SWR2 Musikstunde, Dienstag, 22. Januar 2013,

__________________________________________________________________________ 2 SWR2 Musikstunde, Dienstag, 22. Januar 2013, 09.05 – 10.00 Uhr Erik ...
Author: Johanna Bach
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SWR2 Musikstunde, Dienstag, 22. Januar 2013,

09.05 – 10.00 Uhr

Erik Satie, meine Damen und Herren -: wir begegnen ihm heute morgen noch einmal in dem Hafenstädtchen Honfleur, an der Mündung der Seine. Es war keine glückliche Kindheit, die er hier erlebt hat. Nach dem frühen Tod seiner englischen Mutter hat ihn sein Vater, ein Schiffsagent, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Conrad, aus Paris wieder hierher zurück an den Atlantik gebracht, zu den Großeltern. Die bewegen den Sechsjährigen, der – wie seine verstorbene Mutter – anglikanisch getauft war, sofort dazu, diesem Glauben abzuschwören und die katholische Taufe zu empfangen. Vielleicht sind es diese eher traurigen Lebensumstände, die seiner Musik jenen charakteristischen melancholischen Grundton unterlegen, der sich noch in seinen spöttischsten und humorigsten Klavierstücken findet. Gut möglich auch, dass in diesem religiösen Hin- und Her der Antrieb zu finden ist, für seine späteren Ausflüge in die Esoterik. Jedenfalls genießt er bei dem Organisten von Saint Léonard in Honfleur, bei Monsieur Vinot, ersten Musikunterricht und lernt die zeitlose Schönheit der alten liturgischen Musik kennen, insbesondere den gregorianischen Choral. Es ist seine erste Begegnung mit der Klangwelt des Mittelalters. Die diatonischen Melismen und modalen Linien des einstimmigen mittelalterlichen Gesangs, dessen Schönheit in einer Einfachheit und einer Schlichtheit gründet, die völlig frei ist von individuellem Ausdruck und persönlicher Emotion, sie üben auf den Jungen, der ja von früh an gezwungen war, seine eigene Gefühle unter Kontrolle zu halten, eine eigentümliche Faszination aus. Stundenlang, so erzählt sein Bruder Conrad später, konnte Erik die Spitzbögen in Notre Dame betrachten. „Ogives“, Gotische Spitzbögen, so heißt denn auch der 1886 entstandene Zyklus aus vier formal identischen Stücken, der diese Betrachtungen ins Musikalische überträgt. Hier greift Satie Satztechniken auf, die eigentlich der mittelalterlichen Klangwelt der Parallelorgana - sagen wir eines Perotin – angehören. Und seltsam: bis heute klingen diese Stücke sonderbar modern, irgendwie zeitlos und abstrakt. Jean-Pierre Armengaud:

3 1 Musik / takes 1 – 4 Erik Satie „Ogives“ Jean-Pierre Armengaud, Klavier MAN 4824

8´11

Jean-Pierre Armengaud war das mit « Quatre Ogives », vier Spitzbögen von Erik Satie. Zurück nach Honfleur: Als dort die Großmutter stirbt, holt der Vater den Zwölfjährigen Erik und seinen vier Jahre jüngeren Bruder zu sich nach Hause, zurück nach Paris. Hier hat sich inzwischen einiges geändert. Der Vater, der sich mittlerweile als Musikverleger eingerichtet hat, ist frisch verliebt und möchte wieder heiraten. Und zwar die Klavierlehrerin, Eugénie Barnetche. Die betätigt sich auch als Komponistin von Salonmusik-Stücken, die nicht nur ihr Mann verlegt. Und auch Alfred Satie entdeckt seine musikalische Ader: während seine Frau ausschließlich für das Klavier schreibt, sind Music-Hall-Songs seine Spezialität. Keine Frage: schon Jahre bevor sich Erik Satie selbst Nacht für Nacht im Milieu der Cabarets und Varietés, der Music-Hall und der Cafés bewegen wird, hat ihn Musik aus dieser Welt erreicht. Und: geprägt.

2 Musik / take 16 Erik Satie Chanson Mady Mesplé, Sopran; Aldo Ciccolini, Klavier EMI 7491672

1´00

Mady Mesplé war das mit „Chanson“ von Erik Satie. Es war übrigens seine Stiefmutter Eugénie Satie-Barnetche, mit der sich Erik eigentlich nie so richtig anfreunden konnte, die den Jungen am 4. November 1879 im Conservatoire National de Musique et de Déclamation einschreibt. Hier legt er im Verlauf von sieben langen Jahren allerdings eine alles andere als rühmliche Karriere hin. Er glänzt durch häufige Abwesenheit und landet bald in der Klavierklasse von Georges Mathias, einem Chopinschüler, dem früheren Lehrer ausgerechnet seiner Stiefmutter. „Begabt, aber faul“, so das einhellige Urteil seiner Lehrer. Er sei eine Niete, der faulste Schüler des Konservatoriums. Sein Klavierspiel sei mittelmäßig bis schlecht, eben wertlos, er könne nicht richtig vom Blatt spielen und brauche viel zu

