bedeutung der Mensch-Natur-Beziehungen.

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dies, sondern erst der Schritt zum dritten (kulturalistischen) Handlungsmodell eine gewisse Lösung bringt. Vgl. Hirschman 1977. „Dieses Bild des moralischen Fortschritts sorgt dafür, dass wir uns nicht dem Vorschlag Kants anschließen, wonach die Moralität auf Vernunft beruht. Da bevorzugen wir Pragmatisten den Vorschlag Humes, wonach die Moralität auf dem Empfinden beruht.“ (Rorty 1994, 87) So der Titel von Döring 2005, s. auch die Beiträge von Landweer (2004) und Benzi (2004). Rorty 1994, 71.

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2 Die Bedeutung der Mensch-Naturbeziehung für zukunftsfähige kulturwissenschaftliche Analysen Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise muss nicht, kann aber möglicherweise dazu dienen, erfolgreichere Reflektionen unserer menschlichen Einbettung in natürliche Bedingungen und Zusammenhänge zu befördern, als dies auf den bisherigen Pfaden gelungen scheint. Bekanntermaßen stehen frühindustrialisierte Länder historisch durch ihr gesellschaftliches Entwicklungsmodell und aktuell durch ihr Ausmaß des Verzehrs an Rohstoffen und Energie sowie der Produktion von Schadstoffen an der Spitze der Verursachung ökologischer Zerstörungen. Betrachten wir die hauptsächliche Logik, der in diesen Ländern beim politischen und ökonomischen Umgang mit ökologischen Problemen gefolgt wird, so stoßen wir auf ein bemerkenswertes Phänomen. Bemerkenswert, aber das Gegenteil von zufällig: in der Bearbeitung ökologischer Probleme folgen diese modernen Gesellschaften ziemlich exakt jenem Nutzendenken und jenen rationalen Effizienzkalkülen, die die Probleme hervorgebracht haben. An nichts lässt sich das deutlicher zeigen als an der Verbreitung des Denkens in Öko-Effizienz, die präzise nach dem Vorbild der vorgängigen ökonomischen Effizienz gebaut ist. Betrachten wir auf der anderen Seite die ökologischen Zustände auf der heutigen Welt, so stellen wir fest, dass trotz gewisser Erfolge auf den gleichsam filtertechnisch zu bearbeitenden Gebieten von Umweltpolitik, nämlich der Verbesserung von Gewässer- und Luftqualität sowie der Abfallreduktion, die großen Probleme des verschwenderischen Einsatzes von Rohstoffen und Energie sowie etwa der globalen Klimaveränderungen nicht kleiner geworden sind.21 Im Gegenteil kommen durch sprunghafte Industrialisierungsfortschritte in Ländern wie China, die allem Anschein nach sogar kaum etwas von den (begrenzten) ökologischen Lernprozessen der frühindustrialisierten Länder aufzunehmen bereit sind, auf breiter Front neue Verursacher und damit Vermehrer ökologischer Schäden und Zerstörungen hinzu. Die „Ohmacht der ökologischen Vernunft“22 lässt sich offenkundig nicht durch die ökologischer Erweiterung der herkömmlichen Rationali-

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Sehr materialreich dazu Wuppertal-Institut 2005. Eder 1988, 10.

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tätskalküle beseitigen, sondern beruht auf einer „Kultur“23, „die – uns mehr oder weniger unbewusst – zu einem selbstzerstörerischen Naturverhältnis ‚zwingt‘. Trotz aller ökologischer Kommunikation sind wir kulturell ahnungslose ‚Banausen‘ im Umgang mit der Natur geblieben. Daraus folgt, dass wir erst dann die Ohnmacht der ökologischen Vernunft verstehen können, wenn wir die kulturellen Gewohnheiten, die unser Verhältnis zur Natur bestimmen, zum Thema machen.“24 Natürlich lässt sich die Idee der Emanzipation von der Natur über Rodung und Gewinnung von Ackerland oder über das Schaffen fruchtbaren Landes an den Rändern der Meere25 in der Rückschau als wahrgenommener kultureller Fortschritt der Menschen durchaus nachvollziehen. Dass diese Bemühungen nichts anderes waren als Kämpfe mit zahlreichen menschlichen Opfern, hat dazu beigetragen, menschliche Feindbilder von Natur zu generieren, bei denen das oben von Darwin zitierte „aufeinander angewiesen sein“ vergessen werden konnte. Darüber sind sowohl Praktiken als auch wissenschaftliche Wahrnehmungsweisen entstanden, die der Suggestion folgten, diese Emanzipation als ignorante Loslösung organisieren zu können. So wie Viagra als technisches Substitut die Probleme männlicher Sexualität beseitigen soll, ohne deren Ursachen auf den Grund gehen zu müssen, so hat die Modernisierungkultur selbst zum wesentlichen Inhalt, über den Glauben an und das Angebot von technischen Substituten die letzten Reste von Natur zu tilgen – in unseren körperlichleiblichen Handlungsvollzügen wie in unseren theoretischen Konstruktionen. Schwemmer hat allerdings gerade noch einmal darauf hingewiesen, dass schon „die cultura im Sinne des Ackerbaus, der Pflege des Bodens, der Saat und der Pflanzen ein Wechselverhältnis zwischen dem pflegenden Tun und dem gepflegten Wachstum der Pflanzen voraus“ setzt. Also: „Der Begriff der Pflege, wie er in dieser cultura am Anfang der Wortgeschichte in Anspruch genommen und exemplarisch vorgestellt wird, kann so nur durch einen Bezug auf vielfache Wechselverhältnisse zwischen eigenem Tun und fremden Entwicklungen gedacht werden.“26 23 24 25

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Hervorhebung durch den Verfasser. Eder 1988, 10. In der Region, in der ich nun seit Jahren lebe, heißt es: „Gott schuf das Land, der Friese die Küste“. Schwemmer 2005, 21.

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Die Jugendlichen, die aktuell mit grellfarbenen ACE-Flaschen zu sehen sind und scheinbar27 darüber erhaben sind, Mineralwasser zu trinken, markieren symbolisch ganz gut die Naturferne als wesentlichen Trend der Moderne. Eine Ernährungskultur, die trotz gestiegener Freizeit sich darauf zu programmieren scheint, mindestens im Alltag Ernährung nicht nach den Kriterien von Qualität und Genuss, sondern von geringstmöglichem finanziellen und zeitlichen Aufwand zu organisieren, gibt in der Breite davon hinreichend Ausdruck.28 Was wir in den sozialen Praktiken und kulturellen Orientierungen des alltäglichen Handelns der Menschen beobachten können, zeigt sich ebenfalls in den Konstitutionsbedingungen der modernen Wissenschaften. Die Soziologie ist entstanden und wird heute dominant weiter gepflegt29 als Wissenschaft einer Gesellschaft, die ihre natürlichen Einbettungen vergessen bzw. über Bord geworfen hat.30 Und in den ökonomischen Wissenschaften steht die ökologische Selbstaufklärung immer noch am Anfang, wird nach wie vor nur von einer Minderheit betrieben, und es drängt sich eher der Eindruck auf, als würde diese Thematik unter dem Druck von Wachstums-, Beschäftigungs-, finanz- und sozialpolitischen Problemen derzeit wieder in den Hintergrund gedrängt. Mit dem Glauben an unbegrenzten technischen Fortschritt, der in der Verbindung mit ebenfalls „in the long run“ unendlich gedachtem Wirtschaftswachstum sämtliche ökologischen Knappheiten substituiert und die von der Ökologischen Ökonomik31 anerkannten Irreversibilitäten ökonomischer Prozesse meint, aus der Welt schaffen zu können, entledigt sich wirtschaftswissenschaftliches Denken seiner ökologischen Dimension. Die Betrachtung der Mensch-Naturbeziehungen verweist uns also auf die kulturellen Orientierungen, Gewohnheiten, Verhaltensroutinen, mit denen wir individuelle und kollektive Aufgaben und Probleme wie Ernährung, Bekleidung, Mobilität usw. bewältigen. An dieser Stelle ist nun, 27

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Scheinbar, nicht anscheinend: Untersuchungen und Experimente im Rahmen unseres Forschungsprojektes OSSENA haben deutlich gezeigt, dass hier eher schnell wechselndes Verhalten nach Trends und Moden gegeben ist und keineswegs grundlegende Ablehnung natürlicherer Getränke. Nölle 2005. Dass die Deutsche Gesellschaft für Soziologie sich eine Sektion Umweltsoziologie hält, ändert daran nicht das Geringste. Brand 2005. S. Daly 1997, Costanza u. a. 2001.

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mit nochmaligem Bezug auf Rorty, von großem Belang, dass diese kulturellen Gewohnheiten nicht zwangsläufiges Resultat eines allgemeinen Nutzenstrebens der Menschen sind, sondern historisch gewachsen, kontingent, mit anderen Worten: es hätte auch anders kommen können, und es kann auch immer noch anders kommen – bei allen Verriegelungen, die inzwischen entstanden sein mögen.32 Das Programm von „Hoffnung statt Erkenntnis“33 erfordert demzufolge zwei Schritte. Den ersten Schritt markiert Rorty mit aller Eindringlichkeit: „Natürlich können wir an Kant festhalten und darauf pochen, dass Darwin ebenso wie Newton lediglich eine Geschichte über Phänomene erzählt, während transzendentale Geschichten Vorrang hätten vor empirischen Geschichten. Doch die über hundert Jahre, die damit verbracht wurden, Darwins empirische Geschichte aufzunehmen und zu verbessern, haben uns, wie ich vermute und hoffe, die Fähigkeit genommen, transzendentale Geschichten ernst zu nehmen.“34 Vor dem Hintergrund des Wissens um die Vielfalt möglicher kultureller Orientierungen für gesellschaftliche Zukünfte braucht es allerdings noch einen zweiten Schritt. Bei Rorty heißt es: „Die Pragmatisten sind….nicht der Ansicht, dass die Wahrheit das Ziel der Forschung ausmache. Das Ziel der Forschung ist der Nutzen; und es gibt so viele verschiedene nützliche Werkzeuge, wie es Zwecke gibt, denen sie dienen können.“35 Auf diese Weise, so Rorty an anderer Stelle, bleibe „keine spezifisch erkenntnisbezogene Strategie übrig, sondern nichts weiter als ein Lob auf bestimmte moralische Tugenden, nämlich die einer offenen Gesellschaft.“36 An dieser Stelle stoßen wir auf ein Problem, das von Herbert Marcuse schon frühzeitig und scharfsinnig mit dem Begriff der „reinen Toleranz“ markiert wurde.37 Mehrheit ist nicht Wahrheit. Die Wahrheit klassisch32

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Mit Verriegelungen oder lock-ins beschreibt die Evolutorische Ökonomik das Phänomen der Pfadabhängigkeiten, wonach es möglicherweise recht schwer fällt, den Umstieg auf ganz andere Entwicklungsoptionen zu nehmen (ein massives modernes Beispiel dafür liefern Mobilität und Autoverkehr), s. dazu Lehmann-Waffenschmidt/ Reichel 2000. So ja der Titel von Rorty 1994. Rorty 1994, 66. Rorty 1994, 47. Rorty 1994, 28. Marcuse 1966.

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abendländischer Erkenntnissuche konnte auch, musste oft genug aus minoritärer Position heraus verteidigt und entwickelt werden. Die Verabschiedung der Wahrheit als leitendem Kriterium wissenschaftlichen Treibens zugunsten von Dingen wie den Tugenden einer offenen Gesellschaft oder gar dem Nutzen lässt die Frage aufkommen (und bis auf weiteres offen), wer denn dieses bestimmt. Wenn Rorty formuliert, es gebe „nichts weiter als den Vorgang der an bestimmte Auditorien gerichteten Rechtfertigung von Überzeugungen“38, dann liegt für das Weitere damit keine Lösung auf dem Tisch, sondern ein Problem: nach welchen Maßstäben können sich spezifische Optionen rechtfertigen?

3 Strategische Suchprozesse ökonomischer Akteure als wesentlicher Gegenstand zukunftsfähiger kulturwissenschaftlicher Forschung Die imaginären Bedeutungen und damit Gebilde von Effizienz, Wirtschaftlichkeit, Rentabilität, Produktivität usw. hatten und haben für die Ökonomik in ihrer volkswirtschaftlichen wie in ihrer betriebswirtschaftlichen Abteilung den aus weiterhin vorherrschender Sicht unschätzbaren Vorteil, Wissenschaft nach dem Kriterium der Wahrheit betreiben zu können und sich auf Zweifel daran nach dem Muster Rortys nicht einlassen zu müssen. Die Unsicherheiten, die gerade auch in wissenschaftlichen Kreisen bei der Beschreibung der gegenwärtigen ökonomischen Gesellschaftsform nach rund 150 Jahren Fabrikgesellschaft zu beobachten sind39, geben davon, dass die derzeitigen strukturellen und kulturellen Wandlungen der frühindustrialisierten Gesellschaften nicht mehr mit den gängigen ökonomischen und soziologischen Kategorien des 20. Jahrhunderts erfasst werden können, deutlichen Ausdruck. Sarkastisch ließe sich kommentieren, dass Poppers Begriff der offenen Gesellschaft aktuell so zu interpretieren wäre, dass die Wesenszüge der heutigen Gesellschaft gar nicht mehr konsensfähig beschrieben werden können. In der Tat gibt es neue, nicht vorab definierbare Bezüge zwischen der ökonomischen Entwicklung von Märkten und Unternehmen, (sozio-) kulturellen Veränderungen und der weiteren gesellschaftlichen Entwick38 39

Rorty 1994, 28. Es zirkulieren ja die Begriffe Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft und weitere mehr.

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lung. „Bei der Generierung neuer Märkte (etwa in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Bio- und Gentechnik) geht es wesentlich um Fragen der weiteren Lebensgestaltung im 21. Jahrhundert.“40 Nicht nur wesentliche Teile der Wirtschaftstheorie, sondern insbesondere auch tragende Akteure der Wirtschaftspolitik41 neigen derzeit noch dazu, an dem im 18. Jahrhundert generierten Theoriebündel festzuhalten, das aus einem dreifachen Glauben besteht: an den unbegrenzten technischen Fortschritt, an das unbegrenzt mögliche Wirtschaftswachstum, und an die nicht, wie häufig gemeint, auf Bentham, sondern auf dessen schottischen Vorläufer Hutcheson zurückgehende „greatest happiness for the greatest number“ als Resultat des technisch-ökonomischen Wachstums.42 Die praktische Erosion dieses modernen Entwicklungsmodells, die wir allenthalben beobachten, ist der wesentliche Hintergrund dafür, dass die Zweifel an den vorgängigen ökonomischen und soziologischen Beschreibungen deutlich zunehmen und in eben diesem Kontext der Kulturbegriff eine Renaissance erfährt.43 Meine These dazu lautet nun, dass zur Beschreibung und Erklärung der Handlungsbedingungen und –möglichkeiten ökonomischer Akteure weder eine zweckorientierte noch eine normorientierte Handlungserklärung länger hinreichend ist. Die erste vernachlässigt im Maße der eigenen methodischen Strenge nicht nur die Einbettungen der handelnden Akteure in historisch und kulturell geprägte (oft gar nicht bewusste) Verhaltensroutinen, sondern auch den bei den Akteuren selbst stattfindenden Aufbau symbolischer Bedeutungszuweisungen. Die zweite, die normorientierte Handlungserklärung vernachlässigt im Maße der eigenen methodischen Strenge vor allem den Eigenanteil an jenen Bedeutungszuweisungen, die das Handeln in jeder konkreten Situation beeinflussen. Gegenüber beiden schärft der Kulturbegriff nicht nur die Aufmerksamkeit für Wandel und Kontingenz, sondern weist vor allem darauf hin,

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Fichter/ Paech/ Pfriem 2005, 71. Vordergründig mutet natürlich merkwürdig an, wie gerade diese unter Missbrauch des Begriffs „Reform“ um den Eindruck bemüht sind, es gebe zwischen den politischen Parteien keine echten wirtschaftspolitischen Alternativen (jenseits gegenseitiger Polemik, bei der anderen Seite komme das Soziale zu kurz). Vgl. Pfriem 2005, 82 f. Vgl. zum Blick auf die Substitution von Gesellschaft durch Kultur aus der Sicht eines Historikers entsprechend Burke 2005.

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dass „Bedeutungsschemata emergente Ergebnisse sozialer Interaktionsprozesse sind. Das bedeutet, sie können nicht ‚von außen‘ determiniert, planvoll und zielgerichtet gesteuert werden (was übrigens bezogen auf Angebot und Nachfrage von Produkten heißt, dass sowohl die Vorstellung von Konsumentensouveränität als auch die einer Konsumentenmanipulation hinfällig ist).“44 Im Rahmen unserer Forschungsprogrammatik für Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung haben wir die heute fundamentale Relevanz von Kultur für die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung ökonomischer Praxis in vier Punkten zusammengefasst, es geht um: „1. die kulturelle Aufladung der betrieblichen Organisation, die sich durch alle relevanten Funktionsbereiche eines Unternehmens zieht, 2. die kulturelle Einbettung von Unternehmen in ihre gesellschaftlichen Umwelten, dabei insbesondere 3. die kulturelle Aufladung der Beziehung zwischen Unternehmen und Konsumenten, die sich wiederum.“ 4. in den, den Produkten anhaftenden Bedeutungen widerspiegelt.“45 Die kulturelle Aufladung der Ökonomie und dann noch einmal speziell der Unternehmen mit gesellschaftlich imaginären Bedeutungen ist also ein sich permanent vollziehender Prozess, der in seiner Rekursivität zu begreifen ist: kulturelle Faktoren wirken auf das ein, was wir als Ökonomisches aus dem Gesamt der Gesellschaft herauslösen, umgekehrt wirken innerhalb des so markierten Ökonomischen generierte Entwicklungen auf alles Übrige zurück.46 Die Sache ist gegenwärtig deshalb so brisant, weil wir es insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern mit der Verschränkung zu tun haben zwischen einer immer schon gegebenen kulturellen Aufgeladenheit (ja: Konstruktion) des Ökonomischen damit, dass das, was immer schon war, 44 45 46

Fischer 2005, 6. Beschorner/ Fischer/ Pfriem/ Ulrich 2004, 11. Eine im 20. Jahrhundert besonders wirksame imaginäre Figur im Sinne von Castoriadis war der Zentralismus. Dass zu Zeiten der massenindustriellen Epoche der Wirtschaft zentralistische Betriebsstrukturen besonders effektiv erschienen sowie der „draußen“ verbreitete Glaube an die Nützlichkeit von Gehorsam im politisch-gesellschaftlichen Bereich stabilisierten sich rekursiv.

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aus beschreibbaren Gründen heute besonders deutlich zutage tritt. Der Schein, ökonomische Transaktionen würden wesentlich nur zur Deckung physiologischer Bedürfnisse der Menschen getätigt, um den sich immerhin zentrale Ideen der modernen Ökonomik ranken wie etwa das Knappheitsparadigma, kann von uns heute leichter entmystifiziert werden, als dies weitsichtige Theoretiker wie Veblen, Simmel oder auch reflexive Praktiker wie Walter Rathenau zur Hochzeit der industriellen Massenproduktion vermochten. Diesbezügliche Analysen der „Erlebnisgesellschaft“47 oder „jenseits der Not“48 dürfen nicht missverstanden werden als Leugnung real existierender materieller Armut. Sie verhelfen vielmehr zu deren genauerer Analyse, weil sie der Aufklärung über die kulturellen Mechanismen dienen, mit denen heutzutage materielle Armut verkoppelt ist. Materielle und kulturelle Verarmung sind nämlich selbst in bisweilen tragischer Weise miteinander verknüpft.49 Das führt uns zu der Frage, ob Wirtschaftsordnungen weiter so simpel und schematisch betrachtet werden sollten, wie das nicht nur im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein, sondern auch im akademischen Raum während des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war. Und heute immer noch ist, wie man daran erkennen kann, in welcher Breite von Marktwirtschaft oder Kapitalismus immer noch im Singular gesprochen oder geschrieben wird.50 Die Rede vom Kapitalismus im Singular suggeriert zum einen, als ob wir zumindest gedanklich über etwas Anderes verfügen könnten. Nach dem Scheitern der staatsbürokratischen Zwangswirtschaften als Beleg dafür, dass es sich hier um keine eigenständigen entwicklungsfähigen Wirtschaftsordnungen handelt, ist dies eher keine hilfreiche Denkfigur, macht doch ein Begriff nur in dem Maße Sinn, in dem man sich das Andere, von dem er abgrenzt, einigermaßen brauchbar vorstellen kann. Gewichtiger ist uns der Einwand, dass unter dem Dach des Singulars Marktwirtschaft oder Kapitalismus die Vielfalt verloren geht bzw. erst gar nicht beachtet wird, auf die wir stoßen, wenn wir uns die Wahrneh47

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Schulze (1993) darf für den deutschen Sprachraum hier als einer der Pioniere gewürdigt werden. So der Titel am Anfang des letzten Kapitels bei Sloterdijk 2004. Die Verbindung von Medienkonsum und Ernährung liefert nur ein Beispiel dafür. S. hingegen den nicht nur im Titel bemerkenswerten Text von Müller 2003.

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mung zu eigen machen, in Wirtschaftsstilen oder Wirtschaftskulturen zu denken und Wirtschaft auf diese Weise zu analysieren.51 Denn zwischen nationalen Wirtschaftskulturen und dann auch noch einmal innerhalb dieser gibt es erhebliche Differenzen. Gerade die letzteren sind übrigens Ausdruck der Eigensinnigkeit, über die Regionen als Handlungsebene individueller und kollektiver Akteure trotz aller Globalisierung anscheinend weiterhin verfügen. Eine kulturwissenschaftlich geprägte Wahrnehmung und Herangehensweise öffnet uns in Bezug auf Wirtschaft also nicht nur jenen Blick, den wir mit den überkommenen Ökonomismen reichlich verschlossen haben, nämlich den auf die kulturellen Bedingungen und Folgen des ökonomischen Treibens, sondern ferner jenen auf die real existierende Vielfalt (Pluralität) dessen, was uns als Ökonomisches entgegen tritt. Wenn wir nun die theoretische Konsequenz ziehen aus der Fragilität und Veränderlichkeit gesellschaftlich imaginärer Bedeutungen im Feld des von uns so markierten Ökonomischen, dann liegt es nahe, statt von isolierbaren Entscheidungen der ökonomischen Akteure vielleicht gar nach kulturell und historisch übergeordnet gleichen Kriterien vielmehr von strategischen Suchprozessen auszugehen, auf der Seite der anbietenden Unternehmen wie der nachfragenden Konsumenten. Natürlich sind solche Suchprozesse anders zu modellieren, als dies Volks- und Betriebswirtschaftslehre bislang gewohnt sind, aber es muss erst einmal die Frage aufgeworfen sowie gründlich reflektiert und diskutiert werden, wie denn das gehen könnte. Natürlich werden dann forschungsmethodisch hermeneutische Methoden und „dichte Beschreibungen“52 größeres Gewicht gewinnen als sie das in der heutigen ökonomischen Forschung haben. Die strategischen Suchprozesse ökonomischer Akteure zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen zu machen, kommt mit den u. a. durch Rorty begründeten pragmatischen Wissenschaftszielen aufs Beste zusammen. Wenn die symbolischen Bedeutungen, die die ökonomischen Akteure ihren Handlungen und Handlungsorientierungen in nicht auflösbaren rekursiven Verflechtungen zwischen Fremdeinfluss und Eigenaktivität unterlegen, für wissenschaftliche Untersuchungen wesentlich wer51

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S. allerdings (Hrsg.) Klump 1996 sowie einige Beiträge in Blümle/ Goldschmidt 2004. So der schon klassische Begriff von Geertz 1987.

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den, dann geht es ja nicht länger um subjektunabhängige Wahrheiten, sondern genau um die immer subjektiven Wahrheiten derjenigen, die ihre strategischen Suchprozesse organisieren. Kulturwissenschaftlich aufgeklärt haben Volks- und Betriebswirtschaftslehre damit für die Fokussierung ihres Gegenstands wie für zu entwickelnde Methoden eine Richtung gefunden, mit der sie die prinzipielle Ungewissheit und Unsicherheit von Zukunft meistern können, die den strategischen Suchprozessen der ökonomischen Akteure tatsächlich eingeschrieben ist. Gerade mit Blick auf Rorty bleibt aber noch ein zu klärender Rest …

4 Die Ökonomik der Zukunft wäre (ist?) eine pragmatische Kulturwissenschaft Mit der Einsicht, dass zukunftsfähiges Handeln wesentlich nicht über Eingrenzungen (Korridorisierungen) befördert wird, sondern über Anleitungsimpulse, setzt sich der kulturwissenschaftlichen Ansatz einer Theorie der Unternehmung53 und weitergehend einer ökonomischen Theorie54 in deutliche Differenz zur nach wie vor dominanten Position in der Ökonomik. Luckner weist darauf hin, dass man sich streng genommen an Verboten ebenso wie an Erlaubnissen überhaupt nicht orientieren kann: „Nach Ge- und Verboten kann man sich zwar richten, aber man kann sich nicht an ihnen orientieren, jedenfalls nicht in demselben Sinne, wie man sich in seinem Handeln z. B. am Wert der Gerechtigkeit orientieren kann.“55 Im einvernehmlichen Nachklang zur klassischen modernen Ökonomik des 18. und 19. Jahrhunderts hatte auch die Betriebswirtschaftslehre (in Deutschland vor allem mit Gutenberg) als Produktionstheorie ihr Ge-

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Unseren Oldenburger Versuch einer forschungsprogrammatischen Grundlegung hierfür stellt – wie schon angeführt – (Hrsg.) Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) 2004 dar. Vgl. Blümle/ Goldschmidt 2004, (Hrsg.) Klump 1996, der Sache nach auch Priddat 2005. Luckner 2005, 2. Er fährt an derselben Stelle fort: „Das ist wie beim Schachspiel: zu wissen, was an Spielzügen erlaubt bzw. verboten ist – d.h. Kenntnis von den konstitutiven Spielregeln haben – bedeutet lediglich, den Handlungsspielraum zu kennen, innerhalb dessen man sich bewegen kann; es bedeutet noch lange nicht, zu wissen, wie man sich am besten in ihm bewegt.“

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schäft aufgenommen. Die in den vergangenen Jahrzehnten, zuletzt mit häufigem Bezug auf die Luhmannsche Systemtheorie, vorgenommene Form der sozialwissenschaftlichen Öffnung als Organisationstheorie meinte noch, sich vor der Analyse konkreter Wertorientierungen von Unternehmensorganisationen drücken zu können. Eine kulturwissenschaftliche Theorie der Unternehmung kann dies nicht mehr. Wenn in der Quintessenz dieses Textes und so weit mit Rorty konform gehend Ökonomik der Zukunft sich also als pragmatische Kulturwissenschaft entwickeln sollte, werden die Inhalte der Handlungsorientierungen und strategischen Suchprozesse ökonomischer Akteure logischerweise selbst zum Gegenstand der Untersuchungen – also das, was die Ökonomik des 20. Jahrhunderts als Präferenzen in eine schwarze Kiste stecken und externalisieren wollte. Die Etablierung des marktwirtschaftlichen Mechanismus war in theoretischer Hinsicht mit ihrer Substitution von Leidenschaften durch Interessen56 nichts weniger als der Versuch, eine wertfreie Wissenschaft möglich zu machen. Selbst oder gerade der Marxismus als frühe kritische Bemühung, die kapitalistischen Marktwirtschaften auf den Begriff zu bringen, wollte vom Gebrauchswert abstrahieren, um die Wirkungsmechanismen des Tauschwerts zu verstehen.57 Eine pragmatische Kulturwissenschaft, die mit Rorty vom Kriterium der Wahrheit auf die Nützlichkeit für die Hoffenden bei ihren strategischen Suchprozessen umstellt, wirft natürlich sofort die Frage nach den Beurteilungs- und Bewertungsmaßstäben auf. Bei Rorty heißt es: „Es gibt nichts weiter als den Vorgang der an bestimmte Auditorien gerichteten Rechtfertigung von Überzeugungen.“58 Allerdings: „Da niemand die Zukunft kennt, weiß auch niemand, welche Überzeugungen ihre Berechtigung behalten und welche nicht; und daher gibt es nichts Ahistorisches, was sich über die Erkenntnis oder die Wahrheit sagen ließe.“59 Das grenzt noch einmal ab von jeglichem Glauben an überhistorische Wahrheiten. Freilich birgt der Standpunkt einer pragmatischen Kulturwissenschaft, ihre Untersuchungen strikt auf die je konk56 57

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Noch einmal sei auf Hirschman 1977 hingewiesen. Die hier vorgeschlagene pragmatische Kulturwissenschaft Ökonomie könnte man im Rahmen Marxschen Vokabulars genau umgekehrt als Versuch beschreiben, wieder den Blick auf die Gebrauchswertseite zu öffnen. Rorty 1994, 28. Rorty 1994, 4.

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rete Analyse der konkreten Situation zu beziehen, ein fundamentales Problem, das sui generis in der Zukunft weder gesellschaftspraktisch noch wissenschaftlich wird aus der Welt geschafft werden können: Mehrheit ist nicht Wahrheit. Auditorien können situative Reputationsmechanismen bereitstellen, über die Triftigkeit oder gar moralische Qualität spezifischer strategischer Suchprozesse können sie im Horizont der Geschichte nie Allgemeinverbindliches aussagen. Das hat Konsequenzen für die Hoffnungen auf Demokratie. Was ist das eigentlich? Ein Abstimmungsmechanismus, den man mit Mitteln von Krieg und Zerstörung bei Andersgläubigen implementieren darf? Alle relevanten Überlegungen führen zu Zweifeln und zur Entmystifizierung der Hoffnungen, die wir eine Zeitlang auf Demokratie gesetzt haben. So abgegriffen der Hinweis sein mag: die Nazidiktatur trat 1933 parlamentarisch-mehrheitsdemokratisch ihr Regime an. Und mit Blick auf die Mensch-Natur-Beziehung: „natürlich“ können auch völlig mehrheitsdemokratisch die natürlichen Lebensbedingungen der Menschen global systematisch zerstört werden – derzeit spricht sogar einiges dafür. Von daher sei geschlossen mit Skepsis, nicht als Pessimismus, sondern als soliderem Optimismus, so wie das kritische und fragende abendländische Denken einmal angefangen hatte. Wir dürfen uns nur nichts vormachen: eine pragmatische Kulturwissenschaft kommt nicht umhin, im Sinne von Cassirers Kritik der Kultur sich einzumischen – parteilich und frei von der Illusion, um größerer Akzeptanz willen wertfrei agieren zu können. Das gilt auch für die pragmatische Kulturwissenschaft, als die sich die Ökonomik in Zukunft entwickeln könnte (sollte!).

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Literatur

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So war, wäre oder wird es irgendwie … Einige Anmerkungen über heutige Möglichkeiten kritischer Theorie der Gesellschaft

Reinhard Pfriem

Meine nähere und dann bald doch irgendwie recht freundschaftliche Verbindung mit Alexander Krafft ergab sich erst in den letzten Jahren, durch ein gemeinsames Projekt, das Brücken schlagen soll(te) zwischen Alexanders Soziologie und der Betriebswirtschaftslehre1, bei der ich vor zwanzig Jahren über die Beziehungen zwischen Ökonomie und Ökologie entgegen vorherigen Erwartungen und Planungen gelandet bin. Der Brückenschlag zwischen Ökonomie und Soziologie bestimmte das wissenschaftliche Leben von Alexander ja auch biographisch, und zwar im Kontext eines Ringens um das, was man weiterhin als kritische Theorie der Gesellschaft bezeichnen sollte. Weil ich mich trotz einer völlig anderen Biographie dieser Perspektive selbst weiter verpflichtet fühle, möchte ich dazu im Folgenden einige Anmerkungen machen. Die wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten der Generation, die seit langem mit dem Jahr 1968 verbunden wird, begannen seinerzeit mit einer ganz anderen Konstellation der theoretischen Landschaft als heute:  für viele von uns überragte die Strahlkraft eines besonderen Theoriegebäudes, nämlich des Marxschen, alle anderen – bei allen nicht geringfügigen Unterschieden, die sich aus der Weiterentwicklung des Marxismus nach Marx ergeben hatten, 1

Gemeint ist der gemeinsame Vorschlag unserer Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2005.

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 und dieses Theoriegebäude war getragen von einem recht umfassenden Versprechen, die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen erklären und gar Prognosen hinsichtlich künftiger Entwicklungen geben zu können. Zu dem zweiten Punkt scheinen mir in der Rückschau an dieser Stelle insbesondere zwei Dinge bedeutsam zu sein: 1. Der transdisziplinäre Charakter der Marxschen Theorie: Die Marxsche „Kritik der Politischen Ökonomie“ kritisierte mit ihrer Aufdeckung von ökonomischen Verhältnissen als Herrschaftsverhältnissen eine ökonomische Wissenschaft, die in ihrer als bürgerlich markierten Normalform zur Ideologie geworden sei. (Vgl. Priddat, B. P. 2005) Insofern die moderne (bürgerliche) Nationalökonomie als notwendig falsches Bewusstsein gesellschaftlicher Verhältnisse markiert wurde, die in der klassenmäßigen Herrschaft des Kapitals über die Arbeit bestehen, handelte es sich bei der Marxschen Theorie um eine kritische Gesellschafts- oder Sozialtheorie2 jenseits fachdisziplinärer Engführung. In heutigen Begriffen würde man insofern vielleicht von einem transdisziplinären Versuch sprechen, in der Rückschau erscheint das höchstens deshalb merkwürdig, weil seinerzeit die fachdisziplinäre Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems speziell im wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich noch nicht so fortgeschritten war, wie dies sich nach Marxens Tod dann recht rasch entwickelte. Tatsächlich war die Marxsche Theorie aber ja auch über die ausdrückliche Auseinandersetzung mit „fachlich“ verschiedenen Theoriesträngen entstanden.3

2

3

Über diese beiden Begriffe lässt sich trefflich streiten. Joas und Knöbl (2004, 11) geben dem Begriff Sozialtheorie den Vorzug mit Hinweis auf die Bindung des Begriffs Gesellschaft an nationalstaatlich verfasste und territorial klar umgrenzte Ordnungen. Im Wissen um deren globalisierungsbedingte Auflösung soll in diesem gleichwohl der eingeführtere Begriff der Gesellschaftstheorie Verwendung finden. Der heute für viele nicht mehr zitierfähige Lenin wies in seinem Text „Drei Quellen, drei Bestandteile des Marxismus“ auf die Genese der Marxschen Theorie aus der Kritik der britischen Politischen Ökonomie, der deutschen idealistischen Philosophie und der französischen politischren Theorie des Sozialismus hin.

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2. Der Einbau der Aufhebung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse in das Theoriegebäude: Die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie schöpfte aus der damit verbundenen gesellschaftlichen Analyse ein vermeintliches Wissen um den weiteren, quasi-gesetzmäßigen Gang der Dinge. Als Krisen- und Revolutionstheorie diagnostizierte sie die grundsätzliche Unfähigkeit der langfristigen Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise wie auch identifizierte sie die Akteure, an denen es wäre, die Veränderung in neue gesellschaftliche Verhältnisse zu tragen. Gerade diese Verbindung von analytischem Gehalt und Veränderungsperspektive machte natürlich über Jahre die Attraktivität des Theoriegebäudes aus. Die politische und wissenschaftliche Verabschiedung von der Marxschen Gesellschafts- und Revolutionstheorie besteht aus einer unendlichen Menge persönlicher und kollektiver Leidensgeschichten des 20. Jahrhunderts, angetrieben durch die Schrecken der stalinistischen Herrschaftsverhältnisse in der Sowjetunion und dann auch in anderen Ländern ebenso wie durch Veränderungen in den kapitalistisch gebliebenen Gesellschaften, die sich nicht zuletzt infolge der dortigen antikapitalistischen Bewegungen auf anderes zubewegten als ihren Zusammenbruch. Für diejenigen, die Ende der 70er/ Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Kritik von einer eher klassisch marxistischen auf eine (sozial)ökologische umstellten, war der problematische Gegenstand nicht länger die Vertiefung kapitalistischer Krisen, sondern die scheinbar ungebrochene Funktionsfähigkeit immer naturzerstörerischer kapitalistischer Verhältnisse und deren offenkundig erfolgreiche Übertragung auf den ganzen Erdball. Bekanntermaßen gab es und gibt es immer noch trotz wesentlicher Abkehr von dem alten Marxschen Theoriegebäude konzeptionelle Anläufe, in kritischer, teils auch ausdrücklich veränderungsorientierter Absicht, die mit im Kern digitalen Schablonen arbeiten:  alle Versuche, gleichsam unterhalb des theoretisch und praktisch revolutionären Kerns der Marxschen Theorie den Dualismus von Kapital und Arbeit(nehmern) für die Beschreibung von und den Umgang mit Gesellschaft aufrechtzuerhalten4, 4

Viele dieser Versuche waren in den vergangenen Jahrzehnten häufig mit – für den Verfasser dieses Textes unverständlichen – praktischem und wegen man-

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 alle Versuche, auf gehobenem sozialwissenschaftlichem Niveau Theoriekonfigurationen zu konstruieren, die über andere Dualismen die Lagermentalität Gut gegen Böse zu perpetuieren vermögen5,  praktisch-politisch vor allem in den vergangenen 80er Jahren die Versuche, die so bezeichneten neuen sozialen Bewegungen zum substituierenden Subjekt für die „verloren gegangene“ Arbeiterklasse auszuzeichnen,  international und weiterhin durch immer wieder vorgetragene Vorschläge, das, was mit Globalisierung markiert wird, als Prozess zu verstehen, der zur verschärften Herausbildung zweier Lager führt.6 Weil die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gegenüber der unendlichen Fülle des wirklichen gesellschaftlichen Geschehens konstitutiv darauf angewiesen sind, Reduktion von Komplexität zu betreiben7, ist die Neigung zu in der Folge problematischen Dualismen (man könnte auch sagen: zur Digitalisierung der eigenen Theorie) als Risiko grundsätzlich angelegt. Dieses Risiko, nein, präziser: die Vernachlässigung dieses Risikos scheint mir auch in der Luhmannschen Systemtheorie angelegt zu sein, die Alexander aus vielen natürlich auch guten Gründen so hoch schätzte. Der einerseits völlig richtige Blick auf die funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme unter den Bedingungen der Moderne transportiert die Gefahr, die Wahrnehmung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilsystemen zu sehr aus den Augen zu verlieren. Tendenzen, die bisweilen unter dem Stichwort „Ökonomisierung der Ge-

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6

7

gelnder kritischer Analyse auch theoretischem Kotau vor den Spitzen der gewerkschaftlichen Funktionärsapparate verbunden. Unabhängig von Habermas’ Intentionen gilt das in vielen Anwendungen der Kategorien von System und Lebenswelt. In dem aktuell wieder anschwellenden Diskurs über Wirtschafts- und Unternehmensethik gilt dies übrigens auch, nämlich in den nicht wenigen Schriften und Debatten, wo durch schlechte Allgemeinheit in die Ethik alles Gute hineingelegt wird und in die Ökonomie alles Schlechte. Der besonders verbreitete publizistische Versuch von Hardt und Negri (2002 stellt entsprechend dem Empire die Multitude gegenüber. Erich Gutenberg, der klassische Wegbereiter der deutschen Betriebswirtschaftslehre im 20. Jahrhundert, bezeichnete das als Übergang vom Erfahrungs- zum Erkenntnisobjekt.

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sellschaft“ bezeichnet werden und Verschiebungen im Machtgefüge der verschiedenen Teilsysteme zueinander annoncieren, können auf diese Weise nicht das für die eigene Analyse angemessene Gewicht gewinnen. Und direkt digital wird dieses Problem der Abschottung gegenüber anderem als Stilmittel der Luhmannschen Theoriebildung fortgesetzt, wenn den identifizierten Systemen unterschoben wird, vor allem über binäre Kodierung zu funktionieren. Das, was doch kontingent konkret-historisch geworden ist, gewinnt so eine eigentümliche über-historische Starre. Die Arbeit an Innovation, Veränderung und Wandel wird auf diese Weise unnötig erschwert.8 Wenn wir nicht nur als diffuse Sehnsucht, sondern durchaus auch im Kontext wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen die Vergänglichkeit nach vorn genauer in den Blick bekommen wollen, dann kann der Wert geschichtlicher Erinnerung9 und Rekonstruktion überhaupt nicht hoch genug geschätzt werden. Die Vorläufigkeit dessen, was ist, lässt sich aus vielen wirtschaftshistorischen Arbeiten teils aus durch Marx inspirierten Kontexten, teils auch anderen wie von Polanyi (1978, orig. 1944) immer wieder gut lernen. Vielleicht lässt sich das an einer der wichtigen Arbeiten von Albert Hirschman10 besonders gut zeigen. Hirschmans Analyse zeigt ja auf, dass die Entfaltung einer sehr besonderen Idee von rationalen Interessen11 konstitutiv ist für die Selbstbeschreibung der modernen kapitalistischen Gesellschaften. Gefühle und Leidenschaften sollen aus der einzelwirtschaftlichen Kalkulation ebenso außen vor bleiben wie der als selbstregulierender Mechanismus vorgestellten Interaktion der ökonomischen Partner zwischen Angebot und Nachfrage. Während zahlreiche Konzeptionen der ökonomischen Theorie weiterhin der Maxime folgen, mit dem Als-ob-Konstrukt des homo oeconomicus am besten sehen zu können, schärft die Rekonstruktion Hirschmans den Blick auf das unterdrückte 8

9

10 11

Es belegt die große und keineswegs selbstverständliche intellektuelle Redlichkeit von Alexander Krafft, wie er sich in unserem FUGO-Band (2004) gemeinsam mit Günter Ulrich (155-209) unter den Titel gebenden Begriffen „Kultur, Kontingenz, Innovation“ an der Luhmannschen Theorie kritisch abarbeitet. Zur Selbstvergewisserung von Geschichte und Erinnerung s. die Oldenburger Antrittsvorlesung des Philosophen Johann Kreuzer, Oldenburg 2004. Gemeint ist hier: Hirschman (1977). Einer sehr besonderen gesellschaftlichen Imagination, wie man terminologisch unter Verweis auf Castoriadis (1984), auch formulieren könnte.

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Andere. Und wenn sich dieser Blick hinreichend öffnet, kann gesehen werden: dieses Andere lässt sich gar nicht länger mit Erfolg unterdrücken. Es ist ja nichts weniger als der Kern des Forschungsprogramms, das Alexander mit uns zu entwickeln begonnen hatte, eben dahingehend genauer hinzusehen, dass sich die kulturellen Aufgeladenheiten und symbolökonomischen Gehalte dessen, was scheinbar so rational ist, für gute wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen nicht länger unterdrücken lassen. In der akademischen Betriebswirtschaftslehre hatte – unter dem Begriff der Organisationskultur – eine solche Diskussion vor zwei Jahrzehnten schon einmal angefangen, allerdings damals noch ganz fixiert auf die unternehmensinternen Beziehungen, und deshalb war sie als theoretisch ergiebige nach einer Reihe von Jahren versackt.12 Mit dem Programm einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung haben wir damit begonnen, einen neuen Anlauf zu nehmen: fortan interessiert nicht nur „1. die kulturelle Aufladung der betrieblichen Organisation, die sich durch alle relevanten Teilbereiche eines Unternehmens zieht“, sondern auch „2. die kulturelle Einbettung von Unternehmen in ihre gesellschaftlichen Umwelten, dabei insbesondere 3. die kulturelle Aufladung der Beziehungen zwischen Unternehmen und Konsumenten, die sich wiederum 4. in den, den Produkten anhaftenden Bedeutungen widerspiegelt.“ (Beschorner/ Fischer/ Pfriem/ Ulrich 2004, 11) Thomas Beschorner u. a. haben das in einem Beitrag unseres Bandes als „Unternehmenskultur II“ bezeichnet, einer meiner eigenen beiden Texte darin ist überschrieben: Unternehmensstrategien sind kulturelle Angebote an die Gesellschaft. In diesem Sinne würden wir heute, mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung unseres Bandes, die eben zitierte Definition unserer Einleitung vermutlich um der Präzisierung willen ergänzen: es geht keineswegs nur um die kulturelle Aufgeladenheiten der ökonomischen Interaktionen hinsichtlich der angebotenen und gekauften bzw. genutzten Produkte und Dienstleistungen. Die ökonomischen Akteure tragen vielmehr insgesamt dazu bei, welche sozialen Praktiken, kulturellen Muster und normativen 12

Keineswegs versackt ist der managementpraktische Diskurs über Organisationskultur: kaum ein Unternehmen, das nicht zur Hervorhebung seiner positiven Besonderheiten im Wettbewerb gerne von seiner Unternehmenskultur sprechen wollte.

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Orientierungen sich unter konkret-historischen Umständen durchsetzen. Ob es  insgesamt weiteren Vormarsch der Geiz-ist-geil-Mentalität gibt oder ein Erstarken des Bewusstseins von und für Qualität,  im Feld der Ernährung weitere Anteilssteigerungen von Fast Food und industriell hoch verarbeiteten Lebensmittel oder zunehmende Bereitschaft, die für gesunde und hochwertige Ernährung als wichtige Lebensgrundlage notwendigen kulturellen Kompetenzen (wieder) zu gewinnen,  in der Freizeit eher weiteres Anwachsen passiv-rezipierender Tätigkeiten gibt oder ein solches von Sport, Reisen, kreativen und kulturellen Eigenaktivitäten,  im Feld der Mobilität in Zukunft weiter geht mit der Fetischisierung von Automobilen mit hohen Motorstärken und teurem Design oder neue Wege zur Integration verschiedener Verkehrsträger beschritten werden,  im Bereich von Bildung und Forschung dahin geht, dass kulturelle und geschichtliche Bildung erneut und erst recht zum wichtigen Element gesellschaftlicher Fähigkeitsentwicklung wird oder für eher hinderlich deklariert wird für Exzellenz in naturwissenschaftlich-technischen Wettbewerben,  gelingt, Zeit wieder mehr mit Muße zu verbinden denn als Faktor zu betrachten, den es einzusparen gilt,  zu einer Wiederaufwertung räumlicher Nähe und Besonderheiten kommt oder Globalisierung tatsächlich bedeutet, in Beruf und Freizeit dem Jet-setting zu frönen und alle Besonderheiten zu nivellieren, all dies und vieles mehr markiert höchst unterschiedliche kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten unserer Gesellschaften. Deswegen war und ist immer noch die wirtschaftswissenschaftliche Vereinseitigung des Denkens in Wirtschaftsordnungen13 so fatal und längst überfällig, „Kapitalis-

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Insbesondere in Deutschland über Jahrzehnte begünstigt durch den Kalten Krieg.

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mus im Plural“14 zu denken, nämlich in konkret-historischen Wirtschaftskulturen. Was folgt daraus für die heutigen Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft?15 Zum einen, dass die Überwindung theoretischer Dualismen und Digitalisierungen, für die vorher argumentiert worden ist, nichts daran ändert, in konkret-historischen Situationen oder Fragen immer wieder parteilich eines gegen anders stellen zu müssen – aus meinen gerade aufgeführten Formulierungen zu unterschiedlichen kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten geht das mehr als deutlich hervor. Zum anderen, dass diese Parteilichkeit sich schon in der wissenschaftlichen Analyse und erst recht dann in der gesellschaftlichen Praxis keine weiteren Lagermentalitäten leisten darf und sich trotzdem, ja sogar erst recht versuchen muss, Geltung zu verschaffen. Das geht in der Praxis nur über ständig neue Koalitionsbildungen und Bündnisse, in der theoretischen Analyse durch möglichst offenes und unvoreingenommenes Schauen auf je spezifische Konstellationen. Das ist alles andere als ein Plädoyer für theoretische Beliebigkeit. Der kulturwissenschaftliche Ansatz einer ökonomischen Theorie und insbesondere einer Theorie der Unternehmung verkörpert die Chance, Systemtheorien und Handlungstheorien wieder produktiver zusammenbringen zu können, als dies im 20. Jahrhundert über weite Strecken der Fall war. Noch immer fallen ja Theorien mit Ansprüchen von hohem Erklärungsgehalt bei gleichzeitig ausdrücklichem Verzicht auf normative Empfehlungen einerseits und solche Disziplinen wie die Betriebswirtschaftslehre, deren vorherrschende Strömungen blinder Machermentalität gleichsam wissenschaftliche Weihen verleihen, in erschreckendem Maße auseinander. Nach dem Niedergang der marxistischen Theorie scheinen normativ orientierte Ansätze erst recht in Verruf geraten zu sein und scheinbar wertfreie erst recht modern, obwohl wir doch über die Weiterentwicklung konstruktivistischer Überlegungen längst gelernt haben, die 14 15

So der Titel von Müller (2003). Das „k“ sei hier bewusst klein geschrieben, um die kontroverse Diskussion um das große K (wozu Alexander einen sehr kritischen Standpunkt hatte) an dieser Stelle nicht zu führen. Eher pragmatisch ist hier nur markiert (a) die kritische Distanz des wissenschaftlichen Beobachters und (b) das beibehaltene Grundverständnis der Einordnung des eigenen wissenschaftlichen Treibens in Bemühungen um die Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse.

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Subjektivität, also Parteilichkeit jedweder Beobachtung anzuerkennen und schon von daher nicht mehr zurück können zu Wertfreiheitsmaximen im Stile Max Webers. Durchaus kompatibel mit Giddens’ Idee der rekursiven Verkopplung von Handelns und Struktur16 geht es dem kulturwissenschaftlichen Ansatz in Ökonomie und Unternehmenstheorie darum, beide möglichen Vereinseitigungen zu vermeiden. Und wo die Theorie des homo oeconomicus sich durch zu enge Festlegung auf das Menschenbild des kalkulatorisch-rationalen Menschen Erkenntnisse abschneidet und die Theorie des homo sociologicus zu sehr die Seite der kulturellen Geprägtheiten von Akteuren in ihrem Handeln betont, akzentuiert der kulturwissenschaftliche Ansatz das theoretische Erfordernis, in der Analyse zwischen Struktur und Handeln ständig hin und her zu gehen und vor der Vielfalt menschlicher Handlungsdimensionen wie Geprägtheiten nicht zu früh die Augen zu verschließen. Man kann nicht ständig alles sehen, der wissenschaftliche Blick muss aber flexibel genug eingestellt werden, um echte Erkenntnisgewinnung zu gewährleisten. Dass Unternehmer nicht nur Zwangsvollstrecker sind für kapitalistische Sachlogiken, sondern mögliche Strategen in eine kontingente Zukunft hinein, habe ich irgendwann gelernt und bin darüber mit Freude Betriebswirt geworden. Dass das Aufeinandertreffen von Soziologie und Betriebswirtschaftlehre ein intellektuell und emotional hoch anregendes Unternehmen ist, habe ich in den letzten Jahren nicht zuletzt von Alexander gelernt.

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Wobei Giddens bemerkenswerterweise zur Entfaltung dieser Argumentationsfigur bei einem Satz von Karl Marx seinen ausdrücklichen Anfang wählte.

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Literatur

Beschorner, Th./ Fischer, D./ Pfriem, R./ Ulrich, G. (2004): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung. Zur Heranführung, in: FUGO (Hrsg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg, 11-69 Castoriadis, C. (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/ M. Hardt, M./ Negri, A. (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/ M. Hirschman, A. (1977): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/ M. Joas, H./ Knöbl, W. (2004): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt/M. Krafft, A./ Ulrich, G. (2004): Kultur, Kontingenz, Innovation – Der Beitrag der Systemtheorie zur kulturwissenschaftlichen Wende in der Ökonomie, in: FUGO (Hrsg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg, 155-211 Müller, H.-P. (2003): Kapitalismus im Plural. Für uns aber bitte auf eropäisch, in: Bohrer, K.H./ Seel, W. (Hrsg.): Kapitalismus oder Barbarei?, Sonderheft Merkur, Stuttgart Polanyi, K. (1978, orig. 1944): The Great Transformation, Frankfurt/ M. Priddat, B.P. (2005): „Reiche Individualität“ – Karl Marx’ Kommunismus als Konzeption der „freien Zeit für freie Entwicklung“, in: Pies, I./ Leschke, M. (Hrsg.): Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen

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Teil II: Ethische Konzeptionen

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Es darf gewollt werden Plädoyer für eine Renaissance der Tugendethik

Christian Lautermann/ Reinhard Pfriem

„Nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft.“ Heinrich von Kleist

1 Begriffliche Vorklärungen Der Frage, ob denn die Governanceethik (auch) als Tugendethik verstanden werden könne oder solle, ist die Klärung voranzustellen, was wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Begriff der Tugend machen sollen: endgültig als altbacken und überholt über Bord werfen oder in bestimmter Perspektive neu bedenken? Die erste Vorklärung hat daran zu erinnern, dass über zwei Jahrtausende menschlichen Denkens die philosophische Konstruktion der Einheit von Tugend und Glückseligkeit galt. Bei Aristoteles hieß es: „Das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele gemäß der ihr wesentlichen Tugend.“1 Aristoteles wird in marktwirtschafts- und kapitalismuskritischen Kontexten immer wieder wegen seiner fundamentalen Unterscheidung zwischen Ökonomik und Chrematistik zitiert (und geschätzt) und damit wegen seiner Weitsicht, was das Auseinandertreten zwischen Gemeinwohl und egoistischen Motiven angeht. Das oberste dem Menschen erreichbare Gut(e) wurde aber dennoch als ein Ganzes gedacht. Auch Spinoza wendet sich noch ausdrücklich gegen die Vorstellung, gut sein und glücklich sein auseinander treten zu lassen: „Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, son1

Aristoteles 1969, 1098a, 16 ff. Vgl. auch Höffe 1998.

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dern die Tugend selbst.“2 Kant radikalisiert diese Einheitsidee sogar noch einmal: „In dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unseren Willen wirklich zu machenden, Gute, werden Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht.“3 Bis einschließlich der Aufklärungsphilosophie und ihrer romantischen Kritik bzw. Ergänzung war diese Einheitsidee das wesentliche weltanschauliche Fundament abendländischer Gesellschaften. Den ersten Anschein historischer Kontingenz vermochten erst Überlegungen zur Dialektik der Aufklärung4 und postmoderne Infragestellungen5 zu erwecken. Historisch kontingent ist auf Seite der Tugend natürlich auch das, was der Sache nach darunter verstanden wird. Greift man etwa auf die klassische Lehre der Kardinaltugenden zurück, dann erweisen sich Tapferkeit, Besonnenheit, Klugheit und Gerechtigkeit als einer je konkret-historisch stimmigen Interpretation bedürftig und sind in ihrem wesentlichen Gehalt schon für den bisherigen Gang der abendländischen Geschichte bemerkenswerten Veränderungen unterworfen, insbesondere die Tapferkeit. 6 Aus der Idee der Einheit von Tugend und Glückseligkeit ergibt sich übrigens keineswegs zwangsläufig, inwiefern der potentiell tugendhafte Mensch selbst noch Anstrengungen zu unternehmen hat und welcher Art diese sind. Allerdings ist schon von Sokrates überliefert, dass er darum wusste, dass moralische Kompetenz nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend entsteht, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln: „Die Tugend hat der Schüler in sich selbst, und er muss sie auch selbst hervorbringen.“7 Die Entwicklung der modernen Gesellschaften hat die philosophische Konstruktion der Einheit von Tugend und Glückseligkeit inzwischen widerlegt. Kapitalistische Marktwirtschaften funktionieren so, dass Glück jedenfalls in seiner materiellen Dimension zuweilen gerade durch Verzicht auf Tugend begünstigt wird. Die Frage lautet, wie unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen Tugend wieder erfolgreich in die Welt gebracht werden kann. Dafür reicht sicher nicht die bloße Klage 2 3 4 5 6 7

Spinoza 1977, V. Teil, Lehrsatz 42. Kant 1974, 241 f. Horkheimer/ Adorno 1969. Lyotard 1987, vgl. A. Welsch 198 und 1996. Vgl. Höffe 1993, 155. Pieper 1991, 117.

