Tarifpolitik der Zukunft 1

Auswirkungen auf das Arbeitsrecht und die Tarifpolitik Tarifpolitik der Zukunft1 Matthias Bürk, Christoph Obladen, Dr. Emmanuel Siregar, Thomas Wedek...
Author: Ralf Bretz
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Auswirkungen auf das Arbeitsrecht und die Tarifpolitik

Tarifpolitik der Zukunft1 Matthias Bürk, Christoph Obladen, Dr. Emmanuel Siregar, Thomas Wedekind

A. Anforderungen an die Tarifpolitik seit den 90er-Jahren I. Tarifpolitik und Mittelstand

Speziell in Hessen weist die chemische Industrie eine mittelständisch geprägte Unternehmenslandschaft auf, die sich seit Mitte der 90erJahre durch den umfassenden Strukturwandel in der chemischen Industrie weiter verstärkt hat. Hierfür steht in Hessen insbesondere der strukturelle Umbruch bei der Hoechst AG. Dieser tiefgreifende Wandel hat bis heute zu einer differenzierten Branchenstruktur geführt, gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Unternehmen unterschiedlichster Größenordnungen. Hierfür spricht auch die Mitgliederstruktur des Arbeitgeberverbandes HessenChemie, denn lediglich 2,4 Prozent der Mitgliedsfirmen sind Großunternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten. 84,3 Prozent der Verbandsmitglieder hingegen haben weniger als 500 Beschäftigte und gelten im Hinblick auf die Zahl ihrer Mitarbeiter als kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im Sinne der herkömmlichen Definitionen: Danach werden die KMU als Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern und einem Umsatz von weniger als 50 Millionen Euro pro Jahr angesehen.2 Insoweit kommt der Berücksichtigung von Interessen des Mittelstandes bei der Tarifpolitik ein sehr hoher Stellenwert zu. Dieser ist im Vergleich zu großindustriellen Strukturen in seinem Handeln noch stärker auf Flexibilität ausgerichtet und durch flachere Hierarchien gekennzeichnet. Dadurch stehen im Mittelstand das Erfüllen individueller Kundenerfordernisse über eine höhere Kundennähe und das Besetzen von Marktnischen noch stärker als in der Großindustrie im Mittelpunkt des Interesses. Zugleich stellt es eine der zentralen tarifpolitischen Herausforderungen dar, in einem heterogenen Umfeld 1

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Ein besonderer Dank für die Mitwirkung an diesem Beitrag gilt den Mitarbeitern der Tarifabteilung der HessenChemie: Carsten Böger, Ruben Höpfer, Sven Meixner und Sarah Saeidy-Nory. Institut für Mittelstandsforschung Bonn, URL: http://www.ifm-bonn.org/mittelstandsdefinition/definition-kmu-des-ifm-bonn/, Stand: 02.05.2013.

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Anteil an Unternehmen

Anteil an Mitarbeitern

Abbildung 1: Mitgliedsunternehmen bei HessenChemie nach Unternehmensgröße

mit vielfältigen und unterschiedlichen Anforderungen einen dauerhaften Interessenausgleich herzustellen. Hinzu kommt, dass die zunehmende Differenzierung der Unternehmen in diesem Zusammenhang nicht allein auf unterschiedliche Betriebsgrößen beschränkt ist. Denn auch die Bandbreite unterschiedlicher Anforderungen an die Produkte und Dienstleistungen der Unternehmen im internationalen Wettbewerb nimmt stetig zu.3 Darüber hinaus beeinflussen auch die sozial- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen die tarifpolitische Arbeit und deren Aufgaben. Stellvertretend hierfür ist zum einen das Thema Demografie zu nennen, bei dem die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie seit 2008 mit den Tarifverträgen Demografie und Lebensarbeitszeit eine Vorreiterrolle eingenommen haben; zum anderen kann der Bereich Ausbildung hervorgehoben werden, dessen Förderung seit 2003 über eigene Tarifverträge erfolgreich ausgestaltet wird. Die in den Tarifverträgen der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie heute verankerten Instrumente einer differenzierten, flexiblen und insbesondere mittelstandsorientierten Tarifpolitik werden noch im weiteren Verlauf dieses Beitrages dargestellt. 3

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Buck, Hartmut: Aktuelle Unternehmenskonzepte und Entwicklung der Arbeitsorganisation – Visionen und Leitbilder, in: Bullinger/Warnecke/Westkämper: Neue Organisationsformen für Unternehmen. Ein Handbuch für das moderne Management, 2. neu bearb. und erweitere Aufl., Springer-Verlag, Heidelberg 2003, S. 70 ff.

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II. Tarifpolitik und Standortsicherung

Für eine erfolgreiche Tarifpolitik sind unter anderem die Standortund damit die Beschäftigungssicherung in Deutschland von zentraler Bedeutung. Die Sicherung von attraktiven, wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, wie sie in der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie bestehen, ist zugleich ein wichtiger Bestandteil einer funktionierenden Arbeitsmarktpolitik. Diese Standort- und Beschäftigungssicherung ist unmittelbar mit dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen verknüpft. Dementsprechend ist die Tarifpolitik gefordert, diese Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und stetig weiter zu verbessern. Im Hinblick auf die Beschäftigungssicherung und vor dem Hintergrund des starken internationalen Standortwettbewerbs hat gerade die Fähigkeit zu flexiblem Handeln erheblich an Bedeutung gewonnen. Ursache hierfür sind die schnellen und unvorhersehbaren Änderungen konkreter Wettbewerbs- und Marktbedingungen, auf welche die Unternehmen entsprechend reagieren müssen.4 Die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie haben daher bereits Mitte der 90er-Jahre eine Neuorientierung ihrer Tarifpolitik eingeleitet. Durch die Etablierung zahlreicher Flexibilisierungsinstrumente ist es gelungen, den Mitgliedsunternehmen ein Abweichen von Tarifnormen zu ermöglichen, und zwar nicht nur in wirtschaftlichen Notlagen, sondern auch und gerade, um Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu sichern.5 Diese Instrumente werden immer wieder als Beispiel für flexible und standortsichernde Tarifverträge angeführt.6 Ihre positive und beschäftigungserhaltende Wirkung ist insbesondere während der Wirtschaftskrise 2008/09 deutlich geworden: Neben moderaten und weitsichtigen Tarifabschlüssen im Hinblick auf Entgelt und der staatlich verbesserten Regelungen zur Kurzarbeit war auch die 4 Zimmermann, Alexander/Rügamer, Martin: Der Strategieprozess im Unternehmen heute, in: Zimmermann, Alexander: Praxisorientierte Unternehmensplanung mit harten und weichen Daten – Das Strategische Führungssystem, Springer-Verlag, Heidelberg 2010, S. 31. 5 So z. B. Lesch, Hagen: Der Flächentarifvertrag aus ökonomischer Sicht, in: Hromadka/Wolff: Flächentarifvertrag – Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Festschrift für Rolf-Achim Eich, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2005, S. 71. 6 Wolf, Roland/Strybny, Derk: Flexibilisierungsregelungen der verschiedenen Wirtschaftszweige in Deutschland – Wo steht die Chemie, in: Hromadka/Wolff: Flächentarifvertrag – Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Festschrift für Rolf-Achim Eich, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2005, S. 155 f.