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lang, um ein Stück zu erlernen. Was Wunder also, dass Satie die Flucht ergreift. Die unschönen Erinnerungen an seine Zeit der Klavierprüfungen am Conservatoire, in dieser – wie er später schrieb – „Haftanstalt ohne jeden Reiz“ – sie werden ihn Zeit seines Lebens begleiten. Erst 20 Jahre später wird er wieder auf die Schulbank zurückkehren, dann aber auf die Schola Cantorum, wo er im Alter von 42 Jahren sein erstes Diplom erhält.

3 Musik / take 9 Erik Satie Gnossienne Nr. 2 European Music Project Günter Steinle

2´19

Satie´s „Gnossienne Nr. 2“ in einer Version des European Music Project für Vibraphon und Klavier. Der ungeliebten Haftanstalt Conservatoire folgt der verhasste Militärdienst, den er übrigens vorsätzlich verkürzt, indem er sich mit nacktem Oberkörper einer frostkalten Winternacht aussetzt und sich dabei die für seine Entlassung notwendige Lungenentzündung einhandelt. Endlich ist er frei. Dem Elternhaus kehrt er nun den Rücken und sucht sich – immer auf der Flucht vor Gläubigern - eine eigene Bleibe in der Rue Cortot Nr. 6, hoch oben auf dem Montmarte: ein Bohemien. Die Haare trägt er jetzt lang wie ein Nazarener, dazu eine Levitenrobe, einen Gehrock mit Ritterkragen, einen Zylinder, einen Kneifer mit Samtkordel und eine ausgebeulte Hose: Monsieur le Pauvre, nennt man ihn. Zusammen mit seinem Freund Contamin de Latour verbringt er die meisten Tage und noch mehr Nächte im Chat Noir. Hier entwerfen sie gemeinsame Werke, denken sich esoterische Sekten oder irgendwelchen Unfug aus. In dieser Zeit macht er auch die Bekanntschaft von Joséphin „Sar“ Péladan, dessen Schriften er schon während seiner Militärzeit gelesen hatte. Mit seiner bizarren Mischung aus modischer Magie, Spiritismus und Okkultismus, Gralsmystik und religiösem Kitsch übte der Großmeister des Ordre de la Rose-Croix Catholique et esthétique du Temple et du Graal damals einen enormen Einfluss auf die Pariser Intellektuellen aus. Péladan verherrlichte das Mittelalter, träumte sich in den Orient, erfand sich eine babylonische Abstammung und wetterte gegen Demokratie, Militär und Versklavung des Menschen in der modernen Massengesellschaft. Rettung versprach da nur das Ritual einer Kunst mit magisch-

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liturgischem, gottesdienstlichem Charakter. Satie war begeistert. Offenbar waren seine ästhetischen Ideen identisch mit denen von Péladan. Jetzt wird er eine Art „Kantor“ im Orden der Rosenkreuzer. So kommt der frischgebackenen PéladanJünger am 10. März 1892 wenigstens zu seiner ersten öffentlichen Aufführung. Hier kommt aus den „Sonneries de la Rose Croix“, aus dem „Geläut des Rosenkranzes“, die Melodie des Großmeisters, Le Sar Joséphin Péladan.

4 Musik take 7 Erik Satie „Air du Grand Maitre“ aus Sonneries de la Rose Croix Steffen Schleiermacher, Klavier MDG 613 1064-2, LC 06768

6´50

Das war die „Melodie des Großmeisters“, ursprünglich für Trompeten und Harfe, aus Erik Saties „Sonneries de la Rose Croix“. Steffen Schleiermacher spielte das heute nur noch als Klavierauszug vorhandene Stück. Die „Sonneries“ waren sein erstes, öffentlich aufgeführtes Werk – das mag erklären, wieso Satie – der so ziemlich das Gegenteil eines Wagnerianers war – dem Orden eines Gurus beitrat, der die Götterwelt Wagners ebenso sehr verehrte wie die Musik ihres Schöpfers. Daher wundert es nicht, dass der Rosenkreuzer-Spuk Saties, den seine Freunde damals nur noch Esoterik Satie nannten, schnell vorbei war. Monsieur le Pauvre brach geräuschvoll -: und öffentlich. Erst kündigte er die Aufführung einer Oper mit dem Titel „Tristans Bastard“ an, dann distanzierte er sich in einem respektlosen Artikel im Gil Blas, seiner bevorzugten Tageszeitung, vom Großmeister Péladan. Woraufhin der jeden Kontakt abbrach. Dafür gründete Satie einfach eine eigene Kirche: Die Metropolitankirche der Kunst unseres Lenkers Jesus Christus. Er war ihr einziges Mitglied.

