SWR2 Literatur Die Auferstehung der Gisela Elsner

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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Literatur Die Auferstehung der Gisela Elsner Eine Gesellschaftskritikerin wartet auf ihre Wiederentdeckung Von Patricia Görg Sendung: Dienstag, 12. Mai 2015 Redaktion: Gerwig Epkes Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2015

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Patricia Görg DIE AUFERSTEHUNG DER GISELA ELSNER Eine Gesellschaftskritikerin wartet auf ihre Wiederentdeckung ZITATORIN "Während manch einer unserer Dichter, die uns Wertvolleres zu sagen hatten, in aller Stille und Bescheidenheit unter seinem schlichten Stein zu Staub zerfällt, zog es Gisela Elsner bezeichnenderweise vor, selbst aus ihrer Verwesung ein Aufhebens zu machen. (..) Während der Berichterstatter, von der vorwärtsdrängenden Menge am Stehenbleiben gehindert, den Sarkophag aus den Augen verlor, wurden ringsum von der ElsnerStiftung Gedenkartikel: Elsner-Schreiber, Elsner-Plaketten, Elsner-Anstecknadeln und Luftballons mit der Signatur der Toten verteilt. Auch ließ man Lose ziehen, die dem Gewinner nicht weniger verhießen als ein Stipendium an der derzeit noch in Zelten und Wohnwagen untergebrachten Elsner-Universität. Hätte sie diese Ausschlachtung ihres Leichenbegängnisses nicht selbst mit ihrer letzten Lebenskraft angezettelt, so wäre man angesichts der sterblichen Hülle, die zumal durch den sie umgebenden Flitter noch aasiger wirkte als sie es ohnehin war, zumindest zum Mitleid fähig gewesen. (..) (Die Verschiedene) lag inmitten des tumultartigen Trubels für eine Weile völlig verlassen da, ehe der Elsner-Club die in der Elsner-Statue eingerichtete ElsnerBibliothek verließ und sich des Sarkophags, immerzu mit Flugblättern und Formularen um Mitglieder werbend, annahm." (1) SPRECHERIN Als Gisela Elsner 1970, mit 33 Jahren, diesen makabren Text beisteuerte für den Sammelband "Vorletzte Worte – Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf", durfte sie noch auf eine erfolgreiche literarische Karriere hoffen. So gesehen, könnte heute durchaus eine Elsner-Gesellschaft existieren, die das Andenken der berühmten Autorin pflegt – doch die Volte des Schicksals besteht darin, dass es diese Gesellschaft zwar mittlerweile tatsächlich gibt, aber nur deshalb, um Gisela Elsner dem völligen Vergessen zu entreißen. Dabei fing alles so vielversprechend an. Elsners 1964 erschienenes Buch "Die Riesenzwerge" hatte für gehöriges Aufsehen gesorgt. Es hatte den internationalen Literaturpreis "Prix Formentor" bekommen, und es gibt sogar ein Foto, das zeigt, wie der damalige Verlagsleiter des Rowohlt Verlags, Ledig Maria Rowohlt, vor seiner Starautorin kniet, um ihr zu huldigen. "Die Riesenzwerge", untertitelt mit "Ein Beitrag", sind eine bitterböse Bestandsaufnahme der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Aus der Perspektive des Kindes Lothar Leinlein, also aus leichter Untersicht, werden alptraumhafte Szenen geschildert. Sie finden statt am gedeckten Tisch, beim Arzt Dr. Trautbert, der dem jungen Patienten Lothar einen Bandwurm attestiert, oder im 2

Freien, wo die blutrünstigen Hunde des Dr. Trautbert dem Arzt durch ihre Beißattacken neue Patienten zuliefern. Der kafkaeske Ton dieses Buches verführte die damalige Literaturkritik allerdings dazu, nicht zu sehen, bzw. zu ignorieren, gegen welche handfesten gesellschaftlichen Missstände Gisela Elsners Furor gerichtet war. Christine Künzel, Verfasserin einer Biographie Elsners und aktuelle Herausgeberin ihres Gesamtwerks, erläutert, welche Rolle Franz Kafka für die Autorin gespielt hat: O-TON CK 1 Wie sie immer wieder betont hat, war Kafka der Gott ihrer Jugend. Das Erlebnis, als sie Kafkas "Verwandlung" gelesen hat, beschreibt sie damit, dass ihr übel geworden ist, so hat sie diese Geschichte ergriffen. Und dann hat sie das genutzt in den "Riesenzwergen", indem sie so eine Parabel gefunden hat, wie das eben in der "Verwandlung" auch ist, die eine monströse Übersteigerung einfach erfindet, um bestimmte Entwicklungen klarzumachen, die mit realistischen Mitteln nicht zu greifen sind. Ich denke, so etwas Monströses war für Elsner sicherlich der Nationalsozialismus. Und ich glaub', das war ihr dann zu unpräzise, da hat sie gemerkt, meine Gesellschaftskritik ist offenbar, trifft die nicht direkt, wenn jeder das Buch so lesen kann wie es ihm gerade passt und der eine meint, er sieht die Parabel sozusagen darin, und der andere darin, aber es trifft nicht das, was sie sich vorgestellt hat. Auch ihre Kritik am Katholizismus und der engen Zusammenarbeit zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus – es gibt ja diese Szenen, wo der Pfarrer den Opfern, die da durch die Straßen getrieben werden, einfach die Tür vor der Nase zu macht. Dr. Trautbert, da denkt man heute an Mengele, nicht, es ist eine Mengele-Figur, und das scheint zur damaligen Zeit nicht wahrgenommen worden zu sein, weil sie's wirklich auch dann zu parabelhaft verschlüsselt hat. SPRECHERIN Elsner veröffentlichte 1968 noch ein weiteres Buch, "Der Nachwuchs", das mit ähnlichen Stilmitteln wie "Die Riesenzwerge" operierte: Es erzählt die Verweigerungsgeschichte eines unbeweglich Heranwachsenden in einem deutschen Neubaugebiet. Auch diese Geschichte ist verschoben ins beinah märchenhaftGroteske. Dann jedoch, 1970, schlug Elsner eine erkenntlich andere Richtung ein. Im Kontrast zu ihren ersten beiden Büchern ließ der Roman "Das Berührungsverbot" keinen Zweifel mehr daran, sich auf die unmittelbare, konkrete Gegenwart zu beziehen, denn in Form einer knallharten Gesellschaftssatire schildert er das Treiben von fünf Angestellten-Ehepaaren unter dem Einfluss der damals propagierten "sexuellen Revolution". Elsner entlarvt dabei nicht nur auf sarkastische Weise, wie wenig weit es unter dem Diktat der sexuellen Revolution mit der behaupteten Freiheit her war, sondern sie entwickelt an diesem Gegenstand auch zum ersten Mal ganz 3

