Integration der HWS bei der Funktionsanalyse und Behandlung von cranio-mandibulären Dysfunktionen/Teil I

Einleitung von John Langendoen-Sertel Die Tendenz zur Integration mehrerer Disziplinen beim Management von cranio-mandibulärer bzw. cranio-facialer Symptomatik spiegelt einerseits die Kenntniszunahme und das Verständnis vom stomatognathen System wider und andererseits die Entwicklung vom starren biomedizinischen Krankheitsmodell zum patientenzentrierten biopsychosozialen Paradigma. Sowohl biomedizinische Entwicklungen (funktionelle Magnetresonanztomographie bzw. Autopsiestudien des Kiefergelenkes) als auch verbesserte psycho-emotionale Behandlungsmodalitäten führen auf individueller Basis zu besseren und anhaltenden Ergebnissen im multidisziplinären Rahmen. Dieser Artikel betont die mögliche Relevanz der Halswirbelsäule im Gesamtmanagement von chronischen Kauorganbeschwerden. Die Halswirbelsäule ist die Domäne der Manualtherapeuten und Manualmediziner und im Rahmen der Patientenzentriertheit wird sie hier nicht nur aus biomechanischer Sicht präsentiert. Gestützt durch wissenschaftliche Erkenntnisse aus Autopsie-Studien4,20,54,55, 56,63,64,88 und funktionellen kernspintomographischen Untersuchungen1,3,7,19,43,58,75 des temporomandibulären Gelenkes (TMG) erlebt die Funktionsanalyse bei Dysfunktionen des Kauorgans einen zweiten Frühling. Anders als in den 70er Jahren erlaubt ein verbessertes funktionelles Anatomie- und Physiologieverständnis eine erfolgreichere interdisziplinäre Behandlung für die vielmals multifaktorielle und multistrukturelle Problematik des stomato-gnathen Systems 7,10,44,45,46,47,53,60,73,94. Interdisziplinäre Kooperation ist kein furchterregendes Fremdwort mehr, sondern ein erfolgversprechendes, gegenseitig stimulierendes Zukunftsmodell im Rahmen des aktuellen bio-psychosozialen Paradigmas87. Beispiele hierfür sind Zahnärzte und Kieferorthopäden, die von Experten wie Bumann6, Müller56 u. a. in die moderne Funktionsanalyse eingeführt werden und die verschiedene Arten von Schienen erfolgreich einsetzen; Logopädinnen, die myofunktionelle Therapie zur Unterstützung der kieferorthopädischen Behandlung praktizieren; Manual Therapeuten, die die zahnärztliche Therapie mit Wirbelsäulentherapien unterstützen; Cranio-Sacral Therapeuten, die sich um extra-artikuläre temporo-mandibuläre Dysfunktionen inklusive Tiefenentspannung und emotionale Aspekte kümmern; oder auch Zahnärzte und Kieferorthopäden, die eine funktionelle Untersuchung der Halswirbelsäule erlernen. Zudem bieten zahnärztliche Spezialgruppen, wie der zahnärztliche Arbeitskreis Kempten (ZAK), das international college for craniomandibular orthopedics (ICCMO), AK Kiefergelenk in Bonn, oder das interdisziplinäre Forum für cranio-faciale Symptomatik (IFCFS) multidisziplinäre Fortbildungen an. Die mögliche Bedeutung von Dysfunktionen des Bewegungsapparats im Allgemeinen47,52 und speziell der Halswirbelsäule (HWS) wird häufig nicht oder nur nebenbei erwähnt: exemplarisch wird hier auf das aktuelle Standardwerk der Funktionsanalyse von Bumann & Lotzmann7 hingewiesen: Nur auf drei von 358 Seiten wird über die HWS referiert. Eine einfache Erklärung dafür bietet die fachliche Herkunft des/r Autors/en: "Was nicht dein Metier ist darüber kannst du nicht schreiben". Dies bedeutet aber nicht, dass nicht erwähnte Aspekte keine relevante Rolle spielen könnten90. Wenn die HWS erwähnt wird, dann nur bezüglich biomechanischer oder neuromuskulärer Teilaspekte48,76,90,91,92,96. Die ätiologische Frage "Was war zuerst ?" wird bei kombinierter HWS und CMD Problematik kontrovers diskutiert10,21,24,76,91,92,93. De Wijer et al. 90,91,92 und Bumann & Lotzmann7 unterstellen im Gegensatz zu Schöttl76, dass die Problematik häufiger aufsteigender Natur ist. Jedenfalls unterstreichen alle, die das stomatognathe System nicht als alleinstehende

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Einheit betrachten, die Notwendigkeit einer weiteren orthopädischen Funktionsuntersuchung, speziell der HWS, und gegebenenfalls deren Behandlung. Dieser Aufsatz zeigt zum einen, warum eine umfassende systematische Miteinbeziehung der HWS, v. a. die der oberen HWS, bei vermeintlichen intra-, peri- und extraartikulären temporo- oder cranio-mandibulären Dysfunktionen erforderlich ist. Zum anderen beschreibt er, wie der Zahnarzt bzw. Kieferorthopäde eine Funktionsuntersuchung der HWS adäquat und schnell durchführen kann. Beziehungen zwischen Kauorgan und HWS Topographie Die Lokalisierung eines Schmerzes in der Ohrregion könnte durch die enge topographische Relation zwischen dem TMG und HWS, nicht nur Patienten sondern auch ihre Ärzte auf eine falsche Spur bringen23,70. Der Querfortsatz des Atlas (C1) liegt direkt unterhalb des äußeren Gehörgangs und somit unmittelbar hinter und unter des temporo-mandibulären Gelenkes39. Patienten mit intra-artikulären temporo-mandibulären Dysfunktionen können z. B. einen Schmerz im Ohr angeben und finden sich deswegen zuerst beim HNO-Arzt wieder, nicht zuletzt weil anteriore Diskusverlagerungen des TMGs in statischer Okklusion mit Tinnitus einhergehen können57. Reine Kiefergelenkschmerzen, Arthropathien, treten normalerweise mit oder ohne Geräusche sehr lokalisiert auf und weisen im Akutstadium meistens keine direkt-korrelierenden Beschwerden im Bereich der HWS auf, wenn diese nicht bereits vorher auffällig war. Länger anhaltende Beschwerden werden häufig diffuser wahrgenommen, und könnten allmählich weitere Strukturen miteinbeziehen, wodurch eine klinische strukturelle Differenzierung erschwert wird. Extra-artikuläre Beschwerden des Kauorgans, häufig als Myopathie bezeichnet, werden in 80 Prozent aller Fälle angetroffen25. In dieser großen Subgruppe von Patienten ist es das Hauptanliegen, die Ursache(n) des Problems zu erörtern. Der eingebürgerte Begriff Myopathie ist diskutabel, da in den meisten Fällen keine Krankheit oder Verletzung der Muskeln vorliegt, sondern lediglich Druckschmerz oder die Lokalisierung des Schmerzes im Muskelbereich angegeben wird, z. B. weil der Muskel durch Hyperaktivität übersäuert ist (Myalgie). Das Ausmaß der Muskelaktivität scheint mit den Körperpositionen zu korrelieren62. Statische Muskeltests sind dann auch nicht selten ohne Befund. Die ontogenetischen und Entwicklungs-erkenntnisse über die Beziehung zwischen den oberen beiden Halswirbeln und Cranium untermauern ihre enge Beziehung33,80. Die genaue Erhebung der Schmerzbereiche und Kenntnis von Schmerzmustern könnten dennoch dazu beitragen, topographische Fehlinterpretationen zu reduzieren91,98. Übung 1: Palpieren Sie gleichzeitig den Kondylus des Unterkiefers mit dem Zeigefinger im äußeren Gehörgang, mit dem Mittelfinger direkt davor und palpieren Sie dann zusätzlich den Querfortsatz des Atlas (C1) in der Kuhle unter dem Ohrläppchen und direkt hinter dem Unterkiefer und vor dem Processus mastoideus mit dem Daumen (Abb. 1).

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Abb. 1: Die Palpation der Meatus acusticus ext. (Zeigefinger), Condylus mandibulae (Mittelfinger) und Processus transversus atlantis (Daumen) demonstriert die enge topographische Korrelation zwischen dem temporomandibulären Gelenk und dem 1. Halswirbel Arthrokinematik und Weichteilbehinderung Die Biomechanik der ossären Halswirbelsäule selbst und die arthrokinematischen Zusammenhänge mit dem Kauorgan repräsentieren nur einen, aber wichtigen Aspekt der gesamten Korrelationen zwischen Halswirbelsäule und stomatognathem System71. Die Weichteilverhältnisse, nervale Dynamik der Dura mater, Hirn- und periphere Nerven66, sowie somato-emotionale Faktoren können Bewegungsabläufe ebenfalls beeinträchtigen65. Halswirbelsäulenhaltungen und -bewegungen haben direkt Einfluss auf das Kiefergelenk91,92,93 und dessen Beweglichkeit31. Es besteht eine signifikante Beziehung zwischen dem funktionellen Status des Kauorgans und HWS-Beweglichkeit bzw. Druckempfindlichkeit der Nackenmuskeln40. Auch klagen Patienten nach einem Auffahrunfall statistisch signifikant häufiger über cranio-faciale Beschwerden124. Übung 2: Setzen Sie sich gerade hin und testen Sie Ihre Okklusion. Nehmen Sie anschließend eine übliche vorgeschobene Fehlhaltung des Kopfes ein oder, besser noch, schieben Sie Ihren Unterkiefer heraus, als ob Sie sich am Unterkinn rasieren wollen (Abb. 2a). Testen Sie in dieser Stellung Ihre Okklusion ebenfalls. Wiederholen Sie die Okklusion in Doppelkinnposition (Abb. 2b) bzw. wenn Sie den Kopf bis zum Ende nach links/rechts gedreht haben. Wenn Sie gespürt haben, dass sich Ihre Okklusion durch eine Nackenbewegung verändert, haben Sie erfahren, dass sich die Stellung der Mandibula gegenüber dem Kopf (Maxilla - Os temporale) zwangsläufig geändert hat. Schlucken in den genannten Stellungen ist eine weitere Testmöglichkeit.

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Abb. 2a Maximale Extension (Reklination) der oberen HWS-Bewegungssegmente Abb. 3a: Maximale Reklination der HWS mit geschlossenem Mund

Abb. 2b Maximale Flexion (Inklination) der oberen HWS-Bewegungssegmente

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Die klinische Implikation ist, dass die Statik, die generelle und segmentale Beweglichkeit der Halswirbelsäule wie auch die Spannung und Druckempfindlichkeit der Weichteilstrukturen genau überprüft werden sollten. Möglicherweise werden bereits in solch einer funktionellen Stellung Symptome reproduziert. Übung 3: Legen Sie Ihren Kopf mit geschlossenem Mund und okklusalem Kontakt so weit wie möglich nach hinten in den Nacken (Abb. 3a).

Abb. 3a Maximale Reklination der HWS mit geschlossenem Mund Öffnen Sie dann Ihren Mund ein wenig und beobachten Sie, wie weit der Kopf noch weiter extendieren kann (Abb. 3b).

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Abb. 3b Maximale Reklination der HWS bei offenem Mund Durch die Komplexität der möglichen Zusammenhänge71 lassen sich diese wissenschaftlich nicht immer einfach nachweisen96. Elektromygraphische Studien haben die direkten Zusammenhänge der Kaumuskeln mit HWS-Muskeln5,11,30 und Körperhaltungen62 gezeigt. Zahnärzte, die von ihren Patienten hören, dass nach erfolgreicher Schienentherapie für Myalgien des Kauorgans ebenfalls die Muskelschmerzen im Nacken verschwunden sind, haben damit eine (absteigende) Korrelation klinisch bewiesen. Inwiefern Funktionsstörungen der HWS97 und des craniozervikalen Übergangsbereiches32,59 mit bestimmten, vorhersehbaren craniomandibulären Dysfunktionen korrelieren ist noch nicht erforscht. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ebenfalls eine direkte Korrelation zwischen okklusalen Störungen und intra-artikulären craniomandibulären Dysfunktionen, möglicherweise durch die ausgeprägte, individuelle Kompensationsmechanismen im Kausystem, schwer nachweisbar ist und dementsprechend kontrovers diskutiert wird10,54,55,56. Grund genug, um nach jeder strukturellen Behandlung sofort zu kontrollieren, ob es irgendwelche klinischen, messbaren bzw. objektivierbaren Änderungen am Initialbefund gegeben hat. Dazu gehört auch eine exakte Okklusionskontrolle in einer neutralen Kopf-HWS-Stellung, da sich die Okklusion im Körper des Menschen propriozeptiv wahrscheinlich nicht an Präzision überbieten lässt7. Neuroanatomie Die möglicherweise bedeutendste Beziehung zwischen Kauorgan und oberer Halswirbelsäule findet ihren Ursprung in der Neuroanatomie22,39,85. Der fünfte Hirnnerv, der N. trigeminus, innerviert mit seinen drei Hauptästen (N. V 1,2,3) und vielen weiteren kleinen Ästen einen Großteil des Kauorgans. Weitere Hirnnerven mit einer direkten Bedeutung für das Kauorgan sind der N. facialis (N. VII), N. glossopharyngeus (N. IX), N. vagus (N. X) und der N. hypoglossus (N. XII). All diese Nerven haben auch, mehr oder weniger, mit Hals und Halswirbelsäule zu tun, z. B. durch die sensorische und/oder motorische Versorgung (N. VII, N. 6

IX, N. X), oder schon durch den Verlauf (N. X) bzw. durch die direkte Verbindung mit zervikalen peripheren Nerven (N. XII). Der meist interessanteste Hirnnerv ist in diesem Kontext der N. V. Sein Innervationsgebiet ist fast nicht zu überbieten und dementsprechend versorgt er wie kein anderer Nerv des menschlichen Körpers mit so vielen nozizeptiven und thermischen Afferenten. Der N. V tritt in der Höhe der Brücke im zentralen Nervensystem ein und alle nozizeptiven und thermischen Afferenten steigen zunächst ab, um erst auf der Höhe des verlängerten Rückenmarks und des obersten Teils des Rückenmarks (C1 bis C3) im Hinterhorn zu synaptieren68. Dieses sensorische Kerngebiet des N. V wird N. trigeminozervikalis, pars kaudalis genannt. Zusammen mit den dort ebenfalls eintretenden Afferenten der HWS-Segmente vergrößert sich das Hinterhorn zu einem wahren Wasserkopf (Abb. 4)22,42,68. Übung 4: Palpieren Sie beidseitig gleichzeitig die Austrittstellen der verschiedenen Abzweigungen der 3 N V Äste (Abb. 4): den N supraorbitalis (N V1), N nasalis (N V1), N infraorbitalis (N V2), N mentalis (N V3) und testen auf unterschiedliche Empfindlichkeit, auch im links-rechts Vergleich.

Abb. 4: Das Hinterhorn im Bereich des N trigeminozervikalis, pars kaudalis (Autor in Anlehnung an Fitzgerald102) Im zweiten Teil dieses Beitrages (ZMK 11/01) wird der Autor insbesondere auf die HWS-Unterstützung bei Dysfunktion des Kauorgans eingehen. Die Literaturliste kann bei der Redaktion angefordert werden. Korrespondenzadresse: John Langendoen-Sertel, B.PT, Grad.OMT Prälat-Götz-Straße 3 87439 Kempten 7