5 Musik takes 1 – 4 Erik Satie En Habit de Cheval Orchestre du Capitol de Toulouse, Leitung : Michel Plasson EMI 7 49471 2 / SWR 336-1375 ams

6´58

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« En Habit de Cheval », « Im Reitrock » von Erik Satie. Michel Plasson leitete das Orchestre du Capitol de Toulouse. Zu diesem Stück schreibt Satie : « Ich habe zwei Chorälen und zwei Fugen den Titel ´Im Reitrock´gegeben. Freunde haben mich oft gebeten, einige Details dieses Reitkostüms genauer darzustellen. Woraus besteht es eigentlich? Jackett? Riding-coat? Stiefel oder Reithosen? Trägt der Reiter einen Hut?“ Es ist das erste Stück, das Satie komponiert hat, nachdem er noch einmal die Schulbank gedrückt hatte. Sein Freund Debussy hatte ihn gewarnt: „Nehmen Sie sich in Acht. Sie spielen ein gefährliches Spiel. In Ihrem Alter krempelt man sich nicht mehr so einfach um.“ Aber Satie hatte sich nicht abbringen lassen: „Wenn ich scheitere“, meinte er, „ dann um so schlimmer für mich. Das bedeutete, dass nichts in mir steckt.“ Und so sprach er bei Vincent d´Indy vor, damals Rektor der Schola Cantorum und selbst ein anerkannter Komponist, und bat darum, kostenlos am Kontrapunktunterricht teilnehmen zu können. Das wurde ihm bewilligt. Und so studierte er noch einmal drei Jahre lang bei Albert Roussel. In einem ehemaligen Kloster; an einem Institut, das sich für die Rückkehr zur gregorianischen Schule einsetzte, ganz wie sein erster Musiklehrer in Honfleur, Monsieur Vinot. Satie studierte ernsthaft. Fleißig. Und vor allem: ohne jede Ironie. Das überraschte seine Lehrer, die ihm immer wieder bestätigten, dass er sein Handwerk beherrschte. Aber Satie, wie traumatisiert von seinen katastrophalen Misserfolgen am Conservatoire, ließ nicht locker. Er besuchte sogar als Gasthörer den Orchestrationsunterricht von Vincent d´Indy. Und notierte sich gewissenhaft die Empfehlungen seines Lehrer: „Englischhorn und Flöte niemals gemeinsam verwenden!“ Oder: „Horn und Posaune, es bringt nichts, sie zu koppeln.“ Oder auch: „Nie mehr als zwei Trompeten. D´Indy sagt: drei Trompeten, das ist der Weltuntergang.“ Am 15. Juni 1908 hielt er das erste Musik-Diplom seines Lebens in Händen. Darunter stand: Trés bien. Ein späte Auszeichnung.

6 Musik / take 22 Erik Satie Les Pantins dansent L´orchestre de satie, Leitung : Yutaka Sado ERATO SWR 337-3604

2´03

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“Les Pantins dansent”, so klingt es, wenn Erik Satie die Hampelmänner tanzen lässt: Yutaka Sado dirigierte das Orchester Satie. Erik Satie und die Hunde, meine Damen und Herren. Zwei seiner schönsten und originellsten kurzen Klavierzyklen hat er tatsächlich Hunden gewidmet. Man war oft geneigt, diese eher absurden Zueignungen als Scherz und Ulk abzutun. Gewiss, Erik Satie hat die Hunde geliebt. Immer wieder streunen sie durch seine Texte: „Wer mich liebt, liebt meinen Hund“, heißt es da. Oder: „Die Ergebenheit des Hundes gegenüber dem Menschen ist nur Mitleid – mehr nicht. Dem Menschen fehlt der gute Riecher, daher verliert er seinen Hund.“ Satie hat sich immer wieder dieser verlorengegangenen Hunde und Straßenköter angenommen. Laut Cocteau trug er sich sogar mit dem Plan, ein Bühnenwerk für sie zu komponieren: „Ich möchte ein Stück für Hunde schreiben“, sagte er, „und ich habe schon die Kulisse. Der Vorhang hebt sich vor einem Knochen. Arme Hunde! Es ist ihr erstes Stück. Nachher wird man ihnen schwierigere Schauspiele vorsetzen, aber immer wird man auf den Knochen zurückkommen.“ Es war die Satie-Kennerin Ornella Volta, die uns darauf aufmerksam gemacht hat, dass sich Satie mit seinem Bild vom Knochen auf den monströsen und derb-komischen Roman „Gargantua und Pantagruel“ von Francois Rabelais bezieht. Der empfiehlt seinen Lesern im Vorwort, sie mögen sich doch bei der Lektüre ein Beispiel nehmen an einem Hund, der sich vom Äußeren des Knochens auch nicht davon abhalten lässt, so lange auf ihm herum zu beißen, bis er auf das köstliche Knochenmark trifft. So besehen sind alle unverständlichen Titel, die uns Satie vorsetzt, Knochen, auf denen wir herumbeißen dürfen, bis sich zuletzt ihr Sinn entbirgt. „Préludes Flasques pour un chien“, „Schlaffe Präludien für einen Hund“. Es spielt: Jean-Pierre Armengaud. 7 Musik / takes 9 – 12 Erik Satie Préludes Flasques pour un chien Jean-Pierre Armengaud, Klavier MAN 4822, harmonia mundi, s.a.