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Abbildung 2: Entwicklung der Beschäftigung in der chemisch-pharmazeutischen Industrie7 (Index Q1/2008 =100)

Nutzung der Flexibilisierungsinstrumente ein wichtiger Baustein, um einen massiven Beschäftigungsabbau zu verhindern. Im europäischen Vergleich war aufgrund dessen eine schnellere Erholung am Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Insoweit kann auch die gelegentlich noch formulierte Einschätzung widerlegt werden, dass eine starke Tarifbindung per se einen Standortnachteil bedeute.8 Vielmehr leisten Tarifverträge mit sinnvollen Öffnungsklauseln und Flexibilisierungen im Rahmen einer umsichtigen Tarifpolitik einen wertvollen und nachhaltigen Beitrag zur Standortsicherung.

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US Bureau of Labor Statistics, URL: http://data.bls.gov/timeseries/CES3232500001? %20data_tool=XGtable; Verband der Chemischen Industrie: Chemiewirtschaft in Zahlen, 54. Auflage, Frankfurt 2012, S. 57; S. 116; Chemdata International; eigene Berechnungen. 8 Britz, Gabriele/Volkmann, Uwe: Tarifautonomie in Deutschland und Europa, Mohr Siebeck-Verlag, Tübingen 2003, S. 54.

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Abbildung 3: Entwicklung der Arbeitslosenraten in Europa9

III. Tarifpolitik und Globalisierung

Eine durch die Globalisierung verschärfte Konkurrenzsituation für nationale Unternehmen durch eine zunehmende Zahl internationaler Wettbewerber erhöht insbesondere die Anforderungen der Unternehmen an Kapitalrendite und Effizienz. Gleichzeitig ist der Wettbewerb nicht mehr nur auf einzelne nationale Märkte oder Kontinente beschränkt, sondern hat in Form einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung eine weltweite Dimension erreicht. Anschaulich belegt dies zum Beispiel die deutsche Außenhandelsstatistik, denn allein von 1991 bis 2012 hat sich die deutsche Exportquote, also der Wert der Exporte im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, von 22,2 Prozent auf 41,5 Prozent nahezu verdoppelt.10 Eine ähnliche Entwicklung ist gleichzeitig bei der Importquote zu beobachten. Auch in 9 Statistisches Amt der europäischen Union – Eurostat, URL: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/euroindicators/labour_market/main_tables, Stand: 22.03.2013. 10 Statistisches Bundesamt, URL: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesamtwirt schaftUmwelt/Aussenhandel/Handelskennzahlen/Tabellen/Exportquote.html ;jsessionid=B2C8D9738F6768EE746D5465243 DBC57.cae4, Stand 21.05.2013.

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der traditionell stark exportorientierten Chemieindustrie nimmt die internationale Verflechtung weiter zu. Seit 2005 ist dort die Exportquote von knapp 70 Prozent auf über 80 Prozent angestiegen.11 Für die Unternehmen bestehen mehrere Möglichkeiten, dieser zunehmend internationalisierten Herausforderung erfolgreich zu begegnen: Eine klassische Preisführerschaft gegenüber qualitativ vergleichbaren Konkurrenzprodukten kann eine Strategie sein. In der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie setzt man hingegen auf das Entwickeln qualitativ hochwertiger Produkte mit einem hohen Innovationsgrad, wenngleich auch auf diesem Gebiet ein hoher Wettbewerbsdruck herrscht. Für kleine und mittlere Unternehmen bietet sich darüber hinaus die Konzentration auf Marktnischen und der Aufbau von hoch spezialisiertem ProduktKnow-how als Strategie für den Erfolg an.12 Vor diesem Hintergrund spielen speziell die Arbeitskosten eine immer stärkere Rolle. Insbesondere die Entlohnung niedrig qualifizierter Beschäftigter ist einem hohen Wettbewerbsdruck unterworfen. Ursache ist das vergleichsweise hohe Arbeitsangebot in den sich entwickelnden Volkswirtschaften auf diesem Sektor, was einen entsprechenden Preisdruck nach sich zieht.13 Im Kontext eines wachsenden internationalen Wettbewerbes muss die Tarifpolitik sowohl den hohen Anteil der Arbeitskosten als auch die komplexen strategischen Anforderungen an Unternehmen berücksichtigen. Ansatzpunkte hierbei sind eine verstärkte Flexibilisierung durch tarifliche Öffnungsklauseln und eine hinreichende Differenzierung der Tarifverträge. Die bereits durch die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie erfolgreich durchgeführten Flexibilisierungen stellen insoweit einen wichtigen Meilenstein dar. Dies zeigt auch, dass nationale Tarifpolitik erfolgreich die an sie gerichtete Forderung erfüllen kann, auch die Belange internationaler Wettbewerbsfähigkeit mit zu berücksichtigen.

11 Verband der Chemischen Industrie: Chemiewirtschaft in Zahlen, 54. Auflage, Frankfurt 2012, S. 77. 12 Porter, Michael E.: Competitive strategy: techniques for analyzing industries and competitors, The Free Press, New York 1998, S. 35 ff. 13 Donges, Jürgen B.: Aktuelle Kontroversen in der Globalisierungsdebatte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2003/2 – Globalisierung, Akademie-Verlag, Berlin 2003, S. 23.

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B. Entwicklung der Tarifwerke der chemischen und der kunststoffverarbeitenden Industrie in Hessen seit den 90er-Jahren In der chemischen Industrie in Deutschland14 wirken heute eine Reihe von Flächentarifverträgen als Bundestarifverträge, die zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) abgeschlossen wurden. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die derzeit existierenden Bundestarifverträge in der chemischen Industrie:

Abbildung 4: Tarifwerk der chemischen Industrie

Zusätzlich zu den Bundestarifverträgen existieren regionale Entgelttarifverträge zwischen den Chemie-Arbeitgeberverbänden und der IG  BCE in den einzelnen Bundesländern, in denen die Höhe der Entgelte sowie die Ausbildungsvergütungen festgelegt sind. Der Arbeitgeberverband HessenChemie hat für die von ihm ebenfalls repräsentierte Fachabteilung für die kunststoffverarbeitende Industrie im Land Hessen mit der IG BCE, Landesbezirk Hessen-Thüringen, folgende Tarifverträge abgeschlossen:

14 Für das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland.

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Abbildung 5: Tarifwerk der kunststoffverarbeitenden Industrie

Abbildung 6: Trend zu mehr Flexibilisierung15

15 BAVC; eigene Adaption.

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Diese Tarifwerke der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie stellen für die Unternehmen ein erhöhtes Maß an Flexibilität bei der Anwendung tariflicher Regelungen dar. „Keine andere Branche bietet hierzulande aktuell eine vergleichbare Palette an Flexibilisierungsmöglichkeiten.“16 Die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie haben diese zahlreichen Instrumente speziell seit Mitte der 90er-Jahre schrittweise entwickelt, die seither sehr erfolgreich von den Betriebsparteien genutzt worden sind. Der Prozess der Tarifgestaltung kann im Wesentlichen durch drei grundlegende Entwicklungsphasen charakterisiert werden, die nachfolgend ausführlicher dargestellt werden. I. Detaillierte Tarifgestaltung (mit begrenzter betrieblicher Gestaltungsfreiheit)

In der ersten Phase des hier zugrunde gelegten Betrachtungszeitraumes zu Beginn der 90er-Jahre zeichneten sich die Flächentarifverträge für die chemische Industrie in Deutschland durch eine detaillierte Tarifgestaltung aus. Dieser Befund trifft auch auf die Tarifverträge für die kunststoffverarbeitende Industrie in Hessen zu. Betroffen waren im Wesentlichen Regelungsgegenstände wie z. B. Entgelt, Eingruppierungen, Arbeitszeit, Freistellungen, Altersfreizeiten, Waschzeiten und Verdienstsicherung. Kennzeichnend für diese als „tayloristische Tarifgestaltung17“ zu bezeichnende Phase waren abschließende tarifvertragliche Regelungen zu den vorgenannten Arbeitsbedingungen, ohne den Betriebsparteien Handlungsoptionen (z. B. durch Öffnungsklauseln) für abweichende, individuelle Lösungen zu geben. Die Gestaltungsfreiheit der betrieblichen Akteure war daher entsprechend begrenzt: lediglich die konkrete Ausgestaltung verschiedener Regelungen innerhalb tarifvertraglicher Rahmenbedingungen war den Betriebsparteien obligatorisch übertragen.

16 Frey, Hans-Paul: Sozialpartnerschaftliche Tarifpolitik: Die reformierten Flächentarifverträge der Chemischen Industrie, in: Busch/Frey/Hüther/Rehder/Streeck: Tarifpolitik im Umbruch, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2005, S. 124. 17 Zum Begriff vgl. z. B. Schack, Axel: Gruppenarbeit, Mitarbeitsverhältnis und die Arbeitsrechtsordnung, Duncker & Humblot-Verlag, Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 154, Diss., Berlin 1997, S. 67 ff., m. w. N.

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II. Flexible und wettbewerbsorientierte Tarifgestaltung (mit erweiterter betrieblicher Gestaltungsfreiheit)

Mitte der 90er-Jahre und vor dem Hintergrund insbesondere der Globalisierung sowie dem daraus resultierenden, rapide wachsenden Standortwettbewerb haben die Tarifparteien der chemischen Industrie ihre Tradition einer modernen Tarifpolitik fortgesetzt. Es wurde eine Neuorientierung der Tarifpolitik im Interesse einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und hiermit der ChemieArbeitsplätze in Deutschland eingeleitet. Die Öffnung der Flächentarifverträge in Richtung betrieblicher Ebene erschien mit Blick auf die Globalisierung und Differenzierung der Unternehmensstrategie insoweit als gebotene Antwort.18 Bereits zum damaligen Zeitpunkt wurde allerdings konstatiert, dass eine Öffnung des Flächentarifvertrages nur wirksam erfolgen kann, wenn durch die Öffnung eine Rückkopplung zwischen der Verhandlungsebene Tarifvertrag und der Verhandlungsebene Betriebsvereinbarung in Gang gesetzt wird.19 Zentrales Element dieser Modernisierung war dementsprechend das Konzept der Tariföffnungsklauseln, mit denen eine Reihe von Flexibilisierungen und (Handlungs-)Optionen für die Betriebsparteien in den Flächentarifverträgen verankert wurden. Mit diesem tarifpolitischen Instrument wurde die Möglichkeit eröffnet, die Vorteile eines Flächentarifvertrages mit den Vorteilen von dezentralen und betriebsbezogenen Lösungen zu verbinden. Für die chemische Industrie basierte das Konzept der flexibilisierten Tarifverträge neben den vorgenannten Flexibilisierungsmöglichkeiten auch auf dem Konzept der sogenannten „unternehmensbezogenen Verbandstarifverträge“20. Diese werden vom Arbeitgeberverband mit Wirkung für bestimmte Unternehmen und Betriebe im eignen Namen mit der zuständigen Gewerkschaft sowie unter aktiver Einbindung und Zustimmung der Betriebsparteien abgeschlossen. In der kunststoffverarbeitenden Industrie in Hessen wird dieses

18 Hüther, Michael: Globalisierung der Wirtschaft: Ist eine nationale Tarifpolitik noch möglich?, in: Busch/Frey/Hüther/Rehder/Streeck, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2005, S. 52. 19 Saeidy-Nory, Sarah/Schack, Axel: Der unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag: Das unbekannte Wesen?, in: Hanau/Thau/Westermann: Gegen den Strich – Festschrift für Klaus Adomeit, Luchterhand-Verlag, Köln 2008, S. 680 ff. 20 Saeidy-Nory, Sarah/Schack, Axel: Der unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag: Das unbekannte Wesen?, in: Hanau/Thau/Westermann: Gegen den Strich – Festschrift für Klaus Adomeit, Luchterhand-Verlag, Köln 2008, S. 680 ff.

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Instrument ebenfalls eingesetzt, zum Beispiel in Form von Überleitungstarifverträgen für bisher nicht tarifgebundende Unternehmen. Die neu geschaffenen Spielräume für die Akteure auf betrieblicher Ebene bei der (Mit-)Gestaltung von materiellen Arbeitsbedingungen waren entsprechend prägend für diese zweite Phase der flexiblen und wettbewerbsorientierten Tarifgestaltung. Inhaltlich konzentrierten sich die tariflichen Öffnungsklauseln für die chemische Industrie auf die beiden zentralen Regelungsbereiche der Arbeitszeit- und Entgeltgestaltung.

Abbildung 7: Flexibilisierungmöglichkeiten

Wie im weiteren Verlauf dieses Beitrages noch zu verdeutlichen sein wird, heben sich die Tarifverträge der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie insbesondere im Hinblick auf die geschaffenen Flexibilisierungen von den Tarifverträgen anderer Branchen ab. Denn mit den zuvor aufgezeigten Tarifreformen waren und sind Tarifpartner der chemischen und der kunststoffverarbeitenden Industrie bis heute Vorreiter.21 Infolge dessen verfügten die Chemie- und Kunststoffunternehmen im Bedarfsfall über beträchtliche Kosten- und Arbeitszeitspielräume, die zuletzt während der schweren Wirtschaftskrise 2008/09 genutzt wurden und somit eine erheblichen Beitrag zur Beschäftigungssicherung in den Unternehmen geleistet haben. 21 Wolf, Roland/Strybny, Derk: Flexibilisierungsregelungen der verschiedenen Wirtschaftszweige in Deutschland – Wo steht die Chemie?, in: Hromadka/Wolff: Flächentarifvertrag – Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Festschrift für Rolf-Achim Eich, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2005, S. 155 f.

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III. Modulare und demografieorientierte Tarifgestaltung (mit umfangreicher betrieblicher Gestaltungsfreiheit)

Die anschließende und aktuelle dritte Phase der zu betrachtenden Tarifgestaltung war und ist geprägt von dem gesellschafts- und sozialpolitischen Megatrend der letzten zehn bis 15 Jahre: dem demografischen Wandel22. Auch diesbezüglich haben sich die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie erneut als Vorreiter erwiesen und mit dem 2008 eingeführten und zuletzt 2012 in der Chemie ergänzten Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ tarifpolitisches Neuland betreten23. Im Mittelpunkt dieser neuartigen „Chemie-Formel“, mit der die Herausforderungen der alternden Gesellschaft aufgegriffen wurden, stehen betriebsbezogene, flexible Regelungen mit Optionscharakter für die betrieblichen Akteure. Dadurch wurde das bis dato schon flexible Chemie-Tarifwerk um weitere Spielräume für betriebs- und demografiebezogene Regelungen ergänzt. Elemente dieser neuen „ChemieFormel“ sind neben der Qualifizierung und einer alters-, alterns- und gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeitsprozesse eine Demografieanalyse, die Bildung eines Demografiefonds und mit der Neufassung des Tarifvertrages seit 2012 auch ein Demografie-Korridor zur flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit. Der in 2012 ergänzte Demografietarifvertrag befindet sich derzeit in der betrieblichen Umsetzungsphase. Der erste Tarifabschluss 2008 wurde von den Mitgliedsunternehmen von HessenChemie in kürzester Zeit umgesetzt. Wie die nachfolgenden Abbildungen zeigen, eröffnet der Tarifvertrag den Betriebsparteien mit flexiblen und modularen Verwendungsoptionen großen Gestaltungsspielraum bei der Verwendung des Demografiefonds. 22 „Demografischer Wandel bezeichnet Veränderungen in der Zusammensetzung von Gesellschaften, insbesondere der sogenannten Altersstruktur. So zeichnen sich beispielsweise moderne Gesellschaften dadurch aus, dass einerseits die Geburtenrate (Fertilität) niedrig ist und die Sterberate (Mortalität) seit einigen Jahrzehnten höher ist, als die Geburtenrate. Gleichzeitig steigt aber die Lebenserwartung der Bevölkerung, wodurch der Anteil der älteren gegenüber den jüngeren Menschen zunimmt. In vielen (z. B. Entwicklungs-)Ländern verhält es sich gerade umgekehrt: Der Anteil der jüngeren Bevölkerung übersteigt den der älteren Bevölkerung.“ Vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon. 5. aktual. Aufl., Dietz-Verlag, Bonn 2011. 23 Präambel zum Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ vom 16. April 2008 in der Fassung vom 24. Mai 2012.

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Abbildung 8: Demografiebetrag pro Tarifarbeitnehmer und Kalenderjahr

C. Faktoren einer erfolgreichen Tarifpolitik in der Zukunft In die Zukunft gerichtete und erfolgreiche Tarifpolitik ist aus Sicht der Autoren insbesondere von drei Faktoren abhängig, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen: Gestaltungsverantwortung, Gestaltungsspielräume und Gestaltungskompetenz. Die Bedeutung dieser Faktoren, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen, ist im Zuge der zuvor dargestellten Flexibilisierung der Tarifwerke der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie stetig gewachsen.

Abbildung 9: Der Zusammenhang zwischen Gestaltungsfaktoren und Flexibilisierungsgrad

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I. Gestaltungsverantwortung – Flexibilität in der Tarifpolitik

„Verantwortung“ bezeichnet die mit einer bestimmten Aufgabe, einer bestimmten Stellung verbundene Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht.24 Tarifpolitisch bedeutet „Gestaltungsverantwortung“ im Hinblick auf die Sozialpartner (Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung) die Verpflichtung, die auf tariflicher Ebene geschaffenen Möglichkeiten zur betrieblichen Ausgestaltung mit Augenmaß zu nutzen, um so Wettbewerbsfähigkeit und Standort- und Beschäftigungssicherung zu gewährleisten. Für die Tarifvertragsparteien meint Gestaltungsverantwortung hingegen die Aufgabe und Verpflichtung, für den gesamten vertretenen Industriezweig sinnvolle und angemessene Spielräume für die Betriebsparteien zu schaffen. Maßstab ist dabei zum einen, die einheitlichen Arbeitsbedingungen der geltenden Flächentarifverträge zu erhalten und zum anderen, den Unternehmen ausreichend Freiräume dafür zu gewähren, Regelungen entsprechend ihrer spezifischen Bedürfnisse eigenständig vereinbaren zu können. Betrachtet man die oben dargestellte Entwicklung der Tarifwerke der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie, sind die Tarifvertragsparteien ihrer Gestaltungsverantwortung gerecht geworden; im Besonderen gilt dies vor dem Hintergrund der Diskussionen um den Flächentarifvertrag und der hieraus abgeleiteten Notwendigkeit höherer betrieblicher Differenzierung.25 Die Befugnis zur Gestaltung auf der jeweiligen Ebene bringt auch zukünftig die Verpflichtung zur verantwortungsvollen Ausübung mit sich. Zum einen weiterhin für die Tarifvertragsparteien im Rahmen der verfassungsmäßig gewährleisteten Tarifautonomie. Andererseits ist aber auch die betriebliche Ebene entsprechend verantwortlich,

24 Duden, URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Verantwortung#Bedeutung1a; Stand: 26.03.2013. 25 Vgl. etwa Kunstmann, Heike Maria: Tarifverträge der Zukunft: Bewegungsspielräume in der tariflichen Vergütung, in: Lehmann: Tarifverträge der Zukunft, Verlag Recht und Wirtschaft, Frankfurt 2008, S. 238 f.; Hüther, Michael: Globalisierung der Wirtschaft: Ist eine nationale Tarifpolitik noch möglich?, in: Busch/Frey/ Hüther/Rehder/Streeck – Tarifpolitik im Umbruch, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2005, S. 39 ff.; Winkler, NZA – Beil. 2000, S. 10 (17).

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die eingeforderten und eingeräumten (Mit-)Gestaltungsbefugnisse angemessen und maßvoll zu nutzen. Inwieweit flexible Tarifverträge die aktive Umsetzung von Verantwortung auf betrieblicher Ebene erfordern, zeigt ein Vergleich der Tarifverträge der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie mit denen der Metall- und Elektroindustrie im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Instrumente der Flexibilisierung. Denn die Optionen, zugunsten unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungssicherung vom tariflichen Flächenniveau abzuweichen, sind in diesen Wirtschaftsbranchen unterschiedlich ausgestaltet26: Durch das im Jahr 2004 in der Metallund Elektroindustrie eingeführte „Pforzheimer Modell“.27 können im Wege ergänzender tarifvertraglicher Regelungen beispielsweise Arbeitszeitverlängerungen ohne/mit Entgeltausgleich sowie Kürzungen von Sonderzahlungen28 vereinbart werden. In der Chemie ist auf Ebene der Tarifvertragsparteien der unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag29 zu nennen, durch den im Rahmen einer speziellen tarifvertraglichen Regelung die Arbeitsbedingungen unternehmensbezogen angepasst werden können. Darüber hinaus ermöglichen es die Tarifverträge der chemischen bzw. der kunststoffverarbeitenden Industrie aber auch, innerhalb der tariflich gesetzten Grenzen vom Flächentarifvertrag durch betriebliche Regelungen abzuweichen30, wobei zumindest in Teilen die Zustimmung der Tarifvertragsparteien erforderlich ist. Zwar hängt es unstreitig von dem jeweiligen 26 Vgl. Brocker, Ulrich: Chemische Industrie und Metall- und Elektro-Industrie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Voscherau/Vassiliadis: Die Frey’sche Formel – Stationen der Chemie-Sozialpartnerschaft: Festschrift für Hans Paul Frey, Dr. Curt Haefner-Verlag, Wiesbaden 2011, S. 183. 27 Vgl. Brocker, Ulrich: Chemische Industrie und Metall- und Elektro-Industrie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Voscherau/Vassiliadis: Die Frey’sche Formel – Stationen der Chemie-Sozialpartnerschaft: Festschrift für Hans Paul Frey, Dr. Curt Haefner-Verlag, Wiesbaden 2011, S. 183. 28 So Brocker, Ulrich: Chemische Industrie und Metall- und Elektro-Industrie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Voscherau/Vassiliadis: Die Frey’sche Formel – Stationen der Chemie-Sozialpartnerschaft: Festschrift für Hans Paul Frey, Dr. Curt Haefner-Verlag, Wiesbaden 2011, S. 184. 29 Fußnote 1 Absatz 3 zu § 1 MTV Chemie vom 24. Juni 1992 in der Fassung vom 16. April 2008 30 Vgl. etwa Schack, Axel: Tarifverträge und betriebsbezogene Flexibilisierungsinstrumente in der chemischen Industrie Hessen, in: Hromadka/Wolff: Flächentarifvertrag – Zukunfts- oder Auslaufmodell?, Festschrift für Rolf-Achim Eich, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2005, S. 177 ff.

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Unternehmen und den Umständen des einzelnen Falles ab, inwieweit sich die unterschiedlichen Instrumente und deren Anwendung praktisch auswirken.31 Dennoch ergibt sich schon durch die verschiedenen Ebenen der Regelung eine unterschiedliche Ausgestaltung und somit auch ein unterschiedliches Maß an auszuübender Gestaltungsverantwortung. Das heißt, dass die Gestaltungsverantwortung im Metallbereich primär auf der tariflichen Ebene angesiedelt ist, während sie aufgrund der geschaffenen Öffnungen in der chemischen bzw. kunststoffverarbeitenden Industrie auch auf der Ebene der Betriebsparteien liegt, die innerhalb der tariflich gesetzten Grenzen noch „sachnäher“ agieren können. Schon eine Betrachtung der Flexibilisierungsmöglichkeiten beim tariflichen Arbeitszeitvolumen verdeutlicht den wesentlichen Unterschied zwischen beiden „Tarifsystemen“:

Abbildung 10: Möglichkeiten der Flexibilisierung des Arbeitszeitvolumens

31 So Brocker, Ulrich: Chemische Industrie und Metall- und Elektro-Industrie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Voscherau/Vassiliadis: Die Frey’sche Formel – Stationen der Chemie-Sozialpartnerschaft: Festschrift für Hans Paul Frey, Dr. Curt Haefner-Verlag, Wiesbaden 2011, S. 184.

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Die Darstellung zeigt, dass neben der Möglichkeit, das Arbeitszeitvolumen auf tariflicher Ebene zu gestalten, die Chemie- bzw. kunststoffverarbeitende Industrie die Option vorsieht, durch Nutzung des sogenannten „Arbeitszeitkorridors“ und des sogenannten „Demografiekorridors“ (nur Chemie) im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung das Arbeitszeitvolumen auf betrieblicher Ebene mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien zwischen 34 bzw. 35 Stunden und 40 Stunden anzupassen. Des Weiteren ist sowohl in der Metallals auch in der Chemie-Industrie auf individualrechtlicher Ebene die Möglichkeit vorgesehen, für einzelne Arbeitnehmer eine von der tariflichen Arbeitszeit nach oben abweichende Vereinbarung zu treffen, wobei in der chemischen Industrie hierfür zunächst eine betriebliche Regelung erforderlich ist (so geregelt im 2012 eingeführten sogenannten Demografie-Korridor). Diese Gegenüberstellung macht deutlich, dass die Tarifverträge der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie durch die geschaffenen betrieblichen Handlungsoptionen ein Regelwerk darstellen, das – im Vergleich zur Metall- und Elektroindustrie – den Betriebsparteien Freiheiten für maßgeschneiderte Lösungen bietet und somit auch die Gestaltungsverantwortung auf diese Ebene überträgt. Die tarifpolitischen Konsequenzen und die erforderlichen Schlussfolgerungen eines solchen tariflichen „Mehrebenensystems“ für die beteiligten Akteure werden im Folgenden insbesondere unter III. beleuchtet. Vor diesem Hintergrund ergeben sich im Hinblick auf die Frage einer zukünftigen Entwicklung der Tarifpolitik bezogen auf den in der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie heute bereits vorhandenen hohen Grad an Flexibilität zwei Optionen: Zum einen könnte das erreichte Maß an Flexibilität und betrieblichen Spielräumen seitens der betrieblichen Ebene als ausreichend erachtet werden. Dies hätte zur Folge, dass der erreichte Status quo zu erhalten und gegebenenfalls im Detail weiter auszutarieren bzw. im Sinne eines „Lessons-learned-Prozesses“ nachzusteuern wäre. Die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gestaltungsverantwortung der betrieblichen Ebene wären hierbei indes gering. Die zweite Option entspricht dem insbesondere auf betrieblicher Ebene ausgeprägten Bedürfnis nach stetiger Weiterentwicklung und damit einhergehenden weiteren Erhöhung der Flexibilität und der Individualisierung in den Tarifwerken. Dies wird erweitert durch den

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bestehenden Bedarf nach Vereinfachung und Entschlackung der Tarifverträge, der gleichzeitig die Notwendigkeit zur Modernisierung der Tarifverträge und auch der Abschaffung bzw. Umgestaltung bisher vorgesehener Bestandsschutzregelungen beinhaltet. Eine stärker ausgeprägte Gestaltungsmacht auf betrieblicher Ebene, zum Beispiel in Form einer eigenständigen Lohndifferenzierung hinsichtlich Unternehmensstruktur, Regionen oder qualifikatorischen Niveaus in den Betrieben, könnte künftig ein weiterer Hebel sein, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Ein sinnvolles und erfolgreiches Austarieren kollektiver und betrieblicher Kompetenz bei der Tarifgestaltung könnte so beides erreichen: die Entlastung vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen von Transaktionskosten durch das kollektive Verhandeln tariflicher Rahmenbedingungen und die Schaffung bestmöglicher Flexibilität und Gestaltungsfreiheit für die Betriebe selbst. Jedoch hat eine weitere Erhöhung der Spielräume für betrieblich maßgeschneiderte Lösungen, wie anhand des obigen Vergleiches dargestellt wurde, automatisch zur Folge, dass die (Mit-) Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene im gleichen Maße die Verantwortung ihrer Akteure zur maßvollen und nachhaltigen Nutzung erhöht. Dieser zunehmenden Verantwortung müsste die betriebliche Ebene in angemessener Weise nachkommen.32 II. Gestaltungsspielräume – Innovationen in der Tarifpolitik

Ein weiterer Faktor, der die künftige Tarifpolitik maßgeblich beeinflussen wird, lässt sich unter dem Begriff der sog. „Gestaltungsspielräume“ zusammenfassen. Hierunter ist auf der einen, der tarifvertraglichen Seite, die Qualität der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen im Hinblick auf die Differenzierung durch die Tarif-/ Betriebsparteien zu verstehen. Hier kommt es insbesondere auf die Innovationsfähigkeit der jeweils gestaltenden Ebene an. Durch tarifliche Innovationen werden die betrieblichen Gestaltungsspielräume erweitert, die Bandbreite für spezifische betriebsbezogene Lösungen wird vergrößert. Somit können auf dieser (betrieblichen) Ebene im Rahmen der geschaffenen Gestaltungsspielräume die betrieblichen Bedürfnisse durch innovative Regelungen abgebildet werden. Dies

32 Vgl. insb. Hüther, Michael: Globalisierung der Wirtschaft: Ist eine nationale Tarifpolitik noch möglich?, in: Busch/Frey/Hüther/Rehder/Streeck – Tarifpolitik im Umbruch, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2005, S. 42.

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bedeutet, dass durch die Ausweitung der Gestaltungsspielräume durch „tarifinnovative“ Regelungen zugleich Spielraum für die betriebliche Ebene geschaffen wird, um innovative und passgerechte Lösungen zu finden. Gleichzeitig müssen die tarifvertraglichen Regelungen handhabbar bleiben. Prägend sind hierbei insbesondere das Zusammenwirken und die gegenseitige Beeinflussung der tariflichen und der betrieblichen Regelungsebene. Die betriebliche Ebene ist maßgeblich für die Willensbildung auf tariflicher Seite. Denn die betrieblichen Akteure bringen ihre Bedürfnisse und Lösungsansätze im Hinblick auf die (neuartige) Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf der tariflichen Ebene ein. In der Folge können die so identifizierten Regelungsinhalte auf tariflicher Ebene fixiert und damit für die Gesamtheit der organisierten Unternehmen in Form neuer innovativer Regelungen verankert werden. Die so geschaffenen Spielräume sollten dann auch entsprechend durch die Betriebsparteien genutzt werden. Denn die Fähigkeit auch zu tariflicher Innovation wird künftig mehr denn je zum Wettbewerbsfaktor. So wird die Attraktivität des Chemiestandortes Deutschland stark vom Grad der Innovationsfähigkeit im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen abhängen. III. Gestaltungskompetenz – Know-how in der Tarifpolitik

Befürwortet man eine Entwicklung der Tarifpolitik zugunsten von Flexibilisierung und dem Ausbau tariflicher Gestaltungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene, hat dies zunächst ein steigendes Maß an Gestaltungsverantwortung auch für die betrieblichen Akteure zur Folge.33 Dies verlangt vorrangig aber zweierlei: Der Ausbau von Gestaltungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene muss gerade wegen der damit einhergehenden Verantwortung seitens der Unternehmen gewollt sein. Und um dieser Gestaltungsverantwortung angemessen und maßvoll gerecht werden zu können, muss auf betrieblicher Ebene die erforderliche Gestaltungskompetenz auch vorhanden sein. Daher müssen die Unternehmen zunächst die Entscheidung treffen, ob sie diesen Spielraum wünschen. Hierfür bedarf es allerdings auch eines größeren Interesses auf betrieblicher Ebene an übergeordneter,

33 Siehe Kapitel C. I., S. 296.

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Abbildung 11: Das Kompetenzdreieck innovativer Tarifpolitik

sprich nationaler Tarifpolitik. Denn die Nutzung der auf tariflicher Ebene gegebenen Spielräume ist bei Kenntnis der entsprechenden tarifpolitischen Aspekte, die zur Schaffung dieser Spielräume geführt haben, erheblich erleichtert. Tariflich geschaffene Differenzierungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene dürfen zudem nicht nur aus isolierter betrieblicher Sicht betrachtet und genutzt werden. Vielmehr kann dies nur dann erfolgreich und zukunftsgerichtet geschehen, wenn die Nutzung nicht nur tarifrechtlich, sondern vielmehr auch tarifpolitisch, dem „Geiste“ der geschaffenen Flexibilisierungsmöglichkeit entspricht. Dieses notwendige Interesse an Tarifpolitik mit dem damit einhergehenden zeitlichen Aufwand im Rahmen ehrenamtlichen Engagements bei den Sozialpartnern ist im Modell der weitergehenden betrieblichen Gestaltungsräume unerlässlich. Dies gilt auch mehr für die Interessen kleinerer und mittlerer Unternehmen, wie es gerade im Falle der besonders mittelständisch geprägten kunststoffverarbeitenden Industrie festzustellen ist. Gerade hier besteht die Möglichkeit für kleinere Unternehmen, Ihre Interessen im besonderen Maße zu vertreten. Des Weiteren obliegt es in der Folge den Unternehmen, die dargestellte Verantwortung durch den konsequenten Aufbau tarifpolitischer Kompetenz auf betrieblicher Ebene zu übernehmen. „Eine Individualisierung erfordert einen unter Umständen zeitraubenden

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Abbildung 12: Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Komplexität und Beteiligung

und kostenträchtigen Lernprozess des Interessenausgleichs und der Konfliktlösung auf der betrieblichen Ebene, der wiederum seinen Niederschlag in der täglichen Personalführung finden wird und muss“34. Den Verbänden und Gewerkschaften hingegen wird in diesem Fall die Aufgabe zufallen, eben jenes tarifpolitische Knowhow in den Unternehmen des Mittelstands nachhaltig zu fördern, zu verankern und auszubauen, um so diesen Aufbau von Tarifkompetenz unterstützend zu begleiten. Insbesondere auf diesem Weg kann es in diesem Modell künftiger Tarifpolitik etwa dem Mittelstand gelingen, die sich gegebenenfalls eröffnenden Spielräume zu nutzen, um die wachsende Heterogenität der Unternehmen und die ihrer Interessen im Rahmen einer flexiblen, verantwortlichen und innovativen Tarifpolitik angemessen zu berücksichtigen.

34 Hüther, Michael: Globalisierung der Wirtschaft: Ist eine nationale Tarifpolitik noch möglich?, in: Busch/Frey/Hüther/Rehder/Streeck – Tarifpolitik im Umbruch, Deutscher Instituts-Verlag, Köln 2005, S. 39 ff.

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Der tariflichen Ebene kommt hierbei die Aufgabe zu, zunächst die Flexibilisierungsmöglichkeiten zu vereinbaren. Diese Aufgaben übernimmt die zuständige Tarifkommission. In diesem Gremium können die Unternehmens- und Arbeitnehmervertreter die jeweiligen betrieblichen Interessen einbringen. Ohne Mitarbeit in der Tarifkommission kann eine zielorientierte Interesseneinbringung nicht erfolgen. Der Erfolgsgarant für eine gute Tarifpolitik ist die gute Einbindung des Ehrenamtes in die verbandliche Arbeit. Die Wahrnehmung dieses „Ehrenamtes“ ist hierbei von allergrößtem Nutzen für die Mitgliedsunternehmen, da so die Möglichkeit besteht, neben dem Einbringen der Unternehmensinteressen auch gleichzeitig den gesamten Industriezweig leistungsfähig zu erhalten bzw. die Rahmenbedingungen mit zu gestalten. Diese Aufgabe ist eine der Kernaufgaben der tarifpolitischen Interessenvertretung tarifgebundener Mitgliedsunternehmen. Sie ist nicht etwa gleichzusetzen mit sonstigem ehrenamtlichem Engagement wie zum Beispiel im Rahmen der Unterstützung sozialer Projekte. Vielmehr dient dieses ehrenamtliche Tätigwerden dem ureigenen Selbstzweck der Tarifmitglieder. Die tarifliche Ebene hat in der Folge bei der Nutzung der gegebenen Gestaltungsmöglichkeit zu beraten und entsprechend insbesondere konzeptionelle Unterstützung zu leisten. Die Umsetzung der gefundenen Lösungen erfolgt allerdings auf betrieblicher Ebene. Die hierzu notwendige Umsetzungskompetenz muss in den Unternehmen, also auf betrieblicher Ebene, vorhanden sein bzw. entsprechend aufgebaut werden, wie die folgende schematische Darstellung zeigt:

Abbildung 13: Die Umsetzung tariflicher Lösungen

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Hierbei kann der „Rückgriff“ auf externes „Chemie- bzw. KVI-fremdes“ Know-how, beispielsweise in Gestalt von externen Beratungsunternehmen, nicht erfolgversprechend sein. Denn die Nutzung „Chemie- bzw. KVI-spezifischer“ betrieblicher Gestaltungsmöglichkeiten erfordert die Schaffung „Chemie- bzw. KVI-spezifischer“ Lösungen, die nur mit dem entsprechenden Know-how möglich sind. Hierbei ist insbesondere das Modell der Sozialpartnerschaft prägend. Das gemeinsame Verständnis der Sozialpartnerschaft kann allerdings nur innerhalb der Chemie- bzw. kunststoffverarbeitenden Industrie im notwendigen Maße vorhanden sein.

D. Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Tarifpolitik der Zukunft I. Erhalt der Tarifeinheit

Verlässliche Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Tarifpolitik setzen zuallererst bei der Stärkung der Tarifautonomie als der wesentlichen Grundlage der sozialen Marktwirtschaft an. Wie bereits zuvor angesprochen, hat die Bewältigung der vergangenen Finanzund Wirtschaftskrise durch effizientes Handeln von starken, geschlossenen Verbänden unter Beweis gestellt, wie wichtig ein effektives und verlässliches Tarifsystem für die Sicherung von Standort und Beschäftigung ist. Entscheidend ist dabei, dass die Tarif- und Betriebspartnerschaft vom gemeinsamen Willen zur Regelung der Arbeitsbedingungen getragen ist.35 Vor diesem Hintergrund ist die Tarifeinheit eine tragende Säule der Tarifautonomie. Sie ist als ein zentrales Element der Tarifautonomie Teil der Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes. Der Grundsatz der Tarifeinheit (= „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“) hat mehr als 50 Jahre für einheitliche Arbeitsbedingungen in einem Betrieb gesorgt, den betrieblichen Frieden sichergestellt und Solidarität in der gesamten Belegschaft über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg geschaffen. Die Stichpunkte wie „Funktionsfähigkeit des Tarifsystems“ und „Prinzip der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit“ sind hierbei genannt worden und immer wieder zu nennen.

35 Vgl. BDA kompakt – Tarifeinheit, URL: http://www.arbeitgeber.de/www/arbeitgeber.nsf/res/3F25DF0C94F307EBC125774D002B1995/$file/kompakt-Tarifeinheit.pdf

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Infolge der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit für eine konstruktive Tarifpolitik durch die Rechtssprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichtes im Jahre 201036 ist für die Tariflandschaft eine schädliche Zersplitterung durch die Förderung von Spartengewerkschaften und Partikularinteressen zu befürchten. Wie die jüngere Vergangenheit beispielsweise bei den Auseinandersetzungen zwischen der Lufthansa und den Vorfeldarbeitern und Fluglotsen am Frankfurter Flughafen bewiesen hat, drohen Dauerkonflikte um Einzelinteressen, die Produktionsprozesse unterbrechen und so die Wirtschaft insgesamt schwächen. Der Standortvorteil für Deutschland gerät hierdurch in Gefahr. Eine flexible und betriebliche Orientierung der Tarifpolitik wird erheblich erschwert. Dadurch wird eine konstruktive und innovative Tarifpolitik unmöglich. Letztendlich kann der soziale Frieden in Deutschland erheblich gefährdet werden. Aus diesem Grund haben BDA und DGB den Gesetzgeber aufgefordert, die Tarifeinheit nunmehr gesetzlich zu regeln.37 Aus dieser Initiative zog sich der DGB Mitte 2011 jedoch bedauerlicherweise zurück. Auch die Chemie-Sozialpartner sprechen sich in einer gemeinsamen Erklärung für eine gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit aus38. Der Gesetzgeber darf nicht abwarten, sondern müsste nach wie vor im Interesse des funktionierenden Tarifsystems handeln. Aufgrund der Neugründung von Spartengewerkschaften seit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit ist die Gefahr virulent. Es geht um die Tarifautonomie als wichtige Säule der sozialen Marktwirtschaft. II. Vertrauensvolle Sozialpartnerschaft

Wie im Rahmen dieses Beitrags bereits ausgeführt worden ist, ist eine erfolgreiche Tarifpolitik untrennbar mit einem funktionierenden Zusammenspiel aller tarifpolitischen Akteure, das heißt der

36 BAG, Urteil vom 7. Juli 2010 – 4 AZR 549/08; vgl. zum gesamten Komplex statt vieler Hromadka, Wolfgang/Schmitt-Rolfes, Günther: Am Ziel? Senat will Grundsatz der Tarifeinheit bei Tarifpluralität kippen, NZA 2010, S. 687 ff. m. w. N. 37 Vgl. „BDA kompakt“, a. a. O. sowie Greiner, Stefan: Der Regelungsvorschlag von DGB und BDA zur Tarifeinheit, NZA 2010, S. 743 ff. und ders.: Die Ausgestaltung eines „Tarifeinheitsgesetzes“ und der Streik am Frankfurter Flughafen, NZA 2012, S. 529 ff. m. w. N. 38 Vgl. die „Gemeinsame Erklärung der Chemie-Sozialpartner“ v. 02.11.2010, URL: http://www.bavc.de/bavc/mediendb.nsf/gfx/E3CA5B5EC7580D97C12577CF004E8F3 C/$file/Erklaerung_Tarifeinheit.pdf.

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Betriebsparteien, der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, verbunden. Eine Tarifpolitik, die modern und innovativ sein will, setzt daher ein von Vertrauen geprägtes und auf konstruktive Zusammenarbeit ausgerichtetes Verhältnis zwischen Betriebs- und Tarifvertragsparteien voraus.39 Diesbezüglich nehmen die Sozialpartner der chemischen Industrie nach ungeteilter öffentlicher und wissenschaftlicher Meinung eine unumstrittene Vorreiterrolle ein. In einem seit 1971 andauernden Prozess ist es Ihnen gelungen, eine pragmatische Zusammenarbeit zu etablieren, die seit mehr als 40 Jahren den Kompromiss in den Vordergrund rückt.40 Die Sozialpartnerschaft war bisher belastbar und soll es auch in Zukunft bleiben. Dabei steht der „faire Kompromiss“ auch zukünftig an erster Stelle, hierbei geführt und getragen von einer funktionierenden Sozialpartnerschaft. Neben den Tarifverträgen selbst sind die gemeinsamen Einrichtungen und die außertariflichen Sozialpartner-Vereinbarungen Teil dieses außergewöhnlichen Erfolgs.41 Im Rahmen einer andauernden Weiterentwicklung ermöglicht der produktive Austausch der Sozialpartnern ein frühzeitiges Identifizieren und ausführliches Aufarbeiten relevanter Themen, verbunden mit der Kompetenz, diese anschließend tarifvertraglich auszugestalten. Als Beispiel hierfür kann auch hier auf den Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ aus dem Jahre 2008 und seine jüngste Weiterentwicklung im Jahre 2012 verwiesen werden. Der progressive Charakter dieses Tarifwerks und das hierfür notwendige Maß an Komplexität wären in dieser Form ohne eine funktionierende Sozialpartnerschaft und die damit verbundene langjährige gemeinsame Vorarbeit zum Themenkomplex des demografischen Wandels nicht möglich gewesen.42

39 Hansen, Hans-Carsten: Mehr als nur Prozente – qualitative Tarifpolitik in der Chemie seit 2001, in: Frey: Bewahren, Verändern, Gestalten – Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2009, S. 183 f. 40 Institut der deutschen Wirtschaft Köln: iw-Dienst Nr. 23, Juni 2012, S. 3 41 Siehe z. B. www.cssa-wiesbaden.de; Bundesarbeitgeberverband Chemie: Außertarifliche Sozialpartner-Vereinbarungen, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2012. 42 Hansen, Hans-Carsten: Mehr als nur Prozente – qualitative Tarifpolitik in der Chemie seit 2001, in: Frey: Bewahren, Verändern, Gestalten – Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2009, S. 184.

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Das Betreten und Ausgestalten tarifpolitischen Neulands ist allerdings nicht das einzige positive Merkmal einer funktionierenden Sozialpartnerschaft. Sie ist gleichzeitig auch eine unverzichtbare Hilfe bei der Verankerung und Kommunikation tarifpolitischer Inhalte auf interner und externer Ebene. Das Gewährleisten einer erfolgreichen Umsetzung von tariflichen Regeln in den Unternehmen, in Form der kompetenten Vermittlung von tariflichen Inhalten und Verfahrensweisen, ist in diesem Zusammenhang nur ein Baustein. In Verbindung hiermit ist eine starke Sozialpartnerschaft darüber hinaus in der Lage, die Ebene der Betriebsparteien für tarifpolitische Themen nachhaltig zu sensibilisieren. Die in den Unternehmen so geschaffene Kompetenz und das Bewusstsein auch für die Notwendigkeit, neue Themen und Entwicklungen frühzeitig aufzugreifen und in konstruktiver Weise gemeinsam zu erarbeiten, um sie tariflich erfolgreich modellieren zu können, wirkt anschließend positiv in die Willensbildung der Tarifvertragsparteien zurück. Im Hinblick auf die öffentliche und politische Kommunikation der auf diese Weise erzielten Erfolge bildet das gemeinsame Wirken der Sozialpartner ebenfalls eine wichtige Säule. Dies wird im folgenden Abschnitt näher erläutert werden. III. Kampagnenfähigkeit und Kommunikation

Als Rahmenbedingung für eine erfolgreiche Tarifpolitik spielt auch die Information von Politik und Öffentlichkeit eine essentiell wichtige Rolle. Speziell vor dem Hintergrund der beschriebenen zunehmenden Differenzierung und Komplexität der Tarifwerke ist eine professionell informierte politische Ebene unabdingbar.43 Die Möglichkeiten der Sozialpartner gehen allerdings weit über das reine Erklären tarifpolitischer Inhalte im politischen und öffentlichen Raum hinaus. So schafft eine professionelle Kommunikationsarbeit ein externes Bewusstsein für die Fähigkeit von Tarifpolitik, in einem zunehmend komplexeren Umfeld flexible und innovative Antworten auf neue Themen oder auch Problemstellungen geben zu können. Gleichzeitig macht sie durch das Vermitteln dieser tarifpolitischen Lösungen auch

43 Hansen, Hans-Carsten: Mehr als nur Prozente – qualitative Tarifpolitik in der Chemie seit 2001, in: Frey: Bewahren, Verändern, Gestalten – Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2009, S. 184.

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auf den allgemeinen Handlungsbedarf bei wichtigen Themen aufmerksam, wie beispielsweise in den Bereichen Demografie, Bildung oder Gesundheit. Nicht nur die Inhalte, sondern die grundlegende Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Tarifpolitik im Allgemeinen und Tarifautonomie im Besonderen werden so nachhaltig in Gesellschaft und Politik etabliert. Ein geschlossenes und koordiniertes Auftreten der Sozialpartner mit gemeinsamen Botschaften ist in diesem Zusammenhang umso wirkungsvoller, wenn es um die Überzeugung politischer Entscheidungsträger geht.44 Dies zeigt unter anderem die aktuelle Diskussion auf europäischer Ebene zur Betriebsrententhematik deutlich. Allerdings heißt Kommunikation auch proaktives Themensetting. Dies haben die Sozialpartner der chemischen und kunststoffverarbeitenden Industrie bisher in vielerlei Hinsicht für die Belange der Branche genutzt. Neben inhaltlichen Fragen und dem Grad von Kooperation spielt auch die Wahl der Kommunikationsinstrumente, insbesondere der Neuen Medien, eine gewichtige Rolle. Dies gilt vor allem im Hinblick auf eine vereinfachte Durchführung von Kampagnen und der direkten Kommunikation und Meinungsbildung im öffentlichen Raum. Die Chancen und Risiken, die diesen neuen Instrumenten innewohnen, zu erkennen, richtig einzuschätzen und auf dieser Grundlage verantwortungsvoll zu handeln, ist allerdings ein weiterer Aspekt der Kommunikationsarbeit, den es zu berücksichtigen gilt.

44 Hansen, Hans-Carsten: Mehr als nur Prozente – qualitative Tarifpolitik in der Chemie seit 2001, in: Frey: Bewahren, Verändern, Gestalten – Tarifpolitik und Arbeitsrecht in Zeiten der Globalisierung, Dr. Curt Haefner-Verlag, Heidelberg 2009, S. 184.

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