deutlich eine ihrer Kernthesen – nämlich die, dass Sexualität von gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen abhängt. O-TON CK 2 "Das Berührungsverbot" ist ja sehr erstaunlich, das hat Elsner ja immer irgendwie hingekriegt, dass sie, bevor überhaupt Bewegungen anfingen zu wirken, sie schon die Kritik daran formuliert hat. Und das war natürlich zur Hochzeit, muss man sagen, die späten 68er gerade sozusagen im Schwung, da schreibt sie, 1970 erscheint "Das Berührungsverbot", schon als Kritik an dieser ganzen sexuellen Revolution, der sogenannten. Wenn man sich das anguckt, ist auch da die Rolle der Frau eine sehr fragwürdige, ist ja heute von Sexualhistorikern gottseidank dargestellt worden, dass das eine höchst frauenfeindliche Angelegenheit war. Das hat Elsner schon sehr früh erkannt, aber es ging ihr gar nicht so sehr darum: Die Männer sind irgendwie die Schweine und die Frauen die Guten, bei ihr sind die Frauen auch nicht die Opfer nur, sondern Frauen sind gleichermaßen daran beteiligt und auch Täterinnen. Von daher gibt’s hier nicht Opfer und Täter, sondern beide tragen sozusagen zu den Machtverhältnissen bei, die im Geschlechterverhältnis auch durch die sexuellen Verhältnisse hergestellt werden. Das ist das Erstaunliche am "Berührungsverbot", dass sie zeigt: Hier sind es auch kleinbürgerliche Angestellte, die versuchen jetzt – das ist das große Experiment –, diese sexuelle Revolution für sich zu entdecken und umzusetzen. Und dadurch entsteht die Komik in dem Roman, dass das eben keine Befreiung im eigentlichen Sinne ist, weder der Geschlechter, noch der Sexualität, sondern dass sich auch das wieder zu einem Zwang entwickelt. SPRECHERIN Als der letzte Junggeselle unter den fünf Arbeitskollegen, der relativ mittellose Stief, seine neue Braut samt ihrer Mitgift, einem neuen Eigenheim, den anderen vorstellt, gerät die allgemeine Ehe- und Bekanntschaftsroutine aus dem Gleichgewicht. Frau Stief, attraktive Bäckerstochter, die offensichtlich ins statusmäßig höherstehende Angestellten-Milieu einheiraten will, weckt Begehrlichkeiten und Phantasien der anderen vier Ehemänner. Sie wird dadurch zum heimlichen Grund dafür, dass die Maschinerie des Partnertauschs überhaupt in Gang kommt. Sobald durch Selbstüberforderung aller Beteiligten dann einiges schief zu laufen beginnt, kulminieren die Aggressionen und Sündenbock-Phantasien in einem gruseligen Höhepunkt: einer Beinahe-Gruppen-Vergewaltigung der Frau Stief. Verklemmtheit und ihre brachialen Kehrseiten werden von Gisela Elsner in dieser Szene so unappetitlich und bedrohlich herauspräpariert, wie sie es verdienen. Interessanterweise gab es aber damals männliche Rezensenten, die gerade diese Schlüsselszene verharmlosend herunterspielten. Stattdessen ereiferte man sich darüber, dass es sich bei dem Buch "Das Berührungsverbot" mit seinem kalten Blick auf Sexualität um Pornographie handele. O-TON CK 3 4

Die Deutungshoheit über das, wie Sexualität dargestellt wird, die möchte sich die männliche Literaturkritik doch erhalten. Da merkt man, das ist so eins der wenigen Themen, bei allen anderen würde man jetzt gar nicht mehr groß unterscheiden können, wo sind die Aufreger bei männlichen oder weiblichen Literaturkritikern, aber in puncto Darstellung von Sexualität verlaufen noch immer massive Gräben. Das sieht man bei Elfriede Jelinek und das hat man Gisela Elsner auch sehr sehr deutlich gesehen. Sexualität muss halt irgendwie noch erotisch aufbereitet werden, da hängen ganz viele Erwartungen dran, und mit diesen Erwartungen hat Elsner damals schon radikal gebrochen. Diese Geschlechtsverkehre, die da dargestellt werden, die sind wirklich nicht schön, die werden ganz nackt in einer Sprache eigentlich, die irgendwie aus einem Aufklärungsbuch, aus dem Biologieunterricht stammen könnten, wirklich wie, ja technokratisch eigentlich wird da der Geschlechtsverkehr dargestellt. Es ist dieser nüchterne Blick auf Sexualität, den männliche Schriftsteller manchmal haben dürfen, aber bei einer Frau ist das absolut tabu. SPRECHERIN Man könnte sagen, dass Gisela Elsner mit ihrem Buch "Das Berührungsverbot" zum ersten Mal Flagge zeigte: als unversöhnliche, unbestechliche Gesellschaftssatirikerin, die weder mit dem damals ausgerufenen Genre der "Frauenliteratur", noch mit stilistischen Übersprungshandlungen, und seien sie auch ehrwürdig von Kafka inspiriert, in einem Atemzug genannt werden wollte. Man könnte ebenso gut sagen: Der Kampf zwischen ihr und ihrer Zeit war eröffnet. In einer 1975 erteilten Selbstauskunft unter dem Titel "Über Mittel und Bedingungen schriftstellerischer Arbeit" zitiert Gisela Elsner den marxistischen Theoretiker Friedrich Engels: ZITATORIN "Ein Roman, so sagte er, erfülle seine Aufgabe, wenn er durch die genaue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert und den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht. Der Satz hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, mehr noch: er setzt voraus, daß der Roman einen natürlichen Widerpart zu jenen Sprachregelungen, Wunschbildern und Schönfärbereien abgibt, ohne die das Bürgertum, auch wenn es sich mittlerweile die Zweifel an der eigenen Ewigkeit einverleibt hat, offenbar nicht auskommen kann." (2) SPRECHERIN Damit wäre Gisela Elsners nicht nur literarisches, sondern auch politisches Programm klar benannt. Wer jedoch glaubt, aus diesen Grundsätzen folge notwendigerweise die ästhetisch ausgehungerte Variante des Agitprop oder des faden sozialistischen Realismus, der irrt. 5