3´58

„Schlaffe Präludien: für einen Hund“ waren das, von Erik Satie, gespielt von JeanPierre Armengaud. Satie hat also seinen Rabelais gut gelesen. Die rätselhaften Titel, die er uns vorsetzt, sind wie Knochen, die man Hunden hinwirft; und dass die sich sofort darauf stürzen und keine Mühen scheuen, um sich bis zum Mark durch zu beißen, das macht sie – schreibt jedenfalls Rabelais - zum „allerphilosophischsten

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Tier“. Aber: Satie wäre nicht Satie, gäbe es da nicht auch einen direkten Bezug auf den experimentalwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit. Einige Jahre zuvor hatte ein gewisser Iwan Petrowitsch Pawlow den Nobelpreis erhalten. Und zwar: für seine Experimente mit dem so genannten Pawlowschen Hund. Bei diesen denkwürdigen Studien zum Prinzip konditionierter Reflexe hatte er bekanntlich festgestellt, dass die Speichelsekretion eines Hundes nicht erst mit dem Fressvorgang beginnt, sondern bereits durch den Anblick der Nahrung – oder sagen wir besser: des Knochens, ausgelöst wird. Das Schauspiel für Hunde, das Satie schreiben wollte, das spielt sich also längst täglich in den Labors der experimentellen Physiologie ab. Und was geschieht, wenn sich vor einem Hundepublikum der Vorhang über einem Knochen hebt? Rabelais sagt: der Hund erweist sich als „allerphilosophischstes Tier“. Satie sagt mit Pawlow: er zeigt einen konditionierten Reflex. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren, zwischen den Hoffnungen des Humanismus und der Melancholie der Moderne. Zwischen Philosopie und PsychoPhysik.

8 Musik / take 18 Erik Satie De l´Enfance de Pantagruel Aus : Trois petites Pièces montées L´Orchestre de Satie, Leitung : Yutaka Sado SWR 337-3604

1´56

„De l´Enfance de Pantagruel“, „Aus der Kindheit von Pantagruel“ war das mit dem Orchester Satie und Yutaka Sado, eine von drei kleinen Szenen, die Satie nach Rabelais´Roman in Klang gesetzt hat. Der Hund, meine Damen und Herren, dem Satie seine „Schlaffen Präludien“ und die kurz darauf entstandenen „Véritable Préludes Flasques“, die „wahrhaft schlaffen Präludien“ widmet, hat also längst als Pawlow´s Dog in den Labors der Psychophysik Karriere gemacht. Und dass er Tonhöhen weit besser als Menschen unterscheiden kann, das hat man dort längst auch festgestellt. Aber: der Hund hört auch auf einen Namen. Er heißt nämlich Nipper, gehört dem Liverpooler Maler Francis Barraud und frisst nur, wenn ihm sein Besitzer ein bestimmtes Musikstück auf dem Grammophon vorspielt. Nur dann scheint er mit seinem Hundeleben zufrieden. Und so hat ihn Barraud denn auch gemalt: wie er mit geneigtem Kopf vor dem Trichter sitzt, ein Inbegriff hündischer Klangtreue. Ein Logo wie geschaffen für die junge

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Musikindustrie. 1899 kauft Emil Berliners „Gramophon Company“ das werbetaugliche Bild und gründet bald darauf das Label: „His Master´s Voice“. So avcanciert Nipper zum populären Totemtier aller Schallplattenkultur. Und so, meine Damen und Herren, kam Erik Saties Musik tatsächlich auf den Hund. Hier also die „Wahrhaft schlaffen Präludien für einen Hund.“ Es spielt: Alexandre Tharaud.

9 Musik / CD 1 takes 4 – 6 Erik Satie Véritable Préludes Flasques pour un chien Alexandre Tharaud, Klavier Harmonia mundi, HMC 902017.19

2´30