Teil I: Religion in der Kritischen Theorie

Vorbemerkung Das vorliegende Buch umfasst Essays zu drei Diskursfeldern der zeitgenössischen Religionsphilosophie: erstens zur Re-thematisierung von ...
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Vorbemerkung

Das vorliegende Buch umfasst Essays zu drei Diskursfeldern der zeitgenössischen Religionsphilosophie: erstens zur Re-thematisierung von Religion in der Kritischen Theorie nach Habermas‘ Aufsatzband Texte und Kontexte1; zweitens zur Neuerkundung dieses Themenraums im Umfeld von Dekonstruktion und Postmoderne nach Derridas und Vattimos Essaysammlung Die Religion2; und drittens zur (neo)pragmatischen Religionsphilosophie und ihrem pragmatizistischen Umfeld. Die Arbeiten zum dritten Themenkreis bilden den Schwerpunkt dieses Buches. Sie sind in einer längeren intellektuellen Suchbewegung entstanden. Meine Forschungsaufenthalte in den USA haben es mir ermöglicht, mich – vor dem Hintergrund meiner Habilitationsschrift über Habermas‘ universalpragmatisch dimensionierte Gesellschaftstheorie3 – ausführlicher dem Studium der Klassiker des Amerikanischen Pragmatismus zu widmen. Diese Forschungen, denen ich über Einladung von Stanley Cavell 1986 als Visiting Scholar am Department of Philosophy der Harvard University und, eingeladen von Seyla Benhabib, 1996 an Harvards Minda de Gunzburg Center for European Studies nachgehen konnte, fanden zunächst ihren Niederschlag in zwei Büchern: Charles Sanders Peirce4 und Pragmatismus5. Bei dieser Forschungstätigkeit in den USA wurde mir mit Deutlichkeit bewusst, dass die analytisch-postanalytische Standardrezeption der Klassiker des Pragmatismus in Europa im Wesentlichen auf die wissenschaftstheoretischen und ethischen Ansätze der Pragmatisten beschränkt war, so dass, in der Regel, der komplexe Religionsdiskurs abgeblendet blieb, der in der Formationsphase des pragmatischen Denkens eine so zentrale Rolle gespielt hatte: James, Dewey oder gar der Protopragmatist Royce blieben hierzulande (anders als in einflussreichen Segmenten des amerikanischen neopragmatischen Diskurses) als Religionsphilosophen fast vollständig außer Sicht. 1 Jürgen Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt am Main, 1991. 2 Jacques Derrida/Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt am Main, 2001 (Französischer Originaltext: Paris, 1996). 3 Ludwig Nagl, Gesellschaft und Autonomie. Historisch-systematische Studien zur Entwicklung der Gesellschaftstheorie von Hegel bis Habermas, Wien, 1983. 4 Ludwig Nagl, Charles Sanders Peirce, Frankfurt am Main – New York, 1992. 5 Ludwig Nagl, Pragmatismus, Frankfurt am Main – New York, 1998.

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Das erschien mir umso bedauerlicher, als in vielen anderen Feldern der Gegenwartsphilosophie – in der Kritischen Theorie ebenso wie in der postphänomenologischen Dekonstruktion – das Thema Religion (nach Abklingen der Attraktivität eines gesellschaftstheoretisch abgepolsterten Atheismus) auf neue Weisen denkend sondiert wurde. Sowohl Derridas Capri-Tagung zu diesem Themenkreis im Jahr 1994, als auch der rezente Frankfurter Diskurs, der nach Habermas‘ Friedenspreis-Rede „Glauben und Wissen“ 2001 größere Öffentlichkeitswirksamkeit erlangte, waren dafür gewichtige Indizien. Mein Zugang zu diesem Thema gestaltete sich auf zweifache Weise: Zum einen konnte ich 2003 in dem von mir edierten Sammelband Religion nach der Religionskritik eine Zwischenbilanz über die neue philosophische Religionsdebatte ziehen.6 Zum andere suchte ich als Vortragender direkt in die Auseinandersetzung um die Neuerkundung von Religion einzutreten, z. B. auf zwei DerridaSymposien in Stony Brook, New York, 2000,7 und Neapel, 2000; im Rahmen einer Religionsphilosophie-Tagung an der Universität Frankfurt, 20018; auf einer Klausurtagung zum Thema Religion mit Habermas an der Universität Wien, 20059; auf einer Tagung zum Thema Pragmatismus und Religion an der Universität Cluj-Napoca, 2006; auf einem Symposium zur Aktualität der Hegelschen Religionsphilosophie am Istituto Italiano per gli Studi Filosofici in Neapel, 2007; im Rahmen des I. Internationalen Royce-Kongresses an der Universität Opole, Polen, 2008, sowie auf dem Internationalen Dewey-Kongress an derselben Universität, 2009. Was mich in diesen Vorträgen primär beschäftigte, war (neben den neuen Diskurslagen in der Kritischen Theorie und in der Dekonstruktion) die Darstellung und denkende Sondierung der – in Europa weitgehend unerkundeten – religionsphilosophischen Option, die die amerikanischen Pragmatisten und, vor allem, der bis heute vielfach unterschätzte Protopragmatist Josiah Royce in den postkantischen Religionsdiskurs eingebracht haben. Aus dieser Vortragstätigkeit ist in einem längeren Überarbeitungsprozess das vorliegende Buch hervorgegangen. Der Großteil der Essays erscheint hier zum ersten Mal im Druck. Einige der Arbeiten sind revidierte Versionen früherer Publikationen; unter der überarbeitenden Hand hat sich in der Regel freilich ein (in einigen Hinsichten) neuer – und, wie ich hoffe, verbesserter – Text entwickelt. Wien, im Jänner 2010 6 Religion nach der Religionskritik (Hg. Ludwig Nagl), Wien – Berlin, 2003. 7 Die Materialen wurden veröffentlicht in Essays zu Jacques Derrida and Gianni Vattimo, „Religion“ (Hg. Ludwig Nagl), Frankfurt am Main, 2001. 8 Siehe Thomas M. Schmidt/Michael G. Parker (Hg.), Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit, Würzburg, 2008. 9 Veröffentlicht als Sammelband Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas (Hg. Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal), Wien – Berlin, 2007.

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Teil I: Religion in der Kritischen Theorie

Einleitung

Die Religionsdebatte in der „zweiten Generation“ der Kritischen Theorie ist, in ihrem Zentrum, durch jene Neubesichtigung des Status von Religion bestimmt, die Habermas mit seiner Aufsatzsammlung Texte und Kontexte (1991) auf den Weg gebracht hat. Elemente der darin vorgelegten Erwägungen stellte Habermas später – öffentlichkeitswirksam – in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, „Glauben und Wissen“ (2001) dar, sowie in seinem Eröffnungsvortrag auf dem Wiener Kantkongress 2004, „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“1. Im Rahmen einer Klausurtagung an der Universität Wien im Jahr 2005, die der Habermasschen Religionsphilosophie gewidmet war, hat er seine Position ausführlich erläutert.2 In seinen frühen Schriften – bis hin zu Faktizität und Geltung – war für Habermas die „Aufhebung“ (des rationalen Kerns) der Theologie in der Diskurstheorie – grosso modo betrachtet – ein wenn schon nicht abgeschlossenes, so doch abschließbares Projekt.3 Diese Überzeugung, dass eine Problem beendende Transformation der Religion glücken könne, begann ab der mittleren Phase des Habermasschen Denkens freilich – zumindest in einigen Hinsichten – zu schwinden. In seinem Aufsatz „Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits“ vertrat Habermas 1991 die – alsbald viel beachteten – These: „Heute konkurrieren die kirchlichen mit anderen Interpretationsgemeinschaften, die in säkularen Traditionen wurzeln. Auch von außen könnte es sich dabei herausstellen, dass die monotheistischen Traditionen über eine Sprache mit einem noch unabgegoltenen 1 Dieser Vortrag erschien im Sonderband 9 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart (Hg. Herta Nagl-Docekal und Rudolf Langthaler), Berlin, 2004, S. 141–160. 2 Jürgen Habermas, „Replik auf Einwände, Reaktion auf Anregungen“, in: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas (Hg. Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal), Wien – Berlin, 2007, S. 366–414. (Siehe darin auch: Ludwig Nagl, „Die unerkundete Option: pragmatistische Denkansätze in der Religionsphilosophie. Anmerkungen zur Habermasschen Skizze nachkantischer Religionsbegriffe [Hegel, Schleiermacher, Kierkegaard], S. 186–215.) 3 Siehe dazu: Ludwig Nagl, „Aufhebung der Theologie in der Diskurstheorie? Kritische Anmerkungen zur Religionskritik von Jürgen Habermas“, in: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel zum 70. Geburtstag (Hg. von Herta Nagl-Docekal), Erster Teilband, Wien, 1982, S. 197–213.

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semantischen Potenzial verfügen, das sich in weltaufschließender und identitätsbildender Kraft, in Erneuerungsfähigkeit, Differenzierung und Reichweite als überlegen erweist.“4 Der folgende Essay, „Das verhüllte Absolute. Religionsphilosophische Motive bei Habermas und Adorno“, geht – in seinem ersten Teil – dieser vorsichtigen Neubestimmung des Ortes der Religion beim mittleren Habermas nach, untersucht sie kritisch und stellt sie sodann einer älteren, sensiblen Sondierung unserer Handlungsgrenzen gegenüber: Adornos „aporetischer Erkundung der Postulatenlehre“ in der Negativen Dialektik. Beide Denkpositionen – die Habermassche und die Adornosche – haben postmetaphysische Qualität: beide operieren nach dem Ende der großen philosophischen Synthesen. Für Adorno ist dabei freilich, jederzeit, ein unaufgebbarer „doublebind“ im Spiel: das, was in der metaphysischen Rede vom Absoluten vormals verhandelt wurde, gilt es – angesichts der durch die Monstrositäten des zwanzigsten Jahrhunderts verschärften Krise aller Theodizeen – nicht einfach ruhigzustellen, sondern in offenen Denkbewegungen, nachdenkend, zu umkreisen: in Reflexionen, zum Beispiel, die der „abgebrochenen Transzendenz der Kunst“ gelten.

4 Jürgen Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt am Main, 1991, S. 131. Habermas hat freilich 2008 hinsichtlich des möglichen Dialogs zwischen Philosophie und Theologie aufs Neue eine sehr enge Grenze gezogen. In der „Einleitung“ zum Band 5 seiner Philosophischen Texte räumt er, zum einen, zwar ein, „dass gewiss auch Religionsphilosophie als die vernünftige Selbstauslegung eines praktizierten Glaubens mit Mitteln der Philosophie ein verdienstvolles Geschäft ist“, behauptet zugleich aber apodiktisch dass „das nachmetaphysische Denken, für das die religiöse Erfahrung und der religiöse Glaubensmodus einen undurchsichtigen Kern behalten, auf Religionsphilosophie verzichten [muss].“ (Jürgen Habermas, Philosophische Texte, Band 5, Frankfurt am Main, 2008, S. 31.)

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