Elsner erwies sich Buch für Buch als Könnerin, die nicht nur witzige, treffende Typologien von Sozialfiguren zeichnete, sondern dies auch in einer Sprache tat, die ihre Mittel intelligent und ökonomisch einsetzte. So ist eins ihrer Markenzeichen, der lange, umständliche Schachtelsatz, der unterwegs seinen Gegenstand aus den Händen zu verlieren droht, bevor er ihn dann doch noch hinterrücks ins Ziel bringt, ein mimetischer Reflex auf die Verhältnisse, die sich ihrer selbst keineswegs bewusst werden wollen, von Elsner aber zu einem entlarvenden Tanz gebracht werden. Sie war ganz einfach eine souveräne, hellwache Schriftstellerin, gewillt, politische wie private Bewegungen vor ihren Augen dermaßen scharf in den Blick zu nehmen, dass sie sich als Kräuselungen auf gleichbleibendem Untergrund herausstellen. Ein schönes Beispiel dafür ist ihr nächster, 1977 erschienener Roman "Der Punktsieg". Seine Hauptfigur, der Dessous-Fabrikant Norbert Mechtel, empfindet sich als überaus progressiv, denn er engagiert sich in Wahlkämpfen für die SPD. O-TON CK 4 Das Problem ist, was kann man darstellen an einem Unternehmer? Es ist ganz schwer, dessen Arbeit darzustellen. Was macht ein Unternehmer? Irgendwelche Jahresberichte, Bilanzen etc. wäre schwierig. Also wie, was kann ein Schriftsteller machen, um einen Unternehmer darzustellen? Und das ist eigentlich das, was Literatur immer schon kann: Sie kann das über Menschen darstellen. D.h.: Wie verhält sich dieser Mensch in bestimmten Situationen und wie verhält er sich als Unternehmer seinen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gegenüber, wie verhält er sich seiner Familie gegenüber, und wie präsentiert er sich in der Öffentlichkeit und eben auch in der politischen Öffentlichkeit. Das macht Elsner, finde ich, mit einem großen Gespür, sie schafft es, zu zeigen, wie er sich versucht durch Distinktionen, wirklich im Bourdieuschen Sinne, so die feinen Unterschiede, die er versucht zu setzen, um sich zu etablieren im Kulturbereich, sich in die entsprechenden Kreise hineinzubegeben, und trotzdem diesen Spagat auch, sich ein bisschen kumpelhaft zu geben. Und dann es gibt so eine schöne Szene, wo er seine sogenannten Wahlk(r)ampfklamotten aus dem Schrank holt: Jetzt ist wieder Wahlkampf, und dann wird die Schiebermütze, also diese Anbiederung auch an die kleinen Leute, da muss ich mich jetzt, da ess' ich dann Erbsensuppe mit denen zusammen, setz mein Käppi auf, das ist wie so ein Karnevalsverein: Jetzt setz ich die Narrenkappe auf und mach' hier den Wahlkampf. Und eben auch dieses völlig Spielerische. Das Moment, dass es gar nicht ernsthaft darum geht, sich politisch zu engagieren, sondern dass das Ganze mehr so eine Art Selbstreferenzilität hat. SPRECHERIN Gisela Elsner porträtiert in dem Fabrikanten und Wahlkämpfer Mechtel einen Unternehmer, der den Klassenkampf vergessen machen möchte, beziehungsweise ihn für überflüssig erklärt – und eine Wendehals-SPD, die sich dankbar einer solchen zweifelhaften Figur bedient, um neue Wähler im Mittelstand zu gewinnen. Pointiert arbeitet Elsner dabei die Lebenslügen sowohl der Partei als auch des Unternehmers heraus – die beide nicht individueller, sondern gesellschaftlicher Natur sind. Mit ihrem Roman "Der Punktsieg" errang sie noch einen Achtungserfolg. 6

Dies sollte sich bei ihren nächsten zwei Büchern ändern, die wiederum die Geschlechterfrage als Machtfrage aufgriffen, dabei aber beide, Frauen wie Männer, als Opfer letztlich ökonomisch bestimmter Beziehungsmuster sahen. Eine Phalanx von Kritikern begann, sich auf die Literatur bzw. auf die Person Gisela Elsners einzuschießen. Schon von Anfang an hatte ihre starke Selbstinszenierung mittels Schminke und auffälligen Frisuren dafür gesorgt, dass Beschreibungen einer Cleopatra sich vor die Analyse ihrer Texte schoben. Jetzt kam jedoch allmählich ein echtes gesellschaftliches Handicap zum Tragen: 1977 war Elsner in die DKP eingetreten. Werner Preuß, von 1964 bis 1991 Literaturredakteur bei Radio DDR und Kulturradio Berlin und der Autorin lange freundschaftlich verbunden, erinnert sich: O-TON WP 1 Ich gehe davon aus, dass ihr dies bewusst war, dass das so ist, dass das ein Handicap für sie ist, aber sie brauchte ein politisches Umfeld, um sich auszutauschen und Gleichgesinnte zu treffen. Ob das immer funktioniert hat, kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht dabei war. Aber ich habe herausgehört, dass sie damit ihre Probleme hatte. Das war ja ein ewiges Auf und Ab. Sagen wir so: Ich habe gesehen, dass ihre Werke eigentlich zur Unzeit erschienen. Sie platzten in eine Situation, wo die Auschwitz-Prozesse liefen, wo das Verbot des Films "Der Untertan", des DEFA-Films "Der Untertan" von Heinrich Mann noch existent war, wo also überhaupt nicht das mindeste Interesse darin bestand, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hier etwas aufzuarbeiten galt, ernsthaft aufzuarbeiten galt. Und das hat man ihr übel genommen, dass sie in einer Art und Weise die Wunde offengelegt hat. Sie hat eine heilige Kuh geschlachtet, und zwar permanent. Und sie hat davon nicht abgelassen, über die einzelnen Werke hinweg. Und das hat man ihr übelgenommen. Auch mit dem Hintergrund: Es kann ja gar nicht anders sein, mit diesem kommunistischem Hintergrund. Das kommt dabei heraus. Schaut euch an: Wenn eine so begabte Schriftstellerin, die aus einem gutbürgerlichen Elternhaus kommt, die eigentlich im Prinzip gar keine Sorgen hat, die sich mal umschauen sollte, wie in den kommunistischen Ländern gelebt wird, die alles gar nicht kennt, die schreibt über unser Wirtschaftswunderland solche Dinge wie die "Riesenzwerge" und denunziert ohne Ende, lässt nichts aus, guckt durch alle Schlüssellöcher – das steht ihr nicht zu! SPRECHERIN Offensichtliche oder untergründige Abwehr schlug Gisela Elsner jedoch nicht nur entgegen, weil sie mit klassenkämpferischen Ideen sympathisierte. Ihr zweites großes Handicap war ein literarisches: Sie bediente sich konsequent der Form der Satire. Nun ist die Satire, die als kalte, herzlose, minderwertige Form gilt, eine 7

literarische Haltung, die in der deutschen Tradition ohnehin nie so recht Fuß fassen konnte. Vorgeworfen wurde und wird ihr vor allem ihre Zeitgebundenheit. Die Tatsache, dass Satiren eindeutig Bezug nehmen auf historische Realitäten; die Tatsache, dass sie dadurch angeblich ein inneres Verfallsdatum in sich tragen, schmälert nach gängiger Lesart ihren künstlerischen Wert. Um dieses Vorurteil zu entkräften, genügt es allerdings, anlässlich aktueller Krisen Kurt Tucholsky, einen der schärfsten Satiriker deutscher Zunge, wiederzulesen. Und auch die Bücher Gisela Elsners wirken weit über ihren historischen Kontext hinaus, sind sowohl vorausschauend, analytisch als als auch literarisch genug, um ohne weiteres Bestand zu haben. O-TON CK 5 Spätestens in den 80er Jahren, wo dann die neue Innerlichkeit in die Literatur kam – man beschäftigte sich mit sich selber, mit der Gefühlswelt – spätestens da war die Satire in Deutschland, in der deutschsprachigen Literatur völlig passé. Das mochte man nicht mehr, dass man da 1:1 sehen konnte, wogegen richtet sich das, außerdem gabs da ja keine Ichs, es gab fast keine Subjekte, die einen interessiert hätten, weil: Psychologische Charaktere gibt es in der Satire eigentlich nicht – es sind Stereotype. Aber das ist eben das Wesen der Satire, das ist nicht ein Manko, so sind Satiren eben, dass stereotype Figuren vorgeführt werden, die für etwas stehen und man in vielen Fällen auch genau weiß, für welche Gruppen oder für welche Personenkreise die stehen, wer hier genau kritisiert werden soll. Interessanterweise ist es ja so, dass der Satire immer das vorgeworfen wird dann in der Literaturkritik, was genau ihre Merkmale sind. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass Literaturkritiker sich dessen nicht bewusst sind, oder unterschwellig einfach andere Literatur verkaufen wollen. SPRECHERIN Was die Sache in Elsners Fall noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass eine Frau sich selbstbewusst auf das Feld der Satire wagte. Man kann dies als Gisela Elsners drittes Handicap bezeichnen, denn sie war in den 70er Jahren, lange bevor Elfriede Jelinek sich einen Platz im Kanon erkämpfte, eine echte Pionierin. Im übrigen arbeitete sie sich auch ziemlich scharfsichtig an den inneren Widersprüchen des Feminismus ab. Nicht nur, dass sie den Begriff Frauenliteratur strikt ablehnte, weil er versuche, aufgrund des Geschlechts ein Genre zu definieren – welches doch immer nur inhaltlich oder formal definiert werden kann. Sie sah auch sofort, dass die Sackgasse der Befindlichkeits- und Beziehungsprosa, für die weibliche Autoren bis heute quasi naturwüchsig zuständig zu sein scheinen, alles andere als emanzipativ war. Dass sie sich damit unter Feministinnen keine Freundinnen machte, war klar.

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Es war überhaupt eine der großen Stärken Gisela Elsners, die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen so nüchtern zu betrachten wie ihre anderen Sujets auch – frei von geschlechtsspezifischen Schuldzuweisungen, sondern eher an den Ursachen der Gesamtmalaise interessiert. Nicht nur das wurde ihr jedoch zum Hindernis bei ihrem Versuch, literarische Anerkennung zu finden. O-TON WP 2 Ich bin ja von Anfang an davon ausgegangen, dass ihr nicht nur Unrecht getan wird, sondern dass das auch gezielt war. Denn anders kann ich mir nicht erklären, dass eine wirkliche Elite von Kritikern von ganz rechts bis links sich im Prinzip einig war, dass ihre Gesellschaftskritik unerwünscht ist. Dass sie zwar anerkannt wird, was ihr Talent betrifft, aber: "Bedauerlich falscher Schreibansatz". Das war noch so das wenigste. Es ging ja bis zu direkten Angriffen, bösen Angriffen, Unterstellungen usw. Das war ja ein Hauptbestandteil dieser gesamten Kritik von Anfang an, dass da immer dieser Unterstellungston mitschwang, dass man also unterstellte, ja, das kann ja nur so laufen, wenn man eine solche Person ist. Und Reich-Ranicki glaub ich war das, der gesagt hat, die nicht mal in der Lage ist, ihre eigene Frisur zu entwerfen, dass sie die sich noch von der Greco entleihen musste. Das sind Geschichten, die eigentlich nichts mehr zu tun haben mit dem, was da geschrieben steht, sondern überhaupt nur auf die Person gezielt hat. SPRECHERIN Mitte der 80er Jahre war es so weit, dass die einstige Starautorin von Rowohlt, seit 20 Jahren mit dem Verlag verbunden, anlässlich eines Verlegerwechsels in eine haltlose Position geriet. Sie wurde als ökonomisch wenig erfolgreicher Posten aussortiert. Zwar gelang ihr noch der Wechsel zum wesentlich kleineren österreichischen Zsolnay Verlag, aber damit war der entscheidende Bruch in der schriftstellerischen Karriere Gisela Elsners vollzogen. Sie sollte sich von dieser Deklassierung, vom Verlust ihres Verlags sowie der rapide nachlassenden Aufmerksamkeit der Kritik, nicht mehr erholen: weder finanziell, noch psychisch. Nichtsdestotrotz entstanden nach diesem Debakel einige ihrer interessantesten Bücher: Der Roman "Heilig Blut" beispielsweise porträtiert drei fiese alte Männer, die auf ihrer Jagdhütte im Bayrischen Wald ungebrochene Reminiszenzen an den Nationalsozialismus aufleben lassen. Die Herren Lüßl, Hächler und Glaubrecht haben den Sohn eines vierten Kumpanen, den jungen Gösch, widerwillig bei sich zu Gast. Als ihn in den Wäldern eine verirrte Kugel aus Lüßls Jagdgewehr tötet, wird er, der nach Ansicht seiner Gastgeber ohnehin ein verweichlichter, minderwertiger und sicherlich kommunistischer Kriegsdienstverweigerer war, verscharrt wie ein Hund, und die drei halten dicht über ihr kleines Malheurchen – wohl nicht das erste dieser Art im Umkreis ihrer Hütte. Wie Elsner den tiefen deutschen Winter-Wald entwirft, in dem überdies zwölf aus einen Forschungsgehege ausgebrochene Wölfe herumgeistern, ist ebenso schrecklich wie grimmig komisch. Die klapprigen, aber giftigen Henkersgestalten namens Lüßl, Hächler und Glaubrecht suchen nicht nur mit Flinten bewaffnet nach 9

den Raubtieren, sondern auch nach einem mit ihnen befreundeten Fabrikanten, der sich lebensmüde ins Gelände aufgemacht hat, um sich dort von besagten Wölfen zerfleischen zu lassen. Eines Morgens allerdings meutert Lüßl: ZITATORIN "Ich sage Ihnen ganz ehrlich, daß ich nicht mehr recht weiß, warum ich mich an die Fersen eines Menschen heften soll, der seine Frau und seine Freunde mit der Behauptung, daß er sich von einem Wolf zerfleischen lassen wolle, in Angst und Schrecken zu versetzen sucht, nachdem er nach drei gescheiterten Selbstmordversuchen festgestellt hat, daß er offensichtlich außerstande ist, sich ohne fremde Hilfe umzubringen. Die spitzfindige Art, in der Sie die Tatsachen verdrehen, spricht keineswegs für Sie, rief Hächler. Ihre Argumentationsweise zeigt mir vielmehr, daß in Ihnen wieder einmal der Vierteljude die Oberhand gewonnen hat, fügte er hinzu, ohne Lüßl aus den Augen zu lassen, dem es offensichtlich zu schaffen machte, daß jüdisches Blut in seinen Adern floß. Er war nämlich über Hächlers Äußerung dermaßen betroffen, daß er zunächst nicht zu wissen schien, was er darauf erwidern sollte. Mit zuckenden Mundwinkeln saß er da und leckte seinen Eierlöffel ab, an dem noch Reste des Frühstückseis klebten, das er, ohne sich dessen bewußt zu sein, verzehrt hatte. Sie haben mir vor einem Jahr Ihr Ehrenwort darauf gegeben, daß Sie nie mehr ein Wort darüber verlieren würden, daß ich Vierteljude bin, meinte er schließlich. Ich haben Ihnen dieses Ehrenwort nur gegeben, weil ich vor einem Jahr den Eindruck hatte, daß Sie mittlerweile Manns genug seien, um mit dem Vierteljuden, der in Ihnen steckt, fertig zu werden, erwiderte Hächler." (3) SPRECHERIN Als die drei Haudegen, die noch immer offen damit prahlen, sich "seinerzeit so tapfer mit dem Iwan geschlagen (zu haben), daß nicht weniger als zwanzig Millionen Russen in Gras beißen mussten" (4) schließlich die Leiche des jungen Gösch endgültig von der Bildfläche verschwinden lassen, finden sie in seinem Rucksack ein Tagebuch, in das Gösch nur die folgenden, drei Sätze umfassenden Eintragungen gemacht hat: ZITATORIN "Ich werde froh sein, wenn ich den Urlaub in Heilig Blut hinter mir habe. Man kann Lüßl, Hächler und Glaubrecht nur ertragen, wenn man sie als Spottfiguren betrachtet. Lüßl, Hächler und Glaubrecht zeigen, seitdem sie bedingt durch die Einsamkeit dieser Gegend der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend entzogen 10

sind, in zunehmendem Maße eine Neigung zur Unmenschlichkeit, die sie gemeingefährlich macht." (5) SPRECHERIN Quittiert wird dieser posthume Tagebuchbefund von den alten Herren mit einem für sie charakteristischen Laut: einem kurzen, zornigen Auflachen. Gisela Elsner fand für dieses Manuskript keinen deutschen Verlag mehr, der bereit gewesen wäre, es zu publizieren. Es erschien nur auf Russisch. In einem Interview skizzierte sie 1987 ihre Situation: ZITATORIN "Im Falle meines antifaschistischen Romans 'Heilig Blut' habe ich, etwas jenseits der Legalität, die Weltrechte für diesen Roman an den größten sowjetischen Verlag verkauft. Das Buch erscheint demnächst in der UdSSR, wo man es für mein bestes Buch hält, während es hier von drei Verlagen als 'mißlungen' abgelehnt wurde. Was daran mißlungen war, sagte man mir allerdings nicht. Zu meiner Freude wird der Roman jetzt nicht etwa vom Deutschen, sondern vom Russischen ins Bulgarische übersetzt. Ob man ihn daraufhin vom Bulgarischen ins Sudanesische oder Koreanische übersetzen wird, kann ich momentan noch nicht sagen." (6) SPRECHERIN In ihrem letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman "Fliegeralarm" geht es ebenfalls um den Nationalsozialismus. Aus vorgeblicher Kinderperspektive schildert er, wie ein Trupp kleiner ideologischer Monster während des Luftkriegs in der "Reichsparteitagsstadt N." von den damaligen Lebensumständen begeistert profitieren. Schon gleich zu Anfang resümiert die fünfeinhalbjährige Erzählerin Lisa Welsner: ZITATORIN "Für uns gab es nichts Großartigeres als diesen Weltkrieg, der unsere Eltern in Angst und Schrecken versetzte, aber uns Kinder zu den Besitzern von Ruinen machte, der uns Kindern dank der Trümmerhaufen zu Schätzen verhalf, die unsere jammernden und wehklagenden Eltern uns nicht zu bieten hatten, der uns Kindern vor allem jene märchenhaften Bombentrichter bescherte, die wir, in Schutt und Asche herumwühlend, in Schmutz und Dreck herumbuddelnd, nach jenen Bombensplittern durchsuchten, die unter den Kindern in der GAGFA-Siedlung als die einzig gültige Währung galten, eine krisenfeste Währung, mit der wir Gebühren für Ruinenbesichtigungen erstatteten, eine krisenfeste Währung, mit der wir die geforderten Preise für Dinge bezahlten, deren Besitz wir ohne Bombensplitter niemals erlangt hätten, eine krisenfeste Währung, mit der wir Privilegien erwarben, die uns zu den Herren der GAGFA-Siedlung machten." (7) SPRECHERIN 11

Unter der notorischen inneren Kampfruf-Litanei "HART WIE KRUPPSTAHL, ZÄH WIE LEDER, FLINK WIE WINDHUNDE" rückt diese Kindertruppe aus, um sich in und zwischen den Verwerfungen des Krieges in ernstem Spiel zu vergnügen. Und die fünfeinhalbjährige Erzählerin Lisa Welsner gibt nicht nur dem fünfeinhalbjährigen SS-Oberscharführer Wolfgang Wätz ihr Jawort als Ehefrau, sondern ist auch der Meinung, dieser habe in seinem kurzen Leben bereits mehr erreicht als ihr eigener Vater, der in einem von der deutschen Wehrmacht nicht gebrauchten Betrieb völlig überflüssige Arbeit leiste. Überhaupt ist die Verachtung der Kinder für ihre Eltern abgrundtief: ZITATORIN "Oft genug machten ich und mein Bruder Kicki, der so wie ich keine arischen blauen, sondern grüne Augen und keine arischen blonden, sondern immer dunkelbrauner werdende Haare hatte, uns Gedanken wegen der ERBMASSE, die uns von unserer Mutter, die zwar zum Glück HEIL HITLER sagte, sich jedoch weigerte, für die WINTERHILFE Socken zu stricken, und von unserem Vater, diesem feigen Zivilisten und Vaterlandsverräter, aufgebürdet worden war, der statt in den Schützengräben an der Ostfront für den ENDSIEG unseres Führers zu kämpfen, nicht nur in seinem Ohrensessel im warmen Wohnzimmer vor dem Rundfunkempfänger saß, sondern jedesmal, wenn schwere Verluste der deutschen Wehrmacht an der Ostfront gemeldet wurden, ausrief: ICH HABE ES VON VORNHEREIN GEWUSST, DASS DIESER KRIEG NICHT ZU GEWINNEN WAR, ohne zu ahnen, daß er sich hiermit zu unserem Todfeind machte. Eben wegen dieser fragwürdigen ERBMASSE unserer Eltern, die uns oft genug aus dem Wohnzimmer schickten, damit wir nicht hören konnten, was meinem Vater durch eine Herumhantiererei am Rundfunkempfänger zu Ohren kam, mußten Kicki und ich nach meinem Dafürhalten weitaus tapferer, weitaus todesverächtlicher und weitaus arischer als die Kinder sein, die ihre ERBMASSE nicht wie Kicki und ich restlos in sich auszumerzen trachteten." (8) SPRECHERIN Um diese grundböse Persiflage auf die Spitze zu treiben, lässt Gisela Elsner die Kinder in einer ausgebombten Ruine ein KZ einrichten, in dem sie mangels genauem Verständnis dafür, was ein Jude eigentlich ist, einen Kommunistensohn internieren und schließlich zu Tode quälen. Die von Elsner entworfene, grauenhafte Miniatur-Parallelwelt basiert einerseits auf einem autobiographischen Wahrheitskern, denn die 1937 in Nürnberg geborene Autorin teilte eingestandenermaßen mit vielen ihrer Generationsgenossen die Erfahrung, als Kind Begeisterung über den Krieg empfunden zu haben. Andererseits entbehrt der Roman jeglicher küchenpsychologischen Authentizität, ist erkenntlich eine biestige, tiefgründige Realsatire. Die Kritik jedoch, Ende der 80-er Jahre auf Lebenserinnerungen aus dem Nationalsozialismus geeicht, wollte das mehrheitlich nicht sehen. Die Resonanz auf "Fliegeralarm" war vernichtend. Vor allem wurde fehlende psychologische 12

Glaubwürdigkeit moniert – also wieder einmal eine Satire mit dem völlig falschen Kriterium beurteilt. Auch als der Autor W.G. Sebald 1997 der deutschen Nachkriegsliteratur insgesamt vorwarf, vor dem Luftkrieg und seinen Auswirkungen als Sujet versagt, bzw. ihn komplett ausgespart zu haben, erinnerte sich niemand daran, dass Gisela Elsner sich diesem Thema auf eine radikale und ziemlich erhellende Weise gestellt hatte. Sie selbst befand sich im Jahr 1992 an einem so ausweglosen Punkt ihrer schriftstellerischen wie privaten Existenz, dass sie sich das Leben nahm. O-TON WP 3a Da kamen verschiedene Dinge zusammen. Sie war, das kann man so krass sagen, aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie war fast nicht mehr vorhanden. Denn dass ihre Bücher in der DDR gedruckt wurden usw. konnte man ja nicht als einen Ausgleich bezeichnen, das war ja nur ein Nebeneffekt. Dass dann auch endlich ihr vielgeliebtes Buch "Heilig Blut", wo auch wirklich ihr Herzblut dran hing, weil sie glaubte, dass das mit am besten gelungen sei, dass das endlich in der Sowjetunion gedruckt wurde, das hat aber nicht mehr aufhalten können, dass sie im Grunde genommen tot geschwiegen war. Sie war also schon literarisch tot. Und dann kamen die finanziellen Geschichten dazu. Sie musste ja von irgendetwas leben. Da wars dann ganz aus. Ich habe mich immer gefragt, ob es vielleicht einen Weg gegeben hätte, ihr zu helfen. Aber ich habe dann diese Frage mit Nein für mich beantwortet. Weil es aussichtslos war. Es war im Grunde genommen ein Punkt erreicht, wo ihr, glaube ich, nicht mehr zu helfen war. Man denke nur an ihr Buch "Fliegeralarm", was ihr letztes großes Werk war. Wo schon eine Art Verzweiflung daraus spricht, dass eine faschistoide Entwicklung wieder im Gange ist, die von niemand bemerkt wird, oder scheinbar nicht bemerkt wird. Das hat sie regelrecht zermürbt und hat ihr auch den Lebensmut genommen. O-TON CK 6a Also auf verschiedenen Ebenen wirklich ein Aus, zu dem kommt noch hinzu, darf man nicht vergessen, das politische Aus mit ihrer geliebten und gehassten, muss man sagen, DKP. Ihr Verhältnis zur DKP war durchaus ein gespaltenes. Sie sah es sozusagen als einzige Möglichkeit, in der Bundesrepublik einer linken Partei anzugehören. Aber wenn man ihre diversen Briefe und Reden, die sie vorbereitet hatte, sie war ja kurz auch nochmal im Vorstand, 89, wenn man das liest, ist es doch eher schon eine Hassliebe. Und für sie war dann mit der Wende, also mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der sozialistischen Länder ihre Utopie des Sozialismus, an der sie immer festgehalten hat, bis zum Schluss, fast bis zum Schluss, war für sie auch zerstört. Es gab keine politische Utopie mehr, keine politische Heimat mehr, also für sie war es komplett aussichtslos. O-TON WP 3b 13

Und dann brach das große Schweigen aus. Dass über Jahre hinweg die tote Schriftstellerin noch toter gemacht wurde, also eigentlich gar nicht mehr existierte. O-TON CK 6b Elfriede Jelinek hat das ja sehr schön formuliert: Eigentlich bedeutet es, wenn sich eine Autorin das Leben nimmt, dass so ein richtiges Revival stattfindet, dass sie's endlich sozusagen in den Olymp der Schriftstellerinnen schafft. Bei Gisela Elsner muss man sagen: Das Gegenteil war der Fall. Sie war vorher schon als Autorin tot. So hat ihr Selbstmord eigentlich fast nichts ausgelöst. Es gab einen Bericht, weiß ich noch, im NDR, "Der Sprung". Das war nochmal eine Aufarbeitung, wo Freunde und Freundinnen interviewt wurden. Das war für mich eigentlich der einzig umfassende Versuch, nochmal das Leben und diese Autorin Revue passieren zu lassen. Ansonsten war sie danach weg und tot und totgeschwiegen – bis zu dem Film, den ihr Sohn gemacht hat, muss man wirklich als Literaturwissenschaftlerin auch neidlos anerkennen. Nicht die Literaturwissenschaft hat Gisela Elsner wiederentdeckt, sondern den Umweg hat es genommen über den Film, den ihr Sohn Oskar Roehler gemacht hat über die letzten Monate seiner Mutter. SPRECHERIN Im Jahr 2000 sorgte Roehlers Film "Die Unberührbare" zwar dafür, sich an Gisela Elsner überhaupt wieder zu erinnern. Dennoch ist es maßgeblich der Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel selbst zu verdanken, dass die Autorin dem völligen Vergessen, dem sie anheimgefallen ist, allmählich wieder entrissen wird. Nicht nur ist Künzel Mitbegründerin der 2012 gegründeten "Internationalen Gisela Elsner-Gesellschaft", sondern seit 2006 betreut sie eine Neuedition und Werkausgabe Elsners im Berliner Verbrecher Verlag. Der Leiter dieses Verlags, Jörg Sundermeier, ist von der ungebrochenen Relevanz der Elsnerschen Literatur überzeugt: O-TON JS 1 Was mich vor allen Dingen an der Literatur Gisela Elsners fasziniert, ist ihre Sprache. Texte, die einen satirischen Charakter haben, sind im Regelfall eher schlampig gearbeitet. Es gibt wenige Ausnahmen – aber im Regelfall sind Satiren sehr einfach gearbeitet, sind auch für den jetzigen Zeitgeist gemacht und so ein bisschen auch dann für das Altpapier der kommenden Jahre. Und Gisela Elsner hat eine ganz ganz starke Kunstsprache, eine Sprache, die unglaublich durchgewirkt ist. Das Lachen, das Gisela Elsner erzeugen wollte, ist ein Lachen der Ablehnung, im Freudschen Sinne ein Lachen des Nicht-damit-Umgehen-Könnens, des VerstörtSeins, und genau das wollte sie aber auch erzeugen, sie wollte Zugriff auf ihr Publikum haben, auf die Hirne ihres Publikums, da sie, wie gesagt, gesellschaftliche Prozesse abbilden wollte und es ihr nicht ging um das Leiden von Individuen. Und dafür hat sie eine Sprache gefunden, die hat sie relativ früh gefunden, die hat sich dann verändert, eher verschärft zum späteren hin, auch weil sie in den späteren 14

Texten Parolen einbaut etc., was sie vorher nicht gemacht hat. Und dadurch zeigt sie auch, wie sozusagen durch Sprachmüll Leute verseucht sind – in einer Sprache aber, die alles andere als versprachmüllt ist. SPRECHERIN Trotz aller Begeisterung ist es kein leichtes Unterfangen, eine vergessene Autorin in einem Markt platzieren zu wollen, der nicht nur unentwegt nach Neuigkeiten lechzt, sondern auch verstopft ist von verzweifelter Überproduktion. Mittels ihrer reagieren die Verlage auf die zunehmende Krise des Buchs – wie Bäume, die kurz vor ihrem Tod noch eine Masse von sogenannten Angsttrieben produzieren. Jörg Sundermeier kann natürlich berichten von den Schwierigkeiten eines kleinen, unabhängigen Verlags, aber letztlich ist er nicht unzufrieden mit der WiederEntdeckung der Autorin Gisela Elsner: O-TON JS 2 Erstmal ist es so, wenn man seine Verlegerrolle so begreift wie ich, ist man grundsätzlich beleidigt, da die Dinge, für die man sich ja auch mit viel Herzblut engagiert, nicht die Resonanz bekommen, die sie verdienen. Ich möchte Gisela Elsner, um es salopp zu sagen, schon durchprügeln, ich möchte die durchsetzen überall. Das ist uns nicht gelungen bislang, wobei es aber schon so ist, und ich glaube, diese Blume können wir uns ans Knopfloch stecken, dass wir dann eben der Verlag sind, dem es gelungen ist, dass sie als Autorin wieder re-etabliert ist. Sie gilt aber – zu Unrecht – immer noch als sehr spezielle Autorin. Und ich finde, die Texte von Gisela Elsner sind sehr wohl einem breiten Publikum zugänglich. Sicherlich fühlt sich ein breites Publikum aber auch von diesen Texten bedroht. Aber das Lesen von Gisela Elsner ist nie einfach. Sie macht es einem nie leicht, sie macht es einem immer schwer und sie will auch, dass man als Leser leidet. Dadurch hat man dann aber Erkenntnisgewinne, die man sonst vielleicht nicht hätte. Also ich glaube, und das sage ich jetzt nicht als Geschäftsmann, sondern wirklich als Fan, mit Gisela Elsner und für Gisela Elsner ist noch eine Menge abzuholen. SPRECHERIN Eine der im Verbrecher Verlag erschienenen Wiederentdeckungen ist sogar eine Neu-Entdeckung. Erst aus dem Nachlass wurde 2008 der Roman "Otto der Großaktionär" veröffentlicht. Es handelt sich dabei um den bislang einzigen Roman Elsners, dessen Protagonist ein Arbeiter ist, und um den einzigen ihrer Texte, der einen drastischen sozialen Abstieg aus der Perspektive eines Betroffenen entwirft. Sie hat dieses Manuskript aber nie einem Verlag angeboten. O-TON CK 7 Ich glaube, sie hatte Skrupel, in mehrerer Hinsicht. Einmal ist es das Problem, was einem oft vorgeworfen wird, wie kann man aus einer Position oder Situation heraus 15

schreiben, zu der man eigentlich keinen direkten Zugang hat. Das war so der Vorwurf, den sie sich, glaub' ich, selber auch angezogen hat. Da hatte sie Skrupel, sozusagen, ihre Protagonisten aus der Arbeiterschicht gnadenlos darzustellen. Wo sie keine Skrupel hatte, wenn es um Unternehmer oder um Vertreter der Schicht ging, die sie kannte – da war sie ja mit allen Wasser gewaschen. Aber da hatte sie dann doch Skrupel, ob das legitim ist: Sie als Nicht-Zugehörige dieser Schicht, das so darzustellen. Der Roman ist noch spannend in einer anderen Hinsicht: und zwar hat Gisela Elsner das sonst nie gemacht, dass sie ihren Figuren einen Dialekt in den Mund gelegt hat. Damit hat sie hier bei "Otto der Großaktionär" eigentlich zum ersten Mal experimentiert. Es ist ein Versuch, den sie auch nicht weiter verfolgt hat, Otto ist ja schon Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre entstanden, und sie hat das Projekt mit den Dialekten nie wirklich weiterverfolgt SPRECHERIN Jenseits aller Selbstzweifel, die Gisela Elsner bewogen haben mögen, "Otto der Großaktionär" zurückzuhalten, ist gerade dieses Buch eins ihrer sarkastischsten und gelungensten. Dass der Arbeiter Otto Rölz, im Besitz von fünf Aktien seines Arbeitgebers, einer Ungeziefervertilgungsmittelfabrik des Chemie-Konzerns FATA, sich durch diesen Aktien-Besitz krisenfest und unkündbar wähnt, dass er glaubt, dadurch behandelt zu werden wie ein Vorstandsmitglied der Firma, erweist sich als immer böser werdende, dabei auch unvermindert aktuelle Schimäre. Im ersten Kapitel tritt Otto Rölz noch als Held im Taschenformat auf: ZITATORIN "Trotz seiner Prahlereien, trotz des ätzenden Ungeziefervertilgungsmittelgestanks, den er ausströmte, und trotz des bonbonrosa Ausschlags, der sich bedingt durch seinen täglichem Umgang mit Ungeziefervertilgungsmitteln tief in sein kantiges Gesicht eingefressen hatte, war Otto der Großaktionär bei seinen Kollegen, bei seinen Nachbarn und vor allem bei den Gästen der Gaststätte ZUM TRÖPFCHEN so beliebt, daß niemand an seinem Ausschlag und an seinem Gestank Anstoß nahm. Es gab in diesem Stadtviertel keinen, der ihm Unreinlichkeit unterstellt hätte. Vielmehr war es allgemein bekannt, daß er sich nach der Arbeit fast die Haut von den Knochen zu schrubben pflegte. Na, Otto, wie stehen die Aktien, rief man ihm zu, wenn er nach dem Abendessen in seinem azurblauen Seidenanzug mit seiner azurblauen Krawatte, die eine im Meer versinkende Sonne zierte, im TRÖPFCHEN erschien." (9) SPRECHERIN Das Unheil nimmt jedoch unaufhaltsam seinen Lauf, als Otto und seine Kollegen, sogenannte "Tierbetreuer", bei ihrer himmelschreienden Arbeit mit den zu vergiftenden Versuchstieren immer öfter die Ergebnisse manipulieren müssen. Sie 16

tun dies, um den bornierten, eitlen Wissenschaftlern vorzugaukeln, deren fehlerhaften Berechnungen zu Vertilgungsformeln und -dosierungen seien korrekt gewesen. Der Absatz des Produkts bricht dennoch folgerichtig ein. Entlassungen stehen an. Otto Rölz wird die soziale Stufenleiter abwärts gezwungen bis hin zur Arbeitslosigkeit. Zuvor stellt er sich aber noch als menschliches Versuchsobjekt für seine Firma zur Verfügung, die in einem abgetrennten Trakt, den die Mitarbeiter unter sich "AUSCHWITZEL" nennen, ihr Ungeziefervertilgungsmittel an freiwilligen Probanden testet, damit es bei Bedarf auch gegen Demonstrierende und ähnliches Ungeziefer eingesetzt werden kann. ZITATORIN "Otto Rölz war nicht der einzige unter ihnen, der die Zähne zusammenbiß, als die beiden Befugten die Ventile der Schläuche der Giftgasbehälter öffneten, so daß das herauszischende Giftgas die zwölf Testpersonen vorübergehend den Blicken entzog. Kaum daß ihn die Giftgaswolke umhüllte, registrierte Otto Rölz, daß von einem Tränen der Augen, von einem Tropfen der Nase und von einem leichten Schwindelgefühl nicht die Rede sein konnte. Denn zum einen sah er überhaupt nichts mehr. Zum anderen meinte er zu ersticken. Während ein dröhnendes Ohrensausen durch seinen Kopf ratterte, gaben seine Beine, als wären sie knochenlose Hauthülsen, nach. Mit seinen immer lahmer werdenden Händen tastete er blind nach dem Klappstuhl, von dem er wußte, daß dieser hinter ihm vor der Rückwand des Schuppens stand, und sank darauf nieder, ehe er überhaupt nichts mehr wahrzunehmen vermochte. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, fiel es ihm schwer, sich zu entsinnen, was eigentlich geschehen war. Links neben sich erkannte er verschwommen seinen noch immer bewußtlosen Kollegen Erpe und rechts neben sich sah er eine Testperson, die ihn ebenso kälbisch anglotzte wie er sie. Benommen konstatierte er, daß die Türen und Fenster des Schuppens in der Zwischenzeit geöffnet worden waren. Auch entging es ihm keineswegs, daß sich ihm und den übrigen Testpersonen die beiden zur Ausführung des Tests Befugten mit kalten Umschlägen und einem Tablett näherten, auf dem Gläser standen, die mit einer kakaofarbenen Flüssigkeit gefüllt waren. (..) Während er gierig das Glas leerte, kam linkerhand sein Kollege Erpe wieder zu sich. Was is'n los, erkundigte er sich krächzend. Wir ham uns bloß testn lassn, erwiderte Otto Rölz. Warum ham wir uns testn lassn, krächzte Erpe. Weil wir dafür einen Einhunderter kriegn, belehrte ihn Otto Rölz." (10) SPRECHERIN

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Die lakonische Gutgläubigkeit des Otto Rölz und seine Einfältigkeit den Verhältnissen gegenüber führen immer wieder zu zwerchfellerschütternden, gleichwohl bedrückenden Szenen. In einer der Nebenfiguren, der klassenkämpferisch agitierenden Tochter des Fabrikdirektors, Melanie Schwalm, hat sich Gisela Elsner in gewisser Hinsicht selbst ein Denkmal gesetzt. Völlig ohne Resonanz steht Melanie Schwalm mit Flugblättern vor den Toren der ausbeuterischen Fabrik, wird von Arbeitern misstrauisch gemieden, als "narrisches Ding" tituliert und in weitem Bogen umrundet. Erst gegen Ende, geschunden und doch ein wenig desillusioniert, blitzt in dem ehemaligen Dachdecker, ehemaligen Tierbetreuer und ehemaligen Großaktionär Otto, arbeitslos zuhause in der Badewanne sitzend, so etwas wie eine Erkenntnis auf: ZITATORIN "Die Aussichtn auf eine wirklich zumutbare Arbeit sin offenbar nicht gut, meinte er. Was hat denn die Arbeitsvermittlerin zu dir gsagt, wollte seine Frau wissen. Daß für einen ehemalign Tierbetreuer wie mich eine Arbeit, die ein ehemaliger Dachdecker wegn ihrer Unzumutbarkeit hätt ablehnen können, im Arbeitsamt meistens als zumutbar geltn tät, erwiderte Otto Rölz. Das wird ja eine Sauarbeit sein, die die dir vermittln, stieß seine Frau hervor. Ich hätt halt, wie ich für die immerhin noch ein entlassner Dachdecker gwesn bin, die Tätigkeit von eim Tierbetreuer als unzumutbar ablehnen solln, entgegnete Otto Rölz. Ohne daß ma's merkt, sinkt ma immer tiefer, murmelte seine Frau. Trotzdem hat die Arbeitsvermittlerin gmeint, daß es niemandn in unserm freiheitlichn Staat untersagt wär, sich Hoffnungen zu machen, erklärte Otto Rölz seiner Frau. Die hat gut redn, sagte diese. Ich weiß selber nicht mehr, ob ich mir jetzt Hoffnungen machen soll oder nicht, erwiderte Otto Rölz, indem er sich, einzig und allein drauf bedacht, zumindest möglich rasch seinen Gestank loszuwerden, mit alles andere als zartfühligen, kreisförmigen Handbewegungen einzuseifen begann." (11) SPRECHERIN Zu ihren Lebzeiten konnte sich die Schriftstellerin Gisela Elsner keine Hoffnungen mehr machen, mit ihrer sprachlich präzise durchchoreographierten und inhaltlich sehr genau auf gesellschaftliche Akupunkturpunkte zielenden Literatur Anerkennung zu finden.

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Bleibt zu hoffen, dass wenigstens die literarische Wieder-Entdeckung gelingt, und dass sie nicht ganz so ablaufen wird wie in ihrem 1970 geschriebenen Text "Die Auferstehung der Gisela Elsner": ZITATORIN "Während die ahnungslosen Trauergäste vor der Gruft angelangt auf eine Grabrede warteten, bedienten (..) Halbwüchsige miteinemmale mehrere Knöpfe und Hebel am automatisierten Sarkophag, der sich mitsamt der (in ihm) angenieteten Gestalt aufrichtete. Eine Luftströmung brachte das Totenhemd sowie die beiden sorgsam gelockten Zotteln an der Schädeldecke zum Flattern, marionettenhaft nickte der Kopf der Trauergesellschaft zu, die Hände vollführten Gebärden, als wollten sie ein etwaiges Beifallklatschen zum Verebben bringen, und die von einem verborgenen Tonband auf Lautsprecher übertragene Stimme der Gisela Elsner redete die Würdenträger in der rechten Reihenfolge an. (..) Diese sogenannte Auferstehung, mit der sich Gisela Elsner lieber zur Schaubudenfigur als zur Leiche stempelte, kann nun jedermann, der seine Münzen nicht in die Erfrischungs- und Genußmittelautomaten neben dem Sarkophag steckt oder in die Musik-Box, gegen geringes Entgelt, ein Entgelt übrigens, das wiederum der Gruftpflege zugute kommt, ablaufen lassen, so lange noch die Haut die Knochen zusammenhält, so lange noch Knochen, noch Knochenstücke vorhanden sind. Selbst den Staub wird, wer Lust hat, eines Tages aufwirