Untervazer Burgenverein Untervaz

Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz

1978

Madeira Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.

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Madeira Bündner Kalender 1980. Seite 84-92.

Hans Plattner

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S. 84:

Auf der Landkarte ist Madeira ein winziges Pünktchen weit im Atlantischen Ozean draussen. Was aber sagen Reiseführer und Prospekte darüber? Madeira das ist eine Trauminsel aus der Südsee, die wie durch ein Wunder in den Atlantischen Ozean versetzt wurde. Das Klima Madeiras zählt zu den besten, die unsere Erde zu bieten hat. Die Pracht der Gärten ist schlechthin überwältigend.» So verführerisch und verlockend schreiben alle Reiseführer über Madeira. Ein grosser Unterschied besteht allerdings zwischen den Südsee Inseln und der Insel Madeira. Die Inseln im Pazifischen Ozean wie die in der Karibik haben eine alteingesessene, dunkelhäutige Bevölkerung, während Madeira erst im 15. Jahrhundert von Weissen besiedelt wurde.

-4Viele Rassen haben sich im Laufe der Jahrhunderte gemischt, dunkle und blonde, geblieben ist die weisse portugiesische Bevölkerung. Ob Madeira schon den Phöniziern und Wikingern bekannt war, hat die Geschichte nicht festgehalten. Sicher aber ist, dass der portugiesische Seefahrer Zarco, nachdem er 1418 bereits die Madeira vorgelagerte Insel Porto Santo betreten hatte, ein Jahr später, also 1419, mit seinen Kolonisten den Fuss auf Madeira setzte und die Insel für die portugiesische Krone in Besitz nahm. Das Expeditionscorps betrat ein unbewohntes, wild zerrissenes, mit Wäldern bedecktes Gebirgsland. Man fand frisches Quellwasser und Holz in Hülle und Fülle. Um Ackerland zu gewinnen, setzten die ersten Siedler die Wälder in Brand. Sie sollen dabei die Kontrolle über den Brand verloren haben; nach der Legende brannte die Insel sieben Jahre Zarco regierte während vierzig Jahren in der heutigen Hauptstadt Funchal. Eine grosse Statue in der Stadt erinnert an den Entdecker und Besiedler Madeiras. Wenige Jahre nach dem grossen Brand hatten fleissige Kolonisten aus Lavastaub und Brandasche gemischte Erde zu ertragreichem Boden umgewandelt. Der fruchtbare vulkanische Boden, der ewig heitere Himmel und ein kluges Bewässerungssystem, ähnlich den «Bisses» im Wallis, wobei Leitungen den Felsen entlang und durch Tunnels gebaut wurden, sorgten für ein paradiesisches Wachstum. Aus Italien hatte man Zuckerrohr eingeführt, das im fetten Boden und tropischer Wärme reiche Ernte einbrachte. Da Zucker damals in Europa gefragt war, wurde Madeira für Portugal zu einer einträglichen Kolonie. Aus Kreta bezog man die Weinrebe. Heute ist Madeira für seine Weine weltbekannt. Wer hätte nicht schon vom herrlichen Malvasier gehört! Im 16. Jahrhundert, als Philipp II. aus Spanien daran war, Europa zu erobern, geriet auch Portugal und mit ihm Madeira unter spanische Herrschaft. An diese Zeit erinnert eine alte Festung oberhalb Funchal. Einen heute noch nachwirkenden Einfluss auf die Insel hatte die britische Besetzung in den Jahren 1801 und 1807 bis 1814, als eine britische Besetzungsmacht Madeira gegen Napoleons Expansionsgelüste verteidigte. England blieb seitdem in enger Verbindung mit Madeira. Reiche Engländer liessen sich dort nieder, bauten Privatvillen

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und Hotels. Sie erschlossen Madeira dem Tourismus. Heute noch bilden Engländer das Hauptkontingent seiner Besucher. * 24. September :1978. Um drei Uhr nachmittags hebt sich die portugiesische Maschine vom Rollfeld in Kloten ab zum Flug nach Madeira. Herrliches Herbstwetter gibt den Blick frei auf unser topographisch so interessantes Ländchen. Viel Grün, Seen, Flüsse, Hügelketten, dunkle Wälder, Ortschaft an Ortschaft und in der Ferne die schneebedeckten Walliser- und Berneralpen. Genf. Ein halbstündiger Aufenthalt. Noch ist die Sicht frei auf den See, die Stadt und das stolze Panorama des Mont Blanc. Über Frankreich nehmen uns Wolkenbänke die Sicht. Ob die im Bummelstreik sich befindenden Fluglotsen da unten uns in Ruhe lassen? Spanien Portugal Lissabon. Es dunkelt. Der obligate halbstündige Aufenthalt. Wir sitzen wieder dicht gedrängt im Flugzeug. Der Motor rollt, rollt. Die Maschine rührt sich aber nicht. Erstaunte, fragende Blicke. Ungeduldige erheben sich von ihren Sitzen, wandern durch den Gang, wenden sich an das Personal. Warum fliegen wir nicht? Niemand gibt Bescheid. Die Antwort ist leicht: Der Bummelstreik der französischen Fluglotsen hat uns erwischt und hält uns jetzt in Lissabon fest. Wie lange? Das ist die bange Frage. Die Nacht ist eingebrochen. Aus den Gucklöchern bestaunen wir das Lichtermeer Portugals Hauptstadt. Autos fahren auf dem Rollfeld hin und her. Schwül liegt die Stimmung im engen Raum. Die Luftdüsen werden auf Zug eingestellt. Und plötzlich sind sie da, die düsteren Bilder, die vielleicht da und dort vor dem Abflug nach Madeira die Vorfreude etwas gedämpft hatten, die Erinnerung an die zwei Flugzeugkatastrophen vor und auf dem Flugplatz in Funchal, den Absturz einer Swissair Maschine kurz vor der Landung und die Katastrophe der portugiesischen Maschine, die auf dem Flugplatz zerschellte und über die Piste hinaus in eine Bananenplantage raste. Die beängstigend kurze Piste des Flughafens von Madeira gilt als gefährlich. Es ist begreiflich, dass Piloten sie mit gemischten Gefühlen anfliegen, besonders bei Nacht und ungünstigen Witterungsverhältnissen. Madeira hatte keine flache Stelle, die sich zum Bau einer Flugpiste eignete. Man musste eine künstliche bauen, indem ein sanfter Berghang angeschnitten und eine Terrasse für den Flugplatz aufgebaut wurde.

-6So liegt die Piste heute auf einer erhöhten Terrasse frei im Raum mit beidseitig abfallenden Böschungen. Dazu ist sie kurz, nur 1400 Meter. So muss der anfliegende Pilot, gleich einem landenden Vogel, auf das Flugfeld niedergehen. Er darf weder zu früh noch zu spät landen und muss das Bremswerk in Bewegung setzen, um nicht über die Piste hinaus ins Leere zu sausen. Die Wartezeit wird bei solchen Gedanken unerträglich. Wie wird es wohl dem Piloten vorne im Cockpit zu Mute sein? Er weiss, dass jetzt seine junge Frau auf ihn wartet. Er ist verantwortlich für eine Maschine voll Menschen, die ungeduldig auf den Abflug warten. Wahrscheinlich wird auch er sich der zwei Unglücke erinnern. Er hat den Kameraden der verunglückten portugiesischen Maschine gekannt. Endlich, nach einstündiger Wartezeit kommt Leben in die Maschine. Sie bewegt sich, rollt, immer schneller dem Meer entgegen, hinaus in die dunkle Nacht über dem Atlantischen Ozean. Das Grübeln will kein Ende nehmen, und die Gespräche sind längst verstummt. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Es ist, als ob man eine kurze Bilanz seines Lebens zöge. Tief unten liegt der Ozean. Kilometer um Kilometer rast die Maschine durch die dunkle Nacht. Die Zeit kriecht einer Schnecke gleich ihren unaufhaltbaren Gang. Endlich tauchen die Lichter der Insel auf. «Gürtel anschnallen», warnt das Lämpchen zu Häupten. Mechanisch gehorcht man dem stummen Befehl. Man spürt, wie die Maschine zum Tiefflug ansetzt. Noch eine, zwei Minuten, vielleicht auch nur Sekunden. Ein harter Aufschlag, ein knirschendes Bremsen. Die Maschine steht still auf Madeiras Flugplatz Funchal. Die Reisenden nehmen gerne die dreiviertelstündige Fahrt mit dem Taxi ins Hotel in Kauf nach der glücklichen Landung. * Funchal. Madeiras Hauptstadt zählt rund 100 000 Einwohner, ein Drittel der ganzen Inselbevölkerung. Sie liegt in einer Bucht, die wie für einen Hafen vorausbestimmt schien. Eine ins Meer hinausgebaute Mole hat aus S. 86:

Funchal einen beliebten Anlegehafen für die im Atlantischen Ozean kreuzenden Dampfer gemacht. Es ist eine Augenweide zu beobachten, wie Hafenschlepper die Ozeanriesen in den Hafen hereinbugsieren.

-7Frachter aus aller Herren Ländern legen gerne im Hafen von Funchal eine Verschnaufpause ein auf ihrem langen Weg. Eine Hafenrundfahrt bietet Interessantes. Eines Tages lagen zwei französische Unterseeboote im Innern Hafen an der Quaimauer. Wie zwei riesige, schlafende Walfische lagen die grau getönten Ungeheuer da. Offiziere und Matrosen benutzten den kurzen Aufenthalt, um der Stadt einen Besuch abzustatten, um Einkäufe zu machen. Ein junger Matrose gab gerne Auskunft. Er stamme aus der Bretagne und mache einen Dienst von fünfzehn Jahren. Von Angst unter Wasser keine Spur! «Requir» heisse sein Boot. Das heisst auf deutsch Hai. Es sind in der Tat Haie! Die Unterseeboote der Deutschen griffen im letzten Weltkrieg alliierte Schiffe im Hafen von Funchal an und beschädigten sie schwer. Wir sind im Bereich der atlantischen Natoflotte, die auf den weiter westlich gelegenen Azoren den bedeutendsten Stützpunkt im Atlantik haben. Es ist kein Geheimnis, dass russische Unterseeboote bis an die Ostküste Amerikas vorstossen. Funchal ist der politische und wirtschaftliche Knotenpunkt Madeiras. Hier hat der Gouverneur seinen Sitz. Hier werden tonnenweise Bananen in alle Welt verschifft. Hier ist der Hauptumschlagsplatz der berühmten Madeira Weine. Hier verstopfen Einheimische und Fremde, Autos und Eselfuhrwerke die engen, zu beiden Seiten mit Autos besetzten Strassen. Auf dem Marktplatz werden Gemüse, Obst und die wunderbaren tropischen Blumen Madeiras angeboten. Das Meer liefert Fische jeder Art. Der am meisten gefangene und gegessene Fisch ist der Speerfisch (Espada). Mitten im Getümmel kann es einem begegnen, dass man auf ein seltsames Gefährt stösst, das den ohnehin schon verstopften Verkehrsweg noch mehr behindert. Zwei in Weiss gekleidete Männer führen einen mit zwei Ochsen bespannten Karren, einen zu einer Ochsenkutsche auf Holzkufen umgebauten Wagen, der früher für schwere Lasten, besonders für den Transport von Weinfässern benützt wurde. Der Schlitten, der sich auf den flachen, glitschigen Steinplättchen mit Leichtigkeit bewegt, ist zu einer Attraktion für Touristen geworden. Gerne lässt man sich darin in der Stadt herumführen. Zeit genug, um Fremdländisches, herrliche Parks mit den seltsamsten Blumen zu bewundern. Dass es an Fischen nicht fehlt auf dem Fischmarkt, muss nicht besonders betont werden. Es gibt einzelne Fischerdörfer, die nur vom Fang von Fischen leben. Der meist gefangene Fisch ist wie gesagt der Speerfisch.

-8Daneben werden auch Thun- und Schwertfische auf den Markt gebracht. An den sanft hinter Funchal ansteigenden Hängen haben sich weisse, mit roten Ziegeln gedeckte Häuser mitten im tropischen Grün, in Bananenplantagen und Weinbergen angesiedelt. Ein Bild der Schönheit und des Friedens! Leider vermag dieses Bild des scheinbaren Reichtums und des Friedens nicht über die Armut der Insel und des grösseren Mutterlandes hinwegzutäuschen, um so mehr als vom Flüchtlingsstrom aus den afrikanischen Kolonien Spritzer auf Madeira landeten. Madeira lebt von der Landwirtschaft, unendlich kleinen Betrieben, von Korb- und Strohflechterei, von Stickerei als Heimarbeit und Anstellung in Fabriken. 70'000 Frauen seien in diesem Beruf als Heimarbeiterinnen oder als Fabrikangestellte beschäftigt. Eingeführt wurde diese Stickerei im 19. Jahrhundert durch eine Engländerin. Bananen, Zucker, Wein bringen Geld. Die Einkünfte fliessen wohl kaum in die Taschen der armen Bevölkerung. Ein einträgliches Geschäft könnte wahrscheinlich der Fremdenverkehr werden, wenn einmal der zu kleine Flughafen für Grossraummaschinen ausgebaut wird. Für reiche, winterflüchtige Engländer war Madeira schon seit dem frühen 19. Jahrhundert ein klimatisches Paradies. Man liess sich auf der Insel nieder, man baute Luxusvillen und Sanatorien für Lungenkranke, errichtete auf den steil gegen das Meer abfallenden Vulkanriffen erstklassige Hotels. Der Bau von Luxushotels westlich von Funchal war eingeleitet. Es folgten in jüngster Zeit Amerikaner und Deutsche. Mit deutschem und portugiesischem Kapital wurde in allerneuster Zeit ein Ungetüm von Hotel auf Betonpfeilern erstellt. Anlagen mit tropischen Bäumen und Pflanzen, ein ganzer Park an schönster Lage auf dem Kliff vor dem Meer mussten dem die ganze Gegend verunzierenden Bau weichen. S. 87:

Diese in bevorzugter Lage stehenden Häuser haben ihre Swimmingpools unten am Meer. Madeira hat keinen Sandstrand. Überall der Küste entlang liegen vom Meer rund geschliffene Lavablöcke oder von der Brandung im Laufe der Millionenjahre zerschlagenes Kleingestein. Daher die mit Salzwasser, teilweise geheizten künstlichen Strandbäder, die nur durch einen Lift von den Hotels aus erreichbar sind.

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Die Verarbeitung von Weidenruten hier bei Camacha ist ausschliesslich eine Heimindustrie. Madeira tut für die Fremden, was es kann. In den Hotels gibt es FolkloreAbende, das Jahr hindurch fröhliche Feste. Den Höhepunkt bildet aber der Silvesterabend mit Tanz und Feuerwerk. Die Winterkreuzfahrten sind so eingerichtet, dass die Schiffe am Silvester in Funchal vor Anker gehen. Der Blick vom Meer und vom Hafen muss überwältigend sein, wenn Funchal und die Berge ringsherum in einem fantastischen Feuerwerk aufleuchten, die Glocken läuten und die Schiffe im Hafen ihre Sirenen betätigen. Um diese Zeit sind die Hotels ausverkauft. Wieder sind es vornehmlich die Engländer, die Madeira ihre Anhänglichkeit beweisen. *

- 10 Berühmte Männer. Wir erinnern uns an die Statue des Mannes, der 1419 als Erster mit seinen Kolonisten den Fuss auf Madeira setzte und die Insel für die portugiesische Krone in Besitz nahm, an den Gouverneur Zarco. Ein zweiter berühmter portugiesischer Seefahrer lebte für einige Zeit auf Porto Santo, ehe er Madeira betrat. Fünfzehn Jahre vor der Entdeckung Amerikas (1492) kam Kolumbus als Passagier auf einem Handelsschiff nach Madeira. Auf Porto Santo hatte er die Tochter des Gouverneurs kennen gelernt und geheiratet. 1815 auf seiner Fahrt in die Verbannung auf die Insel St. Helena warf das Schiff mit Napoleon Anker vor Funchal, um Vorräte an Bord zu nehmen. Der einzige Besucher, der an Bord gelassen wurde, war der britische Konsul. Er brachte Napoleon Madeira Wein. Nach seiner Verbannung aus Österreich verbrachte König Karl I. die letzten Monate seines Exils mit seiner Gattin Zita, die heute im Stift in Zizers lebt, auf Madeira. Er starb 1922, erst 35-jährig, und wurde in der Kirche «Unserer lieben Frau vom Berg» im romantischen Städtchen Monte oberhalb Funchal beerdigt. Man hat ihm einen wunderbaren Platz zur letzten Ruhe ausgewählt, mitten im Grün einer üppigen Vegetation mit Blick auf die Stadt und das Meer. Im 19. Jahrhundert hatte man herausgefunden, dass sich Monte durch seine saubere Bergluft und Ruhe ausgezeichnet für Lungenkranke eignete. Es entstanden Privatvillen und Sanatorien. Heute hat es seinen Glanz als Station für Kranke verloren, wenn auch viele Besucher nach Monte pilgern, um in der linken Seitenkapelle der Kirche das Grab Karls I. zu bestaunen. Man hat für eine andere Attraktion gesorgt: Auf einer steilen, gepflästerten Bahn können Fremde in gepolsterten Korbstühlen, von zwei weiss gekleideten Männern geleitet, den Hang von Monte nach Funchal hinuntersausen. S. 88:

Auch aus jüngster Zeit kennt man bekannte Leute, die teils freiwillig als Gast, teils gezwungenermassen Madeira besuchten. Als gern gesehener Gast weilte Churchill auf Madeira. Ihn reizten die abgelegenen Fischerdörfer zum Malen. Auf einem Ausflug gelangten wir in das neun Kilometer von Funchal gelegene, romantisch angelegte Fischerdorf auf einem Lavakliff, wo Churchill unter dem Fischervolk und der reizenden Umgebung seine Malobjekte fand.

- 11 Kaum hatte der Chauffeur die Türe geöffnet, als sich uns dreckige, bettelnde Bubenhände entgegenstreckten. Der Chauffeur, offenbar an solche Empfänge gewöhnt, verjagte die halbwüchsigen Burschen. Es wird in Madeira gebettelt, auf der Strasse und in Funchal vor der Kathedrale. Unser Fischerdorf liegt auf einer Vulkankuppe hoch über dem Meer. Wir traten an das Geländer, von wo man auf das Meer und den Strand zu Füssen hinunterblickt. In der Tiefe auf dem Strand, hart an den steil abfallenden Felsen, wuschen Frauen in einem langen Trog ihre Wäsche. Sauberes Wasser wird vom Berg in Röhren, dem Felsen entlang, herbeigeführt. Zum Trocknen wird die Wäsche einfach auf die Strandsteine gelegt. An unserem Standort roch es nicht nach Rosen. Die Leute werfen den Unrat einfach über die Felsen in die Tiefe. Dabei bleiben Resten an den Stauden im Felsen hangen, bis sie der Wind verweht. Berühmte Ankömmlinge in Madeira, allerdings nicht freiwilliger Art, der jungen Vergangenheit waren Staatspräsident Tomas und sein Ministerpräsident Caetano, die nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 1974 auf ihrer Fahrt ins Exil nach Brasilien auf der Durchfahrt vorübergehend in der Festung oberhalb Funchal interniert wurden. * Madeira ist vulkanischen Ursprungs. Einst wurde es bei einer apokalyptischen Eruption aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche geschleudert. Die glühende Lava erstarrte zu einem wild zerklüfteten Gebirgsland. Ursprünglich also eine trostlose, kahle Lavalandschaft, hat sich die Insel im Laufe der Jahrhunderte in das eingangs erwähnte Traumland Madeira verwandelt. Die riesigen Waldungen haben Kulturland Platz gemacht. Die günstige Lage mitten im Golfstrom und im Bereich der heissen afrikanischen Winde haben Madeira ein Vorzugsklima mit ausgeglichenen Temperaturen, ohne übermassige Hitze und ohne Winter beschert. Ein fleissiges Volk hat aus Madeira ein fruchtbares Land geschaffen, ein Land mit riesigen Bananenplantagen. Zuckerrohr- und Rebenbeständen, mit einer zauberhaften Blumenwelt. Da flaches Land fehlte, wurden die Hänge terrassiert und so Boden für die üppigen Kulturen geschaffen. Der aus Lavastaub und Holzasche gemischte Humus und die subtropische Wärme sind die Garanten für eine überaus reiche Vegetation.

- 12 Vom Balkon unseres Zimmers geht der Blick auf den hoteleigenen Park zu Füssen, wo es so ziemlich alles hat, was Madeira an Baum- und Blumenpracht zu bieten hat. Da sind riesige Bäume, überzogen mit einer Wolke von rosaroten Blüten, Sträucher, verborgen unter topasbraunem Blumenflor. Dazwischen grüssen purpurrote oder milchweisse Hibiskusblüten zu uns herauf. Wenn wir in den Park hinuntersteigen, stehen wir vor einem von uns noch nie gesehenen Blumenwunder, der Strelitzia, der meist gezüchteten, meist verkauften und von den Abreisenden in mächtigen Schachteln oder in Plastikhüllen mitgeschleppten Blume Madeiras. Auf hohem, hellgrünem festen Stengel sitzt ein vogelähnliches Gebilde. Aus dem Körper stechen drei bis fünf 10 bis 15 cm lange orange und gelbe, in grüne Hüllen verpackte Flügel. Das Ganze hat tatsächlich das Aussehen eines Vogels, daher der Name Paradiesvogelblume. Der Name Strelitzia stammt von der norddeutschen Adeligen Charlotte Sophie von Mecklenburg Strelitz. Vergessen wir aber neben diesem Prachtsexemplar von Blume den oft zwei Meter hohen Weihnachtsstern und die blauen und rosaroten Hortensien nicht, die die Strassen Madeiras kilometerweit in dichten Reihen säumen. Von der Hotelterrasse aus können wir die zwei Madeira vorgelagerten und unter Wasser mit Felsenriffen verbundenen kahlen, unbewohnten Inseln von Desertas und Selvagens sehen. Eine seltsame optische Täuschung will, dass man diese Inseln nur bei bedecktem Himmel oder dunstigem Wetter sieht, bei klarer Witterung aber nicht. Nicht minder eindrucksvoll ist der Blick vom Hotelbalkon zur Nachtzeit. Funchals Lichter füllen die Bucht und die anliegenden Berghänge weit hinauf. Im Hafen und vor dem Hafen S. 89:

liegen hell erleuchtete Überseedampfer, und weit draussen im Meer blinken die ersten Lichter der Fischerboote auf. Zu Füssen der Terrasse liegt das dunkle Meer. Es ist, als hörte man sein Atmen, leise, einschläfernd, dann stärker werdend mit der her anrollenden Brandung, und dann ein zornig donnerndes Getöse, wenn die Brandung an den Wellenbrechern, riesigen, rund geschliffenen Lavablöcken, zerschellt und in sich zusammenbricht. Hier ist die Ewigkeit am Werk. *

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Diese Schwimmbecken bei Porto do Moniz sind natürlichen Ursprungs und mit Meerwasser gefüllt.

- 14 Zu viert mieten wir ein Taxi - Taxi sind billig - in Madeira für eine Rundfahrt um etwas von dieser durch Menschen fruchtbar gemachten Lavainsel kennen zu lernen. Der Strasse entlang stehen sie, die fertigen und im Bau begriffenen neuen Hotelkästen mit stolzen Namen. Dann zweigen wir von der Strasse dem Meer entlang ab und gewinnen in unzähligen Windungen Höhe und freien Blick auf die Küste und das Meer. Wir sind im Gebiet der Bananenplantagen. So weit das Auge reicht, dem Berghang entlang, in Mulden, auf Hügeln ein geschlossenes Dach von Bananenblättern. Die Stauden stehen so eng zusammen, dass man ein Fortkommen zwischen einzelnen Pflanzen für unmöglich halten könnte. Die Haupternte ist vorbei. Immerhin begegnen wir auf der Strasse noch Männern, die schwere Bananenbündel auf dem Rücken zu Markte tragen. Da und dort hangen noch schwere, grasgrüne, dicht gebündelte Früchtetrauben an den Stämmen. Die in Madeira gezüchtete Bananenstaude wird kaum höher als zwei Meter, die Frucht ist also vom Boden aus zu ernten. Sechs bis acht Meter hohe Stauden sind selten. Auf die Banane folgt die Weintraube. Die Ernte ist schon im September vorbei. Auch hier grüssen uns unübersehbare, auf Terrassen angelegte Weinberge. Der Mensch hat durch den Bau von Terrassen dem Berg auch weitere Anbaumöglichkeiten abgerungen, als da sind Gemüsepflanzungen und Blumen. Das Edelgewächs hat billigeren Kulturen Platz gemacht. Zerstreut, mitten im üppigen Vegetationsgrün stehen die weissen Häuschen mit den roten Ziegeldächern. Auch dieser Vegetationskreis tritt mit der Fahrt den Berg empor zurück und macht dem Wald Raum. Laub- und Nadelholz, wie wir es kennen, wechselt ab mit für uns unbekannten Baumgattungen. Vor allem ist es der Eukalyptusbaum, der uns fremd ist. Bald sind wir ob dem Wald, auf einer öden, mit Steinen übersäten einsamen Alp. In zerstreuten Gruppen weiden Schafe, weisse und schwarze mit Hörnern. Einzelne stehen mitten auf der Strasse, das fremdartige Vehikel dumm und unerschrocken anstaunend. Offenbar sind Autos hier eine Seltenheit. «Vielleicht ist es doch besser», denken die wollhaarigen Vierbeiner, «dem schnaubenden Ungetüm Platz zu machen», und man tritt manierlich an den Rand der Strasse. Auf dem Rückweg durch den Pinien-, Kiefern- und Eukalyptuswald stecken wir unvermittelt in einem dicken Nebel.

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Ein ausgebrannter Wald erregt unsere Aufmerksamkeit. «Das ist das Werk der Kommunisten», meint der Chauffeur. «So rächen sie sich an uns Sozialisten.» Wir erinnern uns der vielen Schriften und der Schmierereien an Mauer- und Hauswänden, die wir im Vorbeifahren gesehen haben. Die Unruhe im Mutterland hat sich auf die Insel übertragen. «Freiheit, Unabhängigkeit», haben wir gelesen. Der Abfall vom Mutterland würde der Insel aber kaum die erhofften Vorteile bringen. Der Nebel hat sich, wie durch Zauberhand weggewischt, verzogen. So kann die Wetterlage blitzschnell wechseln. Im Schwimmbassin haben wir verfolgen können, wie eine brandschwarze Wolkenbank sich von den Azoren heranwälzte, über Funchal platzte und die flüchtenden Badenden mit wolkenbruchartigen Güssen erwischte. Zehn Minuten später strahlte tiefblauer Himmel. Der Chauffeur führt uns zu einem der dankbarsten Aussichtspunkte der Insel. Unvermittelt hält der Wagen am Rande eines Abgrundes. Wir steigen aus. Von einem Vorgebirge geht unser Blick einer 600 Meter senkrecht in die Tiefe fallenden Felswand entlang in ein grünendes Tal, übersät mit kleinen Häuschen, aus der Höhe Spielzeugen gleich, auf unzählige Terrassen hingesetzt. Weisse Striche der Küste entlang sind nichts anderes als die am Land sich in Gischt auflösende Brandung. Und dann das Meer, das unendliche Meer. *

Ein ganztägiger Ausflug führt uns über einen Pass auf die Nordseite und dem Meer entlang zum Ausgangspunkt zurück. Von der Küstenstrasse abzweigend, fahren wir durch eine Schlucht. Der ferne Hintergrund wird durch hohe Berge begrenzt. Dort könnte sich der Pico Ruiva, Madeiras höchster Berg (1860 m.), befinden. Es ist, als ob man sich anschickte, die Klus ins Prättigau oder die Viamala zu durchqueren. Es sind aber nicht nackte Felswände zu beiden Seiten des Tales, sondern mit wucherndem Grün überzogene Lavafelsen. So weit das Auge schweift, eine saftig grüne Vegetation. Zu beiden Seiten des Baches erblicken wir die erste Zuckerrohrplantage. Hohe, schilfähnliche Gräser füllen die Talsohle.

- 16 Der Weg führt uns bergan an schmucken Häusern vorbei. Die Gärten stehen voll Gemüse, Kabis, Zwiebeln, Erbsen, Tomaten und Blumen. Und der Strasse entlang verfolgen uns wieder in ununterbrochener Reihe die blassblauen und rosaroten Hortensien. Das Wetter hat sich verschlechtert. Je höher wir steigen, desto ungemütlicher wird es. Wir befahren eine Strasse, die sich im Ausbau befindet. Schwere Regengüsse der letzten Tage haben ihr zugesetzt. Plötzlich stecken wir in dickem Morast. Ein kleiner Murgang hat die Strasse überschüttet. Männer sind daran, die Bahn frei zu machen. Schlotternd stehen sie jetzt am Rand der Strasse und beobachten schweigend die Bemühungen des Chauffeurs, seinen Wagen durch den Schlamm hindurch zu manövrieren. Unwillkürlich denken wir an die Wasserschäden in unserem Kanton und im Tessin. Der junge Chauffeur hat's geschafft. Der starke Mercedes hat die Probe bestanden. Der Mercedes ist der Wagen der Chauffeure auf Madeira. Wir befinden uns auf der Höhe des Passes. In den nächsten Minuten wird der Blick auf die Nordküste und das Meer frei. Inzwischen hat sich das schlechte Wetter verzogen. Heller Sonnenschein begrüsst uns. Während die Südküste, den heissen Winden aus Afrika ausgesetzt, wasserarm und auf das imposante Bewässerungssystem angewiesen ist, hat die Nordküste reichlich Wasser. In unendlichen Kehren und Windungen führt uns die Strasse durch reiche Vegetation der Küste entgegen. Zum ersten Mal entdecken wir Obst- und grössere Gemüsekulturen. Auffallend sind neben den gewohnten weissen Häusern kleinere Gebäude mit steilen Strohdächern. Das waren die ursprünglichen Behausungen der Bewohner. Dann kann es geschehen, dass man mit Strohflechterei beschäftigte Männer und Frauen, ja sogar Kinder vor der Hütte sitzen sieht. Gelegentlich trifft man auf der Strasse Männer, die riesige Weidenbündel oder fertige Korbware auf dem Rücken tragen. Irgendwo sahen wir eine ganze Kultur von Weidenbüschen. Strohflechterei ist neben der Stickerei eine der wenigen Einnahmequellen der Inselbewohner. In den Prospekten wird auch die Landwirtschaft als wichtige Einnahmequelle genannt. Dabei haben wir auf allen Fahrten kreuz und quer durch die Insel keine einzige Kuh gesehen, abgerechnet die zwei Ochsen in Funchal. Wir haben auch keine Wiesen und keine

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Alpen, wie wir sie kennen, getroffen. Man klärte uns auf. Die Kühe werden das ganze Jahr im Stall gehalten, oft in den kleinen, strohbedeckten Hütten, die zu Ställen umgewandelt wurden. Die Gründe leuchteten ein. Erstens ist das ganze Gebiet gebirgig. Auf den Terrassen, an den steilen Hängen könnte das Vieh zu Tode stürzen. Und Wiesen und Alpen gibt es eben keine. Trotzdem sei genug Vieh da, um die Insel mit den nötigen Milchprodukten zu versorgen.

Küstenstrasse bei S. Vicente-Porto do Moniz

- 18 Die Fahrt der Nordküste entlang sei ein Abenteuer, heisst es. Wir werden das bald erleben. Unser Mercedes ist im Begriff, die Strasse über den Berg zu verlassen und in die Küstenstrasse einzubiegen. Nur so nebenbei gesagt: Wir haben auf der ganzen Fahrt keine fünf Autos gekreuzt. Was nun folgt, ist ein Auf und Ab auf holpriger, nicht fertig ausgebauter Strasse. Bald sind wir auf Meereshöhe, dann hoch oben in einer senkrecht zur Küste abfallenden Felswand, in einem Tunnel voll Wasser. Vorn Gewölbe tropft es fröhlich wie bei einem schönen Sommerregen. Von Beleuchtung keine Spur. Dann wieder geht es fast ungeschützt unter einem Wasserfall hindurch. Gar unheimlich wird die Fahrt dort, wo die Strasse aus einer senkrechten Felswand herausgesprengt wurde und das Fahrzeug, aus der Ferne gesehen, hart am Felsen in der steilen Wand zu kleben scheint. Ein Glück, dass hier die Autos, wie oben angedeutet, an den Fingern abzuzählen sind! Unvergesslich ist der Blick auf das Meer. Schwere Wellenbänke rollen von weit draussen der Küste zu, überschlagen sich hoch aufspritzend und lösen sich am flachen Ufer in milchweissen Gischt auf. Ein Schauspiel, wie es uns ganz Europa nicht zu bieten vermag. Eine Abkürzung über den Berg führt uns durch grosse Rebanlagen nach Hause. Aus diesen Trauben werde der beste Madeira Wein gewonnen, belehrt uns der Chauffeur. * Madeira, ein Traumland! Ja, für den Fremden, der hier wohl geborgen im Hotel lebt, schwimmen, wandern, das Land im Taxi - Taxi sind billig - durchqueren, an Ort und Stelle wachsende Südfrüchte und die geradezu überschwängliche Blumenpracht bewundern kann, im Winter ein beinah sömmerliches Klima geniesst: ja, für den Gast ist Madeira ein Wunderland. Kaum aber für den Einwohner. Von den kärglichen Verdienstmöglichkeiten haben wir gesprochen. Sie sind spärlich, doch so, dass der Madeirenser zum grössten Teil S. 92:

Selbstversorger nicht Not leiden muss. Die grosse Hoffnung auf eine bessere Zukunft bildet der sich rasch entwickelnde Tourismus. Heute schon finden Frauen und Männer Anstellung in den das ganze Jahr offenen Hotels. Der grosse Aufschwung wird sich aber einstellen, wenn einmal der Flughafen so ausgebaut sein wird, dass Grossraumflugzeuge dort landen können.

- 19 Drei Wochen vergehen im Flug. Unsere Maschine startet nach Fahrplan um sechseinhalb Uhr morgens. Um vier Uhr werden wir geweckt. Es ist noch dunkle Nacht, als uns der Chauffeur abholt. Drei Viertel Stunden zum Flugplatz. Rote Schlusslichter vor uns deuten darauf hin, dass wir nicht als einzige Fluggäste unterwegs sind. Die Flughalle ist bereits voll Leute, die sich zur Gepäckabfertigungsstelle drängen. Der Vorschriften unkundig, schiebt ein Auswanderer zwei riesige, mit Seilen verschnürte Pakete auf die Waage. Es gibt ein langes Palaver mit der Beamtin. Endlich schiebt man den Passagier mit den zwei Bündeln und seinem Knaben an eine andere Stelle. In der Halle warten wir und noch viele andere Passagiere auf die Abfahrt. Unterdessen ist es hell geworden. Ein schöner Tag! Ruhig liegt das Meer vor unseren Blicken. Einerseits des Rollfeldes geht es über Felsköpfe steil zum Meer hinunter. Auf der anderen Seite dehnen sich am Fusse der Terrasse weite Bananenplantagen bis an die Küste aus. Hier muss die verunglückte portugiesische Maschine gelandet sein. Die Abflugzeit der Maschine ist längst verstrichen. Die Passagiere werden ungeduldig. Auskunft ist keine zu bekommen. Aus sechseinhalb Uhr ist acht Uhr geworden, und aus acht Uhr wird es zehn Uhr. Mit fast dreistündiger Verspätung landen wir in Kloten. Inzwischen hatten die für den Flug mit unserer Maschine nach Madeira gebuchten Gäste die gleiche Verspätung in Kauf zu nehmen.

Internet-Bearbeitung: K. J.

Version 10/2011

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