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über den „Verlust der Tugend“8. Und schon gar nicht hilft die affirmative Beschwörung alter oder gegebener Werte9 – diese ginge nicht nur an den real existierenden Pluralitäten heutiger Gesellschaften völlig vorbei, Werte als solche stehen auch noch nicht in der Pflicht, sich in der schmutzigen wirklichen Welt zu behaupten. Unser Verständnis von Tugend und Tugendhaftigkeit zielt demgegenüber gerade darauf, ethischmoralische Sauberkeit und schmutzige wirkliche Welt zusammenzubringen. Wir kommen weiter, wenn wir die Argumentation präzisieren, in welcher Negativabgrenzung eine Renaissance von Tugend(ethik) sowohl erwünscht wie auch notwendig ist (jedenfalls in dem Rahmen, in dem darüber Konsens besteht, dass moralische Werte im modernen Wirtschaftsleben systematisch zu kurz kommen). Diese Negativabgrenzung, die uns Tugendethik plötzlich ganz modern erscheinen lässt, ergibt sich gegenüber der Pflichtenethik. Rippe und Schaber verweisen in einem Sammelband zur Tugendethik auf die These der Cambridger Philosophin Elizabeth Anscombe von bereits 1958, dass die Begriffe des moralischen Sollens und der moralischen Pflicht auf den Index gesetzt werden sollten.10 Anscombe hatte dies als Gesetzeskonzeption der Ethik bezeichnet11 und damit genau das markiert, was wir als philosophische Einheitskonstruktion kennzeichnen. Eine solche deontologische Konstruktion der Ethik lässt sich allein im Rahmen des Vollzugs einer (göttlich oder wie auch immer) gegebenen Ordnung theoretisch legitimieren, freilich nicht im Horizont prinzipieller Zukunftsoffenheit und Kontingenz menschlicher Geschichte. Im Horizont offener Zukünfte zerbröselt die Überzeugungskraft aller Reden über Pflichten. Eben dies allerdings führt zur Renaissance von Tugend(ethik) und dazu, das menschliche Individuum mit seinen Handlungsoptionen neu in Würde zu setzen: „Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.“12 Der Begriff der Verantwortung richtet sich im Gegensatz zu jenem der 8 9

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MacIntyre 1987. Neben Populärfassungen wie Wickert 1994 sei darauf hingewiesen, dass hier die zentrale Schwäche des Kommunitarismus liegt, zu dessen Diskussion s. Zahlmann 1992. Rippe/ Schaber 1998, 7. Vgl. auch die deutsche Fassung Anscombe 1974. Bauman 1995, 87.

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Pflicht mit ganzem Pathos auf menschliche Freiheit in dem Sinne, dass die konkreten Inhalte ethisch rechtfertigbaren Handelns eben nicht vorgegeben sind, sondern immer wieder neu gesucht und gefunden werden müssen. Die aktuell erneut heiße Debatte über biologische Determinierungen menschlicher Freiheit13 vermag unsere Selbstzuschreibungen nicht aus der Welt zu schaffen: dass wir so oder anders entscheiden und handeln können, ob und gegenüber wem wir Verantwortung tragen wollen. Wir können also zum einen formulieren, dass im 21. Jahrhundert keine Sollens- = Pflichtenethik mehr möglich ist, wohingegen eine Wollens- = Tugendethik nötig ist, wenn überhaupt Ethik zur Geltung kommen können soll. Inwiefern sie auch möglich ist, davon wird im Folgenden u. a. mit empirischem Bezug noch die Rede sein. Und aus demselben Grunde, nämlich der prinzipiellen Zukunftsoffenheit = Kontingenz menschlicher Geschichte nach vorn, dürfen wir die inhaltlichen Bestimmungen dessen, was als ethisch ausgezeichnet werden soll, nicht länger voraussetzen und damit als black box behandeln, sondern müssen darüber reden, wenn wir über Ethik reden wollen. Höffe etwa relativiert den klassischen Inhalt der Kardinaltugend Tapferkeit für die heutige Zeit und plädiert für die Präzisierung oder Korrektur als ökologische Gelassenheit.14

2 Das kulturwissenschaftliche Umstellen von Pflichten- auf Tugendethik Dass gerade für unternehmenstheoretische Forschungen eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise neue Perspektiven zu öffnen vermag, haben wir von der Oldenburger Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) im letzten Jahr in einem umfangreichen Sammelband begründet und erläutert.15 Wir selbst neigen dazu, unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Fruchtbarkeit insbesondere auch für empirische Forschungen vorrangig drei Aspekte dieser kultur-

13 14 15

Vgl. die Beiträge in (Hrsg.) Geyer 2004. Höffe 1993, 155 ff. Hrsg. Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) 2004.

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wissenschaftlichen Herangehensweise auszuzeichnen, nämlich die Einsicht in:  die kulturelle Aufgeladenheit aller ökonomischen Aktivitäten,  die Diversität, Pluralität, Heterogenität dieser Aufgeladenheiten, sowie  dass eben aus dieser Diversität, Pluralität, Heterogenität Innovation und Wandel resultiert. Die kulturelle Aufgeladenheit der ökonomischen Aktivitäten verweist auf Sinnbezüge, die von ökonomischen Akteuren ihren Handlungen gegeben werden. So gedacht, könnten das Sinnzuschreibungen sein, die von Käuferinnen oder Käufern eines Produktes oder einer Dienstleistung mit dem Erwerb dieses Produktes oder dieser Dienstleistung verbunden werden. Als Beispiele seien genannt: viel Fleisch und Wurst für einen einfachen geselligen Grillabend, oder erlesene Weine und Feinkost für einen Abend, mit dem anderen der eigene kultivierte Lebensstil vorgeführt werden soll, ein Renault Kangoo, weil man zwar ein Auto braucht, für sich selbst oder andere aber vor allem dabei auf die Nützlichkeit konzentrieren will, oder ein Geländewagen, welcher Marke auch immer, in der Hoffnung, sich beim Autofahren damit ein protzigeres Lebensgefühl geben zu können.16 Solche Sinnzuschreibungen finden ebenso statt auf der anderen Seite der ökonomischen Interaktion, bei den Anbietern. Die Geschäftsführung eines Fernsehsenders, die vor allem auf Produktionen setzt, wo Menschen die intimsten Verletzungen und Probleme an die allgemeine Öffentlichkeit tragen, spekuliert auf das Geschäft mit einem dafür wachsenden Bedarf und findet dessen Befriedigung in dieser Form in Ordnung. Die Leitung eines auf Kultur spezialisierten Rundfunksenders mag von dem Willen getragen sein, Positives zu kultureller Bildung der Menschen beizutragen.17 Wie gehen wir vernünftig um mit der Beziehung von Kultur und Sinn? In bemerkenswerter Weise hat sich damit in den letzten Jahren Kogge auseinandergesetzt. Er startet die diesbezügliche Überlegung mit 16

17

Damit machen wir natürlich deutlich, dass erst recht die Sinnzuschreibungen der Beobachter werthaltig sind. Zur Symbolökonomie und den Folgen für das Strategische Management ist gerade eine ausgezeichnete an meinem Lehrstuhl verfasste Dissertation erschienen: Fischer 2005.

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dem schlichten Befund: „Wenn wir Kulturen als Sinnzusammenhänge begreifen wollen, darf der Sinnbegriff nicht durch das ‚Kulturelle‘ erklärt werden: Eine solche kurzschlüssige Tautologie lehrt gar nichts.“18 Im Folgenden kritisiert Kogge zwei mögliche Bestimmungen von Sinn: zum einen solche über die Intentionen der Handelnden, zum anderen solche, die nach seinem Dafürhalten zu einseitig materialistisch Sinn in Sinnlichkeit zu verankern suchen. Kogges Begriff von Sinn fokussiert auf die von ihm so bezeichneten sozialen Regularitäten: „Ort und Träger von Sinn sind also nicht in erster Linie materielle Konfigurationen, sondern Weisen der Orientierung in Lebensformen, die sich auf die Normalität von Zuständen, auf die Bekanntheit von Gebrauchsweisen und auf übliche Formen des Verlaufs stützen, kurz: auf ‚Konventionen‘.“19 Um eine zu einseitig materialistische Verankerung von Sinn in Sinnlichkeit abzulehnen, muss man kein radikaler Konstruktivist sein, wie Kogge zutreffend feststellt. Dass man nicht sieht, was man nicht sieht, zeigt sich etwa weiterhin an der nach wie vor großen Zahl von Unternehmen, für die die ökologische Herausforderung keine ist und die mit Nachhaltigkeit im weiteren Sinne auch nichts am Hut haben. Die – individuellen oder auch kollektiven bzw. organisationalen – Sinnbestimmungen kommen zustande über spezifische Selektionen, was gesehen wird und was nicht. Und diese Selektionen sind sozial, historisch, kulturell konfiguriert, nicht sinnlich bestimmt. Schwieriger wird es bei der von Kogge schnell und als erstes vorgenommenen Negativabgrenzung zu Handlungsabsichten (er verweist etwa auf das Zustandekommen eines neuen Musikstils, der darüber nicht erklärt werden könne). Abgesehen von der Fragwürdigkeit des Beispiels20: Selbstverortungen, Orientierungsbemühungen von Akteuren ließen sich im Weiteren ja auch über Intentionalität erklären. Etwa: ich will mit diesem oder jenem Ess- oder Trink- oder Drogenverhalten zu dieser oder jener Szene gehören. Gewichtiger dafür, in der Intentionalität von (individuellen oder kollektiven) Akteuren nicht den Ort und Träger von Sinn zu identifizieren, scheint uns etwas Anderes zu sein. 18 19 20

Kogge 2002, 209. Kogge 2002, 216. Musiker wie Bill Haley, Elvis Presley, die Beatles oder Rolling Stones wollten schon recht intentional etwas Neues kreieren.

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Der Sinn,  über den ein bestimmter Musikstil irgendwann eingeordnet werden mag,  der der unter gegebenen (sich verändernden!) historischen Bedingungen der Nationalgeschichte eines Landes gegeben wird,  von dem Vorstellungen von gesellschaftlich Wünschenswertem oder gesellschaftlichem Fortschritt getragen sind,  auch: der Sinn, unter den akademische Ausbildung an Universitäten vor allem gestellt wird, all dieser Sinn, der mit vielen weiteren Beispielen illustriert werden könnte, ist schon deshalb nicht vernünftig über Intentionalität herzuleiten, weil es bei den genannten Fällen und allen weiteren, die angeführt werden könnten, im Ergebnis um ein komplexes soziokulturelles Kräfteparallelogramm geht, dessen Gestalt gar nicht vorhergesehen werden kann, in unseren Termini hier: in dem keine Intention völlig aufgeht. Die von Kogge in dieser Passage gebrauchten Begriffe der Normalität, Bekanntheit und Konventionen liegen im Zweifel zu nah an Vorstellungen homogener Wertbildungsprozesse. Das genannte Kräfteparallelogramm ist deshalb alles andere als die Summe der eingegebenen Intentionen (auch nicht im weiteren Sinne von Selbstverortungen!), weil diese Intentionen im praktischen Geflecht rekursiver Verschränkungen sich permanent modifizieren. Die prinzipienfestesten, dabei aber unflexiblen Menschen sind heute am ärmsten dran, weil sie die Entwicklungschancen ignorieren, die gerade durch vernünftige Modifikationen eigenen Handelns infolge permanenter sozialer Interaktionen gegeben wären. Und wer seine Intentionen stur gegen die Wirklichkeit am stärksten stabil hält, wird ihnen am wenigsten nahe kommen. Diversität, Pluralität, vor allem auch Heterogenität (jedenfalls nicht: Homogenität) der Sinnzuschreibungen und Selbstverortungen gehören zu den grundlegenden Wesensmerkmalen heutiger Gesellschaften, jedenfalls in den frühindustrialisierten Ländern. Das von uns gerade genannte Kräfteparallelogramm lässt sich mit einem Schlüsselbegriff von Castoriadis als gesellschaftliche imaginäre Bedeutung charakterisieren, die, wir wiederholen: nicht als Summe der in den Prozess eingegangen Akteursintentionen (oder eines Teils davon) verstanden werden kann, sondern als durchaus emergentes Phänomen verstanden werden muss. Wir zitieren

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immer wieder gerne, dass Castoriadis diese Rolle, gesellschaftliche imaginäre Bedeutung zu sein, nicht zuletzt auch der Ökonomie als solcher zugeschrieben hat (gemeint ist damit natürlich die Ökonomik als Wissenschaft mit bestimmten Bildern von ihrem Gegenstand Ökonomie). Für Castoriadis sind „die ‚Ökonomie‘ und das ‚Ökonomische‘ zentrale gesellschaftliche imaginäre Bedeutungen, die sich nicht auf ‚etwas‘ beziehen, sondern die umgekehrt den Ausgangspunkt darstellen, von dem aus zahllose Dinge in der Gesellschaft als ‚ökonomisch‘ vorgestellt, reflektiert, behandelt beziehungsweise zu ‚ökonomischen‘ gemacht werden.“21 Die auch in Buchform von Huntington (1996) verbreitete Formel vom „Clash of Civilizations“ hat in Zusammenhang mit dem 11. September 2001 und dem Irak-Krieg den Gedanken in der deutschen Debatte eher negativ besetzt, insofern der deutsche Buchtitel „Kampf der Kulturen“ eine ziemliche Fehlübersetzung darstellt. Wenn gemäß dem deutschen Sprachgebrauch nicht von Kampf gesprochen wird, sondern von Wettbewerb, macht es Sinn (als eigene gesellschaftlich imaginäre Bedeutung), sich heutige Gesellschaft als Ort oder als Raum vorzustellen, wo die verschiedensten kulturellen und normativen Orientierungen im Wettbewerb stehen. Absichtsvoll oder nicht ringen sie in diesem Wettbewerb um Hegemonie: indem sie sich entfalten, versuchen sie zwangsläufig stärker zu werden und andere (die sich auch als konkurrierende Sinnangebote verstehen lassen) zurückzudrängen. Das lässt sich übrigens sehr gut anschließen an die Überlegungen zum Ringen um Hegemonie, die der italienische Kommunist Antonio Gramsci (damals allerdings noch bezogen auf den Dualismus von Kapital und Arbeiterklasse) schon vor dem Zweiten Weltkrieg angestellt hat.22 Aus den Verschiebungen, die sich während des auf Hegemonie zielenden Ringens verschiedener kultureller und normativer Orientierungen ergeben, resultiert gesellschaftlicher Wandel. Und die Modifikationen intentionaler Handlungen von individuellen oder (etwa als Organisationen) kollektiven Akteuren lassen sich als Versuche begreifen, die Dinge anders anzupacken, als Innovationen. Solche Innovationen spannen sich bei Unternehmen als ökonomischen Akteuren der Anbieterseite auf von neuen Produktionsverfahren über Produkte, Dienstleistungen, die syste21 22

Castoriadis 1984, 592. S. die deutsche Fassung Gramsci 1967.

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mische Ebene, die Organisation bis zu institutionellen Veränderungen. Komprimierter lassen sich für die verschiedenen Innovationstypen insofern eine technisch-physische, eine systemische und eine kulturelle Sphäre unterscheiden.23 Damit können wir nun einen wichtigen Bogen schlagen zu den ethischen Konsequenzen. Vor allem ergeben sich zwei: 1. Die Pluralität, Diversität, Heterogenität kultureller und normativer Vorstellungen ist insofern ethisch absolut relevant, weil auf diese Weise darüber aufgeklärt wird, dass es auf ethisch-moralischem Felde keinen antagonistischen Kampf von Gut gegen Böse gibt, sondern ein breit ausgefächertes Spektrum solcher Vorstellungen, die je konkret unter ethischen Gesichtspunkten geprüft werden müssen und wo das Ergebnis dieser Prüfung mindestens nicht vorab schon feststehen kann. 2. Jeder individuelle und jeder kollektive Akteur steht in direkter Verantwortung, in Richtung welcher gesellschaftlich imaginärer Bedeutungen er agieren will, welche er sich zueigen machen und unterstützen, gegen welche er opponieren will. Auch für das Wirtschaftsleben und für die Beziehung zwischen Wirtschaft und Ethik gilt, dass der Verweis auf Sachzwänge keine angemessene Legitimation für ethisch zweifelhaftes oder ablehnungsbedürftiges Handeln darstellt. Dieser zweite Gedanke ist vielleicht noch etwas zu präzisieren. Spontan könnten ja viele Gegenbeispiele angeführt werden, etwa das „Erfordernis“ von Entlassungen, wenn im Wettbewerb die Auftragslage dramatisch zurück gegangen ist und das nach gerne so bezeichneten beschäftigungspolitischen Anpassungen verlangt. Natürlich gibt es in der Ökonomie das Phänomen tragischer Situationen im klassischen Sinne, wo nur zwischen Entscheidungen gewählt werden kann, die allesamt unbefriedigend sind. Wie unterschiedliche unternehmenspolitische Umgangsweisen lehren, können aber auch solche direkt erforderlichen Auseinanderset23

Paech/ Pfriem 2004, 62. Es handelt sich hier um die Basisstudie 1 im Rahmen der Ergebnisse des vom BMBF geförderten Projektes summer – sustainable markets emerge (www.summer-net.de), das von Frühjahr 2001 bis Frühjahr 2004 an meinem Lehrstuhl durchgeführt wurde. Der Endbericht ist parallel zu diesem Buch im selben Verlag erschienen (Fichter/ Paech/ Pfriem 2005).

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zungen mit Auftragsrückgängen beschäftigungspolitisch sehr unterschiedlich bearbeitet werden. Und hinzu kommt ein gleichsam ökonomisches Argument gegen die nach wie vor in Unternehmer- und Wirtschaftskreisen verbreitete Sachzwangideologie: konnte man für die Fabrikgesellschaft des 20. Jahrhunderts insbesondere bis etwa zu dessen 70er Jahren und damit dominierender Massenproduktion sowie entsprechender Weiterentwicklung von Fertigungs- und Produkttechnologien noch eher der gesellschaftlich imaginären Bedeutung verfallen, erfolgreiches Wirtschaften sei ein durch technischen Fortschritt exogen gesteuerter Prozess, so hat der verkoppelt mit den elektronischen Informationstechnologien gegenwärtig stattfindende Strukturwandel eine Qualität erreicht, die jede Prognose über die wirtschaftlich-technische Struktur einer frühindustrialisierten Gesellschaft für Mitte des 21. Jahrhunderts zur Scharlatanerie werden lässt. Bestandteil dieses wirtschaftlichen Strukturwandels ist übrigens ein neuer Schub für Unternehmensgründungen, der wissenschaftlich begleitet wird von einer Schumpeter-Renaissance24, einer Publikationswelle zum Thema Entrepreneurship25 sowie der Schaffung vieler betriebswirtschaftlichen Professorenstellen dazu.26 Die Verantwortung, die in ethischer Hinsicht bezüglich der eigenen Rolle bei der Emergenz gesellschaftlich imaginärer Bedeutungen gestellt ist, lässt sich in keiner Weise pflichtenethisch konstruieren. Pflichten gehen vor allem auf Bekanntes zurück. Hier haben wir es lebensunternehmerisch27 wie speziell aus der Warte von Unternehmensorganisationen mit dem Horizont einer prinzipiell offenen Zukunft zu tun. Allenfalls lassen sich unterschiedliche, also in ihrer Qualität heterogene Entwicklungspfade in den Blick nehmen, ohne Gewissheiten, welcher sich durchsetzt. So sieht etwa Nefiodow (1997), der sich die Theorie der langen Wellen von Kondratieff zueigen gemacht hat und einschließlich der aktuellen Informationstechnologie seit Beginn der Industrialisierung fünf

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26

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Hauptquelle dazu Schumpeter 1997 (1. A. 1911). Exemplarisch dazu Faltin u. a. 1998 sowie Aulinger 2004, vgl. auch das dritte Kapitel in Pfriem 2004. Just in diesen Monaten startet auch an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg eine solche. Zum Begriff des Lebensunternehmertums Günther/ Pfriem 1999, 118 ff.

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solcher langen Wellen registriert, fünf unterschiedliche Kandidaten für den Kondratieff sechs.28 Ob mit Bezug auf diese Theorie oder nicht, für die Führungen der Unternehmensorganisationen kommt es jedenfalls mehr denn je darauf an, das Unerwartete zu managen.29 Strategisches Management als Umgang mit Ungewissheit (soziologisch und insbesondere philosophisch: Kontingenz) besteht demgemäß vor allem in Suchprozessen. Jeder Blick in diesen Suchprozessen ist selektiv, die Augen können nicht für alles geöffnet werden. Die notwendigen blinden Flecken lassen sich freilich mehr oder weniger intelligent organisieren. So sehr die Akteure dabei neurobiologisch geleitet sein mögen30, treffen sie Entscheidungen, die sie auch anders treffen könnten, und die Situationen, aus denen sie schöpfen, sind unerschöpflich.31 Daraus folgt: Kontingenz. Die von uns vertretene kulturwissenschaftliche Herangehensweise setzt sich, das sei zur Vermeidung von Missverständnissen noch einmal akzentuiert, also deutlich ab von jenem normengeleiteten soziologischen Handlungsmodell, das die Akteure vor allem durch kulturelle Normen determiniert sieht.32 Vielmehr haben wir es mit Selbstschöpfungsprozessen zu tun, die nicht nur in Situationen stattfinden, sondern auch durch längerfristige kulturelle Einbettungen geprägt werden. Im Anschluss an Giddens’ Figur der rekursiven Beziehung von Handeln und Struktur lässt sich sprechen von einer Rekursivität zwischen dem Sinn suchenden Generieren von Werten und dann auch Normen auf der einen Seite und auf der anderen Seite bestehenden Werten und Normen, die das Handeln beeinflussen, und zwar wie bei Giddens nicht nur in restringierender, sondern insbesondere auch in ermöglichender Weise.

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Das ist natürlich nur eine Möglichkeit. Man kann die vermutlichen Kandidaten selbstverständlich auch anders definieren. So der Buchtitel von Weick/ Sutcliffe 2001. Zum Umgang von Unternehmen mit prinzipiell ungewisser Zukunft und zu dessen Notwendigkeit vgl. auch Steinmüller/ Steinmüller 2003 sowie Burmeister u. a. 2004. Der oben schon angeführte derzeit sehr modische Strang von Hirnforschung blendet die unhintergehbare Gegebenheit sozialer Interaktionen in bemerkenswertem Ausmaß aus. Philosophisch gründlich dazu Schmitz 2005. Für diese Klarstellung steht in den vergangenen Jahren besonders gründlich Reckwitz 2000.

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Erneut zu den ethischen Konsequenzen. Aus all dem ergibt sich, dass es vernünftiger ist, von real existierenden konkreten Moralen zu reden bzw. diese zu untersuchen als von abstrakten Moralprinzipien, die zudem die Suggestion mitlaufen lassen, als ob um das Gute gewusst würde. Noch einmal anknüpfend an die von Höffe zitierten klassischen Kardinaltugenden folgt für uns statt einer Neudefinition eher ein prinzipielles Fragezeichen: ob man die Tapferkeit nun als solche neu definiert oder durch ökologische Gelassenheit ersetzt33, Kardinaltugenden in dieser Form liegen in der Abstraktionsstufe zu hoch. Klugheit ist nicht deduktiv bestimm- oder bestätigbar, sondern allein über die konkrete Analyse der konkreten Situation. Genau in dieser Richtung heißt es bei Müller: „Im Unterschied zu solchen „konstruktiven“ Moraltheorien versucht die Tugendethik in erster Linie, tatsächlich gebräuchliche moralische Begriffe und Begründungsmuster nachzuzeichnen, dem Verstehen zu erschließen und in den Zusammenhang des menschlichen Lebens einzuordnen. Und selbst wo sie auf strittige Fragen antwortet oder überkommene Vorstellungen kritisiert, geht sie nicht von einer vorgefaßten Konzeption des Vernünftigen, Guten oder Richtigen aus, sondern von einem vertieften Verständnis der Denk- und Motivationsmuster, genauer: der „Rationalitätsprofile“, die den Kern der faktischen Moral ausmachen.“34

Wir formulieren also lieber: Die Tugendhaftigkeit im neuen modernen Sinne besteht in der Ernsthaftigkeit, mit der die individuellen und kollektiven Akteure darum ringen, den an sie herangetragenen Herausforderungen gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund von Zukunftsoffenheit, Kontingenz und damit dem zwangsläufigen Geschehen von Innovation lassen sich individuelle und organisationale Tugenden dergestalt typologisieren, dass damit die Abwendung von der bloßen Pflichtenethik noch einmal unterstrichen wird, nämlich in:  Tugend der (eher passiven) Anpassung,  Tugend des loyalen Engagements, und  Tugend des (potentiell kritischen) Innovationsgeistes.

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So der Vorschlag in Höffe 1993. Müller 1998, 32.

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Auch in der Anwendung auf Unternehmensorganisationen gilt, dass alle drei Typen ihren Wert haben mögen. So kann es für eine Unternehmung durchaus tugendhaft sein, sich an bestehende Gesetze und Verordnungen zu halten in Bereichen, in denen das keineswegs selbstverständlich ist, oder Wettbewerber zu imitieren, die gesellschaftlich wertvollere Produkte oder Dienstleistungen auf den Markt gebracht haben. Die gerade genannte Unterscheidung können wir noch eine Stufe weiter präzisieren, indem wir das Verhalten eines Individuums oder einer Organisation auf gegebene Regeln beziehen, wir differenzieren dann in:  unterwürfige Regelbefolgung,  bewusste Regeleinhaltung,  (potentielle) Regelinfragestellung, und  (potentiellen) Regelbruch. Eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise, so haben wir erläutert, befreit von dem Druck, ethisch-moralische Werte affirmativ zur Geltung bringen zu müssen. Sie erlaubt, ja erfordert eigentlich sogar in jeder konkret-historischen Situation Parteilichkeit, aber sie schreibt sie nicht vor, sie behauptet die ethisch-moralische Haltung in der Situation nicht als etwas vorher Gewusstes oder gar aus längst Gewusstem Ableitbares. Was in der konkreten historischen Situation das ethisch Richtige ist, muss jede(r) sich in dieser Situation neu erarbeiten. Das heißt nicht, dass es keinerlei Entscheidungs- oder Orientierungskriterien gäbe, die dafür heranzuziehen wären. Welche Entscheidungs- oder Orientierungskriterien wirklich herangezogen werden, liegt aber angesichts deren heterogener Vielfalt selbst wiederum in der Entscheidung der Akteure. Josef Wieland hat im Rahmen der Ausarbeitung seiner governanceethischen Konzeption den Begriff der moralischen Güter stark gemacht.35 Aufbauend auf den mit diesem Text vorgetragenen Überlegungen zu gesellschaftlich imaginären Bedeutungen und tugendethischen Herausforderungen ergibt sich ein wichtiger Kommentar: es sollte unbedingt das Missverständnis vermieden werden, als handele es sich bei bestimmten Gütern im Sinne der ökonomischen Theorie um moralische Güter, bei anderen nicht. Wenn wir einmal verstanden haben, dass die Sachzwang35

Vgl. jüngst dazu den Text von Wieland/ Fürst in Lautermann/ Pfriem/ Wieland u. a. 2005.

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oder Effizienzideologie, mit der die kapitalistische Marktwirtschaft traditionell einhergeht, selbst eine gesellschaftlich imaginäre Bedeutung darstellt und nicht eine unbestreitbare objektive Tatsache, dann gehört es gerade zu den interessanten Seiten des soziokulturellen Kräftespiels, welche Güter von welchen gesellschaftlichen Akteuren im vordergründigen Sinn auch ausdrücklich moralisch-politisch belegt werden und welche nur indirekt über die vermeintliche Logik der Sache. Etwa gab es in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als Gegenpol zur hoch moralisch daher kommenden Anti-AKW-Bewegung zwar auch einige Ideologen der strahlenden Zukunft, vor allem aber solche Vertreter in Wirtschaft und Politik, die das Moralisieren denunzierten und auf die Effizienz- und sogar vermeintlichen Umweltvorteile der Atomenergie hinwiesen.36 Für den Verwendungszusammenhang des Begriffs der moralischen Güter empfiehlt sich also eine offene und veränderbare Haltung dazu, was die moralische Belegung von Gütern angeht. Die Verbindung des Erkenntnis- und Forschungsgegenstands Governance bzw. Steuerung mit dem Bemühen um eine eigene wirtschafts- und unternehmensethische Konzeption und deshalb der Ausgangspunkt bei Josef Wieland ist übrigens deshalb so angemessen, weil die Bedingungen und Möglichkeiten ethisch gehaltvollen Handelns nur im Horizont sozialer Interaktionen und präzise nur bezogen auf real existierende gesellschaftliche Governance-Strukturen analysiert werden können. Die Governanceethik, das macht sie sowohl zutreffend wie sympathisch, ist von vornherein auf Vermittlung aus, als ethische Konzeption, die sich aus dem wirklichen Leben erklären will und für das wirkliche Leben Anwendung finden soll. Solche Vermittlung ist überhaupt nicht gleichzusetzen mit Opportunismus. Fundamentalethische Konzepte37 behaupten natürlich eben dieses, landen aber selbst in der Sackgasse, eine ethisch-moralische Reinheit einzufordern, die schon auf der Ebene der Individuen jenseits der wirklichen Welt angesiedelt ist, erst recht auf der Ebene von Organisationen.

36

37

Die sie übrigens aus Gründen terminologischer Vorsicht oder Begriffshygiene lieber als Kernenergie bezeichneten – auch dies Ausdruck des Ringens um gesellschaftlich imaginäre Bedeutungen. So wollen wir solche ethischen Konzeptionen zusammenfassen, die Ethik einseitig an das wirkliche Leben herantragen und dabei meinen, Ethik von allgemeinen Prinzipien ableiten zu können.

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Auch wenn der positive Bezug Wielands auf die Organisationsökonomik von Williamson manchen zu weit gehen mag,38 so vermag die Governanceethik über die Anerkennung moderner Organisationsverhältnisse sich nicht nur scheinbar mit Unternehmensethik als Organisationsethik auseinanderzusetzen. Im Sinne dieses Textes ist damit die Frage nach der Möglichkeit einer Tugendethik von und für Organisationen aufgeworfen. Wir werden im nächsten Kapitel dieser Frage empirisch nachgehen, aufbauend auf den Ergebnissen einer Machbarkeitsstudie, die die beiden Verfasser dieses Textes in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Naturkost-Naturwaren, gefördert durch das Bundesprogramm Ökologischer Landbau, Anfang dieses Jahres abgeschlossen haben. Es fügt sich gut, dass der Herausgeber dieses Bandes, Josef Wieland, und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Michael Fürst, der in Oldenburg promoviert, als wissenschaftliche Kooperationspartner bei der Machbarkeitsstudie mit von der Partie waren. Nach unserer Ansicht fügt sich das empirische Material ausgezeichnet in die hier vorgetragene Argumentation. Denn die daran beteiligten Unternehmen der Naturkostbranche (wie andere in diesem Feld auch) sind vor einem Vierteljahrhundert mit sehr heterogenen Motivlagen, aber einer verbindenden Vorstellung einer „besseren“ – ökologischen – Qualität von Lebensmitteln gestartet. Daraus entwickelte sich über die verbandsmäßige Organisation und Institutionalisierung eine Art Pflichtenethik, die in den Zertifizierungskriterien der entstandenen Bioverbände jeweils einen unterschiedlichen Niederschlag fand. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, erfordern Ethikmanagement als Reflexionsinstrument für Agieren unter Ungewissheit und offenen Fragen – in einem unternehmenspolitischen Feld, in dem doch alles so klar schien.

3 Empirische Bekräftigung: Ethikmanagement in der Naturkostbranche Unsere Machbarkeitsstudie, die wir unter dem Titel „Ethikmanagement in der Naturkostbranche“ vor kurzem veröffentlicht haben39, ist das Ergebnis eines praxisorientierten Projektes, in dessen Rahmen, auf empirischen Bestandsaufnahmen aufbauend, Hinweise für einen erfolgver38 39

Ich glaube, mir auch, R.P. Lautermann/ Pfriem/ Wieland u. a. 2005.

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sprechenden Umgang mit den moralisch- gesellschaftlichen Herausforderungen der Naturkostunternehmen abgeleitet wurden. Konkret bestand die Hauptaufgabenstellung der Studie darin, die praktischen Möglichkeiten und Erfordernisse von Managementsystemen, die die moralischgesellschaftlichen Aspekte des unternehmerischen Handelns adressieren (Ethikmanagement)40, speziell für die Naturkostbranche zu eruieren. Noch konkreter kann die Zielrichtung des Projektes anhand folgender Leitfragen beschrieben werden:  Welchen spezifischen Sinn und Zweck kann die Einführung von Ethikmanagementsystemen in der Naturkostbranche haben?  Durch welche Besonderheiten zeichnet sich die Naturkostbranche hinsichtlich der Probleme aus, die mit einem Ethikmanagementsystem bearbeitet werden könnten?  Wie ist der aktuelle Stand bei den praktizierten Instrumenten und Maßnahmen mit (inhaltlichen und konzeptionellen) Bezügen zu Ethikmanagement(systemen)? Welche relevanten Ansätze und Aktivitäten bestehen bereits?  Welche Hindernisse, Potentiale und Erfolgsfaktoren in Bezug auf die mögliche Einführung eines Ethikmanagementsystems bestehen in den Unternehmen der Naturkostbranche praktisch? Für die Beantwortung dieser Fragen war neben der engen Zusammenarbeit mit dem Branchenverband die Aufgeschlossenheit und das Interesse der beteiligten Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Mit den Geschäftsführern von elf ausgewählten Unternehmen aus den Bereichen Herstellung und Großhandel führten wir ausgedehnte qualitative Interviews, welche umfangreiche Informationen u. a. zu deren persönlichen Motiven und Weltanschauungen sowie zu der spezifischen Situation des jeweiligen Unternehmens hervorbrachten.41

40 41

Zur Begriffswahl weiter unten. Befragt wurden die Hersteller Allos Walter Lang GmbH, Bohlsener Mühle e.K., Neumarkter Lammsbräu Gebr. Ehrnsperger e.K., Molkerei Söbbeke GmbH & Co. KG, Ulrich Walter GmbH/Lebensbaum sowie die Handelsunternehmen Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bodan GmbH, Dennree Versorgungs GmbH, C.F. Grell Nachf. Naturkost GmbH & Co. KG, Kornkraft Naturkost und Naturwaren, Terra Handels GmbH.

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Der Begriff der Tugend stand dabei zwar nicht zentral im Fokus des Forschungsinteresses, doch konnten über die Interviewleitfragen aus den Gesprächen nicht bloß Indizien, sondern anschauliche Auskünfte über die faktische Bedeutung von Tugend(en) für die Unternehmer gewonnen werden. Insbesondere eine Interviewfrage, die sich auf die damaligen Motive zur Gründung der Unternehmen und die Motivation zur besonderen (ökologischen) Ausrichtung der eigenen Geschäftstätigkeit richtete, brachte aufschlussreiche Erkenntnisse über die „Hinwendung zu einem moralisch aufgeladenen Geschäft“. Die empirischen Befunde bestätigen zunächst, dass Moral und moralisch motiviertes Handeln in den Unternehmen vorliegt und deren Existenz von den Unternehmern auch gesehen und anerkannt wird. Aussagen der Unternehmer wie „Das Thema ‚Ethik und Moral im Unternehmen‘ muss bedient werden, weil die Mitarbeiter danach verlangen“ oder „Moralisieren ist kontraproduktiv, doch Moral ist oft letztes Entscheidungskriterium“ bringen diese Tatsache auf den Punkt. Ferner zeigt sich, dass in einem mittelständischen, unternehmergeprägten und ökologieorientierten Wirtschaftszweig wie der Naturkostbranche speziell auch Tugenden ihren Platz hatten bzw. haben. Das unternehmerische Handeln scheint sich vor allem in der Anfangszeit stark an bestimmten Motiven orientiert und auf eine Übereinstimmung mit als gut angesehenen Eigenschaften (Idealen, Werten) abgezielt zu haben – was in den Unternehmen auch nachhaltig seine Spuren hinterlassen hat; beispielsweise was die Produktpalette oder die regionale Ausrichtung der Unternehmen betrifft. Aber nicht nur vor 30 Jahren, sondern auch heute noch prägen Vorstellungen etwa über Ungerechtigkeiten im Welthandelssystem oder ein definiertes ökologisches Bewusstsein die unternehmerische Motivation. Hieran zeigt sich, warum der Tugendbegriff für das unternehmensethische Verständnis dieser Zusammenhänge so angebracht ist, erlaubt, ja erfordert er doch neben dem Tun und Lassen auch, die dahinter liegende Motivation einzubeziehen.42 Der Blick auf die motivationale Seite dieser Zusammenhänge darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass tugendhaftes Handeln damit immer nur potentiell zum Tragen kommt, aber nicht unbedingt kommen muss. Angesichts der heutigen Situation des Naturkostmarktes (Wachstum, Ausdifferenzierung, Öffnung nach „außen“, Verschärfung des Wettbewerbs etc.) wird besonders augenschein42

Vgl. Müller 1998, 19.

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lich, dass gute Motive und Intentionen nicht ausreichen, um tugendhaftes Handeln Realität werden zu lassen, dass „gut gemeint“ nicht gleich „gut gemacht“ bedeuten muss. Dieser Gemeinplatz darf aber auch nicht zu dem – falschen – Umkehrschluss verleiten, dass es alleine auf die Ergebnisse ankomme. Es gilt immer noch der Hinweis von Marion Gräfin Dönhoff, dass in der Geschichte nicht nur der Erfolg entscheidend ist, sondern auch der Geist, aus dem heraus gehandelt wird.43 Tugenden haben insofern gewiss auch ihren Selbstzweck, aber für das Verständnis praktizierter Tugendhaftigkeit (z.B. in der Unternehmenspolitik) gilt es, dem Zusammenhang zwischen der motivationalen und der Ergebnisseite die Aufmerksamkeit zu schenken. Denn der besagte Geist, aus dem heraus gehandelt wird, hat auch genuin etwas mit den Ergebnissen und letztlich dem Erfolg zu tun. Es ist eben nicht so, dass Erfolg völlig unabhängig von der Motivation und der Gesinnung entsteht bzw. eine tugendhafte Gesinnung dem Erfolg zwangsläufig im Wege steht. Eher ist zu fragen, ob gutes und erfolgreiches Unternehmertum ohne die richtige Gesinnung überhaupt zustande kommen könnte. Um diesen Zusammenhang klarer werden zu lassen, wollen wir einen Blick darauf werfen, welche Werte, Ideale, Prinzipien, Motivationen und Intentionen effektiv das Handeln der Naturkostunternehmer bestimmt haben und bestimmen. Das empirische Bild bestätigt hier unmittelbar die weiter oben angestellten theoretischen Vorüberlegungen: Bereits eine relativ kleine empirische Basis von elf Unternehme(r)n bringt eine enorme Heterogenität und Diversität bzgl. der Werte und Motivlagen bei der grundsätzlichen Ausrichtung des Unternehmens zum Vorschein. Sehr häufig – nicht ausschließlich – stellen dabei moralische oder moralischweltanschaulich gefärbte Intentionen und Motivationen den Leitfaden unternehmerischer (Be)wertungen und Entscheidungen dar. Regionalität, Kleinräumigkeit und Dezentralität als Ideale für nachhaltige Wirtschaftsstrukturen werden genauso genannt wie verschiedene von dem Ökologiegedanken inspirierte Anschauungen. Aber auch Geschäftstugenden wie Zahlungsmoral und Ehrlichkeit werden als handlungsleitende Idealvorstellungen angeführt. Deren persönliche Bedeutung für die Unternehmer wird allerdings vorwiegend dadurch zum Ausdruck gebracht, dass ihr Mangel oder Schwund bei anderen Marktteilnehmern beklagt wird. Die Stellung von Tugend beim unternehmerischen Handeln allge43

Vgl. DIE ZEIT Nr. 30, 2001.

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mein zeigt sich etwa in der mehrfach geäußerten Haltung, dass Gewinnerzielung nicht das Ziel, sondern die Bedingung zur Erreichung der eigentlichen Ziele sei. Worauf es für unsere Argumentation nun grundlegend ankommt, ist die enorme ökonomische Wirkung, die außerökonomische Faktoren wie Gefühle, Intentionen, Weltanschauungen, Moral usw. haben können. Das Ausmaß dieser Wirkung wird durch das Beispiel der Naturkostunternehmen in anschaulicher Weise verdeutlicht – man braucht sich nur das rasante Wachstum eines Marktes und seiner Unternehmen zu vergegenwärtigen, dessen Vertreter teils heute noch als weltverbesserische Spinner abgetan werden. Aber auch ganz speziell anhand einzelner Bereiche der Unternehmenspolitik können diese Zusammenhänge deutlich gemacht werden: Beispielsweise wie die reflektierten Betrachtungen sozioökonomischer Zusammenhänge und die damit verbundenen fundamentalen Überzeugungen eines Unternehmers, der Wirtschaften entschieden als Kooperation und Für-einander- tätig-sein verstanden wissen will, auf die Gestaltung seiner Kunden- und Lieferantenbeziehungen rückwirken (und das mit enormen ökonomischen Erfolg). Oder wie die als Tugend gepflegte, permanente ökologische Optimierung der verschiedensten Prozesse in manchen der untersuchten Unternehmen immer wieder Innovationen auf allen der weiter oben genannten Ebenen hervorbringt. Oder auch wie das überzeugte Eintreten eines Großhändlers für Regionalität zur Generierung neuer Märkte und Existenzen auf der Lieferantenseite geführt hat.44 Letztlich steht hinter diesen Beispielen die Einsicht, dass die Herausbildung (bzw. das Hervorbringen) von wirtschaftlichen Beziehungen, Strukturen und Leistungen – insbesondere von Innovationen – immer (auch) das Resultat aktiver Gestaltung von Unternehmern und Unternehmen ist, und dass dieses Gestalten auf den vielfältigsten motivationalen – zu einem starken Teil auch moralisch geprägten – Quellen beruht. Theoretisch einzufangen sind diese real überaus folgenreichen Zusammenhänge nur mit einem Ansatz, der Vielfalt, Wandel und kulturelle Aufgeladenheit anerkennt und zu beschreiben vermag, wie der oben skizzierte kulturwissenschaftliche Ansatz. Speziell für die unternehmensethische Frage nach der Bedeutung von Tugenden beim unternehmeri44

Für eine genauere Darstellung der angedeuteten Beispiele vgl. Lautermann/ Pfriem 2005.

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schen Handeln fällt das Licht aus kulturwissenschaftlicher Perspektive insbesondere auf den ermöglichenden Charakter der Tugenden. Während eine pflichtenethisch inspirierte Unternehmensethik mit moralischen Normen und Verhaltensregeln immer dem Vorwurf ausgesetzt ist, den Radius der Handlungsmöglichkeiten nur einzuschränken, weisen Tugenden zudem, ja vor allem in eine handlungserweiternde Richtung. Gemäß der unter 2. vorgeschlagenen Typisierung von Tugenden schließt ein tugendethisches Verständnis keineswegs die Existenz von Regeln und die Gebotenheit von Regeleinhaltung aus.45 Was die drei Tugendtypen praktisch bedeuten können, lässt sich an dem Beispiel der Naturkostbranche sehr schön illustrieren: Die Tugend der (eher passiven) Anpassung wird in der Naturkostbranche dort deutlich, wo bestimmte Maßnahmen und Strategien anderer Unternehmen auf einmal als nachahmenswert angesehen werden, weil sie sich als doch nicht so kritisch oder sogar als vorteilhaft herausstellen. Beispielsweise wird von einigen der befragten Unternehmen bzgl. der Frage, ob ihr unternehmensethisches Engagement klarer nach außen getragen werden müsste, die Tugend der Bescheidenheit zugunsten einer Nachahmung einzelner Vorreiter in Frage gestellt, und zwar solcher Unternehmen, die viel offensiver und aktiver nach außen zeigen, welche gesellschaftlich verantwortlichen Anstrengungen sich hinter den bloßen Produkten verbergen. Besonders verbreitet erscheint die Tugend des loyalen Engagements, sie ist bei größeren produzierenden bzw. verarbeitenden Unternehmen sowie bei Großhändlern vorzufinden, die nachdrücklich dazu stehen, ihre Lieferanten und Partner auch in schweren Zeiten „nicht hängen zu lassen“, auch auf die Gefahr hin, ihren Kunden gegenüber höhere Preise rechtfertigen zu müssen. In einzelnen Unternehmen scheint auch die Tugend des (potentiell kritischen) Innovationsgeistes eine Charaktereigenschaft mit weitreichenden Konsequenzen zu sein. Wenn Neues aus Überzeugung, teils fast aus Leidenschaft entgegen warnender Stimmen und trotz zusätzlicher Belastungen ausprobiert und mit Erfolg umgesetzt wird,46 dann hat die Realität die Theorie gelehrt, dass es auch den

45 46

Vgl. auch allg. Müller 1998, 32ff. Z.B. im Falle eines Unternehmens, welches allen Unkenrufen zum Trotz schon sehr frühzeitig ein Umweltmanagementsystem eingeführt hat.

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tugendhaften Innovator (und andere) zu begreifen gilt, und nicht bloß den gewinnorientierten Optimierer. Nachdem die empirischen Befunde veranschaulicht haben, dass Moral und Tugend in Unternehmen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, und dass moralisch motiviertes Handeln darüber hinaus auch entscheidende Auswirkungen auf die Evolution von Unternehmen und Märkten hatte und weiterhin haben wird, ist nun zu fragen, wie mit diesem Phänomen aus einer Managementperspektive erfolgsorientiert umgegangen werden kann. Unser Vorschlag auf diese Frage ist die Einführung eines Ethikmanagementsystems im Sinne einer praktischen Reflexionshilfe und Verfahrenssicherung in der Auseinandersetzung mit moralischen Aufgaben im Unternehmenskontext. Wir haben uns für den Begriff Ehtikmanagement (und nicht etwa Wertemanagement) entschieden, um die organisationalen Reflexionsaufgaben, die mit einem solchen Hilfsmittel ermöglicht und gesichert werden sollen, hervorzuheben. Durch die Auseinandersetzung mit Tugendethik und der Frage nach der heutigen Bedeutung von Tugenden in Unternehmen fühlen wir uns zudem in unserer Begriffswahl bestärkt. Denn wenn es (auch) darum geht, das motivierte Streben nach moralischen Ideen, Visionen oder Vorbildern zu unterstützen und zu ermöglichen, und wenn es um das verantwortungsbewusste Schaffen von Zukünften geht, dann erscheinen Werte und Normen mit ihrem tendenziell handlungsbeschränkenden Touch zu eng im Vergleich zu der umfassenden Vorstellung von Ethik als Reflexion moralischer Fragen in praktischer Absicht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ethikmanagement ist gerade als der Schlüssel anzusehen, um nicht dem gesinnungsethischen Trugschluss anheim zu fallen, dass alles moralisch Gewollte wie selbstverständlich auch möglich sei. Ethikmanagement dient also dazu, sich den Realitätsschock zu ersparen, dass man nur die besten Absichten hegte, um dann doch von der ökonomischen Realität überrascht zu werden. Gleichzeitig erlaubt es, nicht auf den (wichtigen, weil kreativ wirkenden) moralischen Antrieb verzichten zu müssen. Viele der befragten Unternehmer deuteten an, dass ihnen eine mögliche Diskrepanz zwischen ihrem Denken, ihrem Fühlen und ihrer Motivation auf der einen Seite und ihrem tatsächlichen Handeln auf der anderen Seite Sorgen bereiten würde. Genau diese Lücke zu füllen – das ist es, worauf das Ideal der Tugend hinaus will: Übereinstimmung zwischen Gesinnung und Handeln herzustellen, d.h. Authentizität und Integrität zu ermöglichen. Besonders

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bei stark moralisch sensibilisierten und motivierten Menschen, wie sie in der Naturkostbranche häufiger vorkommen als in manch anderen Wirtschaftsbereichen, kann es zu Enttäuschung bis Frustration führen, wenn das Denken und Fühlen, sprich: das Wollen mit der Unfähigkeit im Handeln kollidiert. Ethikmanagement, wie wir es skizziert haben47, kann zunächst dabei helfen, sich Klarheit im Bereich des Fühlens, Denkens und Wollens zu verschaffen, und somit der Gefahr der Enttäuschung vorbeugen. Darüber hinaus sollen mit Ethikmanagement auch die erforderlichen Hilfen und Werkzeuge an die Hand gegeben werden, um die praktischen Aufgaben meistern zu können, die eine aktive Zuwendung zu den moralischen Herausforderungen des Wirtschaftens mit sich bringt. Wie beim Versuch, ein tugendhafter Mensch zu werden, kommen auch Unternehmen auf diesem Wege nicht ohne dauerhaftes Üben aus. Tugend ist ein Ideal, welchem man im Handeln versucht näher zu kommen, bei dem man allerdings beständig darum ringen muss, es Wirklichkeit werden zu lassen. Tugenden werden somit zu Charakterqualitäten, die einer permanenten Kultivierung bedürfen.48 Daher sollte bei einem Ethikmanagement nach unserem Dafürhalten auch der Verankerung von Moral, Werten, Tugenden usw. in den Strukturen, Prozessen und der Kultur des Unternehmens ein so großer Stellenwert beigemessen werden.49 Für die Unternehmen der Naturkostbranche schälen sich schließlich – so der handlungsweisende Befund unserer Studie – folgende unternehmenspolitischen, besonders bedeutungsvoll werdenden Aufgabenbereiche heraus, die mithilfe eines professionellen Ethikmanagements besser bearbeitet werden könnten:  die Artikulation und Berücksichtigung von normativen Orientierungen, die zu einem fairen Miteinander im Markt und einem aktiven Umgang mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen befähigen,  die langfristige und tiefgreifende Verankerung von unternehmensethischen Erwägungen in die Kultur und die Organisation des Unternehmens – mit besonderer Berücksichtigung personalwirtschaftlicher Erfordernisse,

47 48 49

Vgl. Lautermann, Pfriem 2005. Vgl. auch allg. Müller 1998, 35ff. Vgl. Lautermann, Pfriem 2005.

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 die Entwicklung von gesellschaftlich wünschenswerten bzw. nachhaltigen Unternehmensleistungen und Innovationen, die weit über die bisherige Produkt- und Produktionsfokussierung hinausgehen, sowie  der Aufbau einer umfassenden Unternehmenskommunikation, die das unternehmensethische Engagement und dessen Bedeutung für die Anspruchsgruppen zielgerichtet transparent macht. Letztlich können unser Vorschlag eines Ethikmanagements in der Naturkostbranche und die zahlreichen Hinweise zu Hindernissen, Potentialen und Erfolgsfaktoren als der Versuch gewertet werden, die allgemeine Ausgangsfrage für das geschilderte Anwendungsbeispiel zu beantworten: Wie kann unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und marktlichen Bedingungen Tugend wieder erfolgreich in das unternehmerische Handeln gebracht werden?

4 Steuerung und Moral: ein ebenfalls kulturwissenschaftlicher Ausblick Die mit diesem Text vorgetragenen Überlegungen zu einer Renaissance der Tugendethik und dazu, dass aufgrund gesellschaftskultureller Entwicklungen im 21. Jahrhundert eine Pflichtenethik vernünftigerweise nicht mehr in Vorschlag gebracht werden kann, machen in sozialwissenschaftlicher Hinsicht Handlungstheorien erneut stark und relativieren die Aussagekraft von Systemtheorien. In ökonomietheoretischer Hinsicht vertiefen sie die Kritik an der neoklassischen Ökonomik im Allgemeinen. Denn dieser mangelt es an Methoden und Werkzeugen, die Optionenvielfalt ökonomischer Zukünfte als eigenen Untersuchungsgegenstand behandeln zu können. Es ist interessant zu beobachten, wie innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Betriebswirtschafts- und Managementlehre, die Teildisziplin des Strategischen Managements gar nicht umhin kann, die Fesseln neoklassischer Grundannahmen zu sprengen.50 Unsere im vorigen Kapitel behandelte empirische Untersuchung hat gezeigt, wie Ethikmanagement den Zweck verfolgen soll, Gründertugenden in organisationale Tugenden zu transformieren. Mit anderen Worten: wir schlagen vor, die Renaissance der Tugendethik nicht nur zu bejahen 50

Vgl. Nicolai 2000.

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und zu unterstützen, sondern auch ausdrücklich auf Unternehmensorganisationen als emergente soziale Systeme zu beziehen. Unter den Bedingungen der heute vorfindbaren Governancestrukturen, der unauflösbaren Verflechtungen zwischen ökonomischen, politischen und sonstigen gesellschaftlichen Entscheidungsebenen und Einflussfaktoren, entfaltet sich Tugendethik nicht nur in Bezug auf im Konkreten immer heterogene Organisationskonstellationen, sondern ebenso im interaktiven Geflecht der Governancestrukturen und -kulturen.51 Von daher kann die Ausgangsfrage des diesem Band voraus gehenden Workshops, inwiefern Tugendethik und Governanceethik zusammen passten, nur mit einem sehr deutlichen Ja beantwortet werden. Der andere Aspekt, der zum Abschluss dieses Textes noch einmal akzentuiert werden soll, besteht darin, dass die ethisch rechtfertigbare Tugendhaftigkeit unter den Bedingungen prinzipieller Kontingenz ebenso prinzipiell ständig neu erarbeitet werden muss. Verena Weber formuliert dazu: „Um die Tragfähigkeit eines Moralsystems zu prüfen, ist es […] zudem unabdingbar, dieses mit Problemen zu konfrontieren, die aktuell kontrovers diskutiert werden und für die scheinbar noch keine befriedigenden Lösungen gefunden werden konnten.“52 In ihrer Untersuchung bezieht Weber Tugendethik und Kommunitarismus aufeinander. Gegenüber der klassischen Tugendethik und dem Kommunitarismus, der die Werte gegebener Gemeinschaften einseitig stark macht, markieren wir insofern so etwas wie eine dritte Position: das ethisch Gute muss von den individuellen und organisationalen Akteuren in ihren konkreten Situationen permanent (tugend)ethisch neu erarbeitet werden, ist weder universalistisch definierbar noch durch affirmativen Bezug auf konkret gegebene Gemeinschaften. Es geht also nicht darum, Wertungen vorzugeben, sondern den Mut steigern helfen, sich im besten Kantischen Sinne des eigenen Verstandes zu bedienen und daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Wie an einem Beispiel vorgeführt, vermögen gerade empirisch orientierte kulturwissenschaftliche Untersuchungen einiges an Aufklärung und Beratung in tugendethischer Absicht beizutragen. 51

52

S. als Vorschlag zu einer kulturalistischen und kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Governanceethik Pfriem 2004a. Weber 2002, 155. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Textes ist das eine fast schmerzliche Erkenntnis, wo mit dem Tod des alten Papstes und der Wahl des neuen in geradezu massenhysterischer Weise die Bezugnahme auf alte Lösungen und Nichtanpassung an neue Entwicklungen fröhliche Urstände feiert.

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Steuerung und Demokratie Governanceethik und Diskursethik

Reinhard Pfriem

„Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen, als sei nichts. Verstehen Sie?“ Pascal Mercier (=Peter Bieri), Nachtzug nach Lissabon

Die Governanceethik ist von Josef Wieland als moderne Ethik ausgearbeitet worden in dem Sinne, dass sie den praktischen und theoretischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden soll.1 Darauf ist das Motto von Peter Bieri gerichtet. Für die weitere Argumentation dieses Textes bedeutet das die kritische Abgrenzung von zwei Typen möglicher (Wirtschafts- und Unternehmens-)Ethik:  einer Ethik, die durch zu allgemeine Fassung des Guten über der Konkretheit (wirtschafts- und unternehmens-)ethischer Herausforderungen grundsatzkritisch darüber schwebt2, und  einer Ethik, die durch zu enge Ankopplung an die vorgängigen gesellschaftlichen Regelungs- und Steuerungsmechanismen die nötige kritische Distanz verliert.3

1 2 3

S. Wieland 1999, zuletzt Wieland 2005. Solche Ethik-Konzeptionen wollen wir als fundamentalistisch bezeichnen. Solche Ethik-Konzeptionen wollen wir als affirmativ bezeichnen.

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Vernünftige (Wirtschafts- und Unternehmens-)Ethik4 hat also hinreichend konkret und hinreichend kritisch zu sein. Grundlegend habe ich die daraus resultierende Abgrenzung von fundamentalistischen und affirmativen Ethik-Konzeptionen schon an anderer Stelle erläutert.5 Das Anliegen des vorliegenden Textes ist es entsprechend der Thematik des Konstanzer Kolloquiums zur Governanceethik 2005, den Blick auf die Beziehungen zwischen Governanceethik und Diskursethik zu nutzen, um für eine zukunftsfähige Unternehmens- und Wirtschaftsethik konzeptionell weiterzukommen. Entsprechend dem von Betriebswirten, Soziologen und Philosophen an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg entwickelten Forschungsprogramm6 vertritt der folgende Text den Standpunkt, dass eine in diesem Sinne zukunftsfähige Ethik-Konzeption einen kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmen braucht. Deswegen wird (1) die notwendige Umstellung der klassischen abendländischen Ethik zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive des ethischen Reflektierens von Alltagsmoralen erläutert. Daran anschließend wird (2) die Diskursethik nach zwei Seiten hin kritisch beleuchtet, als Überstrapazierung hinsichtlich ihrer idealistischen Anforderungen und als Unterforderung hinsichtlich ihrer inhaltlichen Bezüge. Über die dabei zu reklamierenden diskursethischen Bezüge kann allerdings (3) ein auch kritischer Blick auf die Governanceethik als regelungsorientierte Kombination von Ökonomie und Moral geworfen werden. Die (4) abschließenden Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Governance-Ethik lassen die beginnende Renaissance handlungstheoretischer Konzeptionen vor allem leib- und sinnlichkeitsorientierter Richtung sehr überzeugend erscheinen.

4

5 6

Ganz schlicht normativ soll hier der Begriff der Vernunft in Anschlag gebracht werden. U. a. in Pfriem 2005a. Grundlegend dazu (Hrsg.) Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation 2004. S. auch Pfriem 2004 und Pfriem 2005.

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1 Von einer notwendigen Umstellung: der klassischen abendländischen Ethik zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive des ethischen Reflektierens von Alltagsmoralen Im Rahmen unseres „Plädoyers für eine Renaissance der Tugendethik“7 wurden für den Band zum Konstanzer Governanceethik-Kolloquium 2004 bereits einige Argumente vorgetragen, die im folgenden weiter geführt und präzisiert werden sollen. Der durchaus pragmatische Anfang, der aus der Sicht der Unternehmenspolitik und der akademischen Betriebswirtschaftslehre bzw. Theorie der Unternehmung dazu gewählt werden kann, lautet: Strategische Unternehmensführung ist nichts anderes als unternehmerischer Umgang mit Unsicherheit, Ungewissheit und Kontingenz – mit prinzipiell offenen Zukünften.8 Daraus leitet sich für uns ab, was wir im durchaus beabsichtigten Anschluss an die Philosophie von Friedrich Nietzsche9 Verantwortung im außermoralischen Sinne nennen wollen. Ohne Vor-Kodierung in Gut und Böse sind Unternehmen jederzeit in der Pflicht, Entscheidungen zu treffen, mit denen sie de facto Verantwortung übernehmen, nämlich diese oder andere Antworten geben auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der jeweiligen Situation. Dabei ist für die Konzeptionierung einer angemessenen Ethik von geradezu ausschlaggebender Bedeutung, dass der Inhalt der Entscheidung nicht aus Pflichten abgeleitet werden kann. Pflichtcharakter hat allein das Treffen der Entscheidung als solches, weil10 Unternehmen zur Fortsetzung ihrer Operationen darum nicht herumkommen11. Das ist der Grund, warum ich einen Satz von Zygmunt Bauman seit Jahren immer wieder gern zitiere: „Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.“12 Dieser Satz muss „nur“ auch auf Organisationen angewendet werden, weil dies unter den Bedingungen der Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft erfor7 8 9

10 11

12

So der Untertitel von Lautermann/ Pfriem 2006. Das ist auch der Ausgangsbefund von Pfriem 2006. Nietzsche 1999. Nietzsches Titel umkehrender (!) Bezug war auch schon mal genommen worden mit Pfriem 2000. Hier durchaus ganz im Sinne der Luhmannschen Theorie, s. Luhmann 2000. Auch das Aussitzen einer Entscheidung wäre konsequent als Entscheidung zu verstehen. Bauman 1995, 87.

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derlich scheint, hier ganz einig mit Wieland: „Eine der folgenreichsten dieser Entwicklungen ist, dass die Adressaten dieser neuartigen moralökonomischen Diskurse heute im Wesentlichen die Unternehmen als Organisation und nicht die Unternehmer oder Manager als individuelle Personen der Wirtschaft sind.“13 Verantwortung ist ein dialogischer, oder präziser: relationaler Begriff. Es ist prinzipiell kontingent, auf wessen und welche Fragen, Ansprüche und Interessen Unternehmen bereit sind, Ver-Antwortung zu tragen. Gerade hier liegt ein wesentliches Feld unternehmerischer Selbstbeschreibung und Autonomie. Jede positive Selektion, wessen und welche Ansprüche von Stakeholders erfüllt werden sollen, schließt zahlreiche negative Selektionen ein. Deswegen sind alle Bezugnahmen auf den ursprünglich von Freeman14 entwickelten Stakeholder- bzw. Anspruchsgruppen-Ansatz nicht nur naiv, sondern direkt irreführend, die den Eindruck erwecken, als könne eine Unternehmensführung, hinreichend guten Willen vorausgesetzt, die Ansprüche aller Stakeholder erfüllen. Wie bei Individuen beginnt auch bei (Unternehmens-)Organisationen die Verantwortung bei der Verantwortung für sich selbst. Im Sinne von Mintzbergs 5 P’s15 plan, pattern, ploy, position und perspective müssen die Unternehmen eine Selbstverortung in Markt und Gesellschaft finden, mit der sie Verantwortung für ihre eigene Entwicklungsfähigkeit übernehmen. Mit dem Terminus der prinzipiell offenen Zukünfte wird neben der empirischen Einschätzung „alles ist möglich“ insbesondere auch der Befund verbunden, dass es in den Gesellschaften (oder der Weltgesellschaft)16 des 21. Jahrhunderts kein wesentlich verbindliches Normengefüge mehr gibt, so sehr sich auch viele gegen diese Einsicht sträuben mögen. Von Ethik auf Kultur umzustellen, also ethische Reflektionen kulturalistisch und kulturwissenschaftlich einzubinden, heißt allerdings keineswegs, moralische Frage in wertbezogen beliebige Dispositionen zurückzustellen. Es heißt „nur“, den moral point of view in den konkreten 13 14 15 16

Wieland 2005, 11. Freeman 1984, s. a. Freeman 2004. S. Mintzberg 1987. „Der an nationalstaatlichen Kategorien ausgerichtete Gesellschaftsbegriff der Soziologie hat seinen Dienst getan und könnte sich nun verabschieden.“ (Willke 2006, 130)

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ethisch relevanten Situationen zu suchen, und das Suchen kennzeichnet nichts weniger als das eben noch nicht Gefundene. Den moral point of view im 21. Jahrhundert aus universalistischen Prinzipien ableiten zu wollen, ist:  weder möglich, weil das noch zu Findende wesentlich konkreter zu sein hat,  noch wünschenswert, weil damit bloß das Risiko hochgetrieben wird, durch das Überstülpen allgemeiner Prinzipien zweifelhafte Orientierungen zu vermitteln oder mangelnde Sanktionierbarkeit in Kauf nehmen zu müssen. Vermeintliche Universalien wie Freiheit, Menschenrechte, Demokratie vermochten in der Rückschau eher noch nie, vermögen aber vor allem heute weniger denn je in allgemeiner Form als solche die Funktion der regulativen Idee hinreichend einzulösen. Wenn von den USA als angeblichem Vorreiter jener westlichen Freiheit, die es ebenso angeblich weltweit zu verteidigen gilt, Folter als erweiterte Befragungstechnik deklariert werden kann, ohne dass dies wiederum zu nachdrücklichen negativen Sanktionen führt oder führen kann, dann wird deutlich: diese vermeintlichen Universalien müssen in jeder konkret-historischen Situation neu erarbeitet und interpretiert werden, um ihrer allgemeinen Intention Geltung zu verschaffen. Wenn wir dieses Erfordernis gering schätzen und weiter meinen, mit den genannten Begriffen in ihrer allgemeinen Form in ethischen und politischen Diskursen erfolgreich agieren zu können, bestätigen wir uns nur in Scheinkonsensen, statt die konfliktären kulturellen Optionen zu produktivem Streit zu bringen. Ein Weiteres kommt hinzu, wo uns eine kulturalistische Perspektive aus Problemen befreien kann, die aus dem vorgängigen sozusagen klassisch-abendländischen Umgang mit ethischen Problemen resultieren. Der wirtschafts- und unternehmensethische mainstream einschließlich einiger davon abweichender Ethik-Konzeption wird nach wie vor beherrscht von der digitalen Kodierung in Gut und Böse. Diese digitale Kodierung17 (ob gut versus böse, richtig versus falsch, weiß versus schwarz) ist freilich ein Relikt der katholischen Tradition, deren Überwindung im 21. Jahrhundert mehr als angesagt ist. Die Zeit absichtsvoll antagonisierender 17

Zur Kritik der zweiwertigen Wahrheitslogik s. auch Lyotard 2004 (orig. 1975/76).

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Bedeutungszuweisungen sollte geistesgeschichtlich eher abgelaufen sein, manifestiert sich allerdings weiter in jeder fundamentalen Rhetorik von Ethik und Ökonomie. Weder ein Individuum noch eine Organisation vermag aber nach dem Motto zu handeln: jetzt mal alles vergessen, was ich für nützlich oder richtig oder schön halte, jetzt moralisch anständig handeln. Moralisch am moralischen Handeln ist „nur“ die mitlaufende moralische Konnotation der selbst vertretenen imaginären Bedeutungen18, nichts sonst. Für die Wirtschafts- und Unternehmensethik ergibt sich daraus als vernünftige Schlussfolgerung (wie als reizvolles Testfeld für den gerade geäußerten Befund), dass sie sich in ihrer Empirie von der Behandlung moralisch trivialer Fälle wie Enron und Nestlé eher lösen und sich den moralisch nichttrivialen Fällen zuwenden sollte, die in der Wirklichkeit dominieren.

2 Die Diskursethik – Überstrapazierung in der Methode und Unterforderung in der Sache Als neben K. O. Apel seit nun Jahrzehnten führender deutscher Vertreter der Diskursethik hat Jürgen Habermas die Diskursethik immer wieder auf „den deontologischen, kognitivistischen, formalistischen und universalistischen Charakter der Kantischen Ethik“19 zurückgeführt. Kants Ethik ist danach deontologisch, weil die Sollgeltung von Geboten oder Handlungsnormen das moraltheoretisch begründungsbedürftige Grundphänomen darstellt. Sie ist kognitivistisch, insofern normative Richtigkeit als wahrheitsanaloger Geltungsanspruch zu begreifen ist. Sie ist formalistisch, weil alle vernünftigen Wesen moralisch gerechtfertigte Handlungen wollen können müssen. Und die Charakterisierung als universalistisch ergibt sich schließlich aus der Behauptung, „dass dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuitionen einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt.“20

18

19 20

Diesen Schlüsselbegriff der praktischen Philosophie von Cornelius Castoriadis (1984) können wir mühelos mit neueren Überlegungen im Kontext der konstruktivistischen Erkenntnistheorie verbinden. Habermas 1991, 11. Habermas 1991, 1 f (Die Definitionen hier sind in wörtlicher Anlehnung an Habermas’ Text vorgenommen).

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„Weil sich Kant auf die Menge begründbarer normativer Urteile beschränken will, muss er einen engen Moralbegriff zugrundelegen. Die klassischen Ethiken hatten sich auf alle Fragen des ‚guten Lebens‘ bezogen; Kants Ethik bezieht sich nur noch auf Probleme richtigen oder gerechten Handelns.“21 Das Verfahren des praktischen Diskurses bedeutet, an Argumentationen Teilnehmenden zu unterstellen, „dass im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf.“22 Die Richtigkeit oder Gerechtigkeit eines normativen Einverständnisses ergibt sich dabei aus den allgemeinen Kommunikationsvoraussetzungen bzw. den idealisierenden Unterstellungen, die die Argumentationsteilnehmer hierfür machen. Als philosophische Richtung, die sich positiv auf die linguistische Wende der Philosophie bezieht und dies explizit mit Ansprüchen kritischer Gesellschaftstheorie verknüpft, hat die Diskursethik mittlerweile verbreitete Anerkennung gefunden. Sie präsentiert sich angesichts der Gefahr „der totalen Vergleichgültigung aller Werte und damit des hoffnungslosen Sinn- und Orientierungsverlusts“ als Angebot „einer möglichst metaphysikfreien, humanistischen Ethik, und das heißt: einer Ethik, die den Menschen als ethisches Subjekt wieder einsetzt.“23 Bis hierhin stellen die Formulierungen des zweiten Kapitels eine wörtliche Übernahme aus meiner St. Galler Habilitationsschrift vor nunmehr 12 Jahren dar.24 Ich erinnere mich noch gut, dass mein Habilitationsvater Peter Ulrich mich mit einer diskursethik-kritischen Schrift gewähren ließ, und bin ihm sehr dankbar dafür. Gleichzeitig erinnere ich mich an den Vorbehalt, die Kritik an der Diskursethik sei – mehr oder minder zwangsläufig – empiristisch. Es handele sich schließlich um eine regulative Idee, die man nicht unter Verweis auf praktische Umsetzungsschwierigkeiten widerlegen könne. In der Tat ist diese Antikritik gegenüber Kritik an der Diskursethik immer wieder zu hören. Sie beruht allerdings auf schierem Irrtum, wenn sie sich gegen kritische Auseinandersetzungen mit der Diskursethik wie 21 22 23 24

Habermas 1991, 11. Habermas 1991, 13 f. Ulrich 1986, 274 f. Veröffentlicht als Pfriem 1995, hier 210 f.

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in diesem Text wendet, die auf einer ganz anderen Ebene geführt werden. Denn wirklich: wer hätte schon etwas grundsätzlich gegen herrschaftsfreie Diskurse einzuwenden abgesehen von dem Problem, dass sie anscheinend nie funktionieren? Das ist nicht sarkastisch gemeint, im Gegenteil: die regulative Idee eines nachhaltigen Wirtschaftens wird von uns vertreten, obwohl wir natürlich keine Garantie dafür geben können, dass sich irgendwann einmal auf dieser Welt nachhaltiges Wirtschaften als das normale Wirtschaften durchsetzt. Nein, die u. a. hier geführte Kritik an der Diskursethik25 lässt sich als empiristisch vernünftigerweise nicht abspeisen. In diesem Text soll auf zwei zentrale Probleme fokussiert werden: (a) die kognitivistische Engführung (man könnte auch von Verkopftheit sprechen) und (b) die Verdrängung der ökologischen Dimension menschlichen Handelns, also der Mensch-Natur-Beziehung (die in der linguistischen Wende der Philosophie schon angelegt ist, ebenso in den Geburtsstunden der Soziologie). Zu (a). Die Diskursethik teilt mit vielen anderen modernen abendländischen Ethiken den Charakterzug, dass man sie sich bildlich so vorstellen könnte, dass auf einem Schachbrett von den Figuren nur die Köpfe stehen, um möglichst herrschaftsfrei aufeinander zu stoßen. Der Leiber haben sich die Köpfe entledigt (bekanntlich gibt es viele solcher Schachspiele). Für eine anwendungsorientierte zukunftsfähige Ethik macht das „natürlich“ wenig Sinn. Die Diskursethik leidet unter mangelndem Bezug auf die wirkliche Welt, und zwar eben nicht nur im empirischen, sondern auch im utopischen Sinne. Denn der utopische „Mechanismus“ würde bzw. wird anders funktionieren, nicht auf die verengt kognitivistische Weise, die die Diskursethik als vermeintlich höchste Form menschlicher Interaktion im Spiel zu halten versucht. Das schmähliche Scheitern all solcher Konfliktmediationen, die Emotionen, überhaupt „Irrationales“, zugunsten vermeintlich rationaler Verständigung aus dem Spiel bringen wollten, liefert deutliche Belege für das, was hier gesagt werden soll. Das Problem liegt fundamental in der Übernahme der grundlegenden Merkmale der Kantischen Ethik, als deren gesellschaftlich (im Sinne der Umstellung von individuell auf gesellschaftlich) orientierte Modernisierung sich die Diskursethik versteht. Das Projekt, den kognitivistischen Charakter der Kantischen Ethik aus dem heutigen Stand der Erkenntnisse heraus nicht zu dekonstruieren (oder wenigstens zurechtzurücken), son25

Zur kulturwissenschaftlichen Kritik an der Diskusethik s. ach Beschorner 2005.

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dern bekräftigend zu erneuern, führt grundlegend in die Irre. Und in dem Maße, in dem tatsächlich normative Richtigkeit als wahrheitsanaloger Geltungsanspruch genommen wird, droht die Diskursethik, die Kant eigentlich modernisieren im Sinne von demokratisieren wollte, sogar mit ihrem demokratischen Anspruch unter die Räder zu kommen. Unter den Bedingungen der Auflösung für die meisten Menschen verbindlicher ethisch-moralischer Normen aus religiösen oder ähnlichen Weltanschauungen, die mit dem Anspruch der Erklärung von Welt und der Setzung von Richtlinien für das Handeln in dieser Welt auftreten, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern, pluralisiert sich auch die Frage nach normativer Richtigkeit als solche. Es entfalten sich Wettbewerbe soziokultureller Deutungsmuster, normativer Orientierungen und strategischer Programme als Handlungsoptionen.26 Ein solcher offener Blick auf sich entwickelnde Wirklichkeit wird immer wieder als „Vernunftskeptizismus“ gebrandmarkt und im Namen der Vernunft der Relativismus verurteilt.27 Wie im ersten Kapitel schon angeführt, werden wir nicht müde werden, diese Fehlinterpretation zurechtzurücken. Es geht nicht um ein Abrücken von Vernunft, sondern um deren konkret-historische (und dann jeweils sehr parteiliche) Entfaltung. Abgerückt werden soll nur von einer Vernunft der schlechten Allgemeinheit, deren Mystifizierung in der wirklichen Geschichte immer wieder dazu herhalten musste, bei näherem Hinsehen Vernünftigeres zu unterdrücken. Ethik im Plural und ohne kategorischen Imperativ, so könnte man dieses Programm definieren. Insofern gibt es auch keine historische Logik, nach der sich „die“ Vernunft28 früher oder später durchsetzt. An der Durchsetzung vernünftigerer Zukunftszustände können wir nur arbeiten, und unsere mögliche Moral hierfür heißt kulturelle Bildung. Francisco Varela hat deutlich gemacht, dass das westlichabendländische Denken, dessen vermeintliche Überlegenheit gerade in den letzten Jahren oft auf so ungebildete Weise betont wurde, keineswegs in diese Richtung geht: „… es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vorausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns 26 27 28

Vgl. Pfriem 2005a, 40. So ist wohl auch Scherer 2005 zu lesen. Der Singular ist eben eher das Problem als die Lösung.

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in unserer westlichen Welt so zu Hause fühlen.“29 Demgegenüber, so Varela, brauche es einen paradigmatischen Wechsel: „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt.“30 Aus der Sicht der Betriebswirtschaftslehre, der Theorie der Unternehmung und der Organisationstheorie mutet übrigens die Unverrückbarkeit, mit der die Diskursethik das klassisch-moderne Verständnis von Rationalität hoch hält, ziemlich merkwürdig an. Denn hier wird seit nun Jahrzehnten daran gearbeitet, aus der Erfahrung von „Revisionen der Rationalität“31 die angemessenen theoretischen und praktischen Konsequenzen zu ziehen. Allerdings ist zu den meisten dieser Beiträge festzustellen, dass sie sich im Sinne des Begriffs „bounded rationality“ eher nur negativ von der Idee der Rationalität wegbewegen. Im letzten Kapitel dieses Textes werden wir die forschungsstrategische Alternative dazu noch ansprechen. Zu (b). Die Kritik an der 1968 von Habermas in die Welt gesetzten Trennung von Arbeit und Interaktion32 (auf dem Weg zu späterer Theorie des kommunikativen Handelns und Diskursethik) scheint immer noch aktuell, weil es bei der Gewinnung einer für das 21. Jahrhundert angemessenen Ethik in jedem Falle darum gehen muss, mit der regulativen Idee nachhaltiger Entwicklung das Problem der menschlichen (Über-)Lebensbedingungen zu integrieren. 1991 niedergelegte Marginalien von Habermas zur Kritik an Kant hinsichtlich dessen philosophischen Umgangs mit der nichtmenschlichen Natur33 haben für die weitere Entwicklung der Diskursethik keinerlei Folgen gezeitigt und ändern insofern leider nichts daran, dass die Diskursethik diese fundamentale Anforderung an eine Ethik des 21. Jahrhunderts nicht erfüllt. Würde man freilich den bekannten diskursethischen Ergänzungselementen U und D ein N (für Natur) 29 30 31 32 33

Varela 1994, 13. Varela 1994, 13 f. Vgl. Becker/ Küpper/ Ortmann 1988. Vgl. Habermas 1968. Habermas 1991, 219 ff.

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dazu setzen, wäre das ein Widerspruch in sich: der dauerhafte Erhalt menschlichen Lebens in und mit der Natur wird durch den herrschaftsfreiesten Diskurs der Menschen untereinander nicht garantiert, es sei denn wieder mit frühaufklärerischen Menschenbild-Suppositionen, von denen abzulassen wir gute Gründe haben. Auch dieses Argument sollte aber wieder nicht empiristisch missverstanden werden. Das entscheidende Problem ist auch hier, dass die Diskursethik das frühmoderne und frühaufklärerische Programm von Immanuel Kant im Kern eben nur vergesellschaftet, statt einige grundlegende Annahmen in Frage zu stellen. Dazu gehörte mit an vorderster Front das Herrschaftsverhältnis gegenüber der Natur, das die westlichabendländischen Wirtschaftskulturen in den letzten zwei Jahrhunderten auf die Spitze getrieben haben. Es erscheint völlig plausibel, mit Eder die industriekapitalistische Gestaltung der Mensch-Natur-Beziehung auf die schon von Max Weber34 herausgearbeiteten spezifischen weltanschaulichen Kontexte zurück zu beziehen, unter denen frühindustrialisierten Gesellschaften das ausprägten, was wir als Moderne verstehen: „Die Rationalität dieses protestantischen Geistes prägt auch die ökologische Vernunft. Was für diesen Geist zählt, ist der Nutzen, den uns die Natur bringt … Die kulturelle Bedeutung des ‚protestantischen Geistes‘ für das moderne Naturverhältnis wird dann besonders deutlich, wenn wir die symbolische Bedeutung zu verstehen suchen, die die Natur in anderen Gesellschaften und zu anderen Zeiten gehabt hat … Dieses utilitaristische Verhältnis zur Natur behindert heute nicht nur notwendige Veränderungen und die damit verbundenen Lernprozesse im Umgang mit Natur. Es breitet sich vielmehr weiter aus.“35

3 Die Governanceethik als regelungsorientierte Kombination von Ökonomie und Moral Josef Wielands Governanceethik ist keine ökonomische Theorie der Moral. Eine ökonomische Theorie der Moral ist natürlich schierer Unfug. Denn erstens kann über Moral „vernünftigerweise“ nicht einseitig nach solchen Kriterien beraten und entschieden werden, die ethisch-morali34 35

Weber 2004 (orig. 1904). Eder 1988, 10 f.

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schen systematisch entgegengestellt werden. Und zweitens, wenn wir diesen allerdings fundamentalen Gesichtspunkt auch nur für einen Moment außer acht lassen wollen, kann es bei Moral im 21. Jahrhundert nur um Suchprozesse gehen, also das Suchen nach dem Möglichen als dem Noch-nicht-Gegebenen, ja noch nicht einmal Gefundenen. Und bei unternehmerischen Prozessen handelt es sich um eben solche Suchprozesse. Eine ökonomische Theorie der Moral weiß leider nichts vom Wesentlichen der Unternehmensstrategien.36 Von ihrer Entstehung her ließe sich die Governanceethik vielleicht als Beitrag zur moralischen Selbstaufklärung der Organisationsökonomik von Williamson und anderen verstehen. Von nicht geringer Bedeutung sind ebenso Quellen aus der Luhmannschen Systemtheorie: „Die Governanceethik akzeptiert also zunächst einmal die kommunikativ gegründete Entfremdung von Ökonomie und Moral als nicht hintergehbares und positiv zu bewertendes gesellschaftliches Faktum. Die tradierten Codes von Moral (gut/ schlecht) und Ökonomie (Nachfrage/ Angebot oder Aufwand/ Ertrag auf der Unternehmensebene) sind inkompatibel und erzeugen füreinander nur noch kommunikatives Rauschen, das zu keinen wirksamen Handlungen in den jeweiligen Systembereichen führt.“37 Bliebe es bei diesen luhmannianisch-apodiktischen Verhältnissen, wäre eine Governanceethik kaum konzipierbar. Die Beschreibung ließe in dieser Form allerdings selbst das eher als Truggebilde erscheinen, was seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts international als Unternehmenskultur thematisiert und praktiziert wird.38 Vier Seiten weiter sieht die Welt allerdings schon viel wirklicher aus: „Diese theoretische Lage ändert sich allerdings, wenn wir die Integration der beiden Systemlogiken (Ökonomie/ Moral) auf der (vermutlich „die“, RP) Ebene der Go-

36

37 38

Das wäre zugegebenermaßen auf einer wesentlich grundlegenderen Ebene als Kritik der modernen Ökonomik zu vertiefen, wofür hier kein Raum ist. Wieland 2005, 18 f. Mein Befund, dass in der Luhmannschen Systemtheorie hier zwei Seelen in einer Brust anzutreffen sind, nämlich die sehr anregende, die sich mit Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen von Organisationen beschäftigt, und die andere, die mit ihrer plakativen Behauptung binärer Systemcodierung mit den plattesten Varianten neoklassischer Ökonomik sehr kompatibel ist, kann hier nicht weiter erläutert werden, wäre sicher einen eigenen Text wert.

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vernance einer Transaktion durch ein polylingual verfasstes Organisationssystem beziehen.“39 Trotz der Unterschiedlichkeit des Begründungszugangs und des kategorialen Rahmens zwischen der Governanceethik und der mit diesem Text vertretenen kulturalistischen Konzeption von Unternehmenstheorie und damit auch Unternehmensethik verfügen damit beide über einen hinreichend gemeinsamen Themenvorrat und eine hinreichend verwandte Forschungsstrategie, so dass sich sehr gut und produktiv gemeinsam weiter stricken lässt. Gemeinsam weiter stricken bedeutet auch gemeinsames Identifizieren von Problemen und Abarbeiten daran. Von der gubernatio als göttlicher Vorsehung zur Governance als Aufgabe der Steuerung komplexer und eben auch heterogener Akteurssysteme ohne die Hilfe göttlicher Vorsehung ist ein weiter Weg. Der Begriff der Steuerung vagabundiert ohne weitere Festlegung zwischen zentralistischen und demokratischen Ausprägungen, wenngleich die Beschreibung des der Governance zugrunde liegenden Akteurssystems40 schon nahe legt, dass stark zentralistisch ausgelegte Steuerungsstrukturen (abgesehen von mangelnder Erwünschtheit unter heutigen Verhältnissen) kaum sehr effizient sein könnten. Die Demokratie ist aber eben auch eines dieser konkret-historisch zu hinterfragenden Universalien, wie wir weiter oben schon festgestellt haben, und insofern haben wir es offenkundig mit einem recht unbestellten Feld zu tun. Die diskursethische Thematik dieses Textes legt besonders nahe, die demokratischen Ausgangsintentionen zu erinnern, die der Diskursethik zugrunde liegen, auch wenn diese auf kognitivistischem Wege, wie wir gezeigt haben, im weiteren verloren zu gehen drohen. Von daher scheint mir die Frage nach dem Akteurssystem der (tendenziell global) governance selbst eine für Governanceethik wie kulturwissenschaftliche Theorie der Unternehmung elementare Frage zu sein. Der Anspruch, historisch-konkret und praktisch relevant zu sein, verbindet uns wesentlich. Daraus leiten sich nach meinem Dafürhalten eine theoretische und eine praktisch-empirische Konsequenz ab:

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Wieland 2005, 23. Für die internationale Dimension sei hier nochmals auf den neuen Text von Willke (2006) hingewiesen.

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 Theoretisch ist die kulturelle Seite von Governancestrukturen stark zu machen. Strukturell ist bei näherem Hinsehen ja allenfalls das Ausgangsgefüge, dass nämlich „strukturell“ nicht mehr in den alten Arbeitsteilungen zwischen Politik und Ökonomie, Nationalstaaten und Unternehmen gedacht werden kann, dass außerdem zivilgesellschaftliche Entwicklungen dazu geführt haben, dass neue Akteure wie die Non Government Organizations (NGOS) sich für befugt erklären, bei wichtigen Entscheidungen mitzumischen. Die Regulierung selbst ist allerdings nur als kulturelle angemessen zu begreifen, abhängig vor allem von den (kulturellen) Selbstbeschreibungen der beteiligten Akteure und ihren Zielen und Methoden, auf andere Akteure wie auf den Regulierungsprozess insgesamt einzuwirken.  Praktisch und empirisch scheint sinnvoll, genauer hinzusehen und vielleicht auch Projekte dazu durchzuführen, wie sich eigentlich Prozesse demokratischer Selbstentfaltung in solchen Steuerungs- und Regulierungskonstellationen vollziehen – und dabei als analytisches Problem mit zu bedenken, ob und inwiefern neue Formen zivilgesellschaftlicher Entscheidungsbildung tatsächlich den Kriterien demokratischer Selbstentfaltung hinreichend genügen oder vielleicht eher der Herausbildung neuer Funktionseliten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts könnte unter anderen Bedingungen vielleicht so etwas wie eine selbstkritische Zwischenbilanz des westlichabendländischen Modells parlamentarisch-repräsentativer Demokratie gezogen werden, unter den gegebenen scheint das nicht möglich. Dass nach den Regierungswechseln in Spanien und Italien und dem durch deren Niedergang bedingten Druck auf die britische Labour-Regierung außer einem chauvinistisch und antisemitisch durchsetzten Polen dem USamerikanischen Aggressionskrieg gegen den Irak weltweit ungefähr kein Verbündeter mehr geblieben ist, ändert nichts an einer politischen Großwetterlage, in der sich angeblich „freedom and democracy“ westlicher Provenienz in einer globalen Auseinandersetzung mit islamistischem Terrorismus befinden. Wenn eine iranische Regierung auf dem Felde der Atompolitik nicht bereit ist, sich den Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft zu unterwerfen, führt dies sofort zu einer anderen Reaktion als wenn die US-amerikanische Regierung im Klimaschutz oder bei der rechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen ebenfalls zu einer solchen Unterwerfung nicht bereit ist.

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Beschwörungen der Universalie Demokratie wirken heute merkwürdig schal angesichts der geringen und teilweise geringer werdenden Wahlbeteiligungen in den Ländern, die angeblich vor allem auf dieser Welt dafür stehen, und erst recht angesichts der Tatsache, dass Demokratie unter US-amerikanischer Führung und unter Duldung der meisten Staaten der Erde (insbesondere der frühindustrialisierten Länder) zu etwas pervertiert ist, das man – als Regierungsbildungsmechanismus? – um den Preis des Todes zahlloser unschuldiger Männer, Frauen und Kinder in Länder wie Afghanistan, Irak usw. per Krieg exportieren kann. In einem eher theoretisch gerichteten Text über Ethik im 21. Jahrhundert hat dieser Kürzesthinweis auf die politische Weltlage die Funktion, ein wenig drastisch zu illustrieren, welche Kluft selbst solche Ethik-Konzeptionen, die für sich selbst praxisbezogene Ansprüche reklamieren, von der Wirklichkeit praktisch-politischer Verhältnisse in der heutigen Welt immer noch trennt. Damit zurecht zu kommen, ist für kritische Wissenschaft in nach wie vor oder erneut und erst recht praktischer Absicht nicht einfach, erst recht angesichts der postmodernen Unmöglichkeit, das Gute irgendwie mit viel Macht an die Spitze gesellschaftlicher Regulierungs- und Steuerungsprozesse zu setzen: „Die Einheit und Integration moderner Gesellschaft, ihr gemeinsamer Sinn, liegt nicht in einer Systeme umspannenden Totalität, sondern im immerwährenden Aufscheinen und Entschwinden gelingender Simultanität systemischer und daher differenter Entscheidungslogiken in der Governance der Transaktionen einer Gesellschaft. Die Bereitschaft und Fähigkeit individueller und kollektiver Akteure, dies als ihre Gestaltungsaufgabe zu erkennen, zu akzeptieren und zu organisieren – darin besteht das Wesen der Tugend der Governance.“41 Abgesehen von den einseitig kognitivistischen Zungenschlägen, die in den „systemischen und daher differenten Entscheidungslogiken“ noch enthalten sind42, kann dem vom Standpunkt einer kulturwissenschaftli-

41 42

Wieland 2005, 24. Inzwischen gibt es zwar einige luzide Kritik an der Luhmannschen Theorie, aber das Opus, das aufzeigt, dass sich ein unglaublich origineller Quer- und Selbstdenker von einem kognitivistischen Rationalitätsverständnis nie hat lösen können, so dass man fast in Versuchung ist, auf seine frühere Verwaltungstätigkeit hinzuweisen, muss leider erst noch geschrieben werden.

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chen Theorie der Unternehmung nur umstandslos zugestimmt werden. Wir sollten unsere Forschungsstrategien entsprechend justieren.

4 Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Governanceethik Der kulturwissenschaftliche Zugang zur Ethik zielt darauf, die jeweils besonderen kulturellen und sozialen Praktiken der Menschen zum fundamentalen Ausgangspunkt ethisch-moralischer Untersuchungen und Überlegungen zu machen. Damit ist bereits eine elementare rekursive Beziehung angelegt, denn diese Praktiken sind einerseits durch die jeweils besonderen kulturellen und sozialen Gesellschaftsverhältnisse geprägt, andererseits entwickeln die Menschen durch ihre Praktiken eben jene Gesellschaftsverhältnisse fort. Das betrifft unseren ersten Einwand gegenüber der Diskursethik im zweiten Kapitel. Nicht nur mit Blick auf die Diskursethik und die bisherige Ausarbeitung der Governanceethik, sondern auch mit Bezug auf viele andere Theorieprogramme, gerade auch organisationstheoretische und soziologische, scheint uns für eine konstruktive Wendung auch der zweite Einwand äußerst bedeutsam: es hält sich weiter hartnäckig das Gerücht, dass es zwar intellektuell, moralisch und politisch sympathisch sei (vielleicht sogar erstrebenswert), ökologischen Fragen außerhalb des wissenschaftlichen Raumes wichtige Bedeutung beizumessen, gleichzeitig aber eigenes Bemühen um eine seriöse Arbeit als Wissenschaftler erfordere, genau diese Bedeutung zu ignorieren. Wer sich wissenschaftlich mit ökologischen Fragen und Fragen nachhaltiger Entwicklung beschäftigt, macht sich gemessen an den Verständnissen vieler durch die akademische Welt flottierender Theorieprogramme die Finger schmutzig. Zu den wichtigen Bestimmungselementen eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes unter anderem hinsichtlich dessen, was Ethik heute noch sein und leisten kann, gehört die Einsicht, dass die kulturellen und sozialen Praktiken der Menschen ohne Thematisierung der ökologischen Probleme und der Fragen einer nachhaltigen Entwicklung (= der Mensch-Natur-Beziehung) nicht länger seriös analysiert werden können. Vielleicht möchte jemand einer kulturalistischen (Governance-)Ethik den gleichen Vorwurf des paradigmatischen Imperialismus machen, wie wir ihn gegen die sich selbst so bezeichnende ökonomische Theorie der

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Moral erhoben haben. Das wäre allerdings ein Trugschluss. Die ökonomische Theorie der Moral versucht in imperialistischer Manier, dem ethischen Felde ein bestimmtes Menschenbild aufzudrängen, das nach dem Verlauf der Dinge schon gar nicht mehr als empirisch triftig, sondern nur noch als Als-ob-Konstruktion gerechtfertigt wird (was an der imperialistischen Manier leider nicht das Geringste ändert, im Gegenteil). Die kulturalistische Ethik bekennt sich entsprechend der Substanz des kulturwissenschaftlichen Ansatzes ausdrücklich zur (nicht abgeschlossenen) Vielfalt der Werte, also sowohl zur Geltungskraft nicht-ökonomischer Werte als auch zur Vermeidung der (bestenfalls empiristischen) Privilegierung einer bestimmten Wertorientierung. Angesichts der Steuerungsprobleme moderner Gesellschaften und weil deren ethisch-moralische Zukünfte nicht jenseits der Steuerungsprobleme gewonnen werden können, sondern nur über deren hinreichende Bearbeitung, erscheint eine Verknüpfung des kulturalistischen Ethik-Programms mit der Hauptidee der Governanceethik sinnvoll: also eine kulturalistische bzw. kulturwissenschaftlich aufgeklärte Governanceethik. Für eine menschenbezogene Ethik hat der vermeintliche (nämlich nur scheinbare) Umweg über die Natur bemerkenswerte Folgen: Leiblichkeit und Sinnlichkeit werden kulturelle Bestandteile einer modernen ethischen Konzeption. Wenn wir die Leibfeindlichkeit der modernen abendländischen Ethik angefangen von der christlichen korrigieren, können wir von der kulturalistischen Ethik einen Bogen schlagen zur Renaissance der Tugendethik in einer Weise, die nicht abstrakt-moralisch gehalten ist. Vielmehr geht es dann um die Entwicklung und Entfaltung von Kulturtechniken, Fertigkeiten und Fähigkeiten der Menschen (u. a. als ökonomischer Akteure), wovon die Gestaltung der Zukunft im 21. Jahrhundert wesentlich abhängig ist. An dieser Stelle sei übrigens der Hinweis gegeben, dass die Luhmannsche Systemtheorie jenseits aller ihrer wichtigen Leistungen, darunter jenseits ihrer wohltuend ernüchternden Einsichten über das Funktionieren von Organisationen, letztlich deshalb so öde und langweilig ist, weil sie just diesen Fragen kultureller Fähigkeiten und Fertigkeiten keinerlei Aufmerksamkeit widmet. Wir gelangen also zu einer Theorie, die die Subjekte wieder ernst nimmt. Das Private ist politisch im Sinne der Qualität gesellschaftlicher Entwicklung. Das ging historisch schon mehr als einmal schief dergestalt, dass in einzelnen Subkulturen oder gar der dominierenden Kultur der Gesellschaft daraus ein repressives Programm persönlicher correct-

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ness gemacht wurde (bzw. wird). Davon sollten wir uns allerdings nicht abschrecken lassen unter Bedingungen, wo kultureller Pöbel noch nie so viel Reputation bekam. Bezogen auf die gesellschaftliche Reputation hätten sich die Bärbel Schäfers und Dieter Bohlens früher nur schämen müssen, heute werden ihnen die positiven Sanktionen hohen Einkommens und öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil. Das 20. Jahrhundert war wissenschaftstheoretisch von dem Glauben durchdrungen, die größtmögliche Wissenschaftlichkeit in solchen Theorien suchen zu sollen, die möglichst objektive Aussagen im Sinne von möglichst subjektunabhängigen Aussagen zu treffen vermögen. Entsprechend wurden auf der kollektiven organisationsbezogenen Ebene Systemtheorien und auf der individuellen wie kollektiven persönlichen Ebene Verhaltenstheorien bevorzugt. Kulturtheorien und Handlungstheorien, die auf diesen beiden Ebenen eher die subjektive Seite ausleuchten, blieben demgegenüber in der Minderheit und wurden vielfach als unwissenschaftlich kritisiert.43 Daraus wurde das Konstrukt von zwei Welten entwickelt, einer der vermeintlichen Fakten, für die die Wissenschaft zuständig sei, und einer der Werte, für die die Wissenschaft nicht zuständig sei. Sowohl das dominierende ökonomische Handlungsmodell, das den homo oeconomicus als Anpassungsoptimierer gegenüber spezifischen Rahmenbedingungen modelliert und für Veränderung seiner Aktionsformen folglich vor allem auf die Veränderung dieser Rahmenbedingungen setzt, als auch das dominierende soziologische Handlungsmodell, das den homo sociologicus als durch gesellschaftliche Werte und Normen geprägt oder gar determiniert sieht, sind streng genommen gar keine Handlungsmodelle, sondern Verhaltensmodelle. Das kulturwissenschaftliche Handlungsmodell hat demgegenüber den Vorzug, individuelles und kollektives Handeln stark zu machen, selbstverständlich nicht abzulösen von den Handlungsbedingungen und Handlungskontexten, aber im Sinne der bekannten Rekursivität von Handeln und Struktur bei Anthony Giddens44 eben auch die Deutungsmuster, Bedeutungszuweisungen, kulturellen Codes, Sinnorientierungen, Bemühungen um kulturelle Identität etc. auf seiten der Handelnden untersuchen zu wollen, zu müssen und zu können. 43 44

Vgl. Pfriem 2000, 442 f. Vgl. Giddens 1984.

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Der Vorteil einer Theorie des homo culturalis gegenüber all solchen Systemtheorien, die sowohl unparteilich wie auch passiv gegenüber den von ihnen behaupteten systemischen Mechanismen verharren, ist die Möglichkeit, wissenschaftliche Bögen schlagen zu können zu solchen Theoriefeldern, wo es um die sinnlichen Potentiale der Menschen und die wesentlichen Dimensionen ihres nicht nur intelligiblen, sondern auch sinnlichen Handelns geht: Zeit und Raum, sehen, hören, tasten, riechen, schmecken… Wir haben es also nicht mit einer im Kognitivisischen verbleibenden Umstellung von Verhaltens- auf Handlungstheorie zu tun, sondern beziehen uns auf den performative turn der kulturwissenschaftlichen Spezifizierung eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes. Das führt zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, womit wir – auf basaler Ebene – wiederum eine Verknüpfung von Moral und Kultur erreichen: Moralische Kompetenz entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln. Wenn wir es so formulieren, wird die Nähe moralischer und kultureller Kompetenzen ohne weiteres deutlich. „Es ist diese Struktur – die leibliche Beschaffenheit des Wahrnehmenden – und nicht etwa eine vorgegebene Welt, die bestimmt, auf welche Weise der Wahrnehmende handelt und durch die Ereignisse in seiner Umwelt beeinflusst wird.“45 Das erfahrungsorientierte Verständnis von Erkenntnis, das Varela dabei im Auge hat, fußt darauf, „dass sinnhafte, begriffliche Strukturen aus zwei Quellen entspringen: 1. aus der Strukturiertheit der leiblichen Erfahrung, 2. aus unserem Vermögen, bestimmte wohlstrukturierte Aspekte der leiblichen und interaktiven Erfahrung kreativ auf begriffliche Strukturen zu projizieren.“46 Wir können auch schließen mit dem Titel eines kürzlich erschienenen Buches: „Kultur macht Sinn“.47

45 46 47

Varela 1994, 20. Varela 1994, 23. Rüsen 2006.

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Strategische Unternehmenspolitik als Daseinsbewältigung Grundzüge einer kulturalistischen Unternehmensethik wie Theorie der Unternehmung

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„Die Kritik der Vernunft … wird zur Kritik der Kultur.“ Ernst Cassirer

„Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen.“ Friedrich W. Nietzsche

1 Kultur ist en vogue – warum? Mehr noch als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unserer Oldenburger Forschungsprogrammatik für eine kulturwissenschaftliche Theorie der Unternehmung (FUGO 2004) kann – jedenfalls für die sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskurse – heute gesagt werden: eine kulturalistische oder kulturwissenschaftliche Perspektive liegt im Trend.1 Für eine so signifikante Entwicklung sollten sich Gründe angeben lassen, und in der Tat können einige identifiziert werden. Die kulturwissenschaftliche Perspektive stellt sich in absichtsvollen Widerspruch zu Verhaltenstheorien auf der individuellen und Systemtheorien auf der kollek1

Ein wichtiger Meilenstein gerade für die deutsche Diskussion war sicher Reckwitz 2000.

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tiven Ebene, zu deren innerer Logik gehört, mit sehr erklärungsmächtigen Ansprüchen daher zu kommen. Solche erklärungsmächtigen Ansprüche schienen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts vernünftig zu sein, insofern (1) von einer gerichteten Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung ausgegangen wurde und (2) erkenntnistheoretisch trotz aller Modifikationen durch Popper u. a. die Suche nach der Wahrheit als das legitimste Ziel wissenschaftlicher Bemühungen betrachtet wurde. Beides hat sich in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten dramatisch verändert: die Ökologiebwegung der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts steht angefangen von ihren theoretischen Pionieren für den Bruch mit einem aus dem 18. Jahrhundert stammenden dreifachen Glauben: „an den unbegrenzten technischen Fortschritt, an das unbegrenzt mögliche Wirtschaftswachstum, und an die nicht, wie häufig gemeint, auf Bentham, sondern auf dessen schottischen Vorläufer Hutcheson zurückgehende ‚greatest happiness for the greatest number‘ als Resultat des technischökonomischen Wachstums.“ (Pfriem 2006, 363) Und in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie hat über vielfältige Interventionen und Positionen der Glaube an die Suche nach objektiven Wahrheiten abgenommen, und es haben sich mit durchaus unterschiedlichen Ausprägungen eher konstruktivistische Herangehensweisen durchgesetzt. Da der Verfasser dieses Textes der Ökonomik und im engeren Sinne der Betriebswirtschaftslehre angehört, darf der Hinweis nicht fehlen, dass in wirtschaftswissenschaftlichen Kontexten die kulturwissenschaftliche Perspektive nach wie vor einen Außenseiterstandpunkt verkörpert.2 Ungewissheit und Kontingenz sind von daher in der jüngeren Vergangenheit nicht zufällig zu Stichworten bzw. geistigen Orientierungspunkten wissenschaftlicher Debatten geworden. Im weiteren Verlauf dieses Textes wird sich noch zeigen, inwiefern das zu einer prächtigen Anschlussstelle für die bislang eher theoriearm betriebene betriebswirtschaftliche Teildisziplin des Strategischen Managements an elaborierte theoretische Diskurse wird. Hier soll zunächst die Verortung der kulturwissenschaftlichen Perspektive generell weiter spezifiziert und der Begründungsrahmen für die wachsende Bedeutung einer solchen Perspektive erweitert werden. 2

Das gilt für die Betriebs- wie Volkswirtschaftslehre, bemerkenswert zeitgleich zu unserem Oldenburger Band erschien für letztere Blümle/ Goldschmidt 2004.

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Ungewissheit und Kontingenz sind ja auch Schlüsselbegriffe in der von Niklas Luhmann begründeten soziologischen Systemtheorie, die in den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen während der letzten beiden Jahrzehnte insbesondere in Deutschland viel Zuspruch erfahren hat, durch ihren nüchternen (ernüchternden) Blick auf das Funktionieren von Organisationen speziell auch in Theorien der Organisationsberatung. Und doch wendet sich die kulturwissenschaftliche Perspektive geradezu programmatisch gegen Typus und Kernaussagen der Luhmannschen Systemtheorie. Man könnte formulieren, die kulturwissenschaftliche Perspektive sucht der angewachsenen Sehnsucht nach Wirklichkeitswissenschaft Ausdruck zu geben, in fundamentaler Kritik an dem zu hohen Abstraktionsniveau und dem zu geringen empirischen Gehalt, der neben anderen auch die Luhmannsche Systemtheorie fasziniert.3 Es geht um das Erschließen von Kontextualitäten, das „schmutzige“ Zusammenwirken verschiedener Systeme und Faktoren4, die Wiedergewinnung der Gegenstände – ohne in Empirismus zu verfallen.5 Bezüglich der Gegenstände lässt sich weiter spezifizieren, dass die kulturwissenschaftliche Perspektive mit der negativen Diskriminierung weicher Faktoren („soft facts“) aufräumt. Für viele wissenschaftliche Arbeiten nicht nur im naturwissenschaftlichen Felde, sondern etwa auch in dem der Wirtschaftswissenschaften, ist noch immer die Geschichte gültig, die der US-amerikanische Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum vor mehr als einem Vierteljahrhundert popularisierte: die Geschichte von dem Mann, der unter einer Laterne nach seinem Schlüssel sucht, die Frage eines Passanten, wo er ihn denn verloren habe, mit dem Fingerzeig ins Dunkle beantwortet, und dann auf die irritierte Rückfrage, warum er dann unter der Laterne suche, zum Besten gibt, dort könne er besser sehen. Die Privilegierung der (wirklichen oder vermeintlichen) hard facts in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts hatte durch den er-

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Dieser Befund wird durch – dann reichlich deduktiv geratende – „Anwendungen“ der Systemtheorie auf empirische Phänomene keineswegs außer kraft gesetzt. In diesem Sinne absichtsvoll der Titel von Pfriem 2005a. Die Schwierigkeiten, die der Philosophie der Umgang mit dem Status ihrer Gegenstände bereitet, hat jüngst Konersmann (2006) problematisiert.

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kenntnistheoretischen Glauben an die Identifizierbarkeit zeitlos-objektiver Wahrheiten immer kräftigen Rückenwind. Der bleibt allerdings inzwischen zunehmend aus. Umgekehrt sollen die Risiken, die mit einer kulturwissenschaftlichen Methodik angefangen von der Idee der „dichten Beschreibung“6 verbunden sind, keineswegs bagatellisiert werden. Der Frage nach der (eben nur nicht zu weit getriebenen) Verallgemeinerung und Verallgemeinerbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse darf sich eine reflektierte kulturwissenschaftliche Perspektive auf keinen Fall entziehen. Für den wissenschaftspolitischen Aufstieg kulturwissenschaftlicher Perspektiven gibt es einen weiteren Grund, der aus einem wichtigen Merkmal gesellschaftspraktischer Veränderungen in der Welt beruht, nicht zuletzt dessen, was wir mittlerweile als Globalisierung bezeichnen: das Phänomen interkultureller Vielfalt. „Der selbstverständliche, gelassene Umgang mit Diversität und die auf diese Diversität bezogene Kulturkenntnis bilden eine Basis, auf der alle stehen und mit deren Hilfe sich alle gegenseitig begreifen.“ (Schulze 2006, 175) Als empirischer Befund scheint diese Formulierung Schulzes zwar deutlich zu zuversichtlich, aber gerade dadurch tritt ans Licht, dass die kulturwissenschaftliche Perspektive wesentlich auch mit Bildung zu tun hat: um Vielfalt anerkennen zu können, muss man in der Lage sein, sie zu identifizieren. Die kulturwissenschaftliche Perspektive beinhaltet noch einen weiteren wissenschaftlichen Vorteil, der bislang noch kaum erkannt zu sein scheint. Während sie gegenüber den Verhaltens- und Systemthorien die subjektive Seite wieder ins rechte Licht setzt, insistiert sie gegenüber zu engen Handlungstheorien auf dem kollektiven Charakter vieler sozialer Phänomene. Damit richtet sie sich auch gegen den in den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften immer noch stark verbreiteten methodologischen Individualismus, 7 der zu der fixen Idee, soziales Verhalten vor allem über isolierbare individuelle Nutzenmaximierungskalküle erklären zu wollen, wesentlich beigetragen hat. Im Kontext einer moraltheore-

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So der klassische Titel von Geertz 1987. Schumpeter wird wegen der Verwendung dieses Begriffs in seiner Habilitationsschrift von 1908 häufig als Quelle in Anspruch genommen und der Begriff als solcher gleich mit der Idee der Nutzenmaximierung in eins gesetzt, dabei aber unterschlagen, dass Schumpeter selbst diese Gleichsetzung gerade nicht vorgenommen hatte.

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tischen Erörterung hat Priddat den Schein der Unbefangenheit des methodologischen Individualismus in Frage gestellt, „und zwar mit dem Argument, dass die Verantwortungskonstruktion für das Individuum selber bereits eine ethische Konstruktion ist.“ (Priddat 2005, 18) Insofern haben wir allen Grund, das vorangestellte Motto Ernst Cassirers ernst zu nehmen und vor allem nicht als gegen Vernunft gerichtet fehlzuinterpretieren. Es geht „nur“ darum, die Vernunft aus ihrer zu engen westlich-abendländischen Verkopplung mit Rationalität, kalkulierendem Verstand, Effizienz und Effektivität etc. zu lösen …

2 Die Sprengkraft der kulturalistischen Perspektive für den modernen Umgang mit Ethik Konersmann markiert mit Blick auf Descartes in dem bereits erwähnten Text8 sehr präzise die Abhebung des westlich-abendländischen Denkens von seinen Gegenständen: „Die Geste des Cogito erneuert jenen bereits von Sokrates reklamierten philosophischen Heroismus, der nun in der äußersten Zuspitzung der egotistischen Reduktion zu einem Heroismus ohne Gegenstandswelt geworden ist, oder genauer: Dieser Heroismus erwächst nun gerade daraus, der Bindung an die Präsenz der Dinge entsagt zu haben.“ (Konersmann 2006, 51) Ausgangspunkt einer heutigen kulturwissenschaftlichen Perspektive für den Ethik-Diskurs hat der Umstand zu sein, dass es in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts global betrachtet9 kein wesentlich verbindliches Normengefüge mehr gibt, so sehr sich auch viele gegen diese Einsicht sträuben mögen. Insofern spreche ich von einem Umstellen von Ethik auf Kultur gerade nicht, um ethisch-moralische Kriterien aus der Welt zu schaffen, sondern vielmehr um diesen unter der Bedingung des real existierenden Werte- und Orientierungspluralismus kräftige Anerkennung zu verschaffen. Der moral point of viewmuss in den konkreten ethisch relevanten Situationen gesucht und gefunden werden. Das ist die notwendige Schlussfolgerung, die daraus gezogen werden muss,

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Konersmann 2006, s. a. Fußnote 5. Soweit dies derzeit in einzelnen Ländern oder Regionen der Erde noch anders ist, befindet sich dieser Zustand eben wegen der Globalisierung bereits in Auflösung.

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dass Weltanschauungen mit dem Anspruch auf allgemein gültige Verbindlichkeit diesen nicht länger aufrechterhalten können. Der Hinweis auf den Suchcharakter verweist auf etwas, das vordergründig als Schwäche der kulturwissenschaftlichen Perspektive in ethischer Hinsicht angesehen werden mag, bei näherem Hinsehen freilich sich als die eigentliche Stärke erweist. Es geht nicht länger um die (im konkreten Fall dann meistens hoch kontroverse) Anwendung irgendwelcher ethischen Universalien, sondern um Suchen und Finden auf einer wesentlich konkreteren Ebene. Ideen wie Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie etc. können und sollen ihre Kraft als regulative Ideen entfalten, können das, wie man etwa an der Brüderlichkeit nachzeichnen kann, die die Schwesterlichkeit ausschloss, freilich nur einlösen durch ihre Bewährung in konkret-historischen Kontexten.10 Als Beleg für diese Feststellung mag auch dienen, dass es unter diesen Begriffen keinen gibt, mit denen nicht schon schrecklicher und verbrecherischer Schindluder getrieben worden wäre. Was nützt die Freiheit an sich, wenn Guantanamo über Jahre im Namen der Freiheit aufrechterhalten wird? Wir erschließen uns die Welt besser, wenn wir von einer unendlichen Vielfalt kultureller Differenzen ausgehen, bei denen die ethisch-moralische Parteilichkeit dadurch ins Spiel kommt, dass ethisch-moralische Kriterien als mitlaufende Konnotationen eingebracht werden, also vormals vielleicht ethisch-neutral erscheinenden Phänomenen ethisch-moralische Bedeutungen zugewiesen werden, mit dem Ergebnis entsprechender (negativer oder positiver) moralischer Diskriminierungen in, das sei immer wieder betont, historisch-konkreten Situationen. Daraus erhellt übrigens, dass Parteilichkeit über diese Gedankenführung nicht relativiert, sondern im Gegenteil mit besonderer Stärke ausgestattet wird. Die Brauchbarkeit dieser Vorgehensweise zeigt sich ex post auch an vielen Entwicklungen, wo zunächst als ethisch neutral betrachtete Phänomene im Zeitablauf moralisch aufgeladen werden, beispielsweise Technologien wie die Atomenergie oder die Gentechnik. Insofern gibt es auch nicht an sich moralische Güter, die wie eine Güterklasse anderen 10

Der Begriff der Bewährung transportiert dabei ein Dilemma: Mehrheit ist nicht Wahrheit und faktische Durchsetzung ist mitnichten unbedingt Ausdruck kultureller Überlegenheit. Meine beiden besonders beliebten Beispiele bleiben der Untergang der Etrusker gegen die Römer und der der maurischen Kultur auf dem spanischen Festland gegen die katholische Reconqista im 15. Jahrhundert. Beides ist in kultureller Rückschau völlig betrüblich.

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Gütern gegenübergestellt werden, sondern es ist selbst kontingent, welche ökonomischen Güter und Dienstleistungen moralisch aufgeladen werden.11 Das gilt analog für sozialökonomische Verhältnisse: wer die Vertiefung sozialer Gegensätze nur so interpretiert, dass damit endlich die Unterschiedlichkeit von Leistungen zum Ausdruck kommt, wird darin gar kein ethisch-moralisches Problem identifizieren können und wollen. Mit dem Verweis auf den fluiden Charakter ethisch-moralischer Bedeutungszuweisungen lässt sich der Begründungsrahmen einer kulturwissenschaftlichen Perspektive für Unternehmens- und Wirtschaftsethik weiter spezifizieren. Die Beobachtung des Wechselspiels dieser Bedeutungszuweisungen wird nämlich selbst zum fundamentalen Ausgangsproblem einer kulturalistischen Unternehmens- und Wirtschaftsethik. Zum Ausgangsproblem einer besonderen ethischen Konzeption können auch ganz andere Dinge gemacht werden, bei Josef Wielands Governanceethik etwa die Steuerungsprobleme moderner Gesellschaften (Wieland 1999). Andere Ethik-Konzeptionen als die hier vorgetragene kulturalistische sollen in ihrer möglichen Leistungsfähigkeit an dieser Stelle gar nicht kritisiert werden, die kulturalistische scheint mir allerdings nicht nur besonders anschlussfähig, sondern auch besonders ergiebig zu sein. Jedenfalls bricht die kulturwissenschaftliche Perspektive in meiner Lesart konsequent mit dem Mythos der ökonomischen Rationalität. Als Produkt des abendländischen Gedankengebäudes im 18. Jahrhundert ist Letztere sehr konkret-historisch das, was der Philosoph Cornelius Castoriadis gesellschaftlich imaginäre Institution genannt hat (Castoriadis 1984), und damit für das 21. Jahrhundert absolut überprüfungswürdig. Bemerkenswert an den meisten Beiträgen zur unternehmens- und wirtschaftsethischen Debatte ist nun, dass der Glaube an die ökonomische Rationalität, der dann ethisch-moralische Orientierungen gegenübergestellt werden, immer noch hochgehalten wird, teilweise in unerfreulich abstrakter Manier. Das Weiteroperieren mit ökonomischer Rationalität findet teilweise auch dort statt, wo der hier vorgeschlagenen eigentlich recht verwandte Konzeptionen vorgetragen werden. So wird bei Wielands Governanceethik nach meinem Dafürhalten die ökonomische Rationalität durch den 11

Genauer zu dieser Argumentation s. Lautermann/ Pfriem 2006, 121f.

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absichtsvollen Zugriff auf Williamsons Transaktionskostenökonomik zu sehr gerettet. In dem Maße, in dem Ungewissheit und Kontingenz als fundamentale Probleme der strategischen Führung von Unternehmen erkannt werden, verliert eine kostentheoretisch aufgebaute Ökonomik wie die von Williamson allerdings an Relevanz. Auch Priddat arbeitet immer noch mit der (Auto-)Suggestion einer ökonomischen Rationalität. Gerade in einem Text, der als einleitender Essay eines Buches (Priddat 2005) das Problem einzukreisen sucht, argumentiert er nicht frei von Widersprüchen, wenn er etwa, wie schon erwähnt, den Unbefangenheitsschein des methodologischen Individualismus kritisch aufklärt, zwei Seiten vorher aber „die These, dass Menschen die für sie selbst beste Alternative herausfinden“ (Priddat 2005: 16), ausdrücklich verteidigt. Und nur unter Beibehaltung der Idee ökonomischer Rationalität lässt sich die nachfolgende Unterscheidung zwischen (sic!) moralischer Moral und ökonomischer Moral rechtfertigen. Die ökonomische Moral wird von der moralischen Moral damit abgegrenzt, „dass sie die Allokation der Ressourcen der moralischen Ziele ins Spiel der Argumentationen bringt“ (Priddat 2005: 22). Sehr überzeugend erscheint diese Unterscheidung zweier Moraltypen nicht, ebenso wenig die Formulierung: „Im Alltag ist Moral vorhanden, aber durchaus diffus verteilt“ (Priddat 2005: 25). Für wesentlich einleuchtender erachte ich die oben eingeführte Begrifflichkeit der kulturellen Differenzen, die in unterschiedlicher Weise mit ethisch-moralischen Bedeutungszuweisungen ausgestattet werden. Damit kann auch die unterschiedliche Aktualisierung eines moralischen Standpunkts besser eingefangen werden als mit der kategorialen Unterscheidung von zwei Typen der Moral. So wie die ökonomische Rationalität bei Priddat weiter irgendwie gegeben ist, so ist auch Moral irgendwie als Bestandsgröße gegeben, in einer Formulierung als „viable informelle Institution“ (Priddat 2005: 27). Ergiebiger als ein solches Bestandsdenken scheint für uns zu sein, Moral performativ, konkret-situativ zu denken, als (mögliche) Aktualisierung eines moralischen Standpunkts in einer konkret-historischen Situation, und zwar gerade dergestalt, dass Moral nicht etwa vorher vorhanden, sondern sich in dieser Situation definieren und herausstellen muss. Ungewissheit und Kontingenz betreffen gerade auch die Moral: in der jeweiligen Situation erst wird das Wissen entwickelt, worin der moralische Standpunkt bestehen sollte.

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3 Die Sprengkraft der kulturwissenschaftlichen Perspektive für den Umgang mit der ökonomischen Theorie der Unternehmung Im Rahmen der Veröffentlichung unserer Oldenburger Forschungsprogrammatik zu einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung habe ich die Charakterisierung des Strategischen Managements von Unternehmen mit dem Titel vorgenommen: Unternehmensstrategien sind kulturelle Angebote an die Gesellschaft (Pfriem 2004). Das beruht im Grunde auf dem (Selbst-)Verständnis einer Interaktionsökonomik, die sich von der Idee isolierbarer Nutzenmaximierngsstrategien einzelner ökonomischer Akteure gelöst hat und stattdessen versucht, möglichst genau und gründlich die permanenten Wechselspiele zwischen den verschiedenen Akteuren zu beobachter. Als Anbieter bieten Unternehmen eben zunächst mal nur an – es hängt an vielen Faktoren, wie weit diese Angebote auf befriedigende zahlungsfähige Nachfrage stoßen, wozu selbstverständlich viele unternehmenspolitischen Manöver zählen, diese Nachfrage aktiv zu generieren. Solche Manöver können funktionieren, müssen es aber nicht. Bedeutungsschemata sind nichts weniger als emergente Ergebnisse sozialer Interaktionsprozesse. Das bedeutet, sie können nicht ‚von außen‘ determiniert, planvoll und zielgerichtet gesteuert werden (was übrigens bezogen auf Angebot und Nachfrage von Produkten heißt, dass sowohl die Vorstellung von Konsumentensouveränität als auch die einer Konsumentenmanipulation in ihrer Reinform hinfällig sind). Das wiederum unterstreicht den notwendig interaktionsökonomischen Charakter einer kulturwissenschaftlichen Ökonomik. Eine solche interaktive Sichtweise des kulturwissenschaftlichen Zugangs ist auch hervorragend geeignet, der Weiterentwicklung Rechnung zu tragen, die im Wettbewerb zwischen Unternehmen mittlerweile stattgefunden hat: Neben den Wettbewerb auf der Ebene der Produkte und jenen auf der Ebene der Prozesse und Herstellungsverfahren ist nämlich der Wettbewerb um die Generierung von Zukunftsmärkten als dritte, besonders tief gehende Wettbewerbsebene getreten.12 Fasziniert von dem seinerzeit strahlenden Vorbild der mechanistisch geprägten Naturwissenschaften hat sich die ökonomische Wissenschaft aus dem 18. Jahrhundert heraus zunächst ebenfalls mit dem Selbstver12

Dieser Befund ist gründlich ausgearbeitet in Fichter/Paech/Pfriem 2005.

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ständnis entwickelt, möglichst überhistorische Gesetzmäßigkeiten ihres Gegenstandes aufzudecken. Das wird paradoxerweise13 gerade an dem Theoriegebäude von Marx und Engels deutlich, die aus ihrer Kritik an der Politischen Ökonomie eine allumfassende materialistische Geschichtsauffassung zu konstruieren suchten.14 Jenseits der Theorien, die das kapitalistische Wirtschaftssystem auf die eine oder andere Weise aus den Angeln heben wollten, kam die Gestaltungsfunktion der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung erst allmählich zur Reife: basierend auf der mit Beginn des 20. Jahrhunderts sich herausbildenden fachdisziplinären Trennung bei der Volkswirtschaftslehre als Politikberatung, bei der zunehmend erstarkenden Betriebswirtschaftslehre als mögliches Set von Empfehlungen für gute Unternehmensführung.15 Dass die Wirtschaftswissenschaften im 20. Jahrhundert so stark daran interessiert waren, den vermeintlich objektiven Gesetzmäßigkeiten funktionierender kapitalistischer Marktwirtschaften nachzuspüren, hatte keineswegs nur theorieimmanente, sondern auch handfeste (gesellschafts-) politische Gründe: in der antagonistischen Auseinandersetzung zwischen der marktwirtschaftlich-kapitalistischen und einer staatsbürokratischen Wirtschaftsordnung, die unter dem Begriff Sozialismus einmal als menschenfreundlichere Alternative zu kapitalistischen Gesellschaften angetreten war, ging es für die Verfechter beider Seiten darum, die Überlegenheit ihres Systems zu beweisen. Das mag seit 1989 kaum mehr eine Rolle spielen und angesichts des maroden Zustands der osteuropäischen Wirtschaften und Gesellschaften auch schon in den Jahren davor nicht, darf in seiner Rückschau allerdings auf keinen Fall unterschätzt werden.

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Paradoxerweise deshalb, weil die Marxsche Theorie aus sich heraus ja ein Subjekt generierte, dem außerordentlich große Geschichtsmäßigkeit zugeschrieben wurde. Friedrich Engels ging etwa in seiner Rezension des ersten Bandes von Marxens Kapital so weit, zu formulieren: „Soweit er (Marx, RP) sich bemüht nachzuweisen, dass die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer andern, höheren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nur denselben allmählichen Umwälzungsprozess auf dem sozialen Gebiet als Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen hat.“ (Marx-EngelsWerke Bd. 12, S. 226 f.) Das letzte ist natürlich von heute her formuliert und brauchte weit mehr als ein halbes Jahrhundert, s. dazu Pfriem 2005.

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Diese Konstellation hat ja auch das geistige Ringen um die Beziehung von Freiheit und Wirtschaft so ideologisch werden lassen. Noch heute trifft man kaum Ökonomen, die nicht die Nase darüber rümpfen würden, dass Schumpeter in seinem späten Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1946) sich über die ersten hundert Seiten erst einmal gründlich mit Karl Marx auseinandergesetzt hat. Der Marxismus hat allerdings im 20. Jahrhundert das Seinige dazu beigetragen, dass wirtschaftsordnungspolitische Fragen gegenüber wirtschaftskulturellen (inklusive wirtschaftskulturpolitischen) völlig vereinseitigt wurden und die Beschäftigung mit wirtschaftskulturellen Fragen zu einem völlig uninteressanten, tendenziell subversiven Geschäft wurde. Dabei hatte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich Ökonomik und Soziologie überhaupt erst systematisch auseinanderzuentwickeln begannen, durchaus Theoriestränge gegeben, die einen kulturwissenschaftlichen Umgang mit ökonomischen Problemen auf den Weg bringen wollten. Thorstein Veblen als Pionier des heute so bezeichneten alten ökonomischen Institutionalismus (Veblen 1981, orig. 1899) widersprach der Annahme, eine ökonomische Theorie könne auf eher zeitlosen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut werden, und forderte, der rasche gesellschaftliche Wandel müsse Berücksichtigung finden. Die Menschen handelten nicht ein für alle mal gleich, und wie sie dächten und handelten, werde wesentlich von den gesellschaftlichen Institutionen geprägt, unter denen sie lebten. Max Weber veröffentlichte 1905 seine Untersuchung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (Weber 1905). Obwohl er durch einige Formulierungen selbst dazu beitrug, später für das Programm einer wertfreien Wirtschafts- und Sozialwissenschaft in Anspruch genommen zu werden, war gerade er es, der mit dieser Arbeit den Blick für die Bedeutung geistig-kultureller Faktoren für die Erklärung spezifischer Wirtschaftsweisen öffnete. Ähnlich erforschte Werner Sombart mit seinem 1913 erschienenen Buch „Der Bourgeois“ die Entwicklung und die Quellen des kapitalistischen Geistes. Diese Überlegungen weitete er später mit seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ (1987, orig. 1916-1927) aus. Die zwischendurch erschienene Studie „Luxus und Kapitalismus“ (1922) war, wie Sombart im Vorwort selbst sinngemäß ausführt, Ausdruck davon, dass eine historisch und kulturell hinreichend reflektierte Untersuchung über die Wirtschaft als Gegenstand zwangsläufig hinausführen muss. Nicht vergessen werden darf in dieser Ahnenreihe

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Georg Simmel (1989, orig. 1900) mit seiner historischen und kulturalistischen Analyse des Geldes in der modernen Wirtschaft. Wenn wir die mögliche Rolle eines kulturalistischen Zugangs zu ökonomischen Problemen dahingehend spezifizieren, dass es dabei nicht allein um die kulturelle Geprägtheit und die kulturellen Verflechtungen scheinbar sachrationaler ökonomischer Tatbestände gehen sollte, sondern auch um die strategischen Handlungsmöglichkeiten, also die Praxis ökonomischer Akteure als kulturprägender Akteure, ragt das Werk von Joseph A. Schumpeter gegenüber den eben genannten sicher noch einmal heraus. Verknüpft man seine außerordentlich frühen Überlegungen zum Wesen von Unternehmern und Unternehmertum in modernen Gesellschaften (Schumpeter 1997, orig. 1911) mit seinen späten Überlegungen zum (inzwischen ja viel zitierten) Prozess der schöpferischen Zerstörung (Schumpeter 1946) und zu Innovation als „Creative Response“ (Schumpeter 1947), so gibt es wohl kaum einen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, der zur Aufklärung der (möglichen!) inneren Dynamik moderner marktwirtschaftlich-kapitalistischer Gesellschaften mehr beigetragen hat. Umgekehrt zeigt sich, wie anschlussfähig die Schlüsselfrage einer kulturwissenschaftlichen Ökonomik und Theorie der Unternehmung, nämlich die Frage nach dem strategischen Umgang mit Ungewissheit und Kontingenz, an den Problemkreis der Innovationsforschung ist. Mit kaum einem Begriff wird in den gegenwärtigen Debatten so viel Schindluder getrieben wie mit jenem der Innovation. Schon die fetischisierende Herauslösung von Innovation aus dem normalen strategischen Managementprozess ist fatal. Denn jeder verbessernde Schritt nach vorn hat bei näherem Hinsehen mit Neuem zu tun, und insofern kann gerade die kluge Bewahrung und Pflege des Alten oder gar das Wiederherstellen alter Fähigkeiten und Fertigkeiten innovativ sein. Es geht bei wirklicher Innovation überhaupt nicht darum, in einem vermeintlich linearen Wettbewerb, dem man nicht entrinnen kann, auf derselben Spur immer schneller zu sein. Im Gegenteil: es geht darum, die Dinge neu = anders zu sehen und sich mutig in Widerspruch dazu zu setzen, wie es alle machen, auch wenn gilt, dass das Leben denjenigen, der zu früh kommt, erst recht bestrafen kann. Ganz in diesem Sinne versteht Schumpeter (1947) unter Creative Response Aktivitäten außerhalb des üblichen Handlungsrahmens. Natürlich darf der Unternehmer bzw. das Unternehmen nicht blind sein hinsichtlich der Spezifität der marktlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, die

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„von draußen“ gestellt werden. Aber seinen Geschäftserfolg macht er daraus, wie kreativ und nicht nur reaktiv seine Antwort ausfällt. Schumpeter definiert drei Charaktermerkmale für den Creative Response:  Creative Response kann vom Beobachter erst ex post erkannt werden.  Creative Response wirkt prägend auf alle nachfolgenden Ereignisse ein.  Creative Response betrifft die qualitativen Fähigkeiten der Akteure, ihre Entscheidungen, Aktionen und Verhaltensmuster. Die Fähigkeit zum strategischen unternehmerischen Handeln lässt sich in diesem Sinne als Frage der kulturellen Selbstverortung des Unternehmens verstehen und kann keineswegs im bloßen Kontext des rationalen Einsatzes von Planungsinstrumenten gedacht werden.

4 Eine Spezifizierung des kulturwissenschaftlichen Zugangs zu Ökonomie und Strategischem Management Der kulturwissenschaftliche Zugang eröffnet zunächst eine Totalperspektive: „Jeder Gegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaften kann und soll nun als kulturelles Phänomen rekonstruiert werden: ökonomisch-technische Praktiken ebenso wie Staat und Politik, die Sozialstruktur ebenso wie Familie und Geschlechter, die modernen ebenso wie die vormodernen Gesellschaften, die Natur so wie der Affekthaushalt“ (Reckwitz 2004: 1). Es kann nicht ausbleiben, dass sich im Rahmen einer solchen Totalperspektive verschiedene und unterscheidbare Auffassungen darüber herausbilden, wie denn ein kulturwissenschaftlicher Zugang genauer auszugestalten sei. Der Aufweis kultureller Aufladung scheinbar sachrational-objektiver ökonomischer Tatbestände kann, muss aber keineswegs handlungstheoretische Konsequenzen zur Folge haben. Mit Cassirer (1944) soll hier der Prozess der symbolischen Umweltaneignung als der eigentliche Kulturprozess verstanden werden.16 Damit kann eine Konstruktion nicht mehr aufrechterhalten werden, von der die einseitig objektivistischen Verhaltens- und Systemtheorien seit langem zehren, 16

Die Nähe zu Schumpeters Creative Response scheint mir dabei sehr direkt zu sein

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nämlich die Konstruktion von zwei Welten: einer der vermeintlichen Fakten, für die die Wissenschaft zuständig sei, und einer der Werte, für die die Wissenschaft nicht zuständig sei. Sowohl das dominierende ökonomische Handlungsmodell, das den homo oeconomicus als rational kalkulierenden Anpassungsoptimierer gegenüber spezifischen Rahmenbedingungen modelliert und für Veränderung seiner Aktionsformen folglich vor allem auf die Veränderung dieser Rahmenbedingungen setzt, als auch das dominierende soziologische Handlungsmodell, das den homo sociologicus als durch gesellschaftliche Werte und Normen geprägt oder gar determiniert sieht, vernachlässigen bzw. ignorieren die theoretische Beschäftigung mit den Handlungsmöglichkeiten und -problemen der Akteure. Das kulturwissenschaftliche Handlungsmodell hat demgegenüber den Vorzug, individuelles und kollektives Handeln stark zu machen, selbstverständlich nicht abzulösen von den Handlungsbedingungen und Handlungskontexten, aber im Sinne der bekannten Rekursivität von Handeln und Struktur bei Anthony Giddens (1984) eben auch die Deutungsmuster, Bedeutungszuweisungen, kulturellen Codes, Sinnorientierungen, Bemühungen um kulturelle Identität etc. auf seiten der Handelnden untersuchen zu wollen, zu müssen und zu können. Eine weitere Besonderheit des hier vorgeschlagenen kulturwissenschaftlichen Zugangs besteht darin, den moralischen Standpunkt, also Fragen der Ethik, ausdrücklich stark zu machen. Viele Kulturwissenschaftler beschäftigen sich nicht mit Fragen der Ethik, aber uns scheint es geradezu unhintergehbar, einen kulturwissenschaftlichen Standpunkt über ein solches Verhältnis zur Ethik aufzubauen, das die klassische abendländische Ethik mit ihrem Glauben an universale Unterscheidbarkeiten von Gut und Böse hinter sich lässt. Unter den Bedingungen der Auflösung für die meisten Menschen verbindlicher ethisch-moralischer Normen aus religiösen oder ähnlichen Weltanschauungen, die mit dem Anspruch der Erklärung von Welt und der Setzung von Richtlinien für das Handeln in dieser Welt auftreten, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern, heißt unsere mögliche Moral kulturelle Bildung.17 Moralische Kompetenz entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verant17

So der Titel von Pfriem 2006.

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wortlich zu handeln. Wenn wir es so formulieren, wird die Nähe moralischer und kultureller Kompetenzen ohne weiteres deutlich. Francisco Varela hat deutlich gemacht, dass das westlich-abendländische Denken, dessen vermeintliche Überlegenheit gerade in den letzten Jahren oft auf so ungebildete Weise betont wurde, keineswegs in diese Richtung geht: „… es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vorausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns in unserer westlichen Welt so zu Hause fühlen“ (Varela 1994: 13). Demgegenüber, so Varela, brauche es einen paradigmatischen Wechsel: „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt“ (Varela 1994: 13f.). In diesem Sinne stehen die Prozesse des Hervorbringens kultureller Praktiken für unsere Oldenburger Arbeit an einem kulturwissenschaftlichen Zugang unter besonderer Aufmerksamkeit. Unter Bezug auf das dem Thema Nachhaltige Ernährungskultur(en) gewidmete Projekt OSSENA schreibt Irene Antoni-Komar: „Es geht weniger um das Tieferund Dahinterliegende als um das phänomenale Geschehen, weniger um die Struktur und die Funktion als um den Prozess, weniger um Text oder Symbol als um die Herstellung von Wirklichkeit.“ (Antoni-Komar 2006) Antoni-Komar zitiert dazu Hörning und Reuter: „Es sind die Aktionen im Sinne eingelebter Umgangsweisen und regelmäßiger Praktiken der Gesellschaftsmitglieder, die zu dem zentralen Bezugspunkt von Kulturanalysen avancieren. Auch die theoretische Herangehensweise trägt diesem Umstand Rechnung. Statt Kultur als Mentalität, Text oder Bedeutungsgewebe kognitivistisch zu verengen, oder sie als fragloses Werteund Normensystem strukturalistisch zu vereinnahmen, wird in anti-mentalistischer und ent-strukturierender Weise von Kultur als Praxis gesprochen.“ (Hörning/ Reuter 204: 9f.). Diese Spezifizierung des kulturwissenschaftlichen Zugangs wird inzwischen auch als performative turn bezeichnet und als ausdrückliche Alternative zum linguistic turn betrachtet: „Anders als beim linguistic turn, der Kulturen und einzelne kulturelle Phänomene als strukturierten Zusammenhang von Zeichen (Symbolische Codes, Mythen) auffasst und

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als Sprache (Text, Lektüre, Diskurs) im Sinne eines Zeichensystems (Semiotik) begreift und definiert, markiert der performative turn einen Perspektivenwechsel, der mit den Tätigkeiten des Herstellens, des Produzierens und Machens die Handlungen…ins Zentrum rückt….Der handlungsorientierte performative turn widmet sich den Austauschprozessen, den Veränderungen und Dynamiken, die bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden“ (Antoni-Komar 2006). Damit wird auch die Besonderheit der kulturalistischen Position zur (Unternehmens- und Wirtschafts-)Ethik verdeutlicht. Der moralische Standpunkt kommt (noch) nicht jenseits der konkret-historischen Situationen zur Geltung, sondern zeigt und bewährt sich erst in diesen, also in sinnlich-handfester kultureller Praxis. Die weiter oben schon vorgetragene skeptische Haltung gegenüber ethisch-moralischen Universalien zielt übrigens mitnichten auf eine situationistische Einstellung. Im Gegenteil ginge es darum, gerade auch in historischer Perspektive kulturelle Bildung zu fördern, um einem Denken in Vielfalt stärkeren Raum zu geben.18 Kulturelle Vielfalt ergibt sich ja nicht nur über genauere Wahrnehmung interkultureller Differenzen im räumlichen Vergleich, so dass wir z. B. lernen, das in der Kindheit einverleibte Bild abzulegen, dass sich früher oder später die ganze Welt nach abendländisch-westlichem Vorbild organisiert. Die Homogenitätsfiktion westlich-kapitalistischer Marktwirtschaften zehrt auch davon (und wird von manchen wider besseres Wissen genährt), dass die in den letzten zwei Jahrhunderten unterlegenen ebenfalls prononciert westlichen Strömungen unterschlagen und deren Geschichten gar nicht mehr erzählt werden: genossenschaftliche und basissozialistische Strömungen in der Ökonomie, Romantik und Ästhetik des einfachen Lebens in der Kultur, Solidarität und kollektiver Aufbruch in der Politik. Diese vielfältigen kulturellen Praktiken lassen sich im Sinne der schon angesprochenen praktischen Philosophie von Cornelius Castoriadis allemal und allesamt verstehen als gesellschaftliche Imaginationen über ein gelingen könnendes Leben. Insofern ist der performativ spezifizierte kulturwissenschaftliche Zugang zu Unternehmen und Ökonomie sui generis von höchster ethisch-moralischer Relevanz.

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Das bietet sich übrigens gerade auch für das Feld der Unternehmensgeschichte an, s. Berghoff 2004.

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5 Abschließende Bemerkungen zu einer kulturalistischen Unternehmens- und Wirtschaftsethik Die frühe Moderne brachte nicht nur Denken in Sachzwängen und Gesetzmäßigkeiten auf den Weg, sondern stärkte paradoxerweise auch u. a. in ihren Geschichtedidaktiken weiter den Glauben an die Handlungsmächtigkeit großer Menschen (i. w. Männer, was schon wiederum als Kulturphänomen zu rekonstruieren wäre). Damit kühlte sie sozusagen ihren Frustrationsschmerz, der daraus entstand, subjektive Handlungen über wissenschaftliche Erklärungen eigentlich in objektive Gesetzmäßigkeiten auflösen wollen zu müssen. Wenn wir nun einer postheroischen Unternehmens- und Wirtschaftsethik den Weg bahnen wollen, dann folgt aus den bisherigen Ausführungen natürlich keine Entmündigung der Subjekte19, sondern im Gegenteil die (Wieder?-)In-Wert-Setzung individueller und kollektiver Akteure. Diese zielt nicht auf moralische Überforderung, sondern anerkennt die Existenz von Verantwortung im außermoralischen Sinne in jeder konkret-historischen Situation. „Wir sind zur Kontingenz verdammt. Unter diesen Bedingungen meint Verantwortung im außermoralischen Sinne (für uns als quasi beliebige Individuen wie für Unternehmen als unterschiedlich handlungsmächtige kollektive Akteure), dass wir dem ständigen Zwang, so oder anders entscheiden zu müssen, nicht entfliehen können“ (Pfriem 2006a: 265). Daraus folgt die auch moralische Anerkennung von Entscheidungsnot in jeder konkret-historischen Situation, das Erfordernis „schmutziger“ Lösungen, gemessen an gern hoch gehaltenen ethisch-moralischen Reinheitsgeboten. Alle ernsthaften Bemühungen zu Corporate Social Responsibility, Corporate Citizenship etc. haben zunächst einmal ihren ethischmoralischen Geltungsanspruch, sind aber gleichzeitig in Bezug auf ihr Vermögen, die jeweilige Situation in ethisch-moralischer Perspektive auszureizen, auch kritisch zu hinterfragen. Mit Blick auf Schumpeters Verständnis der Rolle der Unternehmer und heute möglichen Einsichten in deren zwangsläufig kulturgestaltende Tätigkeit (Unternehmensstrategien sind kulturelle Angebote an die Ge19

In der Richtung lesen wir hauptsächlich die Luhmannsche Systemtheorie, kritisch – auch wenn sie diese Position mit dem sympathischen Argument begründet, einzelne Individuen von übermäßiger Verantwortung damit entlasten zu wollen.

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sellschaft) wäre sowohl der Frage nachzugehen als auch praktisch unterstützend daran zu arbeiten, inwiefern sich Unternehmer und Entscheidungsträger von Unternehmen stärker als in der Vergangenheit ihrer kulturellen Rolle für die weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen bewusst werden und vielleicht auch gemeinsamer und organisierter in dieser Richtung verstehen könnten.20 In marktwirtschaftlich-kapitalistisch verfassten Gesellschaften sind Unternehmensorganisationen zu besonders wichtigen Akteuren der Daseinsbewältigung geworden. Der Text sollte gezeigt haben, dass eine zukunftsfähige Theorie der Unternehmung (als Lehr- und Ausbildungsfach dann natürlich auch Betriebswirtschaftslehre) dieser Veränderung der Rolle des Unternehmens im Prozess der Moderne Rechnung zu tragen hat. Ferner ist hoffentlich deutlich geworden, dass der theoretische Bezugsrahmen für Strategisches Management als Umgang der Unternehmen mit prinzipiell offenen Zukünften sinnvollerweise in einem spezifizierten kulturwissenschaftlichen Zugang (Doing Culture) gefunden werden kann, aus dem eine ebenfalls spezifizierte Orientierung für Bemühungen im Felde der Unternehmens- und Wirtschaftsethik erwächst. Für die Praxis des Strategischen Managements folgt daraus etwas, das man in Ergänzung zu Argyris/ Schön (1999) triple-loop-learning nennen könnte: jenseits des Anpassungslernens und auch noch jenes Typs von Veränderungslernen, das Praktiken der Unternehmung umstellt, um der Gesellschaft draußen besser Genüge zu tun, sich selbst als wesentlicher Faktor der scheinbar draußen befindlichen Gesellschaft begreifen zu lernnen, als treibender Faktor kultureller Entwicklungen und Veränderungen dessen, was wir als Gesellschaft bezeichnen.

20

Im Sinn des Kampfes gegen die größten Übel sind wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem ENRON-Skandal u. ä. in den letzten Jahren sicher zu begrüßen, gemessen an den hier angedeuteten Aufgaben einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Fragen der Unternehmens und Wirtschaftsethik handelt es sich allerdings eher um moralisch unterkomplexe Spiele.

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Wollen können und können wollen Die vermeintlichen Anpasser sind die Gestalter

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„Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit.“ Friedrich W. Nietzsche

„Diejenigen, die sagen, es könne nicht gemacht werden, sollten denjenigen Platz machen, die handeln.“ Konfuzius

1 Die Frage nach der Ver-Antwortung Die Wirtschaftswissenschaften neigen bekanntlich dazu, Unternehmen als Anpassungsoptimierer zu modellieren. (Hejl 2006) Wenn mit dem Titel dieses Textes den Unternehmensorganisationen eine insbesondere gestaltungsorientierte Funktion zugewiesen wird, so verweist das auf Gestaltungsspielräume, die so oder anders genutzt werden können. Dazu müssen Entscheidungen getroffen werden, und der Verantwortung, eine im nachhinein besehen eher richtige oder eher falsche Entscheidung zu treffen, können die Entscheidungsträger nicht ausweichen. Verantwortung richtet sich also auf ein plurales Feld möglicher Entscheidungen und ist insofern deutlich von der (Pflicht zur) Regeleinhaltung zu unterscheiden: „Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.“ (Bauman 1995, 87) Die Rede von Verantwortung betrifft zunächst Individuen. Entscheidungen von Individuen für Organisationen werden allerdings zu Entscheidungen von

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Organisationen. Insofern können wir unabhängig von der Frage, wie autoritär oder kollektiv bzw. partizipativ eine bestimmte Entscheidung für die Organisation getroffen wurde, von Organisationsentscheidungen als Entscheidungen der Organisation sprechen. Wir bräuchten dafür eigentlich keine Theorie der Emergenz sozialer Systeme, obwohl seit langem gezeigt wird, dass dafür viel spricht. (Krohn/ Küppers 1992) Die Schreibweise „Ver-Antwortung“ verweist darauf, dass die Entscheidungen, in bezug auf die Verantwortung ausgeübt wird, sui generis andere betreffen, und das heißt: in unterschiedlicher Weise betreffen können. Als kontingent ist nämlich zu betrachten, auf wessen und auf welche Fragen, Ansprüche und Interessen hin Unternehmen bereit sind, Ver-Antwortung zu tragen. Gerade hier liegt ein wesentliches Feld unternehmerischer Selbstbeschreibung und Autonomie. Damit treten wir absichtsvoll in kritische Distanz zu jenem recht verbreiteten Verständnis des vor zwei Jahrzehnten entwickelten Stakeholder-Ansatzes (Freeman 1984), nur genügend willens könne eine Unternehmung in der Lage sein, alle relevanten Stakeholder-Ansprüche zu befriedigen. Auf der kollektiv-organisatorischen wie der individuellen Ebene beginnt Verantwortung bei Verantwortung für sich selbst. Das ist zu dem bisher Gesagten kein Widerspruch. Denn das (kollektive oder individuelle) Subjekt ist sich selbst zugleich Objekt: was will ich aus mir machen? Wo stehe ich, und wo will ich hin? Auf der individuellen Ebene haben die ökonomischen und sozialstrukturellen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit zu einem starken Rückgang dauerhafter fester Beschäftigungsverhältnisse geführt. Insofern macht es Sinn, dass verstärkt von der Herausforderung des Lebensunternehmertums gesprochen wird. Worin die Herausforderung strategischer Führung von Unternehmen besteht, ist lange Zeit missverstanden worden. Gemäß der auf die Identifizierung objektiver Gesetzmäßigkeiten zielenden Wissenschaftstradition weiter Teile des 20. Jahrhunderts machten sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach Ende der Rekonstruktionsperiode die wettbewerbspolitischen Gründe für das Strategische Management immer stärker wurden, hier zunächst vor allem planungsorientierte Ansätze breit. (vgl. Mintzberg u. a. 1999) Die Rationalität und Linearität dieser Planungsansätze war sicher gespeist aus dem Glauben an die selber lineare Dreifaltigkeit moderner Entwicklung, die ausgehend aus dem 18. und 19. Jahrhundert das zwanzigste kulturell wesentlich prägte: techni-

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scher Fortschritt, ökonomisches Wachstum und eine steigende Versorgung der Bevölkerungen mit materiellen Gütern und Dienstleistungen wurden als Elemente einer ständig möglichen und dann auch ständig realen Höherentwicklung betrachtet. Der ideologische Charakter dieser Weltanschauung hat sich inzwischen auch bei einer wachsenden Zahl von Unternehmen herumgesprochen. Auch Unternehmen, die sich gar keine eigenen Abteilungen für Strategie und Zukunft leisten können, die dazu fähigen sowieso, beschäftigen sich inzwischen mehr mit „Langfristdenken in Unternehmen und Gesellschaft“.1 Gegenstand dieses Langfristdenkens ist eben nicht weiter die Idee, dass alles so weiter geht und die Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart modelliert werden kann. Vielmehr verbreitet sich die Einsicht, das strategische Unternehmensführung nichts anderes ist als unternehmerischer Umgang mit Unsicherheit, Ungewissheit und Kontingenz – mit prinzipiell offenen Zukünften. Als normative Orientierung hinter diesem Text sei die regulative Idee nachhaltiger Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft keineswegs verheimlicht. (Pfriem 2006) Erst recht mit Blick auf diese Idee zielt Verantwortung auf die Gestaltung möglicher Zukunft. Mit dem zentralen Inhalt dieser Idee, insbesondere in den frühindustrialisierten Gesellschaften die Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle, nicht zuletzt also die Konsumweisen, so zu entwickeln, dass prinzipiell allen Menschen auf diesem Erdball ein nach ihren Vorstellungen gelingen könnendes Leben möglich ist, hat das öffentlich kommunizierte Innovationsfieber übrigens häufig wenig oder gar nichts zu tun, wenn es etwa um die Verbesserung der Wettbewerbsposition eines bestimmten Unternehmens in offen als tendenziell gesättigt betrachteten Märkten geht. Das inzwischen auch theoretisch so viel diskutierte Problem der Generierung von Neuem ist also grundsätzlich auf die besonderen Inhalte zu untersuchen, die dabei als symbolische Bedeutungen zugewiesen werden. Viele Theorien der Moderne ähneln dem üblichen Schachspiel, dass die Figuren nur aus Köpfen bestehen. Selbst bei noch so gut gemeinten Diskurstheorien, die auf die Kraft des besseren Arguments vertrauen, scheint die Leiblichkeit des Menschen abhanden gekommen zu sein. Das befördert die verhängnisvolle schematische Trennung zwischen Denken und Tun. 1

So der Untertitel von (Hrsg.) Burmeister/ Neef 2005.

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Wenn in diesem Text von Verantwortung die Rede ist, so soll damit in Anlehnung an Rorty (1994) und Taylor (1996) ethisches Können in Situationen gemeint sein. Moralische Kompetenz in diesem Sinne entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln. Dazu passt Varelas kritischer Befund: „…es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vorausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns in der westlichen Welt so zu Hause fühlen.“ (Varela 1994, 13) Freilich: „Wir operieren immer in der Unmittelbarkeit einer gegebenen Situation.“ (Varela 1994, 16) Und es geht darum, „zu erklären, wie wahrnehmungsgeleitetes Handeln in einer vom Wahrnehmenden abhängigen Welt möglich ist.“ (Varela 1994, 20) Diese sinnliche Situiertheit ethisch-moralischer Entscheidungsmomente ist unhintergehbar. Insofern muss sie auch nicht normativ eingefordert werden. Das Problem einer normativen Einforderung kontrafaktischer Art haben hingegen alle diejenigen, die den moral point of view erst einmal abstrahierend aus den konkreten, also historisch-spezifischen Situationen herauslösen, um beispielsweise ein Abstraktum Ethik gegen das Abstraktum Ökonomie zu setzen oder, schlimmer noch, Ethik wiederum als Abstraktum nur noch eingefangen im (historisch-kulturell doch sehr spezifischen) Kalkül eines homo oeconomicus denken zu können. In einem Beitrag mit Christian Lautermann habe ich schon auf dem Konstanzer Herbstkolloquium 2004 Josef Wielands Position unterstützt, dem unternehmens- und wirtschaftsethischen Diskurs eine ausdrücklich tugendethische Wende zu geben. (Lautermann/ Pfriem 2006) Wenn wir den Begriff der Tugend auf die bisher dargelegten Überlegungen zum Verständnis von Verantwortung beziehen, gelangen wir zu einer bedeutsamen Spezifizierung. Dann kann Tugend nämlich nicht nur eingeschränkt genommen werden als Rechtschaffenheit gegenüber bestehenden Regeln, sondern muss bezogen werden auf die unter heutigen Bedingungen denkbaren und auch real existierenden Situationen bzw. Situiertheiten. Es gibt also nicht nur eine (mögliche) Tugend der (eher passiven) Anpassung und eine des loyalen Engagements, angesichts prinzipiell offener Zukünfte gewinnt die Tugend des (potentiell kritischen) Innovationsgeistes ganz besonderes Gewicht. Auf der Ebene der Beziehung eines individuellen oder kollektiven Akteurs zu gegebenen Regeln haben wir also neben der unterwürfigen Regelbefolgung und der bewussten Regel-

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einhaltung unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten der (potentiellen) Regelinfragestellung und dem (potentiellen) Regelbruch besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Individuelle und kollektive Umgangsweisen mit diesen unterschiedlichen Typen von Tugend und Regelverhalten sind unter verschiedenen historischen und kulturellen Bedingungen außerordentlich unterschiedlich. Verhaltens- und gar systemtheoretische Zugänge können hier wenig Aufklärung leisten, eher sind handlungs- und kulturtheoretische Erklärungsversuche gefordert. In eben diesem Sinne treffen drei gar nicht mehr so neue Buchtitel von Albert Hirschman hervorragend ins Schwarze: Abwanderung und Widerspruch, Leidenschaften und Interessen, Engagement und Enttäuschung (Hirschman 1974, 1977, 1988).

2 Eine notwendige Umstellung Mit Horst Steinmann und anderen teile ich den Standpunkt, dass die Konzeptualisierung einer Unternehmensethik ihren Anfang in der Teilnehmerperspektive der Lebenspraxis nehmen soll und nicht in der Beobachterperspektive der Wissenschaft. (vgl. Steinmann 2004) Allerdings folgt daraus, dass die Situiertheit und Kontextgebundenheit jeder ethischmoralischen Entscheidungssituation nicht hintergangen werden kann. Für die klassisch abendländische Ethik formuliert Pieper: „Die Begründung und Rechtfertigung aller Moral aus einem Unbedingten ist die bleibende Aufgabe der Ethik, die sich in der Erfüllung dieser Aufgabe als eine autonome Wissenschaft erweist.“ (Pieper 1991, 84) Eine solche Unbedingtheit über alle historisch und kulturell differenten Konstellationen und Konfigurationen hinweg lässt sich nach dem hier vertretenen Standpunkt nicht länger aufrechterhalten. Ich kann mich noch gut an die Eröffnungstagung des Berliner Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) erinnern, als die geschätzte Christel Neusüß den positiv gemeinten Rückgriff auf die aristotelische Unterscheidung von Ökonomik und Chrematistik mit dem Hinweis auf die Marginalisierung der Frauen in der antiken griechischen Gesellschaft zu diskreditieren suchte. Wollen wir aber die Proklamation der Menschenrechte im 18. Jahrhundert aus heutiger Sicht verurteilen, weil hier die Gleichheit zwischen den Geschlechtern nicht ausdrücklich proklamiert wurde und der westlich-abendländische Kulturkreis noch zwei

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Jahrhunderte brauchte, um wenigstens dem Anspruch nach den Frauen zu gleichem Recht zu verhelfen? Universalien wie Menschenrechte, Freiheit und Demokratie sind auch gedanklich nicht zu „reinigen“ von ihren konkret-historischen kulturellen Einbettungen und Aufladungen. Das bestätigt in den letzten Jahren nichts drastischer als die US-amerikanische Regierung, wenn sie im Namen von Freiheit und Demokratie mit einer so genannten Koalition der Willigen mit wissentlich falschen Behauptungen ein Land überfällt oder Folter zur erweiterten Befragungstechnik erklärt. Wenn wir diese nicht nur geschichtlichen, sondern auch aktuellen Fälle betrachten, sollten wir klug genug sein einzusehen, dass auch wir Heutigen nicht der (Auto-)Suggestion unterliegen dürfen, wir hätten die allgemein richtige Interpretation dieser (vermeintlichen) Universalien für uns gepachtet. Vielleicht erscheint den Menschen einige Generationen nach uns unser Umgang mit Tieren unverständlich grausam und unzivilisiert?2 Wir Menschen scheinen zwar dazu verdammt, das historisch und situativ spezifisch Kultürliche rasch für natürlich zu halten, sind aber vielleicht in der Lage, dieses Risiko zu erkennen und damit entsprechend vorsichtig umzugehen. Vorsichtiger Umgang bedeutet, den moral point of view nicht länger aus universalistischen Prinzipien ableiten zu wollen. Das ist schon deshalb nicht sinnvoll, weil in einer steigenden Zahl ethisch-moralischer Entscheidungsprobleme das Richtige erst noch gefunden werden muss. Die schwierigen (und sich häufenden) Fälle sind ja gerade die nicht-trivialen. Etwa Bio- und Gentechnik führen das vor. Ferner ist aus dem Beispiel der US-amerikanischen Politik der letzten Jahre zu lernen, wie hoch das Risiko ist, durch die Berufung auf allgemeine Prinzipien zweifelhafte Orientierungen zu vermitteln. Das Problem mangelnder Sanktionierbarkeit von im Namen hoch stehender Prinzipien durchgeführten Aktionen, die bei näherem Hinsehen diese Prinzipien mit Füßen treten, kommt dann noch hinzu. Wir bestätigen uns in Scheinkonsensen, statt ethisch-moralisch dadurch voranzukommen, dass wir die konfliktären kulturellen Optionen zu produktivem Streit bringen. Bezogen auf den ethischen Diskurs hat der cultural turn demgemäß eine Umstellung zur Folge: von der klassischen abendländischen Ethik hin zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive des ethischen Reflek2

Dazu Wolf 2004, sehr kritisch Patterson 2004.

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tierens von Alltagsmoralen. Eine kulturalistische Ethik sucht den moral point of view in den konkreten ethisch relevanten Situationen, und das Suchen kennzeichnet nichts weniger als das eben noch nicht Gefundene.3 Die digitale Kodierung von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Weiß und Schwarz ist ein Relikt der christlichen Tradition.4 Über die angebliche Erbsünde werden die Menschen unter der Knute antagonistischer Bedeutungszuweisungen gehalten, wo sie sich um ihres Seelenheils willen ständig für die richtige Seite und gegen die falsche entscheiden sollen. Mit der Gegenüberstellung von ökonomischer Rationalität bzw. Interesse an individueller eigener Nutzenmaximierung einerseits, Ethik andererseits wird diese dualisierende, ja antagonisierende Denkweise auch in wesentlichen Teilen des unternehmens- und wirtschaftsethischen Diskurses gepflegt. Bis hinein in die Tonlage von Vorträgen und Publikationen wird das Recht haben wichtiger als das recht tun. In Kritik daran formuliert Varela: „Mein Ausgangspunkt ist, dass die Ethik der Weisheit näher steht als der Vernunft, dass es ihr eher darum geht zu verstehen, was es heißt, gut zu sein, als darum, in einer bestimmten Situation korrekt zu urteilen.“ (Varela 1994, 9) Die Renaissance der Tugendethik ist also performativ und kontextuell zu verstehen. Für die Inhalte tugendethischen Handelns gibt es keine objektiven Instanzen mehr. Das Gute gibt es (nur) noch beobachter- und situationsabhängig, wobei im Sinne des Anfangs dieses Kapitels ein wichtiger Zusatz zu machen ist: das erkenntnistheoretische Wissen um die Beobachterabhängigkeit darf nicht dazu führen, den (etwa wissenschaftlich) distanzierten Beobachter zur legitimen Hauptinstanz ethischmoralischer Entscheidungen zu machen, sondern diese sind in den zugehörigen lebenspraktischen Kontexten zu fällen und ernst zu nehmen. Die kulturwissenschaftliche Sicht nährt produktive Zweifel am genuin moralischen Handeln. Weder ein Individuum noch eine Organisation vermag nach dem Motto zu handeln: jetzt mal alles vergessen, was ich für wünschenswert, richtig oder schön halte, jetzt moralisch anständig handeln. Moralisch am moralischen Handeln ist „nur“ die mitlaufende

3

4

Diese Gedankenführung kann an Blochs Philosophie des „Noch nicht“ durchaus gut angeschlossen werden, s. Bloch 1978. Zur Kritik der zweiwertigen Wahrheitslogik abendländischer Kultur s. Lyotard 2004.

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moralische Konnotation der selbst vertretenen imaginären Bedeutungen5, nichts sonst. Für die unternehmens- und wirtschaftsethischen Debatten bietet sich als befreiende Konsequenz daraus an, sich von der Behandlung der moralisch trivialen Fälle (enron, Nestlé) eher zu lösen und sich den moralisch nichttrivialen Fällen zuzuwenden, die in der Wirklichkeit dominieren. Als praktische Beispiele seien hier der VW Phaeton und solche Turbokühe genannt, die nur zwei Jahre ihren Dienst verrichten können. Beide sind ökonomische Flops, werden aber gerade deshalb aufrechterhalten, weil es die reine ökonomische Rationalität nur als Mythos gibt, als gesellschaftliche Imagination, die übrigens in beiden Fällen der klassischen Definition von Karl Marx über Ideologie entspricht: notwendig falsches Bewusstsein. Ökonomische, ethisch-moralische und ästhetische Aspekte sind (u. a. bei den beiden genannten Beispielen) aufs engste miteinander verschränkt und eben nicht sauber voneinander zu lösen, auch nicht in theoretischer Gedankenführung: Analyse als Zerlegung stößt manchmal auf enge sachliche Grenzen. Das in Wissenschaft wie übriger gesellschaftlicher Praxis dominante Rationalitätsmodell des 19. und 20. Jahrhunderts verstellt den angemessenen Blick auf die Verhältnisse. Im Sinne eines der schon angeführten Texte von Hirschman (1977) können wir die marktwirtschaftlich-kapitalistische Industriegesellschaft als Versuch verstehen, die leidenschaftliche Sinnsuche menschlichen Lebens durch Interessen zu ersetzen. Dieser Versuch kann heute als gescheitert betrachtet werden. Mit der Ablösung des kapitalistischen Fabrikzeitalters und der damit verbundenen sozioökonomischen wie soziokulturellen Ordnungen kommen die Leidenschaften wieder hoch. Ob wir von „Economies of Signs“ (Lash/ Urry 1994), Erlebnisgesellschaft (Schulze 1993), Symbolökonomie (Fischer 2005) oder kultureller Aufladung der Ökonomie (Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation 2004) sprechen – wir meinen dasselbe. Es geht dabei längst nicht mehr um Zusatznutzen, es geht um das Eigentliche …

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Dieser Begriff stammt aus der praktischen Philosophie von Castoriadis (1984) und passt deshalb ausgezeichnet, weil er die permanent ablaufende Beziehungsgeschichte zwischen Institutionalisierendem und Institutionalisiertem damit in den historischen Kontext kultureller Bedeutungszuweisungen stellt. Wie Nietzsche (1980, orig. 1886, 92) formulierte, gibt es gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen.

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3 Unternehmen sind Produzenten von kultureller Entwicklung der Gesellschaft Im Sinne einer zukunftsfähigen Spezifizierung der sozialwissenschaftlichen Öffnung, die die Betriebswirtschaftslehre als Theorie der Unternehmung nun schon seit Jahrzehnten umtreibt, haben wir im Rahmen einer Forschungsgruppe an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg die Programmatik einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung entwickelt. (FUGO 2004) Danach sind Unternehmensstrategien als kulturelle Angebote an die Gesellschaft zu verstehen. (Pfriem 2004) Angebote können (unverändert oder modifiziert) angenommen, können aber auch abgelehnt werden. Die Terminologie wirft ein Licht auf die unauflösbare Verschränkung beider Seiten der ökonomischen Interaktion, das permanente kommunikative Wechselspiel, weswegen eine kulturalistische Ökonomik zweifellos einen ihrer wichtigsten Charakterzüge als Interaktionsökonomik ausweist. Das bedeutet nebenbei eine Verabschiedung von der Bearbeitung einseitig maximierender oder optimierender Nutzenkalküle ebenso wie vom methodologischen Individualismus, was hier aber nicht weiter vertieft werden soll. Als wichtige Bestimmungsmerkmale des kulturwissenschaftlichen Ansatzes erweisen sich:  die Sinnbezogenheit allen menschlichen (auch organisationalen) Handelns,  die Diversität dieser Sinnbezüge,  Wandelbarkeit und Wandel dieser Sinnbezüge. Wie bereits gezeigt wurde, ist die Wahrheit immer historisch-konkret. Deshalb sollten wir mehr von real existierenden konkreten Moralen reden als von abstrakten Moralprinzipien, die zudem suggerieren, als ob das Gute gewusst würde. Auch die ökonomische Kategorie des Marktes ist seit langem und immer noch leider Opfer eines immer wieder zu sehr abstraktifizierenden Denkens. Der Markt ist weder ein Manipulationszusammenhang (wie es der Tradition linker Gesellschaftskritik entspricht) noch ein bloßer Ordnungsmechanismus (entsprechend der neoliberalen Apologetik).

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Vielmehr ist der Markt ein sehr heterogenes kulturelles Gefüge, ein Feld der Interaktionen zwischen verschiedenen Optionen6 darauf, was wir Menschen aus uns und unserem Leben machen. Dabei spielen die Unternehmen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Mit ihren Selbstbeschreibungen tragen sie immer noch mächtig zur Mystifizierung des Ökonomischen bei, und der Großteil der betriebswirtschaftlichen Ausbildung in Deutschland folgt ebenfalls weiterhin dieser Ideologie. Aber selbst im vermeintlich kalkulatorischen Feld der bloßen Zahlen gibt es kein Ökonomisches jenseits kultureller und symbolischer Bedeutungszuweisungen und Interaktionen, wie Seuring am Beispiel des Kostenmanagements von Wertschöpfungsketten in der Textilbranche gezeigt hat. (Seuring 2001) Ohne die kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit dazu hat bereits Schumpeter mit seiner Kategorie des „Creative Response“ (Schumpeter 1947) den symbolökonomischen und kulturalistischen Charakter unternehmerischer Angebote markiert. Ein Unternehmen kann eine dem Volumen nach vielleicht gleiche Rendite aus sehr unterschiedlichen Geschäften erwirtschaften. Die gleiche betriebswirtschaftliche Rationalität (die wir für diesen Gedanken einen Moment unterstellen wollen) kann sich mit starker kultureller Diversität verkoppeln. Als Beispiele seien angeführt:  Unternehmen der Ernährungswirtschaft operieren in einem breiten Spektrum zwischen hoch verarbeitender industrieller Produktion und Naturbelassenheit, Frische, Regionalität.  Mobilität in der Zukunft steht für eine außerordentlich große Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen von dem überkommenen benzinmotorgetriebenen Individualfahrzeug bis zu autofernen Verkehrsdienstleistungen.  Im Bereich des Freizeitkonsums ergeben sich aus dem großen Fächer unternehmerischer Angebote ganz unterschiedliche Folgen für Kompetenzgewinne und -verluste der Menschen, für Bewegung oder Trägheit etc. 6

Wir sind gewohnt, auf der Konsumentenseite von Nachfrage zu sprechen, können kulturalistisch und interaktionsökonomisch die darin zum Ausdruck kommenden Optionen auf weitere Entwicklung gedanklich aber ebenso als Angebote fassen.

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Die Beispiele zeigen, dass – in unserem Fall vor der normativen Folie nachhaltiger Entwicklung – auch für den Standpunkt der Kritik an Dualisierung und Antagonisierung das Risiko immer wieder groß ist, selbst danach zu verfahren (z. B. Biokost gegen Fast-food). Die Überwindung dieses zweiwertigen Denkens ist zugegebenermaßen nicht einfach, zu der Öffnung gegenüber der Pluralität der wirklichen Welt gibt es freilich keine vernünftige Alternative.

4 Unsere mögliche Moral heißt kulturelle Bildung In Übereinstimmung mit Reckwitz (2000) ist es wichtig, das kulturwissenschaftliche Handlungsmodell nicht allein vom ökonomischen abzugrenzen, sondern auch vom soziologischen, das Kultur als verhaltensprägende Einflussvariable ja sehr wohl berücksichtigt. Allerdings vereinseitigt das soziologische Handlungsmodell die Wirkungen auf die (individuellen oder kollektiven) Akteure und vermag deren aktiv kulturprägender Rolle nicht gerecht zu werden, ist also zu sehr verhaltenstheoretisch und zu wenig handlungstheoretisch angelegt. Über Reckwitz hinaus führt uns das zu einer performativen Spezifizierung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes, die die Positionsbestimmungen systematisch weiter führt, die in den Konzeptionen von Rorty und Taylor zum Ausdruck kommen und für die auch die zitierten Äußerungen Varelas stehen. Diese performative Spezifizierung richtet sich analytisch auf das Feld der kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten individueller wie kollektiver Akteure. Wenn wir dem Schein nach sehr plakativ, aber außerordentlich zutreffend das 20. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch und -politisch als eines charakterisieren, in dem Verhaltens- und Systemtheorien zu Lasten von Handlungs- und Kulturtheorien systematisch privilegiert wurden (Pfriem 2000, 442 f.), dann ist mit dem Plädoyer für Handlungs- und Kulturtheorien7 noch nicht gegeben, wie diese konfiguriert werden sollten. Der performative turn kulturwissenschaftlicher Überlegungen führt hier weiter.8 7 8

Diese beiden sollen hier nach individuell vs. Kollektiv differenziert werden. Den empirischen Hintergrund der nachfolgenden Argumentation stellt das an meinem Lehrstuhl für Unternehmensführung und dem für Absatz und Marketing (Prof. Dr. Thorsten Raabe) durchgeführte Ernährungskultur-Projekt OSSENA

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Dieser performative turn ist in einer Weise handlungsorientiert, wie sie von vorgängigen Sichtweisen des werte- oder normengeleiteten Handelns deutlich unterschieden werden kann. Die Tätigkeiten des Herstellens, des Produzierens, des Machens und die in diesen Handlungen zum Ausdruck kommenden Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (bzw. der Mangel an diesen) stehen im Vordergrund. Damit zusammenhängende Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken lösen bestehende Strukturen auf und bilden neue heraus. Die Materialität, die Medialität und die interaktive Prozesshaftigkeit kultureller Prozesse sowie die Rekonstruktion der damit zusammen hängenden Bedeutungen sind von besonderem Forschungsinteresse. „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt.“9 Nach Antoni-Komar ergibt sich eine dreiteilige Handlungserklärung, indem unbewusste Aktionen, kollektive Wissensbestände und die Kompetenz der Akteure im Praxiszusammenhang zusammen kommen. Die Auflösung weltanschaulich und politisch autoritär homogenisierender Verhältnisse hat in Teilen der Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder zu Orientierungslosigkeiten geführt, die häufig verkürzt als Probleme von Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität, in der rechten Ecke dann als multikulturelle Überforderungen diskutiert werden. Wenn wir nun aber endlich zur Freiheit verdammt sind, fällt auf, wie wenig wir dafür gerüstet scheinen: „Das größte Problem in modernen Gesellschaften ist nicht, dass die Lebensführung zu sehr gegängelt würde, sondern dass sie behandelt wird, als verstünde sie sich von selbst, so dass sie zu erlernen kein Gegenstand von Bildung und Erziehung ist“ (Schmid 1999, 119).

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dar. Für die gegenüber diesem Text wesentlich gründlichere Fundierung sei vor allem auf Antoni-Komar (2006) und Nölle/ Pfriem (2006) hingewiesen. Irene Antoni-Komar verdanke ich wesentliche Anstöße in dieser Richtung. Varela 1994, 13 f.

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Wie erwirbt man nun aber Kompetenzen, und was ergibt sich daraus für eine kulturalistische Unternehmensethik sowie die wissenschaftliche Beschäftigung damit?10 Kompetenz wird erworben durch Handlung, Erfahrung und Wissen. Portmann (2003, 59 ff) unterscheidet zwei Formen des Handelns, das Denken und das Wirken. Denken bedeutet dabei kein unmittelbares Eingreifen in die Umwelt, bedarf aber eines Wissensvorrats zur Beurteilung einer Situation, während Wirken ein Handeln beinhaltet, das immer leibvermittelt in die Umwelt eingreift und als aktuelle Erfahrung betrachtet werden kann. Zwischen Wissensvorrat und aktueller Erfahrung bzw. Handeln bestehen Wechselwirkungen, während Wissen die Verarbeitung von einzelnen Erfahrungen bedeutet. Umgekehrt werden Erfahrungen mit Hilfe des Wissensvorrats gedeutet, d.h. es werden Deutungsmuster herausgebildet. Wissen wird durch Erfahrungen und Handlungen laufend transformiert. Was aber nun ist Erfahrung? Eine Verbindung von verfeinerter Wahrnehmung und geübtem Handeln ist das, was wir als Erfahrung bezeichnen. (vgl. Fuchs 2003, 70 f.) Erfahrung erwirbt man durch Wiederholung, sie resultiert aus erlebten Situationen in einer Einheit leiblicher, sinnlicher und atmosphärischer Wahrnehmung. Bei diesem Vorgang wirken unsere Sinne synästhetisch zusammen, erlebte Situationen sind somit leibgebunden. Das Zusammenspiel der Sinne im Erleben kann nicht ersetzt werden durch davon losgelöste Einzelmomente, beispielsweise der Schulungen einzelner Sinne. Erfahrung ist gebunden an eine Tätigkeit, an eine Beweglichkeit des Leibes. Fuchs spricht hier von „Bemerken“ und „Bewirken“. „Erst der Gestaltkreis von Wahrnehmung und Eigenbewegung, von ‚Bemerken‘ und ‚Bewirken‘ vermittelt die persönliche Kenntnis der jeweiligen Materie und erlaubt schließlich den geschickten Umgang mit ihr“ (Fuchs, 2003, 71), etwas, das in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist. Erfahrung bedeutet auch Erleiden, Konfrontation mit Fremdem, Unbekanntem und beinhaltet die Möglichkeit des Misslingens. Die Möglichkeit des Misslingens betrifft ein Problem, mit dem Unternehmensorganisationen schwer umgehen können. Erst recht unter dem Druck des Wettbewerbs fühlen sie sich verpflichtet, vor allem positiv zu kommunizieren und interne Lernprozesse über Machermentalität und 10

Die beiden folgenden Abschnitte sind direkt entnommen aus dem von Veronika Nölle verfassten Teil in Nölle/ Pfriem 2006.

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„Think positive“ voranzubringen. Aus der Literatur zum organisationalen Lernen von Unternehmen wissen wir, dass Verlernen die schwierigste Form des Lernens darstellt. Lernprozesse insbesondere in der ethischmoralischen Dimension fallen umso schwerer, je mehr sie von außen angestoßen werden und keine hinreichenden internen Impulse vorhanden sind. Neben der zunehmenden Menge ethisch-moralischer Uneindeutigkeiten unternehmenspolitischer Herausforderungen spricht dies dafür, ein Ethik- bzw. Wertemanagement zu implementieren, das allerdings nach den Ausführungen dieses Textes der Anforderung genügen muss, nicht nur für Probleme mangelnder Regeleinhaltung zu taugen, sondern ebenso für ethisch sensible Aspekte bei Veränderungs- und Innovationsprozessen. (vgl. Lautermann/ Pfriem u. a. 2005) Der speziell performativ kulturalistische Zugang bestünde hier darin, weniger in den Kodifizierungen als in den tatsächlichen Handlungen die entscheidenden Gegenstände für Beobachtung und Analyse zu sehen. Die Begleitung organisationaler Lernprozesse müsste dem ebenfalls Rechnung tragen: auch die Wahrnehmung und Wahrnehmungsfähigkeit von Organisationen und Organisationsmitgliedern ist eine zutiefst sinnliche Angelegenheit.

5 Unternehmensstrategien sind Umgang mit dem Horizont offener Zukünfte Als Angebotsleistungen zur Orientierung über gelingen könnendes Leben stoßen Unternehmensstrategien heute zwangsläufig in Lücken vor, die die Erosion religiöser, sonstiger weltanschaulicher, politischer, familiärer etc. Bindungen hinterlässt. Was Soziologen wie Ulrich Beck (1986) seit langem als Individualisierung beschreiben, markiert ja nur die eine, offen zutage tretendere Bewegung. Die andere hat zum Inhalt, welche neuen soziokulturellen Ordnungsmuster sich bilden.11 Natürlich kommt es dabei zu Funktionswechseln. „Brand communities“ (vgl. Hellmann 2003, Hellmann/ Pichler 2005) ticken anders. Man glaubt nicht an Coca Cola, wie man vorher an Gott geglaubt hat. Bei peer

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Das ist nebenbei ein wichtiges Argument für die Relevanz kollektiv bezogen kulturtheoretischer neben eher individuell handlungstheoretischen Betrachtungen und Untersuchungen.

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groups u. ä. geht es vielmehr um gemeinsam als sinnstiftend erachtete Formen der Selbstinszenierung, was unterstreicht, wie ergiebig der speziell performative Zugang einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aufgrund der stattfindenden soziokulturellen Veränderungen tatsächlich ist. Dabei wäre das branding kaum so erfolgreich, wenn dessen performative Akte nicht mit neuen hoch wirksamen Personalisierungen verbunden wäre. Der Prozess ist längst im Gange, die aktuell stattfindende Fußballweltmeisterschaft bringt es nur in besonders dramatischer Weise auf den Punkt. Ob wir dabei die Dellings und Netzers eher sympathisch finden und die Kerners und Beckmanns eher abstoßend, ist allenfalls in dritter oder vierter Linie von Bedeutung. Der mainstream dieser Entwicklung besteht in der Herausbildung, Fremd- und natürlich auch Selbstbestätigung einer bildungsfeindlichen Eventokratie.12 Insofern wäre es etwa inzwischen ganz wirklichkeitsfern, sich über ältere Frauen zu belustigen, die sich mittels der Lektüre von Goldenem Blatt und Frau im Bild an den Problemen des Königshauses von Belgien oder wo auch immer ergötzen oder daran mitleiden, je nach Situation. Auch altersmäßig sitzt das Problem in der Mitte der Gesellschaft, worüber z. B. die Untersuchungen über die unterschiedlichen Wählerschichten für die beiden politischen Lager in Italien interessante Aufschlüsse geben. Die Eventokratie zieht ihre Reputation gerade nicht aus bei näherem Hinsehen tatsächlich bewundernswerten Eigenschaften, sondern aus via Entertainment demonstrierter Bildungslosigkeit. Das ist für sich schon ein großes kulturelles Problem. Das mindestens ebenso große scheint allerdings darin zu bestehen, dass Unternehmen, Entscheidungsträger von Unternehmen sowie Wissenschaftler, die als Vertreter der Ökonomik sich mit Ökonomie und eben auch Unternehmen beschäftigen, sich selbst und anderen einreden, als hätten sie damit nichts zu tun. Wenn wir uns freilich von den alten Bildern lösen, mit denen die Industriebetriebslehre vor einem halben und erst recht einem ganzen Jahrhundert durchaus angemessen die Unternehmenslandschaft abbildete, und die unternehmensstrukturelle Verfasstheit der eventokratischen Prozesse näher beleuchten, gelangen wir sehr rasch zu der Feststellung, 12

Als geradezu klassisches Zitat dazu mag der kürzliche Satz der ja auch vor ihrer Heirat schon prominenten Frau des Fußballers David Beckham dienen: „Ich habe in meinem Leben noch nie ein Buch gelesen, ich habe einfach nicht die Zeit dafür.“

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dass wir einen wesentlichen Teil der heute real existierenden Unternehmenslandschaft gar nicht zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Arbeit machen. Nun ist das kulturelle Problem aber kein ethisch-moralisches im engeren Sinne. Wer das Phänomen Dieter Bohlen kritisiert, tut dies aus eher ästhetisch kulturellen Gründen als aus ethisch moralischen: eine ethischmoralisch grundierte Kritik geräte rasch in Versuchung, sich allzu biederer und altbackener Argumente bedienen zu müssen. Nun hat es (noch randständiger als manche anderen wissenschaftlichen Diskurse13) in der jüngeren Vergangenheit Bemühungen gegeben, die Verflechtungen zwischen Ethik und Ästhetik aufzuklären. (Wulf/ Kamper/ Gumbrecht 1994) Diese Bemühungen bestätigen meines Erachtens, was nicht nur für kulturelle Einzelphänomene wie Dieter Bohlen gilt, sondern die gesamten angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse: es geht um nicht weniger als das äußerst heterogene und konfliktäre Feld kultureller Auseinandersetzungen über die Frage, worin eigentlich das gute und schöne Leben der Zukunft bestehen soll bzw. kann. Und dieses Feld ist den nationalstaatlichen oder übernational regionalen Räumen inzwischen entzogen, vielmehr selbst globalisiert, wie Wolfgang Sachs in einem Oldenburger Vortrag an dem Beispiel verdeutlichte, dass der Anwalt in Caracas und ein Kompagnon in Neu-Delhi kulturell längst mehr gemeinsam haben als die beiden jeweils mit einem Bauern keine 50 Kilometer entfernt. Die Frage des guten und schönen, also gelingenden Lebens ist also, dies sei als These bekräftigt, insbesondere eine ästhetische Frage bzw. Angelegenheit, auf die hin natürlich viele Fragen und Probleme auch sehr direkt ethisch-moralischer Art sind (etwa die nach der Bereitschaft der globalen Konsumentenklasse, die eigenen kulturellen Praktiken im Sinne der Idee nachhaltiger Entwicklung so umzugestalten, dass zeitgleich alle und außerdem künftige Menschen im Prinzip die Chance auf ein gutes und schönes Leben haben). Das Nicht-Notwendige erweist sich gerade als das Schöne im Leben und ist mit dem noch nicht Bekannten aufs engste verknüpft. Die Sehnsucht, die „Erfahrung der Ferne“ (Leed 1993) zu machen, scheint ein tief verankertes menschliches Bedürfnis zu sein, das 13

Es lohnt sich durchaus bei unserem Treiben, sich ab und an die Frage zu stellen, wie viele Menschen, die wir ja schließlich in diagnostizierender oder Veränderungsabsicht ansprechen, wir mit unseren Texten prozentual eigentlich erreichen.

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durch noch so viele berechtigte Kritik an konkreten Formen des heutigen Massentourismus nicht außer kraft gesetzt werden kann. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, mit denen darauf hingewiesen werden kann, dass das kulturelle Feld nicht zu simpel in richtiges und falsches Handeln aufgeteilt werden kann – es gibt zu viele endogene Probleme, Inkonsistenzen und Widersprüche. Für den Umgang mit prinzipiell offenen Zukünften haben Unternehmen genau so wie andere Akteure die Schwierigkeit, viele Entscheidungen immer wieder erst treffen zu müssen. Je mehr sie meinen, das abschaffen zu können, erst recht je mehr sie meinen, absehbaren Pfaden folgen zu können, desto mehr verriegeln sie sich ihre eigene Zukunft. Kulturelle Bedeutungsschemata fallen nicht vom Himmel, sondern sind in ökonomischer Betrachtung emergente Ergebnisse zwischen Angebot und Nachfrage. Aus der Forschung und Beratung zur Organisationsentwicklung ist seit langem bekannt, dass die Entwicklungsfähigkeit der Organisation wesentlich verkoppelt ist mit der Fähigkeitsentwicklung der Organisationsmitglieder. Diese stehen bekanntlich für beide Seiten der ökonomischen Interaktion, als Mitglieder einer Unternehmensorganisation für die Angebots-, als Konsumenten für die Nachfrageseite. Traditionell wurde und wird Organisationsentwicklung14 als Vermittlung betrieblicher Anpassungserfordernisse mit persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten in der beruflichen Arbeit assoziiert. Es wäre revolutionär, hier auf kulturelle Bildung in einem nicht nur instrumentellen Sinne zu setzen, vielmehr in der Richtung, dass sich die Mitglieder einer Unternehmensorganisation als Mitproduzenten ihres Unternehmens nicht nur in der technischen, sondern auch der kulturellen Dimension verstehen lernen. Zugegebenermaßen befördert das derzeitige Ansteigen eher prekärer Arbeitsverhältnisse das Gegenteil, nämlich eine neue instrumentelle Einstellung zur Arbeit (jobholder-Mentalität), die den emanzipatorischen Potentialen eines Selbstverständnisses als Lebensunternehmer natürlich abträglich ist. Über die Flexibilisierung der Arbeits(zeit)verhältnisse wie über zunehmenden Druck auf selbständigen Umgang mit dem eigenen Lebenseinkommen erhalten Unternehmen eine wachsende Zuständigkeit für 14

Inzwischen eingetretene Verschiebungen von Organisationsentwicklung zu Change Management u. ä. sollen hier keine Rolle spielen, zumal es sich häufig eher um terminologische als um wirklich sachliche handelt, s. dazu Pfriem 2005.

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Prozesse der Gemeinschaftsbildung.15 Damit kommt die Frage auf, wie sie diese Zuständigkeit nutzen und wie andere sich dazu verhalten. Für einen Teil mag es richtig sein, sich der damit verbundenen imperialen Ansprüche zu erwehren. Dass Universitäten oder andere Forschungseinrichtungen sich finanzielle Mittel über eine Auftragsforschung verschaffen, die mehr den schon vorhandenen Interessen der Auftraggeber verpflichtet ist als einer unbefangenen Erkenntnisgewinnung, sei hier als Beispiel angeführt. Es erscheint freilich illusorisch, die Unternehmen als solche aus dieser Rolle verdrängen zu können, insofern kommt es mehr auf die Inhalte an. Und diese Inhalte werden ja wiederum über ständige Interaktionen zwischen Angebot und Konsumorientierungen generiert. Ein Blick darauf bekräftigt, dass wir eine die ästhetische Dimension einschließende weiter gehende kulturelle Perspektive brauchen und mit engen ethischmoralischen Kriterien nicht weit genug kommen. Ein relevantes Beispiel liefern die gegenwärtigen kulturellen Auseinandersetzungen um die Beziehung zwischen Produktqualität und -preis, genauer: welche Rolle Qualitätsdifferenzen im Verhältnis zum Preis eigentlich zugewiesen wird. Ist Geiz wirklich geil?16 Verbunden damit ist auf den Plattformen des gesellschaftlichen Wettbewerbs17 gerade in jüngster Zeit eine verstärkte Orientierung auf „The winner takes it all“. Mag man bei manchen kulturellen Phänomenen noch Argumente finden, dass die Quellen eher außerhalb von Unternehmen im engeren Sinne zu suchen sind, so markiert „The winner takes it all“ eine kulturelle Verschiebung, die ganz massiv mit der Verschärfung des unternehmerischen Wettbewerbs zu tun hat, und zwar in beiden Dimensionen: des Wettbewerbs zwischen den

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Diesen Ausdruck von Kai-Uwe Hellmann bei einem Vortrag im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen möchte ich hier gerne aufgreifen. Gar nicht hauptsächlich normativ, sondern empirisch und analytisch wird dies bestritten von Rodenhäuser u. a. 2005. Hier gibt es bemerkenswerte Parallelen zwischen jüngeren Entwicklungen im Leistungssport wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die belegen, dass wir es hier und in ähnlichen Fällen mit übergreifenden kulturellen Trends zu tun haben.

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Unternehmen wie des personalbezogenen Wettbewerbs innerhalb der Unternehmen.18 Solche kulturellen Verschiebungen sind es, die unternehmensethisch motivierte Untersuchungen zu ihrem Gegenstand machen sollten, und es wird sich dann rasch erweisen, dass wir mit dem überkommenen Verständnis von Ethik ins Schwimmen kommen.19 Unternehmen konkurrieren zunehmend nicht nur auf der Ebene von Produkten bzw. Dienstleistungen und Prozessen20, sondern auch auf der Ebene der Generierung von Zukunftsmärkten. Diese dritte Stufe unternehmerischen Wettbewerbs geht über das vorgängige Verständnis von Basisinnovationen deutlich hinaus.21 Es gibt also für hinreichend differenzierungswillige unternehmensethische Forschungen viel zu tun, gerade auch empirisch.

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Dieser Befund wird durch den anderen Trend, dass Unternehmen inzwischen auch mehr kooperieren, Netzwerke bilden und strategische Allianzen, leider nicht außer Kraft gesetzt. Koslowskis kurzes Vorwort in dem trotzdem „Ethik des Konsums“ heißenden Band spiegelt das wider, s. (Hrsg.) Koslowski/ Priddat 2006. Im Sinne dieses Textes selbstverständlich inklusive der damit verbundenen kulturellen Bedeutungen. Vgl. dazu Fichter/ Paech/ Pfriem 2005.

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Unternehmenspolitische Verantwortung im außermoralischen und im moralischen Sinn Reinhard Pfriem

„Diese Welt wird nicht von der Atombombe zerstört werden, wie uns die Zeitungen weismachen wollen, sondern sie wird sich totlachen, wird an Banalität zugrunde gehen, weil sie aus allem einen Witz macht, einen schlechten noch dazu.“ Carlos Ruiz Zafón, Der Schatten des Windes

1 Unternehmen sind emergente Handlungseinheiten Hier wird eher vorausgesetzt, wozu an anderer Stelle dieses Buches argumentiert wird1: Unternehmensorganisationen sind emergente Akteure, denen unabhängig von ihren internen Entscheidungsstrukturen die Fähigkeit zugeschrieben wird, in und mit Umwelten zu interagieren. Interaktion ist dabei grundsätzlich immer rekursiv zu verstehen:  Die Umwelten des Unternehmens wirken auf die Entscheidungen und Handlungen des Unternehmens (verändernd) ein,  das Unternehmen wirkt mit seinen Entscheidungen und Handlungen (verändernd) auf die Umwelten ein. Das ist weiterhin weniger trivial, als es klingt, weil die volks- wie die betriebswirtschaftliche Forschung des 20. Jahrhunderts zum weit überwie1

Etwa in dem Beitrag von Günter Ulrich, der die Emergenz von Unternehmensorganisationen als kollektiven Akteuren über eine sehr sorgfältige soziologische Rekonstruktion verdeutlicht.

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genden Teil dem Bild des Unternehmens als Anpassungsoptimierer gefolgt ist und die zweite Forschungsrichtung insofern völlig vernachlässigt wurde. Spätestens die Verschiebungen im Machtgefüge zwischen ökonomischen und traditionell so bezeichneten politischen Akteuren, also Wirtschaft und Staat, klären allerdings darüber auf, dass Unternehmen in marktwirtschaftlich-kapitalistisch verfassten Gesellschaften die offenkundig einflussreichsten gesellschaftlichen Akteure sind. Der Prozess, den wir als Globalisierung bezeichnen, tut ein Übriges zu dieser Aufklärung hinzu. Begründungen zur emergenten Handlungsfähigkeit von Unternehmen als (kollektiven) Akteuren werden häufig darüber geliefert, dass der Entscheidungszusammenhang des Subjekts Unternehmen eine solche Annahme zulässt, was erst recht bei sehr zentralistisch verfassten Unternehmen dann durchaus plausibel erscheint. Hier soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass der Befund der Emergenz von Unternehmenshandeln gerade auch von der anderen Seite des Subjekts her vorgetragen werden kann: nämlich über die Emergenz von Unternehmensstrategien, deren Zustandekommen überhaupt nicht sinnvoll individuellen Akteuren des Unternehmens zugerechnet werden kann, weil sich die jeweils realisierte Unternehmensstrategie häufig als von niemandem in dieser Weise beabsichtigtes Ergebnis komplexer Interaktionsprozesse eben nicht nur in der Unternehmung, sondern auch zwischen dem Unternehmen und seinen Umwelten erweist (vgl. Pfriem 2006, 144f., auch 46f.). Unternehmenspraktiker unterschätzen gewöhnlich das Ausmaß der Kluft, die zwischen ihren Plänen und der eingetretenen Wirklichkeit besteht. Erst recht wenn sich diese sehen lassen kann, nämlich eine höhere Qualität als das beabsichtigte Planziel hat, ist die Versuchung groß, sich das als Erfolg des eigenen Managementhandelns auch noch selber zuzuschreiben. Es gehört zu den Verdiensten der Luhmannschen Theorie und rechtfertigt schon alleine ihren Einfluss auf Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensberatung, diese Machermentalitäten gehörig desillusioniert zu haben. Auf der anderen Seite hat das reflektierte Wissen um die Schwierigkeiten von strategischer Planung natürlich nicht zum Ergebnis, darauf zu verzichten und alles der Emergenz zu überlassen. Vergewissern wir uns dessen noch einmal an den bald zwei Jahrzehnte alten fünf P’s, über die Mintzberg (1987) seinerzeit Planung definiert hatte:

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 Strategie als „plan“ bedeutet den intentionalen Umgang mit Zukunft. Unternehmen „antworten“ damit auf das, was sie für sich als strategische Entscheidungssituation wahrnehmen. Die Situation ist immer zugleich auch Herausforderung. Und wenn das Unternehmen nicht bloß reagiert im Sinne des Anpassermodells2, sondern um eigenständige, kreative Entscheidungen bemüht ist, über die sich der Begriff des strategischen Handelns erst rechtfertigen lässt, kann mit Schumpeter (1947) von „creative response“ gesprochen werden.  Strategie als „ploy“ setzt die eigene Planung bereits in Relation zu den zu erwartenden Planungen anderer. Die eigenen Erwartungen beziehen sich dabei auf die Erwartungen anderer, was die Antwort kompliziert macht, weil es um Erwartungserwartungen geht. Das Spiel heißt wirtschaftlicher Wettbewerb, und wie bei den meisten anderen Spielen kann man hier gewinnen oder verlieren. Die Suche nach einer Antwort besteht im Kern also nicht darin, gut zu sein, sondern besser als die anderen.  Strategie als „pattern“ macht darauf aufmerksam, dass sich im Lebenslauf eines Unternehmens bestimmte Muster herausbilden, wie mit strategischen Entscheidungssituationen umgegangen wird. Antworten werden möglicherweise zur Routine, und je mehr das passiert, desto mehr wird die Plattform echten strategischen Handelns verlassen. Das Unternehmen wird auch für Außenstehende berechenbarer. Auf der anderen Seite ist hier die Verbindung zu Routinen nicht weit, deren Entlastungsfunktion durchaus positiv überwiegen kann, wenn die Reflektion dabei nicht verloren geht.  Strategie als „position“ zielt auf den Ort, den das Unternehmen im wettbewerbsförmig strukturierten Geschehen einnehmen will. Es muss sich dazu selbst eine Antwort geben. Das passiert auch dann, wenn es sich darüber gar keine Rechenschaft ablegt. Watzlawicks Hinweis, dass man nicht nicht kommunizieren kann, gilt auch für die Kommunikation mit sich selbst. Wie auch immer besteht die Antwort in der Unternehmensidentität, die im reflektierten Fall als Gratwanderung zwischen Beharrung und Veränderung verstanden werden kann (vgl. dazu Pfriem 2006, 286ff.).

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Zur Auseinandersetzung damit s. auch Hejl 2006.

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 Dass Strategie vor allem als Geben einer Antwort auf die vorhandene natürlich nicht nur momentane Situation, sondern auch absehbare Konstellation inklusive der Rolle des eigenen Unternehmens darin verstanden werden kann, geht aus Mintzbergs fünfter Charakterisierung von Strategie am deutlichsten hervor: „perspective“. Die an einer strategischen Unternehmensentscheidung beteiligten Akteure sind über ihre „Sozialisations- und Lernprozesse, genetischen Anlagen, Eingebundenheit in persönliche Netze und Verbindungen etc. kulturell je besonders geprägt, was die eigene Disposition in einer spezifischen Entscheidung betrifft. Das fängt bereits an mit der Wahl und Einschätzung verschiedener Informationsquellen und endet mit Komponenten, die vielleicht sehr situativ und emotional sein mögen“ (ebd., 39). In allen fünf Dimensionen des Mintzbergschen Strategiebegriffs haben wir absichtsvoll strategisches Handeln als das Geben von Antworten charakterisiert. Damit wird die im 20. Jahrhundert völlig dominierende wirtschaftswissenschaftliche Fiktion verlassen, ökonomische Akteure vor allem als isolierbare Nutzenmaximierer zu modellieren, und stattdessen der Boden einer Interaktionsökonomik betreten, mit der wir daran gehen können, die Vielfalt des gegenseitig aufeinander Einwirkens der ökonomischen Akteure zu analysieren. Die ökonomische Wirklichkeit des Wettbewerbs zwischen Unternehmen ist also eine Welt des ständig einander Antworten Gebens, mit zwei besonderen Merkmalen:  Es handelt sich nicht um ein Gespräch, sondern praktische Interaktion: mit jeder dieser Antworten wird so oder anders Welt gestaltet und verändert.  Das primär treibende Motiv besteht nicht darin, den wirklichen oder vorgestellt Fragenden, also den Anderen, zufrieden zu stellen, sondern die eigene Stellung im wirtschaftlichen Wettbewerb zu verbessern. Dem zweiten Punkt wollen wir besondere Aufmerksamkeit zuwenden, denn er führt uns zu der Erkenntnis, dass die Entmoralisierung des ökonomischen Handelns eines der wesentlichen Charaktermerkmale der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften in ihrer bisherigen (!) Verlaufsgeschichte darstellt. „Ein Unternehmer, der seine Konkurrenz besiegt, gilt nicht als unmoralisch, sondern als erfolgreich“ (Bayertz

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1995, 23). Auch Bayertz bemerkt zur Entmoralisierung des ökonomischen Handelns: „Es genügt daran zu erinnern, dass sie eine historisch relativ junge Erscheinung ist: eine Errungenschaft des Kapitalismus“ (ebd.). Bekanntlich war es ein weiter Weg vom päpstlichen Verdikt aus dem 5. Jahrhundert nach Christus, das da lautete: „Des Geldes Zins ist der Seele Tod“ über die Geburt des Fegefeuers im selben Jahrhundert, in dem in Italien die Bank Monte die Paschi di Medici gegründet wurde (LeGoff 1984), bis zu dem Max Weberschen Unternehmer, dessen Investitionsneigung nicht länger nur als Investition in irdische Gewinne aufgefasst werden musste, sondern auch als Hinweis auf die spätere Erlangung des himmlischen Glücks gelten durfte (vgl. Weber 2004). In einer heute kaum mehr bekannten Schrift hat der Ökonom Albert O. Hirschman (1987) bereits vor Jahrzehnten die Geschichte nachgezeichnet, in der sich die Todsünde (und Leidenschaft) der Habgier (vgl. auch Schulze 2006) zum moralisch neutralen Interesse am Geldverdienen transformieren konnte. Adam Smith, der mit moralisch besten Absichten und voller Zuversicht systematischer als andere 1776 den Glauben an die ideal funktionierende kapitalistische Marktwirtschaft in die Welt setzte (Smith 1776), hatte viele Helfershelfer, u. a. einen Dr. Johnson, den Hirschman mit entsprechender Quellenangabe ein Jahr vor dem Ersterscheinen von Smiths Werk zitiert: „Es gibt für einen Mann wenig Möglichkeiten, sich unschuldiger zu betätigen als beim Geldverdienen“ (Hirschman 1987, 66). So blicken wir zurück auf eine für das vor allem seinerzeit christliche Abendland, bei den heutigen Formen der Globalisierung natürlich nicht nur für dieses welthistorisch bedeutsame Weichenstellung. Nicht die Völlerei wurde zum Genuss hin pazifiziert, was vielleicht auch eine Möglichkeit gewesen wäre3, sondern die Habgier zum ökonomischen Rentabilitätsstreben. Von daher stellt sich die Frage, ob diese Entmoralisierung des ökonomischen Handelns eigentlich als auf Dauer gesichert angesehen werden kann, oder ob nicht vielleicht gesellschaftliche Triebkräfte am Werk sind, die zu einer Re-Moralisierung des ökonomischen Handelns führen. Einige Überlegungen dazu werden wir im Folgenden in drei Schritten entwickeln. 3

Darüber soll an anderer Stelle einmal nachgedacht werden.

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2 Moralität (bzw. Nichtmoralität) von Handeln ist eine Bedeutungszuweisweisung Für den bemerkenswerten Umstand, dass der Begriff der Verantwortung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in der Philosophie überhaupt keine Rolle spielt4, liefert Bayertz die Erklärung, dass der Begriff erst dann aufkam, als er dazu dienen konnte, besser mit einem bestimmten Problem umzugehen: „Die Idee der Verantwortung ist die spezifische Lösung, die sich in der europäischen Gesellschaft für das Problem der Zurechnung herausgebildet hat“ (Bayertz 1995, 4). Dieses Zurechenbarkeitsproblem lässt sich zunächst einmal völlig sachbezogen und moraljenseitig analysieren und behandeln. Betriebswirte wissen das aus längst nicht mehr jungen Überlegungen zur Kostenrechnung. So formulierte Edmund Heinen schon 1975, es sei „derjenige Güterverzehr als leistungsbedingt und damit den Kosten zugehörig einzustufen, der auf den Prozess der Leistungserstellung zwangsläufig einwirkt, so dass dieser ohne ihn nicht zustande kommt“ (Heinen 1975, 232). Unfreiwillig5 lieferte Heinen aus einzelwirtschaftlicher Warte damit eine Begründung des späteren umweltpolitischen Verursacherprinzips: Schäden bzw. Kosten, die bei Dritten anfallen, sollen von denen aufgebracht werden, die für ihre Verursachung „verantwortlich“ sind. Die emotionalen und moralischen Aufladungen, die die ökologischen Probleme gerade in den ersten Jahren ihrer Thematisierung erfuhren, ändern nichts daran, dass der Verantwortungszusammenhang erst einmal als moraljenseitiger Sachzusammenhang konstatiert wird. Insofern wollen wir den Gedanken des Zurechenbarkeitsproblems aufgreifen und registrieren Verantwortung im außermoralischen Sinn als etwas, das den ordnungspolitischen Grundgedanken kapitalistischer Marktwirtschaft entspricht, andererseits aber kontrafaktisch gegen viele konkrete Realzustände eben dieser kapitalistischen Marktwirtschafen eingesetzt werden muss, wofür die ökonomische Theorie schon vor län4 5

Zu diesem Befund s. auch den Beitrag von Röttgers in diesem Band. Denn das Problem der ökologischen Dimension der Unternehmenspolitik war seinerzeit Heinen wie der Betriebswirtschaftslehre überhaupt noch völlig fremd. Der betriebswirtschaftlichen Profession im engeren Sinne gingen abgesehen von der löblichen Ausnahme Strebel (1980) überhaupt erst 1988 die Lichter auf. Plötzlich erschienen en masse Bücher zum „Betrieblichen Umweltmanagement“ etc.

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gerem den Begriff der negativen externen Effekte gefunden hat (vgl. Pigou 1937). Moral ist hier (noch lange) nicht im Spiel. Mit der Moralität menschlichen Handelns6 ist es nun keine einfache Sache. Bei Bayertz (1995, 13) heißt es: „Erst indem die Zuschreibung mit einem Werturteil verknüpft wird, kommt die genuin moralische Dimension des Verantwortungsproblems ins Spiel.“ Meines Erachtens handelt es sich hier um eine zweifelhafte Verkleinerung des Problems. Wenn wir nämlich das Moralische am Werturteil festmachen, dann kommen Werturteile natürlich nicht erst dann ins Spiel, wenn es bereits um die Verknüpfung mit einem Verursacher geht, dem man (im Zweifel als Schuldigen) etwa das Zustandekommen eines Schadens meint, zurechnen zu können. Werturteile finden bereits statt im Vollzug der bloßen Beschreibung. Wie unterschiedlich man gleich die Situation der ganzen Welt ansehen kann, macht Günter Dux (2004, 15) gleich in den ersten Sätzen seines neueren moraltheoretischen Werkes deutlich: „Wir sind mit der Marktwirtschaft in eine Krise der menschlichen Daseinsform geraten, auch wenn wir nach dem Urteil vieler, die es wissen wollen, in der besten aller möglichen Gesellschaften leben.“ Diese Aussage markiert recht gut, dass wir hinter die Wahrheit, dass die Wahrheit des Beobachters zur Frage von Wahrnehmung und Interpretation geworden ist, nicht mehr zurückfallen können. Verständigungsorientiert können verschiedene Weltsichten versuchen, so aufgeschlossen aufeinander zu treffen, dass es ihnen gelingen mag, voneinander zu lernen und darüber Bestandteile bisheriger Weltsichten zu korrigieren. Gleichsam an sich zu erwarten, dass Dialogrunden oder Mediationsverfahren etwa zu bestimmten wirtschaftlichen Projekten bei hinreichender Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit aller Beteiligten zu einem sachlichen Einvernehmen führen, ist nicht länger möglich – und nicht länger vernünftig. Auch Verantwortung ist eben eine Bedeutungszuweisung: „Verantwortlich kann man nicht sein, sondern wird man (von anderen) gemacht“ (Bayertz 1995, 16). Mit Blick auf die möglichen oder gewünschten praktischen Folgen von Verantwortung als Bedeutungszuweisung plädiert Bayertz (ebd., 21) dafür, „Verantwortung als Ergebnis einer sozialen 6

Die wir in diesem Text im Sinne des ersten Kapitals vor allem auf Unternehmen als organisierte kollektive Akteure beziehen wollen.

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Konstruktion zu deuten, d.h. als eine spezifische Deutung eines sozialen Problems und den Versuch seiner Lösung.“ Der Charakter der sozialen Konstruiertheit von Bedeutungszuweisungen zu Handlungen als moralisch, unmoralisch oder moralisch neutral bzw. als verantwortungsvoll oder verantwortungslos wird sofort noch einsichtiger, wenn wir uns das wohl prägendste Wesensmerkmal strategischer Unternehmensentscheidungen ansehen, die hier als Bezugsrahmen dienen: es sind Entscheidungen in eine prinzipiell offene Zukunft hinein. Die menschlichen und sozialen Möglichkeiten, bestimmte Handlungen und Entscheidungen guten Gewissens mit moralischen Bedeutungszuweisungen zu versehen, sind selber nicht irgendwie da, sondern entwickeln sich im Zeitablauf. Selbst Forscher, die glauben, dass Moral im Erbgut stecke und deshalb an Genmanipulation denken, um die Grausamkeit der Menschen Fremden gegenüber zu besiegen, leugnen nicht die kulturelle Varietät dessen, was sie als Moral bezeichnen.7 Diese kulturelle Varietät beruht natürlich wesentlich auf unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bedeutungszuweisungen für bestimmte Probleme und Problemlösungen – nein, der Satz ist viel zu tautologisch: sie besteht darin, so funktioniert Kultur, nämlich in der Ausprägung kultureller Differenzen. Also gibt es zwar Tatbestände, die in verschiedenen Kulturen einhellige moralische Bewertung hervorrufen mögen (in positiver oder in negativer Richtung), auf der anderen Seite aber schon immer viele, für die das nicht gilt. Und es sollte eigentlich leicht einzusehen sein, dass das letztere gerade für solche Tatbestände, Faktoren und Entwicklungen gilt, bei denen die Menschen eher noch im Experimentierstadium sind, als dass sie damit schon jahrzehntelange oder jahrhundertelange Erfahrungen gemacht hätten. Mit Blick auf den gegenwärtigen wirtschaftlichen Strukturwandel lassen sich nicht nur immer noch die Atomenergie (nach nun drei Jahrzehnten heftiger Debatten und Auseinandersetzungen!) oder grüne Gentechnik anführen, sondern etwa auch die so bezeichneten Converging Technologies, bei denen Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Cognitive Sciences in spezifischer Weise zusammen kommen (vgl. Hentze 2006). Moralische Urteile und ihre ethische Rechtfertigung müssen also auf der Basis von hoher Ungewissheit aktiv gesucht und erzeugt werden. Der 7

Vgl. das Interview der Süddeutschen Zeitung mit dem Harvard-Psychologen Marc Hauser, SZ vom 9./10.12.06.

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Blick auf die Technik- und Industriegeschichte von den Weberaufständen über die anfänglichen Versuche, das Autofahren zu verbieten (erfolgreich geschehen im Schweizer Kanton Graubünden im Jahr 1925), bis hin zu den immer noch geradezu mit Routine stattfindenden Widerstandsaktionen gegen Castor-Transporte bietet unendlich viele Beispiele für das Auseinanderklaffen unterschiedlicher moralischer Bedeutungszuweisungen. Das soll nun überhaupt nicht heißen, dass sich das Richtige immer durchgesetzt habe – wer solchen Weltbildern frönt, der versteht nichts von Geschichte. Das soll vielmehr aufzeigen, dass sich der Verantwortung schwerlich entrinnen lässt: der Verantwortung, sich selbst ein moralisches Urteil zu bilden, selbst wenn man mit einem Problem nur recht indirekt konfrontiert sein mag. Aufgrund der immer wieder auch neuen Offenheit und Unentschiedenheit vieler schwerwiegender ethisch-moralischer Probleme ergibt sich erst recht ein Einspruch gegen die Beschwörung allgemeiner Werte (die in ihrer Allgemeinheit für die konkreten Probleme nämlich nicht helfen) und gegen so etwas wie Pflichten, die irgendwo schon definiert werden. Wenn, obwohl immer missverständlich, überhaupt von Pflichten gesprochen werden sollte, dann gibt es die nicht, sondern wir entwerfen diese permanent neu. Das spricht nach den Suggestionen vergangener ethischer Programme allerdings mit Nachdruck dafür, eher einer Abkehr von der Pflichtenethik das Wort zu reden und die Begriffe Verantwortung und Tugend an deren Stelle zu setzen.8 Fassen wir für die weitere Argumentation zusammen: Alltagsmoralen sind als kulturelle Orientierungen und Praktiken zunächst unabhängig von der Frage zu betrachten, wie weit ethisch-moralische Bedeutungszuweisungen als Selbst- oder Fremdbeschreibungen stattfinden. Ökonomisch betrachtet gibt es keine an sich moralischen Güter, vielmehr moralische Bedeutungszuweisungen und Aufladungen von Gütern, die vorher oder gleichzeitig von anderen als moralisch völlig neutral betrachtet werden mögen (vgl. auch Wieland 2006, 15). Castoriadis (1984, 582) hat dazu auch direkt erkenntnistheoretisch argumentiert: „Selbstredend sind die gesellschaftlichen Dinge keine ‚Dinge’; gesellschaftliche Dinge, und zwar diese, sind sie nur, insofern sie gesellschaftliche Bedeutungen ‚verkörpern‘ oder, besser gesagt, abbilden und darstellen. Die gesellschaftli8

Zu einem Plädoyer für die Renaissance der Tugendethik s. Lautermann/ Pfriem 2006.

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chen Dinge sind das, was sie sind, nur aufgrund der Bedeutungen, die in ihnen unmittelbar oder mittelbar, direkt oder indirekt Gestalt annehmen.“

3 Der kulturalistische Zugang zum Phänomen der Verantwortung Für den kulturalistischen Zugang zum Phänomen Verantwortung ist die Abkehr von etwas wie Pflichtenethik eine wichtige Voraussetzung. Denn „Pflichten sind explizite Handlungsvorschriften, mit denen mehr oder weniger präzise festgelegt wird, was zu tun ist“ (Bayertz 1995, 33). Wenn wir bezogen auf Unternehmensstrategien als Umgang mit prinzipiell offener Zukunft begrifflich mit Bayertz (ebd., 45) von „prospektiver Verantwortung“ sprechen können, ist allerdings noch eine andere kritische Abgrenzung vorzunehmen: gegenüber der Konzeption, gerade aus dem Bemühen um Vorsorge heraus eine Ontologie der Verantwortung zu konstruieren. Dafür steht das große und vielfach geehrte Werk von Hans Jonas: das Prinzip Verantwortung als Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Jonas 1984). In Kritik am utopischen Denken u. a. des Marxismus wird über die (aufgrund der jüngeren wirtschaftlich-technischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen mehr als berechtigte) Sorge um die Zukunft eine Pflicht zur Zukunft generiert. Diese Pflicht hat nach Jonas zum Kern die „ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen“: „Es ist…eine ontologische Idee, … die sagt, dass eine solche Anwesenheit sein soll, also gehütet werden soll, sie also uns, die wir sie gefährden können, zur Pflicht macht … Erst die Idee des Menschen, indem sie uns sagt, warum Menschen sein sollen, sagt uns damit auch, wie sie sein sollen“ (ebd., 91). Drei Seiten weiter schreibt Jonas von der „Möglichkeit einer rationalen Metaphysik“ (ebd., 94), und aus den weiteren Ausführungen wird deutlich, wie affirmativ das gemeint ist. Er verteidigt also nicht das metaphysische Problem im Sinne seines neugierigen Offenhaltens (wobei wir gerne mit dabei wären), sondern schafft damit die Voraussetzungen, um im Weiteren sehr ontologisch über „Zwecke und ihre Stellung im Sein“ (ebd., 107ff.), „das Gute, das Sollen und das Sein: Theorie der Verantwortung“ (ebd., 153ff.) und die „Ethik der Verantwortung“ als „Kritik der Utopie“ (ebd., 316ff.) argumentieren zu können.

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Hier sind wir eindeutig nicht dabei. Zwar ist es gerade zur Kritik des dogmatisierten Marxismus richtig und wichtig, ein Verständnis von Utopie zu kritisieren und zu verwerfen, das für eine vermeintlich goldene Zukunft9 bereit ist, in der Gegenwart ungefähr alle Schlechtigkeiten in Kauf zu nehmen. So anständig und ehrenhaft er sein mag, negiert der ontologische Konservatismus von Hans Jonas freilich die kulturellen Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Lebens: die sozialen Praktiken und kulturellen Orientierungen der Menschen folgen zumindest zum (besseren) Teil und zumindest latent den Sehnsüchten, die diese Menschen im Wunsch nach einem gelingenden Leben haben. (Die mag man übrigens ruhig als kleine Utopien bezeichnen.) Der kulturalistische Zugang zum sozialen Leben besteht darin, diese Praktiken und Orientierungen möglichst genau in Augenschein zu nehmen, um über diese Beobachtungen Entwicklungsprozesse und Veränderungsmöglichkeiten zu analysieren, in der Folge dieser immer mit Bewertungen verbundenen Beobachtungen auch durchaus parteilich Position zu ergreifen und vielleicht auch praktisch einzugreifen. Gerade hier können wir auf den Begriff der gesellschaftlich imaginären Bedeutungen aus der praktischen Philosophie von Cornelius Castoriadis (1984, speziell 233f.) zugreifen, von dem weiter oben schon die Rede war. Dieser theoretische Bezugsrahmen passt deshalb ausgezeichnet, weil er die permanent ablaufende Beziehungsgeschichte zwischen Institutionalisierendem und Institutionalisiertem in den historischen Kontext kultureller Bedeutungszuweisungen stellt. Wir haben es hier mit einem recht frühen und viel zu wenig beachteten Versuch zu tun, das Problem institutionellen Wandels zu verstehen und zu erklären und dafür eine im Grunde kulturalistische Theoriekonzeption zu entwickeln. Castoriadis benutzt ausdrücklich die begriffliche Folie von Instituiertem und Instituierendem.10 Moralisch am moralischen Handeln ist übrigens vor diesem Hintergrund „nur“ die mitlaufende moralische Konnotation11 der selbst vertretenen imaginären Bedeutungen, nichts sonst.

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Vgl. auch meine Argumentation in Pfriem 2006a. Hier ließen sich natürlich Bezüge herstellen zur dialektischen Begrifflichkeit von Handeln und Struktur in der Theorie von Giddens (1984). Bereits Nietzsche (1980, orig. 1886, 92) hat formuliert, dass es gar keine moralischen Phänomene an sich gibt, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen.

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Ohne sich ausdrücklich mit Jonas auseinanderzusetzen, formuliert Dux (2004, 21) in Kritik jeglicher ontologischer Idee von Verantwortung: „Dass hinter uns im Universum nichts ist, durch das die Normativität der menschlichen Daseinsform ihre Begründung erfahren könnte, das ist es, was es zu realisieren gilt.“ Vom Boden eines modernen Selbstverständnisses her, so Dux weiter (ebd., 25), müsse nach den empirischen Bedingungen des Bildungsprozesses von Moral gefragt, also eine gleichsam evolutorische Begründungsstrategie verfolgt werden. Unser kulturalistischer Zugang zeichnet sich, wie hoffentlich schon klar geworden sein sollte, gerade dadurch aus, konkrete Inhalte (von kulturellen Praktiken und Orientierungen) aufzudecken und zu thematisieren: durch die Kommunikation der kulturellen Differenzen werden strategische Veränderungsoptionen ans Licht geholt. Dazu passt sehr gut die Kritik von Dux (ebd., 61) an der inhaltlichen Leere des Kantschen Sittengesetzes: „Das Sittengesetz gilt, weil die Vernunft die Verpflichtung in sich beschließt, sich gesetzmäßig zu verhalten. Es ist, das muss man sehen, die leere Form des Gesetzes, die verpflichtet.“ Mit der Begründung der Moral aus der Vernunft gerät Kant, so Dux (ebd., 71), in eine Aporie: „Es ist in keiner Weise einsichtig zu machen, wie von der reinen, absoluten Vernunft im Subjekt zu dessen empirischer Motivation im Handeln zu gelangen ist.“ Die Fähigkeiten der Menschen zur ethischen Reflektion ihres alltagsmoralischen Handelns sind also als Ergebnis einer kulturellen Entwicklung zu verstehen. Dieses Ergebnis ist weder aus einem absoluten Geist ableitbar noch aus den biologisch immer schon angelegten natürlichen Bedingungen der Menschen; auch hier kann Dux gefolgt werden mit seiner nur scheinbar paradoxen Formulierung, da denke die Biologie nicht evolutiv genug (ebd., 103). Kritisch wird es im Weiteren. Für unseren eigenen Standpunkt sollte aus der bisherigen Argumentation sehr deutlich geworden sein, dass die Anerkennung von Vielfalt der kulturellen Orientierungen und Praktiken eine fundamentale Theoriebedingung des kulturalistischen Zugangs darstellt. Dazu eher konträr steht die allgemeine Definition eines im Singular auftretenden Sollens, das sich „aus den Anforderungen der sozialen Daseinsform als eine Struktur sozialer Beziehungen“12 bildet: „Es besteht in 12

Das Lektorat des Buches von Dux hat so viele Rechtschreib- und Grammatikfehler übrig gelassen, dass es vielleicht auch „einer Struktur“ heißen kann,

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seiner Grundverfassung darin, die Erwartung an den resp. die anderen zu richten, die eigenen Interessen der Lebensführung anzuerkennen“ (ebd., 113). Könnte man durch die Ironie anklingen lassende Überschrift „Pflicht, du erhabener Name“ für das Kapitel, das mit dem in unserer Fußnote 13 zitierten Satz beginnen, noch auf eine Dekonstruktion des Pflichtbegriffs hoffen, so wird von Dux trotz der Zurückweisung transzendentaler und biologischer Begründungsmuster nun doch eine allgemeine Pflichtenethik konstruiert: „Soziale Vernunft ist es, der Pflicht (im Singular, RP!) auch dann nicht zuwider zu handeln, wenn konkrete Interessen dagegen stehen“ (ebd., 141). Wenn Dux später entsprechend formuliert: „Wie in allem Sollen ist es auch in der Moral das Bewusstsein der Pflicht, durch das die Moral erst ihre eigentlich normative Ausprägung erfährt“ (ebd., 181), sind wir endgültig bei einer Konzeption, die wir wegen ihrer singularen Form und ihrer schlechten Allgemeinheit mit unserem kulturalistischen Zugang nicht zusammenbringen können. Eben hier kommt im kulturalistischen Sinne der Begriff der Verantwortung ins Spiel. Bei Bauman (1995, 86) heißt es: „Unser aller Pflicht, die ich kenne, scheint nicht das gleiche zu sein wie meine Verantwortung, die ich fühle.“ Und er unterscheidet weiter: „Nur Regeln können universal sein. Man kann universale, regeldiktierte Pflichten als Gesetze erlassen, aber moralische Verantwortung existiert einzig als Interpellation an den einzelnen und als individuell zu tragen. Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen“ (ebd., 87). Natürlich mit dem Zusatz, dass wir diese Formulierungen auch auf Unternehmen als emergente soziale Systeme beziehen wollen, treffen die Aussagen Baumans genau das, wie sich die kulturalistische Unternehmenstheorie und Unternehmensethik versteht. Im Rahmen eines Strategischen Managements als Umgang mit prinzipiell offener Zukunft kann es nicht darum gehen, einen vielleicht gar schon kodifizierten Kanon von Pflichten anständigerweise einzuhalten. Und die im Singular auftretende Pflicht hilft schon gar nicht weiter: worin bestünde im konkreten Fall das Handeln und Entscheiden aus Pflicht? Die Ungewissheit auch in dieser dafür spricht jedenfalls die Formulierung auf S. 133: „So wie sich das Sollen aus der Struktur der Handlung resp. Interaktion in sozialen Situationen bildet, so auch das Bewusstsein der Pflicht.“

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Hinsicht ist ja gerade ein wesentlicher Charakterzug strategischer Unternehmensentscheidungen. Strategisches Management bedeutet als Herausforderung im Kern Umgang mit der Generierung des Neuen. Der kann sich nicht auf Pflicht gründen (es sei denn, man interpretierte den ständigen Druck auf Innovation als Pflicht, was aber eine völlig vordergründige Beschreibung wäre), wohl aber auf Verantwortung. Die theoretische Differenz zwischen Pflicht und Verantwortung scheint auch in den konzeptionellen Überlegungen und Bemühungen zu einem Werte- oder Ethikmanagement in Unternehmen auf. In einem Projekt, das in direkter und freundschaftlicher Kooperation mit Josef Wieland und Mitarbeitern durchgeführt wurde, haben Christian Lautermann und ich im letzten Jahr absichtsvoll dem Begriff Ethikmanagement gegenüber dem Konstanzer Terminus Wertemanagement den Vorzug gegeben: „Deutlicher als der zweite akzentuiert der erste den Reflexionscharakter der unternehmenspolitischen Bemühung, die es um des Erfolgs willen als notwendige Voraussetzung auch zu managen gilt.“13 Und diese Reflexion, so ist heute ergänzend und präzisierend zu formulieren, betrifft zu einem wesentlichen Teil solche Fragen, für die noch gar keine hinreichend konkreten und praktisch brauchbaren Werte ausgebildet sein können, nämlich die Probleme und möglichen Problemlösungen der Zukunft.

4 Das Prinzip Verantwortung muss über das Prinzip Hoffnung fundiert werden Der Begriff der kulturalistischen Unternehmensethik ist in den vergangenen Jahren schon mal ins Spiel gebracht worden (Hanekamp 2001). In einer aktuellen Erläuterung dazu akzentuiert Hanekamp (2006, 113) für seinen Vorschlag besonders „den Anschluss an das Management-Handeln in Unternehmen.“ Die von ihm so bezeichneten „Relevanzentscheidungen im Management“ (ebd.) wollen wir mit den von uns wie üblich bezeichneten strategischen Unternehmensentscheidungen gleichsetzen. Die Konzeption hat nach wie vor starken Bezug zum methodischen Konstruktivismus von Lorenzen (1969). Eine pragmatische Wende als nicht nur Ergänzung, sondern auch Beerbung der sprachphilosophischen 13

So in meinem Vorwort zu Lautermann et al. 2005.

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Wende (nach unserer Ansicht eine recht unpräzise Terminologie) „soll das Befangensein im Sprachlichen durch den Rekurs auf das Handeln überwinden helfen“ (Hanekamp 2006, 115). Zutreffend formuliert Hanekamp (ebd., 118): „Unternehmensentscheidungen sind Entscheidungen unter Unsicherheit mit vielfältigen Folgen.“ Die weiteren Ausführungen zum Programm einer kulturalistischen Unternehmensethik bleiben allerdings leider stark im Allgemeinen stecken, so wenn Fußen im Alltag der Adressaten und einfache Umsetzbarkeit als Qualitätsanforderungen definiert werden. Der Begriff der Adressaten legt zudem offen, dass hier anscheinend die Vorstellung besteht, etwas von außen an die Unternehmenspraxis heranzutragen. Das widerspricht unserer Sicht der Dinge, dass jenseits der besonderen Rolle wissenschaftlicher Beobachter mitlaufende moralische Konnotationen immer schon in die kulturellen Orientierungen und Praktiken der Unternehmen(spraktiker) eingelassen sind. „Anfangsprobleme“ und „Begründungsprobleme“, die Hanekamp mit Rekurs auf Steinmann und Scherer traktiert, sind Probleme von Akademikern im Umgang mit Unternehmensethik, nicht Probleme der Praktiker selbst. Und Hanekamps im Titel annonciertes Stufenschema erweist sich als eher außertheoretisches Vorgehensmodell, das zur theoretischen Klärung einer kulturalistischen Unternehmensethik leider nichts beiträgt. Hanekamp (ebd., 123) schließt mit dem Anspruch des „expliziten Anschluss(es) an materiale Voraussetzungen.“ Dem ist nur zuzustimmen, und das heißt für uns, die kulturalistische Unternehmensethik in theoretischen Bezügen zu fundieren und zu grundieren, die der sinnlichen Leibhaftigkeit der Menschen und insofern auch der Unternehmensakteure hinreichend Rechnung trägt. Verantwortung, die im Sinne Baumans gefühlt werden muss, kann nicht von individuellen und kollektiven Akteuren übernommen werden, deren Köpfe/kognitive Apparate man wie bei den üblichen Schachfiguren von allem anderen loslöst, sondern nur von sinnlichen und leibhaftigen Wesen. In Anlehnung an Rorty (1994) und Taylor (1996) wollen wir deshalb Verantwortung auf ethisches Können in Situationen beziehen. Moralische Kompetenz in diesem Sinne entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln. Dazu passt Varelas (1994, 13) kritischer Befund: „… es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vor-

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ausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns in der westlichen Welt so zu Hause fühlen.“ Freilich: „Wir operieren immer in der Unmittelbarkeit einer gegebenen Situation“ (ebd., 16). Und es geht darum, „zu erklären, wie wahrnehmungsgeleitetes Handeln in einer vom Wahrnehmenden abhängigen Welt möglich ist“ (ebd., 20). Diese sinnliche Situiertheit ethisch-moralischer Entscheidungsmomente ist unhintergehbar. Insofern muss sie auch nicht normativ eingefordert werden. Das Problem einer normativen Einforderung kontrafaktischer Art haben hingegen alle diejenigen, die den moral point of view erst einmal abstrahierend aus den konkreten, also historischspezifischen Situationen herauslösen, um beispielsweise ein Abstraktum Ethik gegen das Abstraktum Ökonomie zu setzen oder, schlimmer noch, Ethik wiederum als Abstraktum nur noch eingefangen im (historischkulturell doch sehr spezifischen) Kalkül eines homo oeconomicus denken zu können. Wenn wir den Begriff der Tugend auf die bisher dargelegten Überlegungen zum Verständnis von strategischer Unternehmensführung beziehen, gelangen wir zu einer bedeutsamen Spezifizierung. Dann kann Tugend nämlich nicht nur eingeschränkt genommen werden als Rechtschaffenheit gegenüber bestehenden Regeln, sondern muss bezogen werden auf die unter heutigen Bedingungen denkbaren und auch real existierenden Situationen bzw. Situiertheiten. Es gibt also nicht nur eine (mögliche) Tugend der (eher passiven) Anpassung und eine des loyalen Engagements, angesichts prinzipiell offener Zukünfte gewinnt die Tugend des (potentiell kritischen) Innovationsgeistes ganz besonderes Gewicht. Auf der Ebene der Beziehung eines individuellen oder kollektiven Akteurs zu gegebenen Regeln haben wir also neben der unterwürfigen Regelbefolgung und der bewussten Regeleinhaltung unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten der (potentiellen) Regelinfragestellung und dem (potentiellen) Regelbruch besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Strategisches Management von Unternehmen wird als Umgang mit prinzipiell offenen Zukünften plötzlich lebendig. Wir gelangen auf diese Weise zu einer performativen Spezifizierung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes, die die Positionsbestimmungen systematisch weiter führt, die in den Konzeptionen von Rorty und Taylor zum Ausdruck kommen und für die auch die zitierten Äußerungen Varelas stehen. Diese performative Spezifizierung richtet sich analytisch

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auf das Feld der kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten individueller wie kollektiver Akteure. Dieser performative turn ist in einer Weise handlungsorientiert, dass sie von vorgängigen Sichtweisen des werte- oder normengeleiteten Handelns deutlich unterschieden werden kann. Die Tätigkeiten des Herstellens, des Produzierens, des Machens und die in diesen Handlungen zum Ausdruck kommenden Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (bzw. der Mangel an diesen) stehen im Vordergrund. Damit zusammenhängende Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken lösen bestehende Strukturen auf und bilden neue heraus. Die Materialität, die Medialität und die interaktive Prozesshaftigkeit kultureller Prozesse sowie die Rekonstruktion der damit zusammen hängenden Bedeutungen sind von besonderem Forschungsinteresse. „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt“ (ebd., 13f.). Nach Antoni-Komar ergibt sich eine dreiteilige Handlungserklärung, indem unbewusste Aktionen, kollektive Wissensbestände und die Kompetenz der Akteure im Praxiszusammenhang zusammen kommen (vgl. Antoni-Komar 2006). Der speziell performativ kulturalistische Zugang zu Ansätzen eines Ethik- oder Wertemanagements in der Unternehmenspraxis bestünde dann darin, weniger in den Kodifizierungen als in den tatsächlichen Handlungen die entscheidenden Gegenstände für Beobachtung und Analyse zu sehen. Die Begleitung organisationaler Lernprozesse müsste dem ebenfalls Rechnung tragen: Auch die Wahrnehmung und Wahrnehmungsfähigkeit von Organisationen und Organisationsmitgliedern ist eine zutiefst sinnliche Angelegenheit. An dieser Stelle könnte mit Rückblick auf das erste Kapitel dieses Textes vielleicht der Einwand erhoben werden, die Leib-, Körper- und Sinnenbezogenheit des performative approach widerstrebe der Anwendung auf Unternehmensorganisationen, weil es sich dabei doch um der menschlichen Leibhaftigkeit entrückte Organisationen, Institutionen, Systeme handle. Es sei zugestanden, dass die bisherigen Arbeiten zum performative turn eher an menschlichen Individuen orientiert sind als an Organisationen. Für die weitere Forschung sei aber ausdrücklich die

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Vermutung aufgestellt, dass die Beschäftigung mit Organisationen in ihren sinnlichen, leibhaftigen, atmosphärischen Dimensionen ein außerordentlich reizvolles theoretisches Unterfangen darstellt – in kritisch-konstruktiver Weiterführung dessen, was durch bisherige wissenschaftliche Arbeiten zum Phänomen der Organisationskulturen schon geleistet wurde. Organisationen agieren auf einer emergenten Ebene und sind auf dieser zu analysieren und gleichzeitig agieren sie als Gefüge von Menschen. Diese Gleichzeitigkeit analytisch (=zerlegend) auseinander zu reißen, schien eine Zeitlang ein besonders pfiffiger Kunstgriff im Kontext der Luhmannschen Systemtheorie, erweist sich bei näherem Hinsehen aber eher als Produktion von blinden Flecken. Die permanente Wechselwirkung zwischen der systemischen und der menschlichen Ebene ist gerade das, was die Organisationen lebendig zu halten vermag. So bringen nicht die Implementation eines Codes of Ethics und die Befolgung eines detaillierten Ethikregelwerks als solches bereits Wahrnehmung von Verantwortung und tugendhaftes Verhalten im hier bezeichneten Sinne, sondern die Entwicklung von Kooperationsweisen, Geschäftsmodellen, Unternehmensleistungen, die entsprechend der mit Castoriadis markierten Beziehungen von Institutiertem und Institutierendem eine tatsächliche Dynamik in der Unternehmensstrategie in Gang zu setzen vermögen. Codes of Ethics, Sozialstandards und regelorientierte Wertemanagementsysteme können nämlich gerade durch die Normierungs-, Kontroll- und Sanktionsmechanismen, die sie erst wirksam und wichtig für die Praxis machen, den Charakter des Moralischen verlieren und zu quasi-rechtlichen Systemen werden. Moral, die sich zuversichtlich der ethischen Reflektion aussetzen kann, erlangt aber allein durch Wert-Vorstellungen und Tugenden in der Unternehmenstheorie wie -praxis den angemessenen Stellenwert. Wir haben weiter oben deutlich gemacht, dass Moral in der ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit nur im Plural vorkommt. Es existieren unendlich viele (zunächst als redlich zu akzeptierende) subjektive Bemühungen, im Sinne verantwortlichen Handelns und Entscheidens Verantwortung zu übernehmen. Das lässt sich als Ringen dieser kulturellen Orientierungen (die eben wesentlich auch von Unternehmen ausgehen) um Aufmerksamkeit (Franck 1998), um Anerkennung (Honneth 1992) und vielleicht auch um Hegemonie (Gramsci 1967) interpretieren. Der cultural turn ökonomischer und insbesondere auch betriebswirtschaftstheoretischer Betrachtungen generiert gerade in seiner performati-

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ven Spezifizierung die Möglichkeit, diese Konstellation in den Blick zu nehmen und die besondere Rolle von Unternehmen dabei zu beobachten und zu analysieren, vielleicht auch über Beschreibung und Erklärung Vorschläge dafür zu machen. Handlungstheoretisch kann das mit dem hier Vorgetragenen auf ein Programm kultureller Bildung bezogen werden. Bildung wird gängigerweise gern vorgestellt als affirmativ angehäuftes und vortragbares Wissen. In einer Zeit, wo wir uns heute aus dem Internet alles herunterladen können, um in diesem affirmativen Sinne morgen einen gebildeten Eindruck zu machen, sollten wir uns von diesem Verständnis allerdings verabschieden. Mit dem Begriff von (kultureller) Bildung sollte im 21. Jahrhundert eher jener Geist ausgezeichnet werden, der willens und in der Lage ist, die klugen und kritischen Fragen zu stellen, die uns wirklich weiter bringen. Das heißt – nur scheinbar paradox zum Abschluss eines Textes, dessen Thema Verantwortung heißt – Prinzip Hoffnung statt Prinzip Verantwortung. Ernst Bloch hat in seinem großen Werk, das das Prinzip Hoffnung im Titel trägt, von der Entdeckung des Noch-nicht-Bewussten oder der Dämmerung nach vorwärts gesprochen (Bloch 1978, 129ff.). Bloch zitiert aus Wilhelm Meisters Lehrjahren von Goethe: „Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden“ (ebd., 137). Es funktioniert nicht immer und unter allen Umständen, aber möglich ist es wohl: „Der Mensch fühlt sich in solchen Zeiten deutlich als nicht festgestelltes Wesen, als eines, das zusammen mit seiner Umwelt eine Aufgabe ist und ein riesiger Behälter voll Zukunft“ (ebd., 135). Wenn es darauf ankommt, ist allerdings das subjektive Vermögen entscheidend: „… ohne Kraft eines Ich und Wir dahinter wird selbst das Hoffen fade… Aufrechter Gang ist vorausgesetzt, ein Wille, der sich von keinem Gewordensein überstimmen lässt; er hat in diesem Aufrechten sein Reservat“ (ebd., 167). Verantwortung im Sinne dieses Textes hat gedanklich viel mit diesen Formulierungen Blochs gemein. Auch wenn die politische Emphase, die hinter Blochs theoretischem Schaffen stand, gerade gegenwärtig wenig Nahrung zu finden scheint, ist Verantwortung um ihrer selbst willen darauf angewiesen, dass sich genügend wirksame Akteure auf den Weg machen, verantwortlich zu handeln und zu entscheiden. Als Gedanken hatten wir das schon mal: die Theorie wird erst dann radikal, wenn sie genügend Menschen ergreift …

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Literatur

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Teil III: Kulturelle Kompetenzen

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Kulturwissenschaftliche Möglichkeiten der Beschreibung und Analyse von Ernährungskonsum Reinhard Pfriem

„Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, … dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Der ernährungskulturelle Bezugsrahmen von OSSENA nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Einsicht in die Unzulänglichkeiten eines vor allem ökonomischen oder vor allem naturwissenschaftlichen Zugangs zur Erklärung von Ernährungsverhalten. Der ökonomische Zugang steht etwa hinter der Behauptung, Fast food und sonstige industriell hoch verarbeiteten Fertigprodukte setzten sich wegen der niedrigeren Preise gegen bessere oder gar Bio-Qualität durch. Das stimmt häufig schon im vordergründigsten Sinne nicht, weil etwa in Familien und anderen sozialen Zusammenhängen, wo genügend Zeit für Einkaufen und Zubereiten effektiv da wäre, rein ökonomisch nicht erklärt werden kann, warum teurere Fertigprodukte bevorzugt werden. Ferner erklärt es nicht, warum deutsche Haushalte im Durchschnitt nicht mehr fast 30 Prozent ihres Einkommens wie vor ca. 25 Jahren, sondern kaum mehr 12 für Lebensmittel (ohne Genussmittel) ausgeben, damit auch deutlich weniger als in vielen anderen europäischen Ländern. Und schließlich mutet es merkwürdig an, dass ausgerechnet bei den Ernährungsmitteln, die wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für das menschliche Leben ja nicht zufällig Lebensmittel genannt werden, wirkliche Qualität keine relevante Bedeutung haben soll. Unter den Bedingungen

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wachsenden materiellen Wohlstands in den frühindustrialisierten Ländern während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben doch in den endverbrauchsnahen Bereichen zunehmend Differenzierungsstrategien gegenüber Kosten- und in der Folge Preissenkungsstrategien1 an Gewicht gewonnen. Wie wir aus soziologischen2 und gesellschaftspolitisch inspirierten Untersuchungen zum Phänomen der Marke3 lernen können, ist der Wirksamkeit der Differenzierungsstrategie bei den Endverbrauchskunden noch einmal zusätzliche Geltung verschafft worden durch die symbolische Überhöhung bzw. häufig auch nur den symbolischen Schein von Qualitätsdifferenzen in Gestalt von Marke und Markenkommunikation. Es spricht also wenig dafür, den eng ökonomischen Weg beim Umgang mit Ernährung weiter zu verfolgen. Wenn wir einen naturwissenschaftlichen Weg beim Umgang mit Ernährung kritisch markieren als Richtung, die der Beobachtung von Ernährungskultur(en) im Wege stehen kann, so soll damit mitnichten die Bedeutung naturwissenschaftlicher Untersuchungen als solcher gering geschätzt werden. Ernährungsphysiologische Erkenntnisse können selbstverständlich – positiv oder negativ – wichtige Aufschlüsse über die Qualität bestimmter Lebensmittel liefern. Und manche Naturwissenschaftler, die sich mit Ernährung beschäftigen, schlagen weite Bögen über den unmittelbaren naturwissenschaftlichen Bereich hinaus.4 Kritisch markiert werden soll wie vorher bezüglich eines kosten- und preisfixierten ökonomischen Denkens die Verabsolutierung naturwissenschaftlicher Aspekte, und zwar sowohl bei der Beschreibung von Ernährungsverhältnissen wie bei Vorschlägen zur konkreten Änderung von Ernährungsverhalten. „Ernährungswissenschaftlerinnen sind – ausbildungsbedingt – an naturwissenschaftlichen Erklärungsmustern orientiert. Soziokulturelle Einflussfaktoren werden meist als Ursache von Fehlernährung diagnostiziert und damit als Störungen für eine ‚bedarfsgerechte‘ Ernährung angesehen. Ernährungs-Empfehlungen beziehen sich vorrangig auf den ermittelten physischen Bedarf, meist in Hinblick auf Quantität, Qualität 1

2 3 4

Um hier die in der Betriebswirtschaftslehre verbreiteten beiden wichtigsten Normstrategien der auf Porter zurückgehenden marktbasierten Wettbewerbstheorie zu benutzen, vgl. Porter 1992. S. Hellmann 2003. Z. B. Klein 2001. So etwa Leitzmann in Neumann/Wierlacher 2001.

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und Zusammensetzung der Nahrungsinhaltsstoffe.“5 Die daraus folgenden oft genug moralinsauren Unterscheidungen zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen gehen auf die kulturellen Bedingungen spezifischer Ernährungsmuster nicht ein und sind folgerichtig hilflos dabei, die selbst ausgegebenen Normen erfolgreich in Praxis umzusetzen. In den vergangenen Jahren hat nicht nur die literarische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Ernährung stark zugenommen, sondern insbesondere auch die Verbreitung von solchen Positionen, die die grundlegend kulturelle Prägung von Ernährungsverhältnissen grundsätzlich anerkennen.6 Auf den ersten Blick hin bewegt sich OSSENA also in einem sich verstärkenden Trend. In der Zeitschrift des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens hat Monika Setzwein als seinerzeitige wissenschaftliche Projektkoordinatorin von OSSENA eine sehr komplexe Arbeitsdefinition für Ernährungskultur vorgestellt: „Ernährungskultur soll heißen die Gesamtheit der mit der Erzeugung, Verarbeitung, Verteilung und dem Verzehr von Nahrung in Zusammenhang stehenden Konfigurationen des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens, Verhaltens und Handelns innerhalb einer Gesellschaft, die durch Symbole vermittelt, in Wertvorstellungen und Normen ausgedrückt und durch soziale Institutionen auf Dauer gestellt werden sowie in Waren, Werkzeugen, Geräten etc. materiell Gestalt annehmen. Ernährungskulturen stehen mit den gesellschaftlichen (Ungleichheits-)Strukturen in einem engen Wechselwirkungsverhältnis und unterliegen historischen Wandlungsprozessen. Die kollektiven und individuellen Umgangsweisen mit der Ernährung sind (symbolische und materielle) kulturelle Praxen, die aus sozialen Zusammenhängen hervorgehen und ihrerseits soziale Realitäten konstituieren. Entsprechend sind die mit der Ernährung verbundenen Umgangs-, Präsentations- und Erlebnisweisen von Menschen sozial differenziert und im Sinne einer Konstituierung von Lebensstilen wiederum selbst kulturschaffend.“7 5 6

7

Methfessel 2004, 95. An dieser Stelle seien nur angeführt Barlösius 1999, Prahl/Setzwein 1999, Karmasin 1999, Setzwein 2004 sowie Bundesamt für Naturschutz 2004. Hervorgehoben sei der inzwischen im Rahmen der Heidelberger Dr. Rainer WildStiftung angesiedelte Internationale Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens. Auch die gestiegene Bekanntheit von Slow Food e. V. kann als Ausdruck wachsender Bedeutung des Themas Ernährungskultur(en) verstanden werden. Setzwein 2003, 64.

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In dieser Definition wird der Begriff der Lebensstile als für das Verständnis von Kultur wesentlich benutzt und insofern liegt für unsere weitere Argumentation die Verknüpfung mit der insbesondere soziologischen Diskussion hierzu nahe. Was sind Lebensstile? „Lebensstile sind sozial distinkte Varianten kultureller Praktiken, denen individuell nicht willkürlich zu wechselnde soziale Lagen entsprechen, ohne dass Lebensstile aber nur symbolische Derivate verfügbarer Ressourcen und ‚objektiver‘ Positionen wären. In Lebensstile gehen immer auch die Konstruktionsleistungen von Akteuren ein, die dadurch ihre Wirklichkeit gestalten, ihr einen spezifischen Sinn verleihen, sie mit Bedeutung ausstatten und diese performativ zum Ausdruck bringen.“8 Die Arbeitsdefinition von Setzwein gibt zunächst nur über das komplexe Gesamtgefüge Auskunft, seine inneren Beziehungen ebenso wie den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Kultur im allgemeinen und Ernährungskultur im besonderen. Die Begrifflichkeit der Lebensstile dient der soziologischen Forschung für Bemühungen, zu Differenzbildungen zu kommen, also empirisch abgesichert zur Markierung unterschiedlicher Lebensstile. Der Versuch, die Lebensstilforschung für die Beschreibung von Ernährungskultur(en) fruchtbar zu machen, wurde im Kontext des Kompetenznetzwerkes agrar- und ernährungswissenschaftlicher Forschung, dem auch unser Projekt OSSENA angehört, von Forscherinnen des Frankfurter Instituts für sozial-ökologische Forschung unternommen, die ein Modul des inzwischen abgeschlossenen Verbundprojektes „Ernährungswende“ bearbeitet haben. Dem Versuch zugrunde liegt die „Einsicht, dass Strategien zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung nur dann erfolgreich sein können, wenn sie die spezifischen Handlungsbedingungen und –möglichkeiten sowie Orientierungen und Einstellungen der KonsumentInnen berücksichtigen.“9 Für wesentlich wird erachtet, eine „Alltagsperspektive auf Ernährung“10 zu gewinnen, was wir in den

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10

Neckel 2000, 143. Empacher/ Hayn 2005, 222. Die von Empacher und Hayn in dem Band von Brunner und Schönberger vorgetragenen Überlegungen sind inzwischen analog noch einmal in dem Abschlussbuch des Projektes „Ernährungswende“ zu finden, s. Eberle/Hayn u. a. 2006, 16-18 und 74-79. Empacher/Hayn 2005, 223.

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grundlegenden Intentionen sehr wohl mit dem ernährungskulturellen Fokus des Projektes OSSENA zusammen denken können. Aufbauend auf einem im ISOE entwickelten methodischen Bezugsrahmen, der Lebenslage und Haushaltskontext, lebensstil-spezifische und bedürfnisfeld-spezifische Orientierungen sowie Indikatoren des alltäglich praktizierten Verhaltens zugrunde legt, werden anhand der empirischen Untersuchungen sieben Ernährungsstile im Alltag identifiziert: desinteressiert-beiläufig, funktional-körperbezogen, überfordert, pragmatischvorsorgend, traditionell-eingebunden, ganzheitlich-natürlich sowie kultiviert-gepatchworked.11 Verbunden mit dieser Klassifizierung ist die Absicht, damit Ansatzpunkte für zielgruppenspezifische Strategien zu finden. Zur Beschreibung ernährungskultureller Differenzen in der Gesellschaft haben solche klassifikatorischen Bemühungen sicherlich einen gewissen Wert. Empacher und Hayn fügen der Definition jedes dieser sieben Ernährungsstile von ihnen so genannte Hypothesen zur sozialen Lage und Lebensstilorientierungen an. Damit wird versucht, die wichtige Beziehung zwischen speziellem Ernährungsverhalten und allgemein sozialstrukturellen und kulturellen Faktoren und Dispositionen aufzuklären. Die Hypothesen, die gewonnen werden, lassen allerdings Zweifel an dem Erkenntniswert einer solchen Vorgehensweise aufkommen. So überrascht beispielsweise weder, dass die als traditionell-eingebunden Klassifizierten „sich seltener in größeren Städten und bei jüngeren Altersgruppen“12 finden, noch etwa, dass bei den als ganzheitlich-natürlich Klassifizierten „eine große Bedeutung von Naturnähe sowie eine starke Affinität zu Kunst und Literatur“13 festzustellen ist. Und gemessen an dem starken Anspruch, über die vorgenommene Klassifizierung von Ernährungsstilen „zielgruppenspezifische Strategien“ entwickeln zu können, sind die diesbezüglichen Ausführungen zum Ende des Textes bemerkenswert blass – und austauschbar.14 Denn etwa „Strategien…, die den Druck auf die Bewältigung und Gestaltung von Ernährung im Alltag nicht noch weiter erhöhen“, werden gleich für drei der sieben Ernährungsstile empfohlen (und wären es für alle anderen, die in eine solche Problemzone kommen, 11 12 13 14

Empacher/Hayn 227ff. Empacher/Hayn 2005, 232. Empacher/Hayn 2005, 233. S. Empacher/Hayn 2005, 234-236.

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natürlich auch). Oder die „Ausweitung des Angebots an gesunden und nachhaltigeren Zwischenmahlzeiten“ ist sicher auch nicht lediglich für die als kultiviert-gepatchworked Klassifizierten sinnvoll, sondern für alle, die durch Schule, Beruf oder was immer gar nicht mehr in der Lage sind, früher gegebene regelmäßige und ausgiebige Ernährungszeiten zu pflegen.15 Die so denn doch gegebene Austauschbarkeit vernünftiger Strategien und Ratschläge für die vorher klassifizierten Ernährungsstile vermittelt einen deutlichen Eindruck von dem Problem, ernährungskulturelle Differenzen erkenntnisfördernd zu beobachten und zu beschreiben. Nach unserer Einschätzung muss man die Frage „Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft?“16 nicht generell verneinen, kommt aber ähnlich wie Otte zu eher skeptischen Ergebnissen. Denn jenseits des Standpunkts, den man einnimmt hinsichtlich der Frage, wie weit unter den heutigen Bedingungen Lebensstile und Verhaltensorientierungen noch kausalanalytisch rückbezogen werden können auf ökonomische und sozialstrukturelle Gegebenheiten17, sind zwar immer wieder neue Typen generiert, aber auch viele Tautologien produziert worden. Otte ist zuzustimmen, wenn er den gängigen Typologien der Lebensstilforschung vier Hauptprobleme zuordnet: 1. mangelnde Vergleichbarkeit, 2. fraglichen Realitätsgehalt einzelner Lebensstiltypen, 3. Theoriearmut sowie 4. Erhebungsaufwand.18 Die Klassifizierung von Lebensstilen erklärt also wenig (wenn wir wissenschaftliches Erklären an den Anspruch der Gewinnung neuer Erkenntnisse koppeln wollen) und liefert vor allem wenig Grundlagen dafür, dann sogar zielgruppenspezifische Veränderungsstrategien auf den Weg zu bringen. Die spezielle Systematisierung verschiedener Ernährungsstile kann in gewissem Maße real existierende Pluralität beschreiben, allerdings vermag sie nicht die kulturellen Einflussfaktoren zu klä-

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16 17

18

ONNO – das Ökologische Unternehmensnetzwerk Ostfriesland führt genau in diesem Sinne derzeit ein kleines Projekt durch, bei dem die Bedingungen und Möglichkeiten für eine Schnellgastronomie untersucht werden, die auf regionale und saisonale Frische und Qualität setzt. So der Titel von Otte 2005. Zu dieser Auseinandersetzung vgl. den Band Mörth/Fröhlich 1994, insbesondere darin den Beitrag von Müller. S. auch Neckel 1999 und Pfriem 2004. Otte 2005, 24f.

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ren und erst recht nicht die Bedingungen kulturellen Wandels und kultureller Innovationen. Dieses Problem gilt übrigens auch für Untersuchungen, die stärker in der Bourdieuschen Tradition19 die anhaltende Verkopplung von Lebensstilen mit sozialökonomischen und sozialstrukturellen Ordnungsmustern der Gesellschaft akzentuieren. Wenn Neckel in hinsichtlich der anhaltenden Geltung sozialstruktureller Differenzen berechtigter Kritik an Schulze darauf hinweist, dass etwa dessen Trivialschema in ambitionierten Schichten der Gesellschaft allenfalls als Freiheit zur Ironie darstellbar sei20, dann folgen daraus natürlich ebenso wenig Hinweise, wie denn die Träger des Trivialschemas sich von ihren kulturellen Praktiken emanzipieren könnten. Eine wissenschaftliche, gleichsam theoretische Ableitung erfolgreicher Veränderungsstrategien auf der Basis möglichst „dichter Beschreibungen“21 ist häufig nicht möglich. Untersuchungen, die Lebensstilorientierungen eher unabhängig von sozialstrukturellen und Produktionsverhältnissen beschreiben wollen, als auch solche, die nach wie vor auf engere Verkopplung Wert legen, sehen sich beide in ihrer Argumentationsreichweite außerdem dadurch bedroht, dass das klassische ökonomische und soziale Feld selbst durch kulturelle und symbolische Aufladungen seine Homogenität verliert. So bilden sich neue Distinktionsmuster und Rangordnungen, Bindungen an Szenen und Marken etc. heraus, die mit vorgängigen Klassen- oder Schichtenmodellen nicht länger einsichtig erklärt werden können und doch alles andere als willkürlich zustande kommen oder beliebig strukturiert sind. Unsere Vermutung geht dahin, dass diese Prozesse gerade auch für ernährungskulturelle Verhältnisse relevant sind. Welcher (Aus-)Weg ist möglich, um den beschriebenen Dilemmata gerecht zu werden? Für uns hat sich ein in besonderer Weise akteursbezogener und interventionstheoretischer Zugang zu bewähren begonnen. Weil, wie eben beschrieben, bloß theoretische Schlussfolgerungen von Analysen auf Strategien nicht (mehr) möglich sind22, empfehlen sich ei19 20 21

22

S. vor allem Bourdieu 1987. Neckel 1999, 210. So die schon klassisch gewordene kulturwissenschaftliche Terminologie bei Geertz 1983. Eine Theorie, die diesen Zusammenhang typologisch einlösen zu können meinte, war die Marxsche. Hier folgte das Konstrukt fundamentaler Verände-

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gene praktische Interventionen im empirischen Feld und zweierlei Beobachtungen: erstens die direkte Beobachtung von Konsequenzen der eigenen Interventionen, zweitens die Beobachtung des Verhaltens und der Verhaltensänderungen von Akteuren, die bei diesen Interventionen eine aktive Rolle spielen. Über die Vorteile und Risiken der Aktionsforschung wird schon seit Jahrzehnten gestritten.23 Im ersten Schritt geht es um nicht mehr als darum, die eigene Verflochtenheit mit dem Forschungsgegenstand und seiner prozeduralen Entwicklung zu akzeptieren. Im weiteren geht es (zum Schrecken aller derjenigen, die an wissenschaftliche Exaktheit und Objektivität glauben) darum, bei den Beobachtungen der Interventionsfolgen sowie bei den Beobachtungen der über die Interventionen auf den Weg gebrachten Akteure ein größtmögliches Maß an Sorgfalt walten zu lassen. Insoweit diese Beobachtungen zu Differenzbildungen führen sollen, ist vom Inhalt her gegen Denkfiguren wie bei den Ernährungsstilen von Empacher und Hayn nichts einzuwenden – wenn sie nur nicht als Material objektiver Klassifizierungen in Anspruch genommen werden. Die historisch-kritische Untersuchung von Ernährungsleitbildern, wie sie Empacher und Hayn an anderer Stelle vorgenommen haben24, erscheint uns in unserem Sinne übrigens wesentlich ergiebiger als die Differenzierung in Ernährungsstile. Die Beschreibung von Kultur(en) erfolgt nämlich immer im Wissen darum (oder zumindest auf der nicht gewussten Grundlage), dass es zeitgleich räumlich oder zu unterschiedlicher geschichtlicher Zeit in demselben thematischen Kontext kulturell ganz anders zugehen und aussehen kann. Die Differenzierung unterschiedlicher Ernährungsstile in einer bestimmten Gesellschaft zu gegebener Zeit ist bis auf weiteres nicht mehr als eine statische Betrachtung. Die Differenzierung unterschiedlicher Ernährungsleitbilder unter zeitlich und/ oder räumlich verschiedenen Bedingungen vermag hingegen erste Aufschlüsse zu liefern über Veränderung, Wandel und Innovation – damit das, was uns bei einer kulturwissenschaftlichen Perspektive in besonderem Maße interessiert.

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rung direkt aus der Analyse kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Abgesehen von den konkreten Inhalten steht uns eine Theorie solchen Typus heute nicht zur Verfügung. Vgl. Moser 1975, klassisch Lewin 1964. Hayn/Empacher 2004.

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„Kultur macht Sinn“ – so lautet der treffliche Titel des neuen Buches von Jörn Rüsen.25 Der Unterschied des kulturwissenschaftlichen Zugangs gegenüber einem soziologischen, der Werte und Kultur als verhaltensprägende Faktoren untersucht26, besteht für uns u. a. im Projekt OSSENA darin, die individuellen und kollektiven Akteure in ihren handlungstheoretischen Möglichkeiten ernst zu nehmen, also als diejenigen, die nicht nur von Veränderungen, Wandel und Innovation betroffen werden, sondern als die, die Veränderungen, Wandel und Innovation selbst in Gang setzen. Das zielt für die empirischen Untersuchungen also darauf, die Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen der Akteure sowohl genau zu analysieren als auch zu unterstützen. Dass die Innovationen nicht irgendwie von außen kommen oder vom Himmel fallen, sondern aus dem Kern der ökonomischen Interaktionen selber resultieren, hatte schon Schumpeter vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem berühmten Kapitel über den „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ festgestellt: „Der fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft.“27 Heute sind wir wohl weiter mit der Einsicht in den unhintergehbar interaktiven Charakter dieser Prozesse: Angebot und Nachfrage sind permanent rekursiv miteinander verkoppelt, und das gilt erst recht im Zeitalter von noch stärkerer kultureller Aufgeladenheit der Angebote und Nachfragen. Der Markt (auch der Ernährungsmarkt) ist also weder ein einseitig unternehmensgetriebener Zusammenhang der Manipulation von Konsumenten (wie man vielleicht mit dem Schumpeter-Zitat noch meinen könnte) noch der Ort, auf dem sich die Konsumentensouveränität einseitig Geltung verschafft. Der Markt ist ein kulturelles Gefüge, die Plattform in ihrer wechselseitigen Verflechtung kaum auflösbarer Interaktionen von Angebot und Nachfrage. Um auf dem Niveau dieser Einsicht forschen zu können, verbindet OSSENA drei Anbietermodule (landwirtschaftliche Erzeuger, Handel 25 26 27

Rüsen 2006. Vgl. dazu auch Reckwitz 2000. Schumpeter 1993 (orig. 1950), 137.

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und Gastronomie) mit drei Nachfragermodulen (Aktionen im öffentlichen Raum, Schule und Haushaltspanel). Dabei leuchtet das Interaktionsverhältnis, wie dieses Buch zeigen wird, in jedem einzelnen Modul noch einmal auf, wenn etwa die Selbstbeobachtung der Qualität landwirtschaftlicher Direktvermarktung zwangsläufig verbunden wird mit den Qualitätserwartungen, die die Nachfrager an die Direktvermarktung richten.

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Literatur

Barlösius, E. (1999): Soziologie des Essens, Weinheim, München Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.) (2004): Ernährungskultur. Land(wirt)schaft, Ernährung und Gesellschaft. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Ernährungsverhalten e.V. (AGEV), 21.-22. Oktober 2004, Kassel/Witzenhausen Eberle, U. et al. (Hrsg.) (2006): Ernährungswende. Eine Herausforderung für Politik, Unternehmen und Gesellschaft, München Empacher, C./Hayn, D. (2004): Ernährung anders gestalten. Leitbilder für eine Ernährungswende, München Geertz, C. (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. Hellmann, K.-U. (2003): Soziologie der Marke, Franfurt/M. Karmasin, H. (2002): Geheime Botschaften unserer Speisen, Bergisch Gladbach Klein, N. (2001): Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, Frankfurt/M. Leitzmann, C. (2001): Ernährungskonzepte und Lebensqualität. Die naturwissenschaftliche Sicht. In: Neumann, G./ Wierlacher, A./Wild, R. (Hrsg.): Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt/M., S. 37-48 Lewin, K. (1964): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften, Bern Methfessel, B. (2000): Essen lehren, Essen lernen. Beiträge zur Diskussion und Praxis der Ernährungsbildung, Baltmannsweiler Mörth, I./Fröhlich, G. (1994) (Hrsg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt/M. und New York Moser, H. (1975): Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München Müller, H.-P. (1994): Kultur und soziale Ungleichheit. Von der klassischen zur neuen Kultursoziologie. In: Mörth, I./ Fröhlich, G. (Hrsg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt/M., New York, S. 55-74 Neckel, S. (2000): Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M.

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Literatur

Neckel, S. (1999): Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges, Opladen Otte. G. (2005): Hat die Lebensstilforschung eine Zukunft? Eine Auseinandersetzung mit aktuellen Bilanzierungsversuchen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 57 (2005), Heft 1, 1-31 Pfriem, R. (2004): Unternehmensstrategien sind kulturelle Angebote an die Gesellschaft. In: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hrsg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg. S. 375-404 Prahl, H.-W./Setzwein, M. (1999): Soziologie der Ernährung, Opladen Porter, M.-E. (1992): The competitive advantage of nations, London Reckwitz, A. (2000): Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist Rüsen, J. (2006): Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln Schulze, G. (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. Schumpeter, J.A. (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern Setzwein, M. (2004): Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext, Wiesbaden Setzwein, M. (2003): Was ist Ernährungskultur? Ein Diskussionsbeitrag. In: Internationaler Arbeitskreis des Essens. Mitteilungen 11/2003, S. 64f.

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Zur Stärkung subjektbezogener Theorien Kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten

Veronika Nölle/ Reinhard Pfriem

Mit diesem Kapitel wollen wir einen Blick darauf werfen, welche theoretischen und praktischen Konsequenzen daraus resultieren, einen kulturwissenschaftlichen Ansatz nicht nur auf der allgemeinen Theorieebene im Sinne des begonnenen cultural turn der Sozialwissenschaften zu begründen und zu proklamieren, sondern auch für die konkreten sozialen Praktiken von Akteuren – in unserem Fall im Feld Ernährung – fruchtbar zu machen. Das 20. Jahrhundert war wissenschaftstheoretisch von dem Glauben durchdrungen, die größtmögliche Wissenschaftlichkeit in solchen Theorien suchen zu sollen, die möglichst objektive Aussagen im Sinne von möglichst subjektunabhängigen Aussagen zu treffen vermögen. Entsprechend wurden auf der kollektiven organisationsbezogenen Ebene Systemtheorien und auf der individuellen wie kollektiven persönlichen Ebene Verhaltenstheorien bevorzugt. Kulturtheorien und Handlungstheorien, die auf diesen beiden Ebenen eher die subjektive Seite ausleuchten, blieben demgegenüber in der Minderheit und wurden vielfach als unwissenschaftlich kritisiert.1 Daraus wurde das Konstrukt von zwei Welten entwickelt, einer der vermeintlichen Fakten, für die die Wissenschaft zuständig sei, und einer der Werte, für die die Wissenschaft nicht zuständig sei. Sowohl das dominierende ökonomische Handlungsmodell, das den homo oeconomicus 1

Vgl. Pfriem 2000, 442f.

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Veronika Nölle/ Reinhard Pfriem

als Anpassungsoptimierer gegenüber spezifischen Rahmenbedingungen modelliert und für Veränderung seiner Aktionsformen folglich vor allem auf die Veränderung dieser Rahmenbedingungen setzt, als auch das dominierende soziologische Handlungsmodell, das den homo sociologicus als durch gesellschaftliche Werte und Normen geprägt oder gar determiniert sieht, sind streng genommen gar keine Handlungsmodelle, sondern Verhaltensmodelle. Das kulturwissenschaftliche Handlungsmodell2 hat demgegenüber den Vorzug, individuelles und kollektives Handeln stark zu machen, selbstverständlich nicht abzulösen von den Handlungsbedingungen und Handlungskontexten, aber im Sinne der bekannten Rekursivität von Handeln und Struktur bei Anthony Giddens3 eben auch die Deutungsmuster, Bedeutungszuweisungen, kulturellen Codes, Sinnorientierungen, Bemühungen um kulturelle Identität etc. auf seiten der Handelnden untersuchen zu wollen, zu müssen und zu können. Deswegen ist auch der häufige Vorwurf haltlos, wenn Wissenschaftler Aussagen über mögliches Handeln machten, sei das unzulässig normativ. Mindestens zunächst geht es bei den wissenschaftlichen Beobachtungen und Beschreibungen sowohl tatsächlichen wie möglichen Handelns um Verantwortung im außermoralischen Sinn – also eine Verantwortung im Sinne relationaler Verwicklungen, ohne dass ethisch-moralische Motive schon eine ausdrückliche Rolle spielen müssten. Und gerade dieser Typ von Verantwortung fängt vor der Verantwortung gegenüber anderen an als Verantwortung für sich selbst. Dies lässt sich übrigens im Feld der Ernährung besonders gut beobachten, insofern der kulinarische Umgang als Einverleibung von Anderem (Natur?) mit dem eigenen Körper und den eigenen Sinnen in einem engen Kopplungsverhältnis steht. Viele Kulturwissenschaftler beschäftigen sich nicht mit Fragen der Ethik, aber uns scheint es geradezu unhintergehbar, einen kulturwissenschaftlichen Standpunkt über ein solches Verhältnis zur Ethik aufzubauen, das die klassische abendländische Ethik mit ihrem Glauben an universale Unterscheidbarkeiten von Gut und Böse hinter sich lässt. Unter den Bedingungen der Auflösung für die meisten Menschen verbindlicher ethisch-moralischer Normen aus religiösen oder ähnlichen Weltan2

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Ein ähnliches Handlungsmodell kann auch in Teilen der Psychologie aufgespürt werden. Vgl. Giddens 1984.

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schauungen, die mit dem Anspruch der Erklärung von Welt und der Setzung von Richtlinien für das Handeln in dieser Welt auftreten, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts insbesondere in den frühindustrialisierten Ländern, heißt unsere mögliche Moral kulturelle Bildung.4 Moralische Kompetenz entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln. Wenn wir es so formulieren, wird die Bedeutung moralischer und kultureller Kompetenzen ohne weiteres deutlich. Francisco Varela hat festgestellt, dass das westlich-abendländische Denken, dessen vermeintliche Überlegenheit gerade in den letzten Jahren oft auf so ungebildete Weise betont wurde, keineswegs in diese Richtung geht: „… es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vorausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns in unserer westlichen Welt so zu Hause fühlen.“5 Demgegenüber, so Varela, brauche es einen paradigmatischen Wechsel: „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt.“6 Der Ernährungsmarkt ist, wie andere Märkte auch, weder ein Manipulationszusammenhang, wie die Tradition linker Gesellschaftskritik nahe legt, noch ein bloßer Ordnungsmechanismus, wie von der neoliberalen Apologetik behauptet, sondern ein kulturelles Gefüge, wo angebots- und nachfrageseitig unterschiedliche kulturelle Optionen darum streiten, was wir Menschen aus uns und unserem Leben (u. a. sinnstiftend) machen. Es braucht also Theorien, die dieses zumindest versuchen beschreibbar und interpretierbar zu machen. Selbstverständlich ist das kulturwissenschaftliche Programm von OSSENA nicht frei von normativen Konnotationen. Kontrafaktisch auf Möglichkeiten zu verweisen, kulinarische Genüsse wieder zu einem wichtigen und verweilenswerten Moment des Lebens zu machen, scheint 4 5 6

So der Titel von Pfriem 2006. Varela 1994, 13. Varela 1994, 13f.

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uns aber eine deutlich andere normative Dimension zu annoncieren als vordergründige Ernährungsratschläge zwischen angeblich gut und angeblich böse. Sicherlich ist es im ersten Sinn normativ, an Atmosphären zu arbeiten, in denen kulturelle Bildung gedeihen kann, in denen sich, wie wir es nennen möchten, kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln können, in denen Ernährung nicht unter dem Gesichtspunkt minimalen zeitlichen und finanziellen Aufwands, sondern maximalen Lebensgenusses mit allen Verstörungen, die dieser angesichts der Verarbeitung von Natur und Nahrungsmitteln auch beinhaltet, betrachtet und betrieben wird. Das ist so normativ, wie für alle beobachtenden und beschreibenden Wissenschaftler gilt: man muss wissen, was man wissen will.7 Man könnte auch formulieren: unter Berücksichtigung aller uns kulturell und geistig zur Verfügung stehenden Optionen brechen wir unsere multi-optionale Analyse des Ernährungshandelns nicht früher ab, als es sinnvoll erscheint… Wie aber werden Kompetenzen erworben? Kompetenz wird erworben durch Handlung, Erfahrung und Wissen. Portmann8 unterscheidet zwei Formen des Handelns, das Denken und das Wirken. Denken bedeutet dabei kein unmittelbares Eingreifen in die Umwelt, bedarf aber eines Wissensvorrats zur Beurteilung einer Situation, während Wirken ein Handeln beinhaltet, das immer leibvermittelt in die Umwelt eingreift und als aktuelle Erfahrung betrachtet werden kann. Zwischen Wissensvorrat und aktueller Erfahrung bzw. Handeln bestehen Wechselwirkungen, während Wissen die Verarbeitung von einzelnen Erfahrungen bedeutet. Umgekehrt werden Erfahrungen mit Hilfe des Wissensvorrats gedeutet, d.h. es werden Deutungsmuster herausgebildet. Wissen wird durch Erfahrungen und Handlungen laufend transformiert. Was aber nun ist Erfahrung? Eine Verbindung von verfeinerter Wahrnehmung und geübtem Handeln ist das, was wir als Erfahrung bezeichnen.9 Erfahrung erwirbt man durch Wiederholung, sie resultiert aus erlebten Situationen in einer Einheit leiblicher, sinnlicher und atmosphärischer Wahrnehmung. Bei diesem Vorgang wirken unsere Sinne synästhetisch zusammen, erlebte Si7 8 9

Pfriem 1996, 310. Portmann 2003, 59 ff. Vgl. Fuchs 2003, 70 f.

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tuationen sind somit leibgebunden. Das Zusammenspiel der Sinne im Erleben kann nicht ersetzt werden durch davon losgelöste Einzelmomente, beispielsweise in der Schulung einzelner Sinne. Erfahrung ist gebunden an eine Tätigkeit, an eine Beweglichkeit des Leibes. Fuchs spricht hier von „Bemerken“ und „Bewirken“. „Erst der Gestaltkreis von Wahrnehmung und Eigenbewegung, von ‚Bemerken‘ und ‚Bewirken‘ vermittelt die persönliche Kenntnis der jeweiligen Materie und erlaubt schließlich den geschickten Umgang mit ihr“10, etwas, das in „Fleisch und Blut“ übergegangen ist. Erfahrung bedeutet auch Erleiden, Konfrontation mit Fremdem, Unbekanntem und beinhaltet die Möglichkeit des Misslingens. Der Erfahrene hat darüber Strategien des Ausweichens oder Überwindens entwickelt. Erlebnis, Handlung und Erfahrung sind subjektbezogen, Verhalten dagegen ist eine von außen beobachtbare Handlung. Handlung, Erfahrung und Wissen bedeuten im Lernprozess eine Verzahnung kognitiven Lernens mit affektivem Lernen. Wissen dagegen wird intersubjektiv erworben, indem wir in eine soziale Wirklichkeit hineingeboren werden, in der bereits ein gesellschaftlicher Wissensvorrat besteht. Wissen setzt sich aus dem Wissensvorrat, der Verarbeitung subjektiven Erlebens, und dem gesellschaftlichen Wissen, dass sich auch auf dem Wissen anderer aufbaut, in einem ständigen Wechselspiel zusammen. Nun müssen die Mitglieder einer Gesellschaft erfolgreich in das kollektive Wissen hineinsozialisiert werden und das Wissen muss sich in aktuellen Situationen bewähren und es wird bei der Aneignung wiederum subjektiv gefärbt.11 Für den Erwerb von Ernährungskompetenzen liegen die hemmenden Faktoren auf der Hand. Bei einem Verschwinden kollektiven Wissens bezogen auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Nahrungsmitteln und den Begrenzungen in den Möglichkeiten, subjektive Erfahrungen durch Handeln in diesem Bereich zu erwerben, müssen neue Wege beschritten werden, die bezogen auf das Projekt OSSENA unter dem Begriff der kulturellen Bildung gefasst werden können. In der Diskussion um eine haushaltsbezogene (ernährungs-) Bildung umfasst der Begriff der Lebensführungskompetenz wesentlich mehr, als die traditionelle Ernährungserziehung in segmentierender Weise üblicherweise for-

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Fuchs 2003, 71. Vgl. Portmann 2003, 59 ff.

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muliert.12 „Kompetenzen entsprechen nicht einem abstrakten Wissen, sind kein Bündel von Einstellungen an sich und auch keine formalen Fertigkeiten. Sie sind an spezifische Gegenstände, Inhaltsbereiche, Wissens- und Fähigkeitsbereiche gebunden. Dieser Kompetenzbegriff unterscheidet sich damit von dem Begriffssystem, in dem nach Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenzen unterschieden wird. Denn eine solche Ausdifferenzierung unterstellt, dass Kompetenzen und Gegenstandsbereiche zu trennen seinen.“ 13 Die Bemühungen dabei, auch affektives Lernen in den Lernprozess zu integrieren, sind nach Hasse bisher gescheitert. „Infolge selbstreflexiver Defizite unterliegt sie (die „Normalschule“, im Sinne der Dominanz kognitiven Lernens, Anm. Nölle/ Pfriem) der Tendenz, dem reinen Denken des Routineunterrichts das reine Sinnesspektakel entgegenzustellen. Damit ist kein Fortschritt in der Überwindung der Reduktion verarmter Lernformen und der damit eingeschränkten Welt- und Selbstsicht zu erreichen. Festivals der Sinne mangelt es nicht nur an didaktischer Reflexion im unmittelbaren Sinne. Insbesondere fehlt ihnen eine Metaebene, zu der es zur didaktischen Reflexion überhaupt erst kommen könnte“.14 Für Hasse bleibt sinnliche Erfahrung als Ziel allgemeiner Bildung solange zum Scheitern verurteilt, wie dem reinen Denken des Regelunterrichts das reine Sinnesspektakel entgegengestellt wird oder auch Verstörungen und Erleiden ausgeblendet werden. Im Sinne einer nachhaltigen Ernährungsbildung gehören angesichts der Naturzerstörung zur Naturerfahrung auch die schmerzlichen Erfahrungen beispielsweise der Massentierhaltung. „Angesichts der eingetretenen Zerstörung der Elemente müssen wir begreifen, wie Nutzen und Achtung zusammengehören und wie Menschen, Gegenden, Völker, Erdteile auf einander angewiesen sind“.15 So wird das Erleben eines „Erlebnis-Bauernhofes“ nicht die Einsicht in eine andere Ernährung stärken. Kompetenzen bilden sich im Erleben auch des Verstörenden und des Erleidens und im Umgang damit durch Überwindung oder Abwehr heraus. In diesem Sinne können durch das Erleben von Differenzen auch Unterscheidungen von Qualitäten und damit Wissensbestände und Werthaltungen herausgebildet werden. 12 13 14 15

Vgl. auch Heindl 2003; Methfessel 1999; Schlegel-Matthies 2003. Beer nach Methfessel, 2004. Hasse 2005, 398. Zur Lippe nach Hasse 2005, 397.

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Schwierig wird der Erwerb von Ernährungskompetenzen angesichts der technischen Reproduzierbarkeit von Natur, die gerade in Nahrungsmitteln ihren Niederschlag findet. Hier kann es nicht um gute Natur und böse (Lebensmittel-) Technik gehen, sondern um das sinnliche Erleben von Täuschungen ebenso wie das Aufdecken ihrer natürlichen Quelle. Geschmack findet auf beiden Ebenen statt. Nach Hasse würde in der absehbaren Irritation ein doppelter Zweck erfüllt. Zum einen befördere es die sprachliche Durcharbeitung dessen, was über die alltägliche Nahrung zu sagen wäre. Zum anderen könne es auf einem kategorialen Niveau die sinnlichen Bedingungen der täglichen Ernährung thematisieren, um fragwürdig zu machen, was durch naives Vertrauen auf Authentizität in seiner Scheinhaftigkeit gewahrt bliebe. Die „gefälschte“ Nahrung fungiere dann nicht mehr als natürliches Zeichen (Signifikant) verlorener Naturerfahrung, sondern als Signifikant eines durch Verfremdung und Entfremdung gespreizten Mensch-Natur-Verhältnisses.16 „Solches Lernen wäre gleichermaßen für die Erkenntnis der kulturellen Herstellbarkeit Authentizität beanspruchender Naturreproduktion exemplarisch wie für das durch solche Situationen evozierbare leibliche Betroffensein. Damit tauchen Umrisse sinnlicher Erfahrung auf, die sinnlich konkret Erlebtes in der dialektischen Spannung von leiblichen Ereignissen hier und gesellschaftlich Gemachtem dort einem mehrdimensionalem Rahmen der Erfahrung öffnen“.17 Wenn nun Ernährungskompetenzen als kulturelle Erfahrung und im kollektiven Wissen abnehmen, ließe sich dies natürlich auch als Befreiung von alltäglichen Belastungen feiern. Doch was tritt an die Stelle der frei gewordenen Zeit, bedeutet sie Zugewinn oder Verlust? Ernährung ist ein gesellschaftlicher und individueller Prozess, der in der Bewältigung alltäglichen Handelns nicht nur Kompetenzen erfordert, sondern auch in der Veräußerung dieser Kompetenzen Kommunikation mit anderen in einer kulinarischen Atmosphäre ermöglicht. Nach den Erfahrungen im Schulprojekt von OSSENA (vgl. Kap 14) ist für Kinder und Jugendliche nach dem Geschmack der kommunikative Aspekt in den Familien immens wichtig und sein Verlust wird als unangenehm erfahren. Der kommunikative Erfahrungsort des gemeinsamen Essens lässt sich natürlich

16 17

Hasse 2005, 400. Hasse 2005, 401.

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auch bei einer aufgewärmten Pizza herstellen. Was beinhaltet dann also (ernährungs-)kulturelle Bildung? Die familiären Entwicklungen und die damit verbundenen möglichen Entlastungen von Frauen aus der Notwendigkeit der Versorgung erfordern eine Akzeptanz der unterschiedlichen Ernährungsformen, ohne den Erwerb von Kompetenzen zu schmälern, denn Ernährungskompetenz ist mehr als Kochkompetenz. Sie bündelt eine Fülle sozialer, ökologischer, ökonomischer, naturwissenschaftlicher und kultureller Fähigkeiten, von entsprechenden Fertigkeiten und Wissen. Wenn nun konstatiert wird, dass die Mitglieder einer Gesellschaft erfolgreich in das gesellschaftliche Wertemodell hineinsozialisiert werden müssen, so kann man ebenso konstatieren, dass sich dieses Wertesystem gewandelt hat. Kompetenzen werden dann erfolgreich erworben, wenn eine gesellschaftliche Wertschätzung, d.h. auch ein unmittelbares Interesse und eine Bereitstellung der dafür notwendigen Handlungsräume an diesem Kompetenzerwerb vorausgesetzt werden können. Davon kann man heute nicht mehr unbedingt ausgehen. Kochen ist zwar entsprechend zelebriert en vogue, reicht aber für die alltägliche (ernährungsbezogene) Alltagsbewältigung natürlich nicht aus. Nun war aber die Bewertung ernährungsbezogener Kompetenzen historisch immer schon unterschiedlich. Denn interessanterweise ist ja gerade heute von Kochkunst, von Küchenmeistern und von Ernährungsverhalten allgemein viel die Rede. Lust und Genuss bei der Nahrungszubereitung und beim Essen werden in unzähligen Kochshows und Kochbüchern hervorgehoben, und professionelle Meister und wenige Meisterinnen zelebrieren Werke der Kochkunst. Gleichzeitig gilt die Abkehr von alltäglichen Versorgungsbelastungen als Befreiung dank der Lebensmittelindustrie. Fragte man ganz normale Frauen zu ihren Ernährungskompetenzen, so fiele das Ergebnis bescheidener aus. Die Mehrheit der Frauen würde sicher an erster Stelle Ernährungskompetenzen als Notwendigkeit zur Versorgung ihrer Familie nennen und nicht von einer Kunst sprechen, vermutlich sogar eher von einer mehr oder weniger lästigen Pflicht. Einige wenige würden die Nahrungszubereitung auch mit Spaß und Lust verbinden, bei gleichzeitigem Bewusstsein der etwas rückwärts gewandten gesellschaftlichen Bewertung. Eher ist das lustvolle, kreative Kochen aber, wenn überhaupt, den Männern vorbehalten als exquisiter Ausgleich ihrer beruflichen Belastung oder als Profession. Für berufstätige Frauen ist die tägliche Versor-

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gung der Familie eher eine Doppelbelastung und die Befreiung von reinen Versorgungstätigkeiten somit sicherlich eine Entlastung. Durch ein großes Angebot an schnell herzustellenden Mahlzeiten scheint die moderne Lebensmittelindustrie die Frauen von diesen lästigen Pflichten nun endlich befreit zu haben. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, der Frage nachzugehen, ob dieser Nutzen nicht auch einen Verlust von Kompetenzen bzw. den Frauen zugeschriebenen Kompetenzen bedeutet, und zwar einen solchen mit hoher negativer gesellschaftlicher Relevanz. Denn wenn sich das kollektive Wissen im aktuellen subjektiven Handeln nicht bewährt, nämlich wenig Achtung und Anerkennung erfährt, wird das Bewahren dieses Wissens natürlich obsolet. Zunächst ist die Debatte um „Kochkompetenzen“, ob nun als Kochkunst oder Handwerk, bereits sehr alt und immer auch einem gesellschaftlichem Bewertungsschema unterworfen gewesen. Wie Francesca Rigotti sehr anschaulich18 darlegt, ist es nicht erst die Kulturanthropologie, die den strukturellen Gegensatz zwischen dem Rohen und dem (gesellschaftlich) Gekochten als kulturellen Prozess beschreibt. Bereits in der Antike haben Demokrit und Epikur den Zusammenhang zwischen Natur und Kultur, zwischen physis und techné, bezogen auf die Küche debattiert, und ein attischer Komödiant, Athenaios, lässt in einer seiner Komödien einen Koch auftreten, den er feierlich vom Siegeszug der Kochkunst als einem Prozesse der Zivilisation reden lässt: „es war die Kunst des Kochs, welche die Menschheit aus dem primitiven Urzustand herausgeführt hat und durch die geniale Erfindung der Kochkunst am breiten Strom des zivilisierten Lebens teilhaben ließ“.19 Ein Autor aus dem frühen 19. Jahrhundert, Carl Friedrich von Rumohr, stellte gar eine Verbindung zwischen der Kochkunst und dem Zivilisationsgrad der Völker her. Hier wird Kochen mit allen dazugehörenden Fähigkeiten und Fertigkeiten als Ursprung zivilisatorischer Entwicklung mit hoher Wertschätzung versehen. Platon dagegen wendet sich vehement gegen die Bezeichnung des Kochens als Kunst. Für ihn ist Kochen eine rein praktische Tätigkeit, die auf Gewohnheit und Übung basiert, „weil sie (im Gegensatz zur techné, Anm. Nölle/ Pfriem) keine Rechenschaft über die natür18 19

In ihrem Buch „Die Philosophie der Küche“ 2003, 30 ff. Rigotti 2003, 30.

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liche Beschaffenheit der Mittel zu geben weiß, welche sie anwendet, so dass sie die Ursache zu jedem im Einzelnen nicht anzugehen weiß.“20 Dies ist nicht überraschend für einen Philosophen, der in der Hingabe von Sinnlichkeit eine immerwährende Enttäuschung sieht und stattdessen in der Hinwendung zur Kunst, der wahren Schönheit, Befriedigung verspricht. Kochkunst scheint früher wie heute im Gegensatz zur reinen Gewohnheit eine männliche Domäne zu sein und an diesen wenigen Beispielen wird bereits die Unterscheidung zwischen einer rein praktischen Tätigkeit, die auf Gewohnheit und Übung basiert, und der Kenntnis der Beschaffenheit der Dinge, die erst eine künstlerisch kreative Umformung des Gegenstandes erlaubt, also zu Meisterschaft und Kunst erhoben wird, deutlich. Fragte man heute erfahrene Alltagsköchinnen beispielsweise nach den verschiedenen Klebeeigenschaften von Mehlen, weshalb sie bestimmte Mischungen bevorzugen, oder nach den unterschiedlichen Gelierfähigkeiten von Obst für die Konservierung, so wüssten sie um diese Eigenschaften, könnten aber die chemischen Reaktionen nicht naturwissenschaftlich erläutern. Erfahrene Alltagsköchinnen haben also durchaus ein Wissen um die Beschaffenheit der Dinge, naturwissenschaftliche Erklärungen sind ihnen dagegen vermutlich fremd. Sind sie nun in praktischen Dingen erfahren oder beherrschen sie eine Kunst? In jedem Fall beherrschen sie Kompetenzen in einem elementaren Bereich des Lebens. Über diese Beispiele, die sich beliebig fortsetzen ließen, erfahren wir einerseits eine hohe Wertschätzung der Küche als Ursprung der Zivilisation wie auch eine Abwertung des Kochens als rein praktischer Tätigkeit, die von allen ausgeübt und somit nicht als Kunst betrachtet werden kann. Bei Letzterem versteht sich eine Entlastung von diesen einfachen Tätigkeiten als Freisetzung für die Hinwendung zum Guten, Wahren und Schönen wie von selbst, wenn auch als Versprechen nie eingelöst. Nun sind die Hintergründe der Geringschätzung einer „reinen“ Versorgungstätigkeit, die mit der Privatisierung des bürgerlichen Haushalts gesellschaftlicher Konsens wurde, hinreichend beschrieben worden21, wohingegen in bäuerlichen Familien noch bis in die 50er Jahre hinein die Versorgung des gesamten Haushalts einen hohen Stellenwert genoss. Die 20 21

Rigotti 2003, 33. Vgl. Montanari 1999.

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Befriedigung elementarer Bedürfnisse war arbeitsteilig zwischen Männern und Frauen eine ökonomische Notwendigkeit mit all den ihnen innewohnenden Zwängen und Arbeitsbelastungen. Unumstößlich verharrte „jeder an seinem Platz“, ein Ausbruch aus dieser Konstellation war unweigerlich mit Sanktionen verbunden. Koch- und Ernährungskompetenzen wurden „by the way“ erworben. In den Bestrebungen einer (städtisch und industriell geprägten) Moderne sollten in gut gemeinter demokratischer Absicht alle Arbeitstätigkeiten für den Menschen aus der Freizeit verbannt werden. Durch eine Trennung von Freizeit und Arbeit den Feierabend in Licht, Luft, und Ruhe genießen zu können war das Ziel.22 Architektonisch schlug sich dies in Deutschland in der „Frankfurter Küche“ nieder, die in der Fortsetzung des sozialen Wohnungsbaus in der Kochküche ihren massenhaften Niederschlag fand. Schon hier zeichnete sich die Vorstellung einer Befreiung, einer Segmentierung und auch Abwertung von der Hausarbeit ab, zumindest im Unsichtbarwerden von Arbeit. „Bauknecht weiss, was Frauen wünschen“ war der Slogan der 50er und 60er Jahre, bei der Entlastung von Hausarbeit als Strategie für die Schaffung massenhaften Absatzes von Haushaltsgeräten eingesetzt wurde – hier manifestierte sich die Befreiung von der Hausarbeit als emanzipatorischer Prozess, mit einer gleichzeitigen Geringschätzung von Hausarbeit als lebensnotwendiger Arbeit. In den 70er Jahren fand diese Formel im Begriff „weg von Kirche, Küche, Kindern“ ihren historischen Höhepunkt. Insofern hat die gut gemeinte, u.a. technische Entwicklung zur Befreiung von der „Knechtung“ durch Hausarbeit und Familie einerseits eine Entlastung mittels einer Geringschätzung der „Handarbeit“ erbracht, uns aber trotz eines stetig steigenden Trends zur Kleinfamilie einen ökologisch fragwürdigem Einsatz von massenhaft eingesetzten elektronischen Geräten beschert. Knorr, Maggi und der Gefrierschrank hielten Einzug in fast alle deutschen Haushalte und leiteten damit die geringe Wertschätzung alltagsbezogener Kompetenzen ein. Bezogen auf ernährungskulturelle Konzepte soll es hier nun nicht um eine abstrakte kategoriale Entscheidung gehen, ob Kochen nun eine Kunst oder ein Handwerk ist, sondern um die unterschiedliche Bewertung alimentärer Kompetenzen, um ihren jeweiligen kulturellen Stellenwert. Der Begriff der Lebenskunst, wie ihn Wilhem Schmid definiert23, 22 23

Vgl. Benevolo 1986. Vgl. Schmid 1999.

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versucht dagegen wieder diesen Gegensatz von „hoher“ Kunst und Handwerk, wie er auch bei Josef Beuys zum Ausdruck kommt, zu verbinden. Hier geht es um Selbstaneignung, auch in kleinen Dingen, um das Leben zu meistern, um einen anderen Zugang zur Lebensbewältigung. „Lebensführung (im Sinne von Lebenskunst, Anm. Nölle/ Pfriem) heisst, das Gesetz des Handelns hinsichtlich des eigenen Lebens auf reflektiertere Weise selbst wahrzunehmen, statt nur ein Objekt Anderer oder ein Produkt von Strukturen zu sein. Zum Arbeitsgegenstand wird das eigene Leben“24. Schmid beschreibt die Moderne dagegen als eine Epoche, die das Begehren nach Lust mit dem Leben identifiziert, ohne eine Kunst des Umgangs mit den Lüsten auszubilden. Der Traum vom universellen Glück, das Versprechen vom Einssein des Einzelnen in einer Gemeinschaft, die Aufhebung der Widersprüche, seien nicht eingelöst worden. An ihrer Stelle sei Glück mit Wohlstand gleichgesetzt und Leben als Lust um jeden Preis getreten. Deutlich wird dies, wenn Ernährung eingebettet wird in Formen der Selbstinszenierung. Hunger ist immer weniger das leitende Motiv für die Nahrungsaufnahme, dagegen nehmen die symbolische und die ökonomische Bedeutung der Ernährung zu. Nahrungsmittel wie auch andere lebens(not?)wendige Dinge gelten zunehmend als Attribute für bestimmte (zu erreichende) Lebensmodelle. Es wird gegessen, wann immer die Lust danach spürbar wird, man zelebriert ein Essen mit Freunden auf hohem kulinarischem Niveau, isst in der Woche alles Mögliche, Zeitstrukturen werden aufgehoben, Vielfalt ist angesagt. Gleichzeitig ist die Nahrungsaufnahme eingebettet in unterschiedliche Life-Style-Modelle. Einerseits versprechen Nahrungsmittel beispielsweise Unterstützung bei dem Erreichen des gängigen Schönheitsideals von fit, schlank, schön oder gesund, gleichzeitig sollen sie schnell und mühelos zubereitet werden können, um Zeit für „wichtigere“ Erlebnisse, aber auch Tätigkeiten zu erlangen, unterliegen also in beiden Fällen einem scheinbar rationalen, in Wirklichkeit freilich hoch kulturell geformten und charakterisierten Kalkül. Wichtiger denn je scheint der mit der Moderne einher gehende kulturelle Habitus als Mittel der Distinktion zu sein. Je unübersichtlicher die Optionen für eine gesicherte Lebensgestaltung werden bei gleichzeitigem Bewusstsein der Risiken25, desto wichtiger scheinen äußere Merkmale 24 25

Ebenda, 117. Vgl. Heitmeyer 2005 und Beck 1986.

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des Dazugehörens (auch über Nahrungsmittelprodukte oder Stilisierungen bei der Nahrungsaufnahme) zu werden. Aktuell verspricht der androgyne Körper durch Schönheit, Jugendlichkeit, Schlankheit und Fitness in Zeiten des Überflusses von Nahrung in frühindustrialisierten Gesellschaften Ausdruck von Disziplin und Gesundheit zu sein, ein Mythos der Erfolgreichen. Der Übergang dieser Körperbilder in aufstrebenden (dem westlichen Wohlstandsmodell folgenden) Gesellschaften der Schwellen- und sogenannten Entwicklungsländer ist fließend. McDonald als Symbol für westliche Ernährungsoptionen gilt hier als modern, hygienisch und stilsicher gegenüber rückschrittlich bewerteten Garküchen. Die Dominanz westlicher Ernährungsstile verdrängt auch hier zunehmend die traditionelle Esskultur, ohne die wirtschaftlichen und ökologischen Folgen wahrzunehmen und ernsthaft überwinden zu wollen. Erste Fälle von Essstörungen beschäftigen auch in Afrika die Medien. Es handelt sich hier offenbar um ein Körpermodell moderner Gesellschaften bzw. deren Devianz. Eine mit Glauben an prinzipielle Zeitknappheit und fitnessgetriebenen Körperbildern durchtränkte ökonomische Rationalität hat die subjektive Gefühlswelt erreicht und so beeinflusst, dass ein in sich Verharren, ein langsames Genießen, ein mit allen Sinnen durchdrungenes Leben mit all den auch negativen Wahrnehmungen ohne anschließende Einordnung in rationelle Muster und Selbstkasteiung nicht erlaubt zu sein scheint. Die erstrebenswerten Körperbilder gekoppelt mit versprochener Anerkennung sind allerdings nicht ohne permanente Bearbeitung des Körpers zu haben. Die Bearbeitung des Körpers durch Fitness und entsprechende Ernährung kann kaum gelingen, da Hunger und Genuss als elementare Bedürfnisse dieser notwendigerweise rationalen Körperlichkeit ständig dazwischenfunken. Es kommt zum Versagen, erneuten Versuchen, immer stärkerer Ablehnung des eigenen Körpers und seiner Bedürftigkeit. Dieser rationelle Versuch, das Leben, dessen einzige Legitimation das Leben selbst ist, zu vergewaltigen durch ständige Disziplinierung, kann nicht gelingen, weil er leibfeindlich und damit lebensfeindlich ist. Hier ist nicht die Rede von Armut und Not, sondern von selbst auferlegten Beschränkungen und Begrenzungen. Je stärker Ernährung von symbolischer Bedeutung durchdrungen ist, desto entfernter ist sie von ihrer eigentlichen Bedeutung, dem Einverleiben der Natur durch den Menschen zum Erhalt seiner Gesundheit und seines Wohlbefindens, entfernt. Fehlernährung ist nicht selten eine Folge des Resignierens oder einer Störung

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in der Akzeptanz des eigenen Körpers. Bewegungsmangel begünstigt diese Entwicklung und verhindert das Spüren des eigenen Körpers in der Erschöpfung durch Verausgabung. Welche Folgen hat dies für unsere Gesellschaft? Zum einen hinterlässt diese permanente Kasteiung Persönlichkeiten, die sich ständig als Versager oder als nicht lebensfrohe Wesen empfinden. Sie entsprechen nicht dem Ideal und geraten in einen Circulus Vitiosus. Des Weiteren ist die gesellschaftliche Schuldzuweisung ein Indiz für mangelnde Achtung. Menschen, die zu dick oder zu dünn sind oder sich selbst so empfinden, haben in der allgemeingültigen Wertigkeit von schön, attraktiv und erfolgreich versagt. Was bleibt ihnen aktuell übrig? Sie können den ständigen Kreislauf weiter bis zur Erschöpfung bedienen oder sich gehen lassen. Da die Zahl derjenigen, die aus sozialer Not heraus auf die billigsten Nahrungsmittel zurückgreifen, stetig steigt, ist neben der kulturellen auch die soziale Polarisierung im Sinne einer alimäntären Proletarisierung ausgemacht.26 Beides verspricht keine Entspannung und Lebensfreude. Die Auswirkungen von Fehlernährung sind offenbar volkswirtschaftlich so bedrohlich, dass große Anstrengungen in der Bekämpfung ernährungsbedingter Krankheiten durch unter anderem Prophylaxe unternommen werden. Ratgeber, Schulkonzepte zur gesunden Ernährung etc. werden in Hülle und Fülle auf den Markt geworfen. Kampagnen der Gesundheitsprophylaxe oder der Ernährungsbildung, die einer gesunden Ernährung das Wort reden und Aufklärung über die „richtige“ Nahrungszusammenstellung (die sich im übrigen ständig ändert) betreiben, scheinen jedoch vermutlich eher noch diese Prozesse der Polarisierung in die „Vernünftigen“ und die „Unvernünftigen“, in die aufgeklärten Gesundheitsbewussten und die dummen Gleichgültigen, die Versagensmomente zu verstärken. Jedenfalls wird die Unwirksamkeit aufklärerischer Überzeugungsarbeit allseitig beklagt. Das Thema Ernährung droht damit selbst zum Problem zu werden, denn die Medien überschlagen sich mit Ratschlägen und ausgemachten Schuldigen, die durch ihr undiszipliniertes Verhalten der Gesellschaft die ernährungsbedingten Krankheitskosten auferlegen. Diese zunehmende Spaltung lässt Aufklärungskampagnen, die sich kognitiv an Vernunft und Einsicht wenden, verpuffen, Aversionen gegen gutge-

26

Vgl. Alkemeyer 2005.

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meinte Ratschläge sind nicht selten die Folge. Wirkliche Lebenskunst ist etwas völlig anderes… Für Josef Beuys’ „Jeder Mensch ist ein (Koch-) Künstler“ ist die Wiederaneignung des alltäglichen Lebens als Lebenskunst eine Bedingung für Lebensqualität und verdeutlicht die aktuelle Schwierigkeit, verschiedene Bewertungen von Alltagshandeln qualitativ zu einem befriedigenden Ganzen zu vereinen: Versorgungsbelastung versus Entlastung im Sinne einer weiblichen Emanzipation von zugeschriebenen Rollen und die im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs verstandene Alltagskultur, die eine wertschöpfende Tätigkeit in der Verwandlung natürlicher Stoffe in menschliche Energiequellen als einen Teil von Lebenskunst betrachtet, stehen im Widerspruch. „Im Künstler als Küchenchef“, so Beuys-Experte Beil, „bündeln und realisieren sich alle plastischen, synästhetischen, anthropologischen und ethischen, aber auch die ökologischen Leitideen des Joseph Beuys.“27 Wir haben hier bei Beuys einen Ansatz nachhaltiger Ernährung, der den Entlastungsbestrebungen von Alltagsversorgung bezogen auf die Ernährung diametral entgegensteht, weil er im Sinne einer kreativen Bearbeitung von Natur, des Einverleibens von Natur, einen hohen Stellenwert für die Beurteilungsqualitäten von Nahrung und der damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse einräumt. Gleichzeitig stehen (Rück-) Besinnungen auf die Aneignung elementarer Ernährungskompetenzen und Verwirklichung elementarer Bedürfnisse den angebotenen Selbstverwirklichungsmodellen der Moderne und der Entlastung von einfachen Tätigkeiten entgegen und haben ein Akzeptanzproblem. Die heutigen Gesellschaften geraten hier in eine schwierige Situation. En vogue ist ja gerade auch die Entlastung öffentlicher Institutionen von ihren Aufgaben. Gesellschaft soll privater, entstaatlichter werden. Die Revitalisierung ernährungskultureller Kompetenzen kann freilich nur gelingen, wenn sich dafür geeignete institutionelle Formen entwickeln, gesellschaftliche Lernräume gleichermaßen. Statt die Entlastung von vor allem Frauen von häuslicher Versorgungsarbeit in umfassendem gesellschaftlichen Kompetenzverlust enden zu lassen, käme es im Gegenteil darauf an, die privat-häuslichen, die privat-wirtschaftlichen sowie die öffentlichen sozialen Institutionen in einem Bündnis für die zukunftsfähige Erlangung ernährungskultureller Kompetenzen zusammenzubringen. 27

Zitiert nach Lemke 2004, 36.

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Es muss nun sicherlich auch akzeptiert werden, dass die Nahrungsversorgung heute eher einer Bricolage gleicht. Alimentäre Identitäten werden zusammengebastelt und reichen von raffinierten Gastmahlen, der Wiederbelebung des Regionalen bei gleichzeitiger Delokalisierung der Nahrung, einer Gesundheitsaskese bis hin zu „finger-Food“ u.v.m. „Ernährungsmilieus“ sind diffus geworden bei gleichzeitiger Bereitschaft, kollektive Muster als Hilfe zur Orientierung und Entlastung zu übernehmen.28 Im Chaos der Möglichkeiten spielen Ernährungskompetenzen dagegen, abgesehen von apologetisch gemeinten Ratschlägen, eine zunehmend geringere Rolle, wenn die Suche nach der „richtigen“ Wahl, nach einer Orientierung, die Frage nach „wer will ich sein“, die auch ein großes Enttäuschungsrisiko beinhalten kann, die Frage „wer bin ich“ ablöst. Bei Ersterem werden Entlastungsstrategien in der Übernahme angebotener Muster mit den entsprechenden Produkten notwendig, die den Ursprung der Nahrungsaufnahme, nämlich das Einverleiben von Natur zu unserem Überleben und Wohlbefinden, in den Hintergrund treten lassen. Dieser Prozess lässt sich sicher nicht umkehren. Gerade angesichts der Zunahme von Ein- und Zwei-Personen-Haushalten mit stetig steigender Tendenz, die in Großstädten schon mehr als die Hälfte aller Haushalte stellen, erscheint die sog. „Normalfamilie“ mit zwei Kindern fast als Auslaufmodell, und selbst hier scheinen Ernährungskompetenzen zunehmend verloren zu gehen. Ernährungskompetenz wird eben nicht mehr „by the way“ erworben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Ernährungsbildung ungleich komplizierter geworden ist. Sie beinhaltet eben nicht nur die Fähigkeit, Nahrung zuzubereiten, sondern erfordert ebenso zu erkennen, welche Qualitäten mit welchen gesellschaftlichen Konsequenzen verbunden sind – das „falsche“ an der Tütensuppe verlangt die Erfahrung des Geschmacks und des Geruchs einer „echten“ Suppe und ihrer Zutaten; global eingekaufte Nahrungsmittel erfordern Beurteilungskompetenzen bezogen auf die Folgen von Emissionsbelastungen, Monokulturen, Landflucht und Höfesterben bei der Beschaffung; Zusatzstoffe bei Fertiggerichten verlangen Kenntnisse bezogen auf gesundheitliche Risiken; veränderte Zeitrhythmen verlangen ein hohes Maß an Organisationsvermögen; der Einkauf von Fertigprodukten und die Einnahme einer schnellen Mahlzeit Ausser-Haus müssen kalkuliert sein, 28

Vgl. Beck 1986.

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und, es gibt keinen Bereich in unserer Gesellschaft, der so wenig entfremdet ist und soviel Kreativität zulässt wie der Bereich der Nahrungszubereitung. So kommt auf der einen Seite der Nahrungsindustrie eine hohe Verantwortung zu. Wichtig im Rahmen einer verantwortungsvollen Ernährungswirtschaft ist nicht allein die Qualität der Produkte, sondern auch eine Produktkommunikation, die ernährungskulturelle Kompetenzen fördert. Dass hier Konsumentenentscheidungen durchaus etwas bewegen können, wird am Umsatzrückgang der Fast-Food-Kette McDonalds in Deutschland deutlich. Die Konsequenz der Unternehmensleitung daraus führte das Unternehmen zum größten Salatverkäufer in Deutschland und der Ersatz gehärteter Fette durch Pflanzenöle ist angedacht. Dies löst nicht das Problem von Monokulturen und Qualitätsverlusten durch die Steigerung von Kosteneffizienz, deutet aber auf einen Wandel der Kommunikationsstrukturen in diesem Sektor hin. Wenn es andererseits sicher nicht um eine Rückkehr von Frauen an Heim und Herd gehen kann, muss Bildung zur Erlangung von Ernährungskompetenzen in die entsprechenden Institutionen integriert werden. Hier liegen für alle Beteiligten – Bildungsstätten im engeren Sinne wie Organisationen, die mit der alltäglichen Gestaltung von Ernährung zu tun haben, im weiteren – Chancen, der einseitig geschlechtlichen Zuweisung von Ernährungskompetenzen durch eine generelle Wertschätzung elementarer Lebensbedürfnisse bezogen auf die Ernährung zu begegnen. „Das größte Problem in modernen Gesellschaften ist nicht, dass die Lebensführung zu sehr gegängelt würde, sondern dass sie behandelt wird, als verstünde sie sich von selbst, so dass sie zu erlernen kein Gegenstand von Bildung und Erziehung ist“.29 Hier sind auch die öffentlichen Versorger von Ernährung gefragt, die sich einer verantwortlichen Ernährung ihrer Konsumenten und Tischgäste verpflichtet fühlen müssen, und es sind die Bildungseinrichtungen gefordert, die sich auf eine kulturelle Alltagsbewältigung besinnen sollten. Somit wird kulturelle Bildung eine gesellschaftliche Aufgabe, die Handlungs- und Erfahrungsräume schafft, die das Mensch-Naturverhältnis nicht ausklammert und mit kognitivem Wissen verbindet, die kulinarische Erfahrungen schafft, die Kreativität, Genuss und Kommunikation bei allem Wissen um die Naturzerstörung zu einer Wertorientierung, zu einer qualitativen Beurteilungskraft gerinnen lässt. 29

Schmid 1999, 119.

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The manner of doing Vom Nutzen des performative turn für eine kulturalistische Ökonomik

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„Jede Beschreibung der Ökonomie ist vor allem eine kulturelle Handlung, ein kulturelles Produkt.“ Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie

1 Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz als zeitgemäßer Umgang mit der ethischen Frage Für die klassisch abendländische Ethik formuliert Annemarie Pieper: „Die Begründung und Rechtfertigung aller Moral aus einem Unbedingten ist die bleibende Aufgabe der Ethik, die sich in der Erfüllung dieser Aufgabe als eine autonome Wissenschaft erweist.“ (Pieper 1991: 84) Eine solche Unbedingtheit über alle historisch und kulturell differenten Konstellationen und Konfigurationen hinweg lässt sich nach dem hier vertretenen Standpunkt nicht länger aufrechterhalten. Schon lange vor der Formulierung Piepers hatte die Cambridger Philosophin Elizabeth Anscombe die These vertreten, dass die Begriffe des moralischen Sollens und der moralischen Pflicht auf den Index gesetzt werden sollten. Anscombe hatte dies als Gesetzeskonzeption der Ethik bezeichnet (vgl. Anscombe 1974). Wenn Ethik im 21. Jahrhundert überhaupt zur Geltung kommen soll, dann nicht mehr als Sollens- = Pflichtenethik, sondern vielmehr als

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Wollens- = Tugendethik. Das „Plädoyer für eine Renaissance der Tugendethik“1 ist die notwendige theoretische Konsequenz. Der moral point of view kann nicht länger vernünftig aus universalistischen Prinzipien abgeleitet werden. Das ist schon deshalb nicht sinnvoll, weil in einer zunehmenden Zahl ethisch-moralischer Entscheidungsprobleme das Richtige nicht aus vorgegebenen Regeln abgeleitet werden kann, sondern in der historisch-konkreten Situation erst noch gefunden werden muss. Die schwierigen und sich häufenden Fälle ethischer Reflexion sind diejenigen, bei denen auch nach erster und durchaus sorgfältiger Prüfung die Bedeutungszuweisung von Gut und Böse eben nicht leicht fällt. Etwa Bio- und Gentechnik und die darum geführten Debatten machen das deutlich. Aus der US-amerikanischen Politik der vergangenen Jahre ist fast permanent zu lernen, wie wenig die Berufung auf allgemeine Prinzipien für den vernünftigen Umgang mit gesellschaftlicher Praxis taugt. Das Problem mangelnder Sanktionierbarkeit von im Namen hoch stehender Prinzipien durchgeführten Aktionen, die bei näherem Hinsehen just diese Prinzipien mit Füßen treten, kommt dann noch hinzu. Wir bestätigen uns in Scheinkonsensen, statt ethisch-moralisch dadurch voranzukommen, dass wir die konfliktären kulturellen Optionen zum produktiven Streit bringen. Bezogen auf den ethischen Diskurs hat der cultural turn2 demgemäß eine Umstellung zur Folge: von der klassischen abendländischen Ethik hin zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive des ethischen Reflektierens von Alltagsmoralen. Eine kulturalistische Ethik (präziser: der kulturalistische Umgang mit der ethischen Frage) sucht den moral point of view in den praktisch-konkreten ethisch relevanten Situationen, und das Suchen kennzeichnet nicht weniger als das eben noch nicht Gefundene. Dieser Standpunkt kann nicht nur für philosophisches Nachdenken über Kontingenz, sondern ebenso auch für ökonomisches, insbesondere unternehmenstheoretisches Denken hohe Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Denn die Entwicklung und Verfolgung von Unternehmensstrategien (Pfriem 2006) ist nichts anderes als der Umgang mit Ungewissheit über prinzipiell offene Zukunft: 1 2

So der Titel von Lautermann/Pfriem 2006. Dieser wird hier erst einmal allgemein gefasst, bevor wir mit diesem Text eine Spezifizierung (performative turn) vorschlagen.

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„Die Welt, in der wir leben, ist indeterminiert. Die Indeterminiertheit folgt daraus, dass die eigene Zukunft erst durch die noch zu wählenden Handlungen in diese oder jene Richtung gelenkt wird. (…) Schärfer formuliert: die Zukunft ist nicht einfach unbekannt, sondern sie existiert im Zeitpunkt einer Entscheidung, dies zu tun oder jenes zu lassen, noch gar nicht.“ (Schneider 1996: 1101f.)

Eine weitere wesentliche Beobachtung tritt hinzu. Die Standardökonomik ist über das Knappheitsparadigma aufgebaut mit der Behauptung, das die Ökonomie konstituierende Fundamentalproblem sei der (in dieser Logik nie auflösbare) Widerspruch zwischen als unendlich vorgestellten menschlichen Bedürfnissen und den endlichen bzw. begrenzten Mitteln und Möglichkeiten, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Die bei diesem aus frühindustrieller Zeit stammendem Theorem mitlaufende Unterstellung betrifft den quasi-technischen Charakter dieser Beziehung. Die unter allen Bedingungen immer spezifisch kulturellen Ausgestaltungen dieser Bedürfnisse werden als Präferenzen aus der ökonomischen Theorie verbannt, „exogenisiert“, u a. mit dem Argument, eine der Wertfreiheit verpflichtete ökonomische Theorie habe sich aus der materiellen Beurteilung besonderer Bedürfnisse, Bedarfe und Nachfragen3 tunlichst herauszuhalten. Betriebswirt/innen haben gegenüber Volkswirt/innen den Vorzug, näher dran an direkter ökonomischer Praxis zu sein. Die ökonomische Interaktion zwischen Anbietern und Nachfragern, die im Rahmen des vorgängigen ökonomischen Kalküls der individuellen Nutzenmaximierung überhaupt nicht mehr angemessen erfasst werden kann, liefert in jedem Moment massenhaft Beweise für das, was wir als Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg die kulturelle Aufladung der Ökonomie und des Ökonomischen nennen (vgl. forschungsprogrammatisch Forschungsgruppe Unternehmen und Gesellschaft 2004). Albert Hirschman hat die geistig-kulturellen Vorentwicklungen dessen, was wir heute als kapitalistische oder marktwirtschaftliche Ökonomie kennen, schon vor langer Zeit sehr präzise herausgearbeitet (Hirschman 1977). Aus einer Geschichte heraus, in der des Geldes Zins einmal der Seele Tod war (so das päpstliche Verdikt mehr als 500 Jahre nach Christus) und die „Geburt des Fegefeuers“ (LeGoff 1984) nach weiteren 3

Zur Unterscheidung dieser Kategorien s. Pfriem 1995: 257ff.

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mehr als 500 Jahren erst einen Zwischenschritt zur Legitimierung des kaufmännischen Geldverdienens bedeutete, brauchte es einen langen Prozess, die Leidenschaft (und Todsünde4) der Habgier zu pazifizieren und daraus das moderne ökonomische Interesse als wesentlichen gesellschaftlichen Koordinationsfaktor zu machen. Es bedarf vielleicht noch nicht einmal überschäumender Phantasie, sich vorzustellen, wie es gekommen wäre, wenn statt der Habgier eine andere Todsünde, nämlich die Völlerei, pazifiziert worden wäre, und zwar in Richtung Genuss. Da waren (und sind weiterhin) zwar die christlichen Kirchen vor, weil ihnen das im Unterschied zum ökonomischen Interesse (vgl. Weber 2004, orig. 1904) vermutlich die Grundlagen ihres gesellschaftlichen Einflusses geraubt hätte. Aber unsere folgenden Ausführungen können sich durchaus in eben diesem Geiste verstehen lassen. Die performative Spezifizierung des im Rahmen von FUGO entwickelten kulturwissenschaftlichen Ansatzes für die Theorie der Unternehmung und darüber hinaus des Ökonomischen überhaupt sieht nämlich menschliches Genießen als mit einer tugendethischen Perspektive ganz und gar kompatibel. Sie nimmt die homo-oeconomicus-Annahme der vorgängigen Ökonomik dahingehend ernst und auf, als in ethischer Perspektive nicht Menschen nach Wunsch modelliert werden, sondern ihre Egoismen und Egozentriken als Ausprägungen eigenen (genießen) Wollens durchaus in Rechnung gestellt werden. Ein solcher Realismus verpflichtet allerdings noch lange nicht dazu, auf den geistigen, seelischen, moralischen und kulturellen Krüppel zu rekurrieren, den der homo oeconomicus der Standardökonomik nun einmal darstellt. Es verkörpert gleichsam die Anwendung unserer Überlegungen auf sich selbst, dass unsere Ideen nicht vorrangig am Schreibtisch entstanden sind über das möglichst intensive Wälzen möglichst dicker Bücher, sondern der Entwicklung eines Forschungsprojektes geschuldet sind, das überdurchschnittlich empirie- und praxishaltig war und immer noch ist.5 Deswegen kommen wir bei der Darstellung unserer Überlegungen im nächsten Kapitel (2) zunächst auf das Projekt OSSENA zu sprechen. Vor diesem Hintergrund wird (3) unser das FUGO-Konzept weiter führender Zugang zu „Kultur als Praxis“ näher beleuchtet. Das anschließende Ka4 5

Zu den Todsünden in heutiger Sicht sehr erhellend Schulze 2006. Der Verlängerungsantrag für OSSENA bis zum Frühjahr 2007 ist inzwischen bewilligt.

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pitel (4) präzisiert diesen Zugang anhand der Entwicklung vom performative turn zum Diskurs des Performativen. Einige Hinweise zur Verknüpfung des Ansatzes mit dem ethischen Diskurs runden (5) den Text ab.

2 OSSENA – Ernährungsqualität als Lebensqualität Die Idee der nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, wie dies mit der Agenda 21 auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet wurde, bildet die Basis des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit Mitte 2003 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik, geförderten Forschungsprojektes „OSSENA – Ernährungsqualität als Lebensqualität“. Das Projekt richtet den Fokus darauf, die Möglichkeiten und Perspektiven einer nachhaltigen Ernährungskultur am Beispiel der Region Ostfriesland auszuloten. Die Bedingungen und Möglichkeiten der regulativen Idee von Nachhaltigkeit am Beispiel des Ernährungssektors zu erforschen, stellt auf dem Hintergrund einer weltweiten Vernichtung ökologischer Gefüge sowie der Zerstörung erhaltenswerter Kulturen ein in höchstem Maße dringliches Vorhaben dar. Die eklatanten Folgen einer hochindustrialisierten Ernährungsindustrie, wie sie eindrücklich in dem Film „we feed the world“ verdeutlicht werden, führen nicht nur zur Vernichtung natürlicher Ressourcen, sondern auch zur massenhaften Zerstörung ökonomischer und sozialer Existenzen. Hunger und Armut weltweit stehen in Kontrast zu massiver Fehlernährung in den hochindustrialisierten Ländern. Nährwerttabellen, Ernährungspyramiden und eine steigende Flut von Diätrezepturen haben ihre Unfähigkeit bewiesen, an dem Trend zu massiver Fehlernährung mit ihren eklatanten Folgen für die menschliche Gesundheit eine Umkehr herbeizuführen. Vor diesem Hintergrund widmet sich OSSENA einer schrittweisen Neubesinnung darauf, wie durch einen Wandel der alimentären Praktiken6 nachhaltige Ernährung gelingen kann.

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Mit dem Begriff der alimentären Praxis werden alle die Ernährungskultur begründende Prozesse bezeichnet, die von der Produktion bis zur Rezeption, von

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Ausgangspunkt des im Förderschwerpunkt „Sozial-ökologische Forschung“ angesiedelten Projektes ist die Annahme, dass Ernährung ein in hohem Maße kulturell geprägter Bereich des menschlichen Alltags ist: Was wir essen, wie wir essen und welche Bedeutungen damit verbunden sind, ist kulturell (vor)bestimmt und wird in alimentären Praktiken (re)produziert. Vom Produzenten bis zum Konsumenten, von der Anbieter- bis zur Nachfragerseite, werden ernährungskulturelle Praktiken erforscht. Ziel des ausdrücklich auf Transformation des Ernährungswissens angelegten Projektes ist es, Ernährungskultur zu interpretieren, diese durch gezielte Interventionen nachhaltiger zu gestalten und die Veränderungen zu institutionalisieren, um den Erfolg dauerhaft sicherzustellen. Im Sinne eines subjektbezogenen Ansatzes werden kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gestärkt. Das unmittelbare Erleben und körperliche Erfahren stehen hier im Zentrum eines Forschungsansatzes, der an der Herstellung von „kulinarischen Atmosphären“7 ebenso interessiert ist wie an einer Ausbildung der Alltagskompetenzen der Akteure durch Handlung, Erfahrung und Wissen. Mit Aktionen im öffentlichen Raum, in Handel und Gastronomie, mit handlungsorientierten Unterrichtseinheiten in Schulen und mit speziellen Angeboten für die landwirtschaftlichen Erzeuger wurden Impulse für den ernährungskulturellen Wandel in der Region gegeben. Regionale Netzwerke, welche die regionale Wertschöpfungskette stärken und die heterogenen Akteure zusammenführen, konnten inzwischen erfolgreich institutionalisiert werden. Als dauerhaftes Ergebnis wird eine Orientierung des regionalen Profils auf nachhaltige Ernährungskultur angestrebt, womit Ostfriesland im Wettbewerb der Regionen einen zukunftsfähigen Platz erhalten soll.8

7

8

der Anbieter- bis zur Nachfragerseite reichen. Vgl. hierzu ausführlich: AntoniKomar 2006. Kulinarische Atmosphären als „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“ (vgl. Böhme 1995: 34) werden im Zusammenhang mit der Vermarktung von Lebensmitteln, in den Weisen der Erzeugung, im Entwurf und der Formgebung von Produkten, ihrer Verpackung, Versprachlichung und Präsentation als Design hergestellt, sie werden in der Gastronomie als spezifische kulinarische Räumlichkeit geschaffen und schließlich im alltäglichen Ernährungshandeln bei privaten und öffentlichen Mahlzeiten produziert. Eine ausführliche Projektpublikation erscheint im Oktober 2006. Pfriem et al. 2006.

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Der explizit kulturalistische Ansatz des Projektes widmet sich den rekursiven Wechselwirkungen zwischen Unternehmen und Gesellschaft und insbesondere der aktiven Rolle der Unternehmen hierbei, denn Unternehmensstrategien sind kulturelle Angebote an die Gesellschaft. Hintergrund einer solchen Interaktionsökonomie ist, Ernährungskultur als soziale Praxis zu verstehen, die durch sämtliche Akteure hervorgebracht wird. In einem kulturalistischen Forschungsansatz, der die sozialen Praktiken ins Zentrum der Analysen rückt, geht es weniger um das kulturelle System als um den kulturellen Prozess. Karl H. Hörning und Julia Reuter fassen diesen Wechsel zusammen: „Es sind die Aktionen im Sinne eingelebter Umgangsweisen und regelmäßiger Praktiken der Gesellschaftsmitglieder, die zu dem zentralen Bezugspunkt von Kulturanalysen avancieren. Auch die theoretische Herangehensweise trägt diesem Umstand Rechnung. Statt Kultur als Mentalität, Text oder Bedeutungsgewebe kognitivistisch zu verengen, oder sie als fragloses Werte- und Normensystem strukturalistisch zu vereinnahmen, wird in anti-mentalistischer und ent-strukturierender Weise von Kultur als Praxis gesprochen.“ (Hörning/Reuter 2004: 9f.; Vgl. auch Reckwitz 2000 und Reckwitz 2003).

3 Kultur als Praxis Während mentalistische Kulturtheorien in einem diffusen oder skeptischen Verhältnis zur Ethik und Politischen Theorie stehen, ist von einer pragmatischen Kulturtheorie zu erwarten, dass diese über eine Reformulierung der handlungstheoretischen Grundbegrifflichkeit zu einer Neureflexion des modernen Subjekt- und Identitätsverständnisses motiviert. In den konkreten Praxiszusammenhängen entscheidet sich, ob eine „allgemeine“ Regel zur Anwendung kommt. Dabei sind Praxisnormen ein Geflecht von praktischem Wissen und Beurteilungsmaßstäben, die eine generelle Regel situationsangemessen oder nicht zur Wirkung kommen lassen. Nur wenn der Handelnde über Fähigkeiten und Kriterien verfügt, die den jeweiligen Anwendungskontexten Rechnung tragen, kommen explizite Regeln zum Tragen. Als Kompetenz entfaltet sich das praktische Wissen der Akteure in den Handlungskontexten und erzielt dort ein stimmiges oder nichtstimmiges Ergebnis.

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Der kulturwissenschaftliche Ansatz des doing culture erklärt die einzelne Handlung als Teil von kollektiven Handlungsgefügen. Individualistische Handlungstheorien leiten dagegen das Handeln aus Eigenschaften, Absichten, Strebungen und anderen mentalen Charakteristika der Individuen her. Gemeinsame Praktiken werden dort als kollektive Aufsummierung von Einzelhandlungen betrachtet. Handlungen sind dieser Auffassung zufolge zweckorientiert aufgrund rationaler Entscheidungen oder wertorientiert als Resultat normativer Verpflichtung; letztere dienen der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Das Modell der kulturtheoretischen Handlungserklärung geht über die zweck- und normorientierten Modelle hinaus. Den Modellfiguren des homo oeconomicus und des homo sociologicus wird hier mit jener Figur begegnet, die Ernst Cassirer als animal symbolicum (Cassirer 1944) und Roland Barthes als homo significans (Barthes 1966) bezeichnet hat. In diesem theoretischen Kontext werden die Sinnelemente von Handlungen nicht als individuelle Zwecke oder soziale Normen, sondern als kognitive Wissensordnungen bezeichnet. Die Regelhaftigkeit des menschlichen Handelns wird nicht mehr aus der übereinstimmenden Anwendung sozialer Normen erklärt, sondern aus dem gemeinsamen Wissensvorrat an kulturellen Codes, Deutungsmustern, Sinnhorizonten oder Differenzsystemen, die eine symbolische Ordnung der Wirklichkeit betreiben. In einer Weiterführung dieser mentalistischen Kulturtheorie zu praxeologischen Konzepten werden die sozialen Praktiken als routinisierte Formen körperlicher Performances und sinnhafter Verstehensleistungen gefasst, die in der Praxis untrennbar gekoppelt auftreten. Jenseits einer Differenz von inneren, kognitiven Strukturen und deren Konstruktion einer äußeren Wirklichkeit stehen die Umgangspraktiken. „Kultur als Praxis“ geht von einer dreiteiligen Handlungserklärung aus: Unbewusste Aktionen, kollektive Wissensbestände und die Kompetenz der Akteure gliedern den Handlungsprozess. In unbewussten Aktionen sind soziale Routinen und Gepflogenheiten als ‚eingespielte Handlungsprozeduren‘ übersubjektiv eingebettet in Routinen sozialer Interaktionsprozesse (Erziehungspraktiken, Praktiken der privaten Lebensführung, Zeitpraktiken, Kommunikationspraktiken, Praktiken der Verhandlung, Arbeitspraktiken, Praktiken der politischen Debatte). Kollektive Wissensbestände finden als kollektives Bedeutungs- und Handlungswissen ihren impliziten Ausdruck, ohne mit der verbalisierten Einsicht der Akteure in ihre soziale Welt gleichgesetzt zu sein. Kollektive Wissensbe-

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stände bilden die Voraussetzung gleichartiger Handlungsformen. Schließlich ist die Kompetenz der Akteure im Praxiszusammenhang handlungsstrukturierend. Soziale Praktiken sind stets doppelt bestimmt als Wiederholung (Routine) und Neuerschließung (Reflexion). Sie stützen sich auf Vorhandenes („Repertoires“) und sind produktiv als InGang-Setzen von Verändertem. Kultur ist in diesem Zusammenhang ein doppelseitiges Repertoire: Es besteht aus ‚aufgezeichneten‘ kulturellen Wissensbeständen (recorded culture) und aus kulturellem Können als ‚Wissen-wie‘ (doing knowledge). Repertoires an kulturellen Wissens- und Bedeutungsbeständen, die in vielfältigen Formen (Rituale/Zeremonien, Symbolische Codes/ Mythen, Texte/Diskurse, Modelle/Regelwerke, Artefakte/Technologien) ‚aufgezeichnet‘, gespeichert und innerhalb und zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Generationen selektiv übertragen werden, bezeichnet Diana Crane als „recorded culture“ (Crane 1994: 2f.). Andererseits besteht Kultur aus Repertoires an praktischem Wissen und interpretativem Können, die erst die kulturellen Wissens- und Bedeutungsbestände in der Praxis zur Wirkung bringen. Im Zentrum der neuen Praxistheorien steht damit der Begriff des ‚Wissens‘. Wissen erscheint als Konglomerat von kontingenten Sinnmustern, die auf kulturspezifische Weise alltägliche Sinnzuschreibungen und somit ein Verstehen ermöglichen wie regulieren (vgl. Hörning 2004). Die Sichtweise der cultural performance (Singer 1959) betont das prozessuale Hervorbringen und Herstellen von Kultur durch sämtliche Akteure. Dadurch werden nicht nur die (ökonomische) Produktion (Anbieterseite) und Rezeption (Nachfragerseite) synchron aufeinander bezogen und als kulturell geprägte bestimmt, sondern es wird gleichzeitig die Auffassung vertreten, dass die traditionellen Termini der Produzenten und Rezipienten als Akteure bzw. Ko-Subjekte zusammenzufassen sind, die aktiv Kultur transformieren. Dualismen von Subjekt/Objekt verlieren ihre Trennschärfe und Polarität, geraten in Bewegung und beginnen zu oszillieren. Aus dem Performativitätsdiskurs, der im Folgenden näher zu erläutern sein wird, ergeben sich neue Perspektiven für eine prozessuale Theorie der Ökonomie.

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4 Vom performative turn zum Diskurs des Performativen Das Herausstellen performativer Formen des kulturellen Wissens ermöglicht eine veränderte Perspektive von Zugang, Speicherung, Beglaubigung und Reproduktion von Wissen. Performatives Wissen „ist keine feststehende, institutionell geformte Wissensform… [Es] entwickelt und verändert … sich, so dass neben dem Routinecharakter vor allem auch der innovative und kreative Charakter sozialer Praktiken hervortreten kann.“ (Hörning 2004: 149). Zwar können wir nicht von der Macht kultureller Regel- und Bedeutungsstrukturen absehen, doch sind diese kulturellen Vorgaben als „Rahmungen“ zu verstehen, die zwar in den sozialen Praktiken als Hintergrundwissen existieren und implizit in die Praktiken eingehen, jedoch in der kulturellen Kompetenz der Akteure eine performative, d.h. kreative und explorative Auslegung erlangen. Damit schließt die Theorie der Kultur als Praxis an die Performativitätstheorie an, indem sie die Subjekt/Objekt-Dichotomie auflösen und die prozessuale Herstellung von Kultur durch Ko-Subjekte betonen. Seit Anfang der 1990er Jahre markiert der performative turn einen Perspektivwechsel in den Kulturwissenschaften. Erfasst der linguistic turn Kulturen und einzelne kulturelle Phänomene als strukturierten Zusammenhang von Zeichen (Symbolische Codes, Mythen) und definiert diese als Sprache (Text, Lektüre, Diskurs) im Sinne eines Zeichensystems (Semiotik), so rückt der performative turn mit den Tätigkeiten des Herstellens, des Produzierens und des Machens die Handlungen (Rituale, Zeremonien, Feste, Spiele etc.) (vgl. Wulf/Zirfas 2004) ins Zentrum. Der handlungsorientierte performative turn widmet sich den Austauschprozessen, den Veränderungen und Dynamiken, die bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden. Erika Fischer-Lichte schreibt: „Der Performance turn markiert eine grundsätzliche Wende nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch im Selbstverständnis der europäischen Kultur […] Über die wichtige Bedeutung von performativen Prozessen auch für die westlichen Kulturen kann kein Zweifel mehr bestehen.“ (Fischer-Lichte 2000: 67).9

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Erika Fischer-Lichte initiierte und leitet den DFG-Schwerpunkt Theatralität an der Freien Universität Berlin. Vgl. http://www.sfb-performativ.de/index.html.

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Es findet eine Verschiebung statt von der Monumentalität und Literalität auf die Theatralität von Kultur. Was bislang vor allem für die außereuropäischen Kulturen als Kennzeichen gilt, wird nun auch für den europäischen Raum als Kategorie der Kulturerzeugung anerkannt. Mit dem performative turn bilden nicht mehr kollektive Sinnsysteme, symbolische Codes oder lesbare Texte zentrale Forschungsparameter, untersucht werden auch die Prozesse des Hervorbringens, des Gebrauchens als ‚Herstellung‘ von Kultur. So schreibt Christoph Jamme: „Nicht von ungefähr hat heute das Konzept der Performativität begonnen, das der Repräsentation zu beerben. Nicht mehr die Repräsentationen und die Zeugnisse einer Kultur, sondern die Prozesse ihrer Herstellung und Wirksamkeit stehen im Zentrum der Untersuchung.“ (Jamme 2004: 213).

Wenn von Performativität die Rede ist, so handelt es sich um einen Begriff zur Kennzeichnung eines Theorie- und Diskursfeldes, in dessen Mittelpunkt unterschiedliche Formen und Theorien sozialen Handelns und Wissens stehen. Für den amerikanischem Medienwissenschaftler Jon McKenzie bezeichnet performance einen der Schlüsselbegriffe des 21. Jahrhunderts. Vom breiten Bedeutungshorizont des englischen Wortes ausgehend, erhebt McKenzie in einer offenen Lesart den Begriff zum Paradigma unseres kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens (McKenzie 2001). Im Englischen besitzt der Begriff performance vielfältige Bedeutungen, die von Ausführung oder Darstellung über Aufführung (Theater, Tanz, Oper) oder Vorführung (Film) bis hin zu Leistung, Kompetenz oder Entwicklung reichen. Dieses schillernde Bedeutungsfeld findet sich auch in der deutschsprachigen Rezeption des Begriffes wieder. In der deutschsprachigen Theater- und Kunstwissenschaft findet performance in den 1970er Jahren Eingang, einerseits als theoretische Kategorie für den Aufführungsbegriff selbst, andererseits als Gattungsbegriff für theatrale Formen des Happenings und der Aktionskunst der 1960er Jahre. Als cultural performance (vgl. Singer 1959) nimmt der Performancebegriff auch im weiteren Sinne Bezug auf kulturelle Praktiken, die sich durch einen Handlungs- und Aufführungscharakter auszeichnen und das Selbstverständnis einer bestimmten Gruppe von Menschen darstellen, reflektieren oder in Frage stellen. Neben diesen Prozessen der „Verkörperung“ bzw. der Aufführung körperlicher Handlungen impliziert performance

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immer auch deren Wahrnehmung. Marvin Carlson schreibt: „Always performance [is] for someone, some audience that recognizes and validates it as performance“ (Carlson 1996: 6). So unterscheidet sich eine Performance vom bloßen Tun nicht etwa durch den Rahmen (z.B. Theater versus außerästhetische Kontexte), sondern durch eine bewusste Inszenierung und/oder Rezeption. Sandra Umathum sieht Performances im Gegensatz zu Monumenten, Texten oder Bildern ausschließlich in der Gegenwart existent: „Sie können, da sie sich nicht in Werken konstituieren, auch nicht wie jene erneut aufgesucht und rezipiert werden. Vielmehr werden P.s im Modus des Ereignisses hervorgebracht und erfahren: Sie sind einzigartige Geschehnisse, denen stets eine gewisse Kontingenz und Unplanbarkeit eignet. Ihre zeitliche Entfaltung erfolgt in einem Prozess, in dem Produktion und Rezeption synchron aufeinander bezogen sind…“ (Fischer-Lichte et al. 2005: 232).

Das Ereignis der (leiblichen) Ko-Existenz von Schauspielern und Zuschauern, die eine Aufführung allererst ermöglichen, konstituiert die Aufführung. Die Zuschauer werden nicht länger als distanzierte oder einfühlsame Beobachter von Handlungen begriffen, sondern als Mitspieler, welche die Aufführung durch ihre Partizipation, ihre Wahrnehmung, ihre Reaktionen mit hervorbringen: „Die Aufführung entsteht als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern. Die Regeln, nach denen sie hervorgebracht wird, sind als Spielregeln zu begreifen, die zwischen allen Beteiligten – Akteuren und Zuschauern – ausgehandelt und gleichermaßen von allen befolgt wie gebrochen werden kann. Das heißt, die Aufführung ereignet sich zwischen den Akteuren und Zuschauern, wird von ihnen gemeinsam hervorgebracht.“ (Fischer-Lichte 2004: 47)10

Im Kern impliziert dieser Aufführungsbegriff einen Wechsel vom Werkbegriff zum Ereignisbegriff. Die traditionelle Unterscheidung von Produktion, Werk und Rezeption wird in eine spezifische Ereignishaftigkeit und Gemeinschaft überführt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die per-

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Diese Darstellung basiert auf der theoretischen Bestimmung des Aufführungsbegriffes durch Max Hermann, der zwischen 1910 und 1930 dazu verschiedene Schriften verfasst hat.

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formative Form, die der Regisseur Christoph Schlingensief als Antrittsvorlesung seiner Gastprofessur „Kunst in Aktion“ an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig am 16.05 2006 gewählt hat. Er bereitete auf dem Hintergrund seiner bisherigen Arbeit vor den Studierenden einen Puter im Fenchelbett zu. Durch die sich ausbreitenden Essensgerüche wird der Raum zum atmosphärischen, die Ko-Subjekte des Vortragenden und der Studierenden befinden sich nicht mehr in Distanz zum Raum (Hörsaal), sondern werden von ihm umfangen und umgeben, tauchen in ihn ein. Die Atmosphäre des Raumes dringt so in den Leib ein, durchbricht die Körpergrenzen. Leiblichkeit wird auf ganz spezifische Weise erlebt, als lebendiger Organismus, der im Austausch mit seiner Umwelt steht. Eine Verlagerung des Schwerpunktes von den symbolischen Bedeutungen zur leiblichen Erfahrung findet statt (vgl. Böhme 1995; Fischer-Lichte 2004: 200ff.). Performativität bezeichnet das Konzept, mit dem das Performative systematisch untersucht wird. Von dem amerikanischen Sprachwissenschaftler John L. Austin 1955 unter dem Titel „How to do things with words“ zur Beschreibung von Sprechakten eingeführt (vgl. FischerLichte 2004: 31ff.), verbreitet sich seit Judith Butlers 1990 publiziertem Aufsatz „Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“ die Metapher von der „Kultur als Performance“. Butler verwendet den Begriff der Performativen ganz explizit für körperliche Handlungen. Geschlechtsidentität (gender) ist nach Butler nicht ontologisch oder biologisch gegeben, sondern das Ergebnis spezifischer kultureller Konstitutionsleistungen: „In this sense, gender is in no way a stable identity or locus of agency, from which various acts proceed; rather, it is …an identity instituted through a stylized repetition of acts.” (Butler 1990: 270).

Die körperlichen Handlungen sind als „non-referential“ zu begreifen, als sie sich nicht auf etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie zum Ausdruck bringen wollen. Diese stabile Identität gibt es demnach nicht. Die performativen Akte bringen Identität als ihre Bedeutung allererst hervor. Den Prozess der performativen Erzeugung von Identität bestimmt Butler als „a manner of doing, dramatizing and reproducing of historical situation“. (Butler 1990: 271). Durch die stilisierte Wiederholung performativer Akte werden bestimmte histo-

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risch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert und zugleich der Körper als ein historisch-kultureller markiert (vgl. Fischer-Lichte et al. 2005: 236f.; Fischer-Lichte 2004: 36ff.). Fischer-Lichte kommt im Anschluss zu der Definition: „Der Begriff des Performativen bezeichnet die Eigenschaft kultureller Handlungen, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend zu sein.“ (Fischer-Lichte et al. 2005: 234). Zwar bedienen sich performativitätsorientierte Ansätze auch der Methoden semiotischer Analyse von Sinnhorizonten. Im Gegensatz zu zeichentheoretischen Systemen ist die „Bedeutung“ einer Sache oder einer Tätigkeit jedoch nicht zugeschrieben, sondern erschließt sich erst aus den Umgangspraktiken und deren ‚innerer Geregeltheit‘. Gegen die Vorstellung einer Eigendynamik von Kultur rücken das Prozesshafte und die Kontingenz11 in den Fokus. Diese Begriffe stehen für Transformationen und Mehrdeutigkeiten und gegen essentialistische Vorstellungen eines unabhängigen Gebildes namens ‚Kultur‘, das sich durch feste Grenzen oder einen gleich bleibenden Kern auszeichnet. Kultur repräsentiert demnach eine unabgeschlossene und bricolage-förmige Kombination unterschiedlicher Komplexe von Praktiken. So spricht der schwedische Ethnologe Ulf Hannerz zum Beispiel von Kultur als „Netzwerk von Perspektiven“ (Hannerz 1987). Dabei bezieht er sich auf den Umstand, dass die Mitglieder einer komplexen Gesellschaft immer wieder in Kontakt mit Mitgliedern kommen (oder zumindest von deren Existenz wissen), die andere Sichtweisen vertreten. „Kulturelle Perspektiven“ werden jedoch weniger reproduziert im Sinne kultureller Tradierung, sondern treten in Form einer Verwaltung (der Organisation) von Sinn (management of meaning) auf, die Kultur erzeugt und aufrechterhält, übermittelt und empfängt, zur Anwendung bringt, zur Schau stellt, erinnert, überprüft und damit experimentiert: „Kultur besteht nicht nur aus kulturellen Routinen, sondern auch aus der Spannung zwischen gegebenem ‚Sinn‘ einerseits und persönlichen Erfahrungen und Interessen andererseits. In dieser Sichtweise gilt 11

Die Bedeutung der Kontingenz wurde auch in der Performativitätstheorie als Bedingung der Möglichkeit von Aufführungen nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich begrüßt. Das prinzipiell offene Ende, der nicht vorhersagbare Ausgang lassen sich demnach durch Inszenierungsstrategien weder tatsächlich unterbrechen noch gezielt steuern. Unter den Bedingungen der Kontingenz vollziehen sich Aufführungen als Experiment (vgl. Fischer-Lichte 2004, 61).

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Kultur nicht länger als ein stabiles und kohärentes System, sie wird vielmehr zum work in progress erklärt.“ (Ackermann 2004: 144).

5 Ethik, Kultur und Ökonomie) Nicht nur wegen des Erscheinungsorts dieses Beitrags ist uns sehr wichtig, die Verknüpfung unseres (performativen) kulturalistischen Zugangs zu dem Gegenstand, den die Moderne als das Ökonomische markiert hat, mit der Frage der Ethik deutlich zu machen. Innerhalb eines gedanklichen Kontextes und eines Verständnisses von wirklicher Welt, bei dem die Menschen anderen gönnen, weil (und nicht: obwohl) sie selbst genießen wollen, bei dem die Menschen mit anderen befreundet sind, weil sie mit sich selbst befreundet sind12, kommen kulturelle und moralische Kompetenzen aufs engste zusammen. In Anlehnung an Rorty (1994) und Taylor (1996) kann man das mit einem Begriff von Varela (1994) auch als ethisches Können bezeichnen. Moralische Kompetenz in diesem Sinne entsteht nicht durch Formeln oder Definitionen der Tugend, sondern durch das Erleben, aus eigener Kraft verantwortlich zu handeln. Dazu passt Varelas kritischer Befund: „…es ist diese Neigung, uns in der dünnen Luft des Allgemeinen und Formalen, des Logischen und Definierten, des Repräsentierten und Vorausgeplanten zu bewegen, aufgrund derer wir uns in der westlichen Welt so zu Hause fühlen.“ (Varela 1994: 13). Freilich: „Wir operieren immer in der Unmittelbarkeit einer gegebenen Situation.“ (Varela 1994: 16). Und es geht darum, „zu erklären, wie wahrnehmungsgeleitetes Handeln in einer vom Wahrnehmenden abhängigen Welt möglich ist.“ (Varela 1994: 20). Diese sinnliche Situiertheit ethisch-moralischer Entscheidungsmomente ist unhintergehbar. Insofern muss sie auch nicht normativ eingefordert werden als etwas, das dem menschlichen Handeln nicht sowieso unbedingt zugehörig wäre. Diese unbedingte sinnliche Situiertheit kultureller Praktiken ist ein wichtiger Gesichtspunkt des Projektes OSSENA. Das Problem einer normativen Einforderung kontrafaktischer Art haben hingegen alle diejenigen, die den moral point of view erst einmal abstrahierend aus den konkreten, also historisch-spezifischen Situationen herauslösen, um beispielsweise ein Abstraktum Ethik gegen ein Abstrak12

So der Titel von Schmid 2006.

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tum Ökonomie zu setzen oder, schlimmer noch, Ethik wiederum als Abstraktum nur noch eingefangen im (historisch-kulturell doch sehr spezifischen) Kalkül eines homo oeconomicus denken zu können. Gerade in der Spiegelung durch den performativen kulturwissenschaftlichen Ansatz könnte Unternehmens- und Wirtschaftsethik lernen, noch besser als bisher zur Wirklichkeitswissenschaft zu werden.

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Kulturelle Bildung als mögliche Herausforderung für Unternehmensstrategien Reinhard Pfriem

1 Verantwortung und Probleme mit dem moral point of view Mit der Unternehmensverantwortung ist es eine komplizierte Geschichte (Beschorner/Linnebach/Pfriem/Ulrich 2007). Mit den Begriffen Corporate Social Responsibility und außerdem Corporate Citizenship werden nämlich die unterschiedlichsten Vorstellungen und Konzepte verbunden. Nach traditionellem unternehmerischem Selbstverständnis wird Verantwortung in der Marktwirtschaft dadurch positiv übernommen, dass die Rolle möglichst gut ausgefüllt wird, die Unternehmen in der liberalen Konzeption von Marktwirtschaft zugedacht ist: erfolgreiche Realisierung des eigenen Rentabilitätsstrebens, damit auf diesem Wege der Funktion marktwirtschaftlichen Wettbewerbs Rechnung getragen werden kann. Und diese Funktion verkoppelt seit den frühliberalen Utopien das (egoistische) Nutzen- oder Gewinnstreben des einzelnen harmonisch mit dem größtmöglichen Wohl der größtmöglichen Zahl, welches sich in der klassischen Formel schon vor Jeremy Bentham bei Hutcheson findet: „That action ist he best that procures the greatest happiness for the greatest number.“ (2002 (orig. 1726), 177) Im Rahmen des traditionellen unternehmerischen Selbstverständnisses stellt Corporate Social Responsibility damit entweder eine Aufgabe dar, die das eigene Unternehmen im Vollzug seines normal business zwangsläufig mit erledigt, oder aber eine zusätzliche externe Anforderung, die es nach eigenem Verständnis über das Funktionieren von Marktwirtschaften zurückzuweisen gilt.

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In der Geschichte der Philosophie ist Verantwortung ein erstaunlich junger Begriff. (Vgl. Röttgers 2007) Das mag mit der bisherigen wirklichen und Geistesgeschichte der Menschen zu tun haben, weil es „von oben“ herrschende Weltanschauungen gab, die sich insofern als verbindlich gerierten, dass daraus bestimmte Pflichten und Verhaltensanforderungen abzuleiten waren. Sollen und Pflicht waren in einem solchen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Kontext eindeutigere Begriffe als der der Verantwortung. Wir befinden uns freilich inzwischen inmitten von Verhältnissen, die die Cambridger Philosophin Elizabeth Anscombe schon 1974 diagnostiziert hat mit ihrem Plädoyer, solche Begriffe einer Gesetzeskonzeption von Ethik auf den Index zu setzen. An einer prägnanten Formulierung Zygmunt Baumans wird die Differenz deutlich, die das noch junge Alter des Verantwortungsbegriffs verständlich macht und ihren besonderen Charakter beleuchtet: „Pflichten machen Menschen tendenziell gleich; Verantwortung macht sie zu Individuen.“ (1995, 87) Wem gegenüber welche Verantwortung wie zu übernehmen ist, ist im Gegensatz zu Pflichten nicht vorgegeben. Dem Ökonomen ist diese Sichtweise sehr sympathisch, kann er sich doch auf eine ökonomietheoretische Referenz stützen, die in derselben Richtung angelegt ist: „… whenever the economy or an industry or some firms in an industry do something else, something, namely, that is outside of the range of existing practice, we shall speak of creative response“. (Schumpeter 1947, 150) Verantwortung ist etymologisch auf das Antworten zurückzuführen, und Antworten können so ausfallen oder anders. Die Kreativität der Antwort, von der Schumpeter spricht, besteht in der unternehmensstrategischen Klugheit, seitens des Unternehmens im ständigen kulturell aufgeladenen Wechselspiel zwischen Angeboten und Nachfragen die richtigen und zukunftsfähigen Schritte zu tun.1 Jenseits der Gedankenwelt abendländischer Pflichtenethik haben wir es hier zunächst zu tun mit Verantwortung im außermoralischen Sinne.2 Auch die vom Economic and Social Council der Vereinten Nationen auf seiner 41. Sitzung im Dezember 2002 unter Punkt 68 der Entschließung verabschiedete Definition von Corporate Social Responsibility 1

2

Zu einer solchen kulturalistischen Re-Interpretation (und Weiterentwicklung) Schumpeters vgl. Pfriem (2006), insbesondere die Kapitel 7 und 8. Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Pfriem (2007).

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sollte nicht als ethisch gegen ökonomisch ausgelegt werden, sondern vor allem als Hinweis auf die Einbettung des Unternehmens in ein Geflecht von Akteuren, denen gegenüber Reputation und Legitimation für den strategischen Unternehmenserfolg unabweisbar sind: „Corporate Social Responsibility is a widely used concept to describe specific decision-making policies of the business community that are: linked to ethical values; in fully compliance with existing legal requirements; and show respect for people and the priorities of local communities, including environmental protecting. This social responsibility, combined with corporate social responsibility to a range of stakeholders, notably consumers, employers and their representatives, investors and shareholders, is assessed in terms of meeting a growing range of standards.“ So kann für Corporate Social Responsibility gesagt werden, dass es sich zunächst um die monologische Wahrnehmung von Verantwortung handelt, insofern das Unternehmen darüber bestimmt, wem es wie antwortet (oder nicht). Auf der anderen Seite besteht die Kreativität im erfolgsstrategischen Sinne eben darin, sich gegenüber anderen mindestens so weit dialogisch und verständigungsorientiert zu verhalten, dass das wiederum respondierende Verhalten für das eigene Unternehmen eher positive als negative Folgen zeitigt. Soll man diese Herangehensweise mit dem Begriff der Moral oder gar dem der Ethik belegen? Wenn wir der nach wie vor gültigen Unterscheidung von Steinvorth3 folgen, dann sind Moralen immer vorhanden in dem Sinne, dass sie als – bewusste oder unbewusste – normative Kodierungen sozialer Praktiken aufgefasst werden können, während erst die ethische Reflektion das absichtsvoll Moralische ins Spiel bringt. Diese Unterscheidung hat den Vorteil, zu akzentuieren, dass es sich beim Moralischen um eine kulturelle Bedeutungszuweisung handelt. The proof of the pudding is the eating. Nicht die schönen Reden über den Pudding entscheiden, sondern die wirkliche Qualität im Geschmacksempfinden derer, die ihn 3

„Moral ist die Gesamtheit der Regeln, nach denen Menschen ... ihre Handlungen und möglichen Wollensobjekte auch außerhalb und unabhängig von Theorie und Reflexion als gut oder böse, richtig oder falsch bewerten und in eine mehr oder weniger konsistente Präferenzskala bringen. Ethik ist eine Theorie der Moral, die die Regeln der Moral zu formulieren, allgemein verbindliche von nicht allgemein verbindlichen Regeln zu rechtfertigen oder begründen sucht … In diesem Sinne geht Moral der Ethik voraus und kann es keine Ethik ohne Moral, wohl aber Moral ohne Ethik geben.“ (Steinvorth 1990, 207)

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verspeisen. Mit anderen Worten: für die Qualität von Corporate Social Responsibility ist nicht die schöne Rhetorik von Unternehmensvertretern ausschlaggebend und auch nicht schöne Worte in Glanzbroschüren, sondern die Qualität dessen, wie ein Unternehmen tatsächlich seine Herausforderung zur Creative Response definiert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir damit in einem dilemmatischen Zirkelschluss landen: nicht nur die zusätzliche Attribuierung einer Handlung als moralisch oder unmoralisch (bzw. ihre Bewertung unter ethischen Gesichtspunkten), sondern auch der Inhalt der Bewertung bzw. des Urteils selbst ist prinzipiell beobachterabhängig und von keinem objektiven Maßstab her ableitbar. Was folgt daraus? Das Bemühen, den nach eigenen Maßstäben moral point of view parteilich in jeder historisch-konkreten Situation stark zu machen, ist genau so erfolgsoffen wie die Frage, ob besten Wissens und Gewissens in der spezifischen Situation der angemessene moral point of view dem Inhalt der Sache nach wirklich gefunden wird. Und wenn wir den Begriff der Legitimation gegenüber jenem der Reputation hinreichend ernst nehmen,4 dann kann diese Angemessenheit im gegebenen Zeitpunkt noch nicht einmal treffsicher überprüft werden. Das Urteil fällt die Geschichte – nein, noch nicht einmal die, weil die bekanntlich von sich nachfolgenden Siegern geschrieben wird. Das Ganze wird allerdings noch komplizierter. Neben dem Begriff Corporate Social Responsibility ist seit einiger Zeit der Begriff Corporate Citizenship in die Diskussion eingeführt worden, und zwar in zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungen. Die uns hier weniger interessierende enge und pragmatischere Bedeutung zielt auf gesellschaftliches Engagement von Unternehmen abseits von ihrem Kerngeschäft. Hierzu zählen etwa Corporate Giving, Corporate Volunteering und bezogen auf frühere antagonistische Frontstellungen zwischen Unternehmen und Nicht-Regierungsorganisationen (greenpeace, attac, amnesty international usw.) Dialogprojekte mit solchen Organisationen.5 Uns interessiert hier die weitere und theoretisch wie praktisch sehr folgenreiche Bedeutung von Corporate Citizenship, wonach aufgrund der gegenüber der frühen Etappe markwirtschaftlicher Gesellschaften gewandelten Verhältnisse des gesellschaftlichen Akteurssystems Unter4 5

Zu dieser Differenz vgl. Pfriem (2006a), 311 ff. Zu dieser Lesart von Corporate Citizenship s. Habisch (2003).

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nehmen als kollektive Akteure eine bürgerschaftliche Rolle zugewiesen bekommen, funktionsbedingt ebenso mit Rechten und Pflichten, wie dies anfänglich für die individuellen (Wirtschafts-)Bürger definiert worden war. Und zwar „geht es ... um die ordnungspolitische Mitverantwortung von Unternehmen durch gemeinwohlorientiertes Lobbying sowie durch die Beteiligung an der Entwicklung und Durchsetzung unternehmensübergreifender Regeln und Standards, die insbesondere im Rahmen der Globalisierung an Gewicht gewinnen ... Corporate Citizenship im weitesten Sinne erweitert die Betrachtung um das Kerngeschäft der Unternehmung … Hier geht es um das bewusste, am Gemeinwohl bzw. an der Nachhaltigkeit orientierte Management aller positiven und negativen Externalitäten einer Unternehmung, also um die Vermeidung negativer und die Erzeugung positiver ökologischer und sozialer Effekte.“6 (Schrader 2003, 137 f.) Matten, Crane und Chapple, die in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Beiträgen für diese umfassendere Sicht geleistet haben, sprechen daher von einem „extended view of corporate citizenship“. (2003, 113) Josef Wieland bezieht die weitere Fassung von Corporate Citizenship ebenfalls ausdrücklich auf die veränderte Rolle, die Unternehmen im heutigen – globalisierten – gesellschaftlichen Akteurssystem einnehmen: „Corporate Citizenship bedeutet gegenüber dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft  eine Ausweitung des territorialen Anwendungsbereiches …,  eine Ausweitung der Themenstellung …,  eine Ausweitung der involvierten Akteure …  auch veränderte Spielregeln.“ (2002, 16) Wir kommen damit zurück zu dem Argument der kaum auflösbaren Verflechtung zwischen einer außermoralischen und einer moralischen Fassung des Verantwortungsbegriffs. Alle vier von Wieland genannten

6

Deutlichkeitshalber sollte erwähnt werden, dass Schrader zwischen den hier beiden vorgetragenen Varianten von Corporate Citizenship noch eine solche definiert, die im fördernden Sinne (nicht im Sinne staatliches Handeln be- und verhindernder Lobbyarbeit) die unternehmerische Einflussnahme auf die Gestaltung der staatlichen Rahmenordnung zum Gegenstand hat.

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Punkte (oder präziser. Handlungsdimensionen) können mit moralischen Bedeutungszuweisungen verknüpft werden – müssen aber nicht. So oder so haben wir es im Fall von Unternehmen mit unternehmensstrategischen Selbst- (und Fremd-)Beschreibungen zu tun, die die kulturellen Orientierungen der Unternehmen entwickeln, nach innen und außen kenntlich machen, Anstöße zu Modifikationen der vorhandenen kulturellen Orientierungen liefern usw. Wir ziehen es gegenüber den Alltagsmoralen im Steinvorthschen Sinne übrigens vor, von kulturellen Orientierungen zu sprechen, weil wir damit das Missverständnis vermeiden, hier würde ethische Reflektion bereits notwendigerweise eine Rolle spielen. Auf der Ebene des Selbstverständnisses kann eine solche kulturelle Orientierung etwa gerade darin bestehen, jedes Erfordernis einer ethischen Reflektion weit von sich zu weisen.

2 Kulturelle Bildung als mögliches unternehmenspolitisches Handlungsfeld An dieser Stelle möchten wir nun auf den kürzlich gemachten Vorschlag zu sprechen kommen, kulturelle Bildung als unsere mögliche Moral zu definieren. (Pfriem, Bildung) Von dem dort wichtigen Bemühen entkleidet, eine ethische Position einzunehmen, geht es hier zunächst einmal um den Boden der außermoralischen Verantwortung von Unternehmen. Wenn wir – ebenso neutralisierend – den Begriff der Bildung von seiner auch möglichen normativen Konnotation befreien, können wir sagen, dass innerhalb dessen, was Unternehmen als emergente kollektive Akteure sind, nämlich Organisationen mit definierbar vielen Organisationsmitgliedern7, eben so viele individuelle Bildungsprozesse stattfinden – welcher Qualität auch immer. Und in eben dem gekennzeichneten Sinne außermoralischer Verantwortung (wie Unternehmen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, ist gleichfalls eine Frage von Creative Response) tragen Unternehmen so oder anders zur Bildung ihrer Organisationsmitglieder bei.

7

Natürlich sind heute durch Prozesse des Out-Sourcing, der Netzwerkbildung, mergers & aquisitions die Unternehmensgrenzen fließender denn je (vgl. Picot/ Reichwald/Wigand 1996), das soll aber aus Gründen der Argumentation hier unberücksichtigt bleiben.

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Wenn wir die Frage stellen, wo in der heutigen Wirtschafts- und Arbeitsgesellschaft8 mögliche Orte von (kultureller) Bildung zu verorten sind, stoßen wir jenseits von Familie, außerberuflicher Schule und Ausbildung sowie peer groups in der Freizeit auf die Betriebe und Unternehmen, zuzüglich all jener Organisationen, die unter ungenauen Sammelbegriffen wie tertiärer Sektor, Verwaltungen, öffentliche Dienstleistungen u. ä. zusammengefasst werden. Also stellt sich – erst recht im Lichte dessen, wie vorher Corporate Citizenship definiert worden ist – die Frage, wie Unternehmen eigentlich bei ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Bildungsprozessen beitragen – und beitragen können. Sich mit der kulturellen Bildung ihrer Organisationsmitglieder zu befassen, haben Unternehmen nicht gelernt. Sie haben noch nicht einmal gelernt, das sollen zu wollen. Ausbildung und auch berufliche Weiterbildung werden von Unternehmen, so weit diese das tolerieren oder gar honorieren und sich dafür engagieren, in aller Regel unter funktionalistischen Gesichtspunkten der Anpassungserfordernisse an die Leistungsfähigkeit im (und für das) Unternehmen verstanden. Dass die Möglichkeiten von Organisationsentwicklung etwas mit der Entwicklungsfähigkeit der Organisationsmitglieder zu tun hat, hatte im Kontext des seinerzeitigen OE-Ansatzes Bartölke schon 1980 herausgearbeitet. Von Organisationsentwicklung und Personalentwicklung als ihrem notwendigen Bestandteil ist bei den Akteuren, die 1980 sogar eine Gesellschaft für Organisationsentwicklung gründeten, heute nicht mehr die Rede. Dieselben Akteure firmieren heute lieber unter Change Management und meinen, damit überflüssigen normativen Ballast abgeworfen zu haben.9 Gegenüber dem Unternehmen nicht oder meta-funktionalistische Bildungselemente bei den Organisationsmitgliedern scheinen dadurch eher an Bedeutung verloren zu haben. Ein Übriges zur Verdrängung individueller Bildungsprozesse hat in der jüngeren Vergangenheit sicher die ausdrücklich an Luhmann orientierte systemische Beratung beigetragen. Mit ihrer Deklarierung von Menschen als psychischen Systemen und damit Umwelten der Organisationen mag es ihr zwar gelingen, einen genaueren Blick auf systemische Zusammenhänge in Unternehmen zu 8

9

Auch der Verzicht auf ökonomisches Handeln oder der individuelle Zustand von Arbeitslosigkeit ändern ja nichts daran, dass wirtschaftliche Entwicklung und Erwerbsarbeit die gesellschaftlich dominanten Faktoren sind. Zur Kritik daran vgl. Pfriem (2005).

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werfen, die Bedeutung der individuellen Prozesse kultureller Bildung wird dadurch freilich zwangsläufig degradiert. Bildung durch Unternehmen? Nehmen wir drei aktuelle Beispiele, ermittelt über www.google.de, Unternehmen und Bildung, am 31.01.07: 1. Zertifizierte Bildung überall und sofort. Von Ausbildung bis Zusatzqualifikation. Vom Altenpfleger bis zur Zerspanungsmechanikerin. Mit dem bfw ist alles erreichbar und alles möglich. Staatliche anerkannte Ausbildung, Umschulungen, Fort- und Weiterbildung. Unsere modularen Trainings und Tagesseminare orientieren sich am Tagesgeschehen und an Ihrem Zeitplan. Unser breites Angebot an Weiterbildungsmöglichkeiten öffnet viele Wege. Wir entwickeln gemeinsam mit Ihnen Ihren Weg und zeichnen Lösungen auf. Ob privat oder als Firma: Mit dem bfw als ISO zertifizierter Bildungsanbieter nach vorn gehen. 230 Standorte, die sich sehen lassen können. (Vgl. http://www.bfw.de/) 2. Eine Reihe engagierter Unternehmen will sich aktiv für eine Verbesserung des Bildungswesens in Deutschland einsetzen. Das erste Projekt der Initiative ist die mobile Lernstation EduBook, mit dem die „Bildungsoffensive 2006“ jetzt an den Start geht. „Mit der Bildungsoffensive 2006 wollen wir unseren Beitrag dazu leisten, die in Deutschland festgestellten Bildungsdefizite zu beheben“, sagt Uwe Schöpe, Geschäftsführer der Bonner Akademie. Die Weiterbildungseinrichtung ist Initiator der Aktion, die inzwischen von vielen namhaften Firmen unterstützt wird. Mit dem ersten Projekt, der mobilen Lernstation EduBook, haben die Wirtschaftspartner für junge Lernende ein Hard- und Softwarepaket geschnürt, das sowohl inhaltlich als auch pädagogisch und didaktisch höchste Ansprüche erfüllt. (Vgl. http://www.focus.de/wissen/bildungsoffensive/hardware/unterne hmen-foerdern-bildung_aid_17613.html) 3. Die kleine Arthemis sucht den Knopf an ihrer Hose. „Mit dem Knopf macht man die Hose zu“, sagt Claudia May überdeutlich. Der dreijährige Shaban guckt interessiert, sucht ebenfalls, findet den Knopf, doch das Wort sprechen mag er nicht. Immerhin: Mehmed-Sali, sein Kindergarten-Kollege hier in Ludwigshafen, steht die ganze Stunde in der Ecke, mag nichts sagen und auch nicht mitmachen. Der Dreijährige hat einen schlechten Tag, zudem spricht der kleine Türke nur seine

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Muttersprache. Es sind Kinder wie Mehmed-Sali, die im deutschen Bildungssystem ganz weit hinten herunterfallen. Ihre Eltern können kein Deutsch, die Kultur ist anders, meist laufen Integrationsprojekte an ihnen vorbei. Sie sind der Beweis dessen, was die Pisa-Studie am deutschen Bildungswesen kritisierte: In der Bundesrepublik hängen die Chancen der Kinder stark vom Bildungsgrad der Eltern ab, insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien haben gravierend schlechtere Chancen auf eine gute Ausbildung. Seitdem diskutiert Deutschland, wie viel Bildung es in Kindergärten und Tagesstätten braucht. Jetzt hat diese Diskussion die Wirtschaft erreicht. Los ging es allerdings in den Wahlkämpfen: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und SPD-Chef Kurt Beck etwa machte beitragsfreie Kindergärten samt Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Bildung zum zentralen Thema seines Landtagswahlkampfs im Frühjahr 2006. Das CDU-geführte Nachbarland Hessen rühmt sich, Vorreiter bei der Sprachförderung zu sein. Es tut sich etwas in den ehemaligen Verwahranstalten der Nation: „Wir sind nicht nur Spiel- und Bastelstuben, wir sind Bildungseinrichtungen“, sagt May. Neben der Politik hat sich jetzt aber auch ein Teil der Gesellschaft des Problems angenommen, bei dem dies eher überrascht. Denn für Kinder wie Mehmed-Sali gibt es in der Ludwigshafener Kindertagesstätte Nord seit März dieses Jahres spezielle Hilfe: Mit Hilfe des Projektes „Sprache macht stark“ sollen sie einen besseren Start in das deutsche Bildungssystem haben, in Kleingruppen von maximal vier Kindern erhalten die Dreijährigen speziellen Sprachförderunterricht. Finanziert wird all dies von dem Ludwigshafener Chemieunternehmen BASF. Im Sommer 2007 soll es von jetzt fünf auf dann 18 Kitas ausgeweitet werden. „Sprache macht stark“ ist eines der Vorzeigeprojekte der Bildungsinitiative „Wissensfabrik“, einem Zusammenschluss von bundesweit 42 Firmen zur Förderung von Bildungschancen in Deutschland. Für rund 300 Projekte gibt die Initiative derzeit rund 25 Millionen Euro aus. Von Montag an sucht die Wissensfabrik mit dem bundesweiten Wettbewerb „Kids in Betrieb“ neue Ideen, bei denen sich Unternehmen in der frühkindlichen Bildung engagieren. Ihre Konzepte sollen prämiert und dann deutschlandweit übertragbar werden. So wie im Kindergarten in Ludwigshafen: Bei dem von der Universität Mannheim entwickelten Ansatz sind die Themen kindgerecht gestaltet, die Wörter drehen sich um Klei-

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dung, Anziehen, Waschen. „Ich war selbst überrascht, was die Unternehmen alles machen – es weiß nur keiner“, sagt die WissensfabrikVorsitzende Martina von Dreessen. Die Politik habe durchaus gesteigertes Interesse daran, dass sich die Wirtschaft engagiere. Und von Kooperationen profitieren schließlich beide Seiten: Die Schule vom Firmen-Know-how und das Unternehmen, weil die Mitarbeiter sich weiter entwickelten. (Vgl. http://www.welt.de/data/2006/11/05/1099415.html) Im ersten Fall handelt es sich um ein seit langem bestehendes Unternehmen, das seinen Bildungsbegriff – dem Namen entsprechend – aus der Berufsförderung zieht, sich also im Bereich der Anpassungsbildung bewegt. Im zweiten Fall besteht die Ausgangsidee daran, dass Verbesserungen im instrumentellen Umgang mit den heutigen Arbeits- und Freizeittechnologien die Menschen voranbringen. Nur im dritten Fall wird konsequent technik- und arbeitsunabhängig an den Defiziten angesetzt, weshalb Deutschland tatsächlich eine neue Bildungsoffensive braucht: es geht um die elementaren kulturellen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. (Vgl. Nölle/Pfriem 2006) Einer solchen Terminologie liegt ein durchaus starker Kulturbegriff zugrunde, stark in dem Sinne, dass diese Begriffe latent normative Implikationen haben und es sich nicht um austauschbare Sekundärtugenden handelt wie Disziplin und Gehorsam. Im Gegenteil werden die aktiven personalen Elemente akzentuiert. Als treffliches Beispiel sei der Zusammenhang von beruflicher Bildung und nachhaltigem Wirtschaften angeführt. Wilbers verweist darauf, dass die Berufsschule nach der seinerzeitigen Rahmenvereinbarung der Kulturministerkonferenz bereits am 15.03.91 die Aufgabe zuwiesen bekommen hat: „Die Berufsschule vermittelt eine berufliche Grund- und Fachbildung und erweitert die vorher erworbene allgemeine Bildung. Damit will sie zur Erfüllung der Aufgaben im Beruf sowie zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung befähigen.“ (2006) Der mit dieser Formulierung erhobene Anspruch lässt sich als angemessene Verknüpfung von Primär- und Sekundärtugenden definieren. Es scheint kein Zufall, dass hier der Begriff der Verantwortung genutzt wird. Dies führt uns zu einem spezifizierbaren unternehmensstrategischen Konzept von Verantwortung in der Marktwirtschaft. Strategischer

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Umgang mit Zukunft erfordert Atmosphären, in denen kulturelle Bildung gedeihen kann.

3 Kulturelle Bildung als möglicher Pfad von Lebensunternehmertum Dass wir unter den Bedingungen kapitalistischer Marktwirtschaften ernsthaft über kulturelle Bildung als unternehmenspolitische Aufgabe nachdenken könnten, stand dieser Gesellschaftsformation in ihren frühen Etappen keineswegs auf den Leib geschrieben. Karl Marxens Formel, in der Arbeit sei der Arbeiter außer sich und nur außerhalb der Arbeit bei sich, wurde bis weit ins 20. Jahrhundert auch von vielen derjenigen geteilt, die sich als durchaus erbitterte Gegner des Marxismus verstanden. Das Phänomen der entfremdeten Arbeit wurde auf breiter Front anerkannt, natürlich nicht nur kritisch, sondern auch abfällig-affirmativ wie bei dem heute als Person dafür geradezu noch paradigmatisch stehenden Frederic Taylor, der seinem Roheisenverlader andere als finanzielle Interessen an der Arbeit nicht zutrauen wollte. (Vgl. Taylor 1913) Die „Herrschaft der Mechanisierung“ (Gideon 1948) schien eine Verknüpfung von betrieblichen Arbeitsprozessen und kultureller Bildung für die breiten Bevölkerungsschichten sowohl unnötig als auch unmöglich zu machen. Über verschiedene Zwischenschritte der wissenschaftlichen Aufbereitung10 eingehend analysiert, haben sich die produktionstechnischen und -organisatorischen Verhältnisse in weiten Bereichen so verändert, dass der Taylorsche Roheisenverlader qualifikatorisch keine Chance der Beschäftigung mehr hätte. Auf der anderen Seite entstehen immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, die aus Gründen persönlicher Einkommenserfordernisse in großer Zahl auch von solchen Menschen besetzt werden, die dafür viel zu hoch qualifiziert sind. Sozialökonomisch ergibt sich insofern heute hinsichtlich der Arbeit erneut ein gespaltenes Bild, freilich wesentlich komplexer als in früheren transparenteren Branchenstrukturen der Wirtschaft. Gemessen an der Flexibilität heute stattfindender (stattfinden müssender) Berufsbiographien vermittelt sicher auch Robert Reichs Versuch, die „Jobs der Zukunft“ über die Dreiteilung in routinemäßige Produktionsdienste, kundenbezogene sowie symbolanalytische Dienste zu beschreiben, (vgl. Reich 1996, 191 ff.) ein zu star10

Besonders prominent Kern/Schumann (1984) sowie Piore/Sabel (1985).

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res und einfaches Bild. Der heutige wirtschaftliche Strukturwandel führt zur Erosion der überkommenen ökonomischen Organisationsformen und der Berechenbarkeit ihrer Wettbewerbsbedingungen.11 Dieser wirtschaftliche Strukturwandel mag in nicht wenigen Fällen ein neues bloß instrumentelles Verhältnis zur Arbeit konstituieren (Jobholder-Mentalität), aufgrund der Instabilität einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen ist allerdings einschließlich dieser Fälle anders als früher gefordert, mit seinem Leben selbst unternehmerisch umzugehen: Lebensunternehmertum. Solches Lebensunternehmertum kann sich auf das Erfordernis beziehen, für abhängige Beschäftigungen die notwendige Flexibilität und Vielfalt an persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten vorzuhalten, schließt aber ebenso die Perspektive ein, zu selbständig unternehmerischen Aktivitäten in der Lage zu sein. Auf jeden Fall üben die veränderten Verhältnisse Druck aus auf die Entwicklung jener Mentalität, die Schumpeter in seinem frühen Schaffen vor bald einem Jahrhundert als unternehmerische Mentalität auszeichnete, nämlich „Siegerwille“ und „Freude am Gestalten“ sowie „einen Kraftüberschuss, der, wie andre Felder der Betätigung, so auch das wirtschaftliche wählen kann … um des Änderns und Wagens und gerade der Schwierigkeiten willen … Als auch speziell Freude am Werk, an der Neuschöpfung als solcher. Sei das nun etwas Selbständiges oder ununterscheidbar von der Freude am Tun.“ (1997, 137 ff.) Diese Formulierungen sind seither immer wieder heftig kritisiert worden, nicht zuletzt von auf das Strukturelle oder Systemische einseitig fixierten Ökonomen und Soziologen wegen damit angeblich stattfindender Mystifizierung des Unternehmertums. Nun zeichnet sich die Geschichte der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert insgesamt dadurch aus, dass Verhaltens und Systemtheorien gegenüber Handlungsund Kulturtheorien eine unerfreuliche und unproduktive Dominanz gewonnen hatten.12 Wenn in der jüngsten Zeit wieder handlungs- und kulturtheoretische Zugänge mit interpretativen und hermeneutischen Methoden an Anerkennung gewinnen, so sollten wir uns im ökonomischen Kontext insbesondere um die theoretische Reflektion dessen bemühen, was denn das Unternehmerische als Handlungsfigur ausmacht.

11 12

Vgl. ausführlich das erste Kapitel von Fichter/Paech/Pfriem (2005). Vgl. dazu ausführlicher Pfriem (2000), 439 ff.

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Gesellschaftspolitisch fällt ein solcher Schritt sicher leichter, wenn die (seinerzeit sicher verständlichere, aber heute natürlich durchaus kritikfähige) Einseitigkeit Schumpeters überwunden wird, solche Mentalitätspotentiale auf die Gestalt des Unternehmers zu fokussieren. Diese Überwindung wird allerdings schon dadurch erleichtert, dass wir den Eigentümerunternehmungen der frühen Etappe kapitalistischer Marktwirtschaften längst entronnen sind und es inzwischen in wichtigen Teilen nicht nur mit einem Managerkapitalismus, sondern auch mit einem kapitalmarktgetriebenen Anlegerkapitalismus zu tun haben. (Vgl. Pfriem 2006a, 71 f.) Die heute verwendeten Begriffe Entrepreneurship, Intrapreneurship und Interpreneurship sind auch keineswegs mehr an die Rolle des formellen Unternehmers gebunden: im ersten Fall geht es gerade darum, solche Menschen erst zu Unternehmern zu machen, die noch keine sind, und im zweiten Fall geht es gerade umgekehrt darum, als abhängig Beschäftigter in einer Unternehmung das Unternehmertum nicht einseitig denjenigen zu überlassen, die die formelle Rolle des Unternehmers innehaben. Für das, was unter Lebensunternehmertum zu verstehen wäre, ergibt sich eine bemerkenswerte Mischung aus Befund und Vision. Es sei dazu die Formulierung in Erinnerung gerufen, mit der Christian Lutz diesen Begriff popularisierte: „In dieser zunehmend prozesshaften, sich aus Millionen von Einzelimpulsen herausdifferenzierenden Welt haben die vorgefertigten Lebensmuster, die starren Berufsbilder, die statischen Organigramme, die uniformen Kollektivverträge und natürlich auch die beamtenhaften Lebensstellungen ausgedient. Die Menschen sind immer weniger Rädchen in Organisationsmaschinen. Sie emanzipieren sich – den eigenen Bedürfnissen oder der Not gehorchend – von der Firma und werden selbst gewissermaßen ein Unternehmen der eigenen Arbeitskraft. Sie haben das Wesentliche bei sich: ihren Kopf und ihr Beziehungsnetzwerk. Sie suchen aus ihrer persönlichen Biographie heraus einen Lebenspfad, der ihren besonderen Stärken und Vorlieben entspricht.“ (1998, 118 f.) Den eigenen Bedürfnissen oder der Not gehorchend – diese Ambivalenz kann nicht gewichtig genug genommen werden. Die Kraft zur Entfaltung schöpferischer Fähigkeit ist voraussetzungsvoll. Dem egal warum wenig ausgebildeten und kulturell wenig gebildeten Arbeitslosen entgegen zu rufen „nun sei mal kreativ“ wäre blanker Zynismus. Richtig verstandenes Lebensunternehmertum ist aber das Gegenteil jenes Sozial-

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darwinismus, der mit alten Tellerwäschergeschichten daher kommt. Mindestens unter den heutigen Verhältnissen beschreiben also die Formulierungen von Christian Lutz eine Vision, der Not zu gehorchen ist bekanntlich eine arge Emanzipationsbeschränkung. Mit Blick auf die Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaften kommt ein weiteres, früher unterschätztes oder gar nicht gesehenes Problem hinzu. Als Freizeit = von Arbeit freie Zeit noch knapp war, war es üblich, in deren Ausweitung starke Hoffnungen zu setzen: außer der Arbeit sei der Arbeiter bei sich, glaubte nicht nur Karl Marx. Die Verwandlung der Gesellschaft in eine Erlebnis- und Freizeitgesellschaft ist aber ebenfalls ein ambivalentes Phänomen. Unter dem Druck der unternehmerischen und volkswirtschaftlichen Wachstumszwänge „hat sich der Kapitalismus von einem System der Produktion, das auf Sparen und Arbeit basierte, zu einem System des Konsums gewandelt, das Ausgeben und Verschwenden voraussetzt.“ (Bruckner 2002, 51) Auf diese Weise haben wir es außerhalb der beruflichen Arbeit längst zu tun mit einem harten kulturellen Kampf zwischen solchen Orientierungen, die Kreativität und Schöpfergeist anregen, also jenes über Unternehmer weit hinausgehende Unternehmertum, von dem wir gesprochen haben, und jenen kulturellen Strömungen, die erst recht Dumpfheit und Stupidität befördern, einschließlich der medialen Ausgeliefertheit gegenüber einer Eventokratie, die ihre Reputation bei näherem Hinsehen aus via Entertainment demonstrierter Bildungslosigkeit zieht. (Vgl. Pfriem 2006a, 190 f.) Es ist vermutlich die größte wirklichkeitswidrige Schwäche weiter Teile dessen, was heute als Ökonomik betrieben wird, sich mit der kulturellen Aufladung des Ökonomischen weiterhin nicht zu beschäftigen. Und den meisten hehren ethischen Reflektionen scheint es einfach zu schmutzig, sich mit den konkreten kulturellen Verhältnissen des wirklichen Lebens zu beschäftigen. Glasperlenspiele sind einfacher, wenn sie sich über den Staub verständigen, der in dem einen oder anderen Elfenbeinturm angefallen ist. Mangels gesellschaftskultureller Konkretheit gelingen vielen Theorien dann natürlich auch keine Zugänge dazu, das Künstlerische und wirklich Kreative am von uns umschriebenen Unternehmerischen zu untersuchen. Es lebt von der Fähigkeit, sich auf Anderes zu beziehen und insofern Neues zu schaffen. Das ist alles andere als ein trivialer Satz. Die Entwicklung der gegenwärtigen Weltgesellschaft ließe sich nämlich ohne

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weiteres über den Gesichtspunkt brauchbar analysieren, dass immer mehr gesellschaftlicher und persönlicher, politischer und ökonomischer Aufwand getrieben wird für zwei Felder, die eigentlich jenseits eines wohlverstandenen Begriffs von Produktivität (produktiver Arbeit oder schöpferischem Unternehmertum) liegen: Reparatur und Therapie. Die Gesellschaft, so sei hier für weitere kulturtheoretische Analysen annonciert, scheint einen Lauf zu nehmen, bei dem die Beschäftigung mit den Schäden, die man angerichtet hat, und mit der eigenen Befindlichkeit – individuell wie kollektiv – dermaßen überhand nimmt, dass die Frage nach wirklich kreativen Leistungen der Gesellschaft gleichsam als sinnvoll abhanden kommen könnte, weil sie nur noch als rhetorische Farce weiterexistiert. In Erinnerung an Ernst Blochs Ontologie des Noch-nicht hat der Philosoph Johann Kreuzer sehr schön formuliert: „Kreativität ist kein nachrangiges oder bloß abzuleitendes Phänomen. Sie lebt von der Erinnerung dessen, was noch nicht ist: Sie macht es erinnerungsfähig.“ (2006, 416) Das stimmt. Und es kommt zum Leben unter der Bedingung bestimmter kultureller Kompetenzen und bestimmter kultureller Atmosphären.

4 Die Rolle kultureller Kompetenzen für die weitere gesellschaftliche Entwicklung Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse haben wir bereits beleuchtet, dass es offenkundig in den frühindustrialisierten Ländern zu neuen Spaltungen kommt, die aber mit früheren sozialen Klassenverhältnissen analytisch nicht mehr gleichgesetzt werden können. Eine der wichtigen Folgerungen daraus lautet, dass überkommene Gerechtigkeitsstrategien nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die Finanzierungsprobleme des Sozialstaats, die sich in Verbindung mit dem demographischen Wandel solcher Länder wie Deutschland zeigen, liefern deutliche Hinweise darauf, dass sich die alten Kompensationswege erschöpft haben. Materielle Wohlstandsdifferenzen nehmen fast überall zu, und es zeigen sich bemerkenswerte kulturelle Verschiebungen gegenüber einer vorherigen politischen Kultur der Angleichung dieser Differenzen, dass es wieder schicker geworden ist, eigenen Reichtum zur Schau zu stellen.

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Dennoch wird an den traditionellen Strategien für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung festgehalten. Für die Beschäftigung bleibt das im Ergebnis auf einer eher rhetorischen Ebene, das Bemühen, jetzt erst recht wieder oder erstmals Wirtschaftswachstum zu forcieren, hat allerdings dort, wo damit besonders Ernst gemacht wird, katastrophale Folgen, wie an den Politiken der USA, Russlands, Chinas und Indien gesehen werden kann, wo trotz beschleunigten Klimawandels die negativen ökologischen Effekte einer solchen Strategie planvoll ignoriert werden. Dass diese Effekte aufgrund der Globalität ökologischer Zusammenhänge nicht nur bei den Verursachern anfallen, sondern gerade auch dort, wo versucht wird, andere Wege zu gehen, ist gravierend, für unsere Argumentation hier steht das aber nicht im Vordergrund. Von größerer Bedeutung ist hier, dass auch in den west- und mitteleuropäischen Ländern, darunter Deutschland, der Entwicklung von kulturellen Kompetenzen im Rahmen von Gerechtigkeitsstrategien nach wie vor keine Bedeutung geschenkt wird, weil trotz relativ maßvollerer Politik in ökologischer Hinsicht das wachstumsorientierte und konsumistische Modell des sozialen Ausgleichs in Theorie und vor allem Praxis weiter dominant bleibt. Für den hier gegebenen wissenschaftlichen Zusammenhang der Frage nach kulturellen Kompetenzen und ihrer möglichen Rolle bei der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung sind insofern alle Bemühungen relevant, die in Kritik von an der Ausstattung mit materiellen Gütern kleben bleibenden Ansätzen gerechtigkeitstheoretische Wege zu gehen versuchen, in denen Fähigkeiten bzw. Kompetenzen plötzlich ins Zentrum rücken. Einen solchen Weg hat Amartya Sen bereits vor einem Vierteljahrhundert vorgeschlagen, woran in einer sehr hilfreichen Arbeit kürzlich Jan-Hendrik Heinrichs erinnert hat (2006). „Der Capability Approach wurde von Amartya Sen 1979 in seiner Tanner-Lecture ‚Equality of what?‘ vorgetragen und 1980 publiziert.“ (Ebd., 169) Die Pointe von Sens Zugang besteht nun darin, an den Grundbedürfnissen so anzusetzen, dass daraus nicht ein passiv konsumierender Zuschnitt von Verteilungsgerechtigkeit resultiert, sondern Bedürfnisse über grundlegende Befähigungen (basic capabilities) beschreibbar gemacht werden können. Allerdings legt Sen im weiteren klar, dass es nicht ausschließlich um die eigenen Bemühungen gehen kann, wenn er definiert: „a person’s ability to do valuable acts or reach valuable states of being.“ (1993, 30)

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Heinrichs spricht sich plausibel für die deutsche Übersetzung „Befähigungen“ aus, weil diese sowohl Anlagen wie auch Möglichkeiten, natürliche wie gesellschaftlich-kulturelle Gegebenheiten umfassten. Wir verwenden unseren Begriff der Kompetenzen in derselben Weise. Uns ist dabei wichtig, dass Kompetenzen und Fähigkeiten auf Erfahrungen gründen und eben dadurch keinerlei zufälligen Charakter haben, sondern mit Lernen assoziiert werden können: „Solches Lernen wäre gleichermaßen für die Erkenntnis der kulturellen Herstellbarkeit Authentizität beanspruchender Naturreproduktion exemplarisch wie für das durch solche Situationen evozierbare leibliche Betroffensein. Damit tauchen Umrisse sinnlicher Erfahrung auf, die sinnlich konkret Erlebtes in der dialektischen Spannung von leiblichen Ereignissen hier und gesellschaftlich Gemachtem dort einem mehrdimensionalen Raum der Erfahrung öffnen.“ (Hasse 2003, 401) Heinrichs argumentiert in diesem Sinne für einen Begriff positiver Freiheit: „Dieses Modell versteht unter Freiheit die tatsächlichen Möglichkeiten von Personen, für wertvoll erachtete Funktionen auszuüben und Zustände zu erreichen. Das bereits von Hume einer sehr treffenden Kritik unterzogene lockesche Modell negativer Freiheit hat sich in der liberalistischen Strömung der politischen Philosophie durchgesetzt. Dieses Modell ist aber insofern unvollständig, als es die Bedingungen der Ausübung von Freiheit aus den Augen verliert. Negative Freiheit kann nur dann einen Wert für den Menschen darstellen, wenn sie von ihren Optionsräumen auch Gebrauch machen können. Diese Fähigkeit ist es, die der Begriff der positiven Freiheit beschreibt.“ (2006, 202) Mit unserem Begriff der Kompetenzen wollen wir einen besonderen Akzent auf die Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit der ‚capabilities‘ legen. Etwas irreführend definiert Heinrichs an einer Stelle Befähigungen „als die Verbindung von natürlichen Dispositionen und gesellschaftlichen Möglichkeiten“ (Ebd., 174). An anderer Stelle heißt es freilich klärend: „Es sind die Teilnehmer kultureller Selbstverständigungen, nicht aber kulturfremde Beobachter, die ihre Perspektive in den interkulturellen Diskurs einbringen. Die Bewertung der jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen hat aus der Perspektive der kulturell eingebetteten, aber zugleich aufgeklärt zustimmungs- und ablehnungsfähigen Individuen zu geschehen.“ (Ebd., 202) Die Fokussierung auf Zustimmungs- und Ablehnungsfähigkeit zeichnet allerdings ein zu enges Bild der tätigen Individuen. Die Unmittelbar-

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keit einer gegebenen Situation, in der wir stets operieren (vgl. Valera 1994, 16), ist immer auch sinnlich verfasst, nicht allein kognitiv. Die kulturellen Kompetenzen, von denen wir sprechen, sind deshalb weit davon entfernt, auf die kognitive Dimension reduziert werden zu können. Die kulturellen Prägungen, die natürlich und in verschiedener Hinsicht sozialisationsbedingt in sie eingehen, sind nicht nur gedankliche, sondern auch leibhaftige. Und die eigenen Anstrengungen, sich im Sinne der Entwicklung von Kompetenzen zu bewegen, sind ebenfalls auf das Feld des leibhaftig Sinnlichen ebenso angewiesen wir auf das der gedanklichen Reflektion. „Im Mittelpunkt dieser neuen Sichtweise steht die Überzeugung, dass die eigentlichen Wissenseinheiten primär in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form vorliegen, dass Wissen etwas mit Situiertheit zu tun hat und seine Kontextgebundenheit kein ‚Störfaktor‘ ist, der das lichte Muster seines wahren Wesens, das man sich als eine abstrakte Konfiguration vorstellt, verdunkelt.“ (Ebd., 13 f.) Gerade in dieser sinnenhaften Fassung verstandene kulturelle Kompetenzen entwickeln sich nicht im luftleeren Raum. Kompetenzentwicklungen dürfen ja auch nicht als bloß linearer Prozess vorgestellt werden, sondern treten im Wechselspiel mit gesellschaftlichen Entwicklungen oft auch als Innovationen auf, und Innovationen markieren gerade den Bruch mit bestehenden Regeln, erscheinen also mindestens eine Zeitlang als oppositionell. Im evolutorischen Sinn handelt es sich bei Kompetenzentwicklung also einerseits um Anpassungsprozesse, andererseits aber gerade auch um die Entfaltung von Strategien, die zum Verhalten anderer einen Unterschied machen. So weit verbleiben wir auf der individualistischen Betrachtungsebene, die Heinrichs in verbreiteter philosophischer Manier verfolgt hatte. Der Anspruch unseres kulturalistischen Herangehens und der mit diesem Text verfolgten Themenstellung besteht nun aber gerade darin, das Problem der Beziehung zwischen Organisationen und Individuen zugänglich zu machen, präziser: der Frage nach der Möglichkeit von (Unternehmens-) Organisationen nachzugehen, etwas zur kulturellen Kompetenzentwicklung ihrer Organisationsmitglieder beizutragen. Die Sache wird also noch komplizierter. Eingebettet in den Bezugsrahmen von Verantwortung in der Marktwirtschaft sprechen wir also von den Bedingungen der Möglichkeit, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen bei der Entwicklung kultureller Kompetenzen behilflich zu sein. Zum näheren Verständnis scheint es

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sinnvoll, das, was wir weiter oben Atmosphären, in denen kulturelle Bildung gedeihen kann, genannt haben, an das anzuschließen, was der soziologische Neo-Institutionalismus unter organisationalen Feldern versteht. Danach ist die gesellschaftliche Wirklichkeit mittels kognitiver Landkarten oder Skripten konstruiert.13 Meyer und Rowan („Organizations“) sprechen von den Legitimitätsanforderungen organisationaler Umwelten, die durch Organisationen zeremoniell inkorporiert werden. Das von uns eingangs angeführte traditionelle unternehmerische Selbstverständnis kann sich, so der weitere Begriff bei Meyer und Rowan, zweifellos auf ein organisationales Feld stützen, das die Unternehmen von der Aufgabe der kulturellen Bildung ihrer Organisationsmitglieder prinzipiell entlastet sieht. Wenn die dafür traditionell eigentlich zuständigen gesellschaftlichen Institutionen allerdings zum Teil erodieren (Familien, trotz aller Restabilisierungstendenzen), in ihrer Aufgabe versagen (z. T. die schulischen Ausbildungsinstitutionen) oder aber fundamentale neue Probleme hinzukommen (Migrationskulturen), dann stellt sich im durch die Globalisierung sowieso veränderten gesellschaftlichen Akteursgefüge die Frage neu, ob nicht Unternehmen hier eine aktive Rolle zu spielen hätten und wie diese aussehen könnte.

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Vgl. zum folgenden auch Beschorner (2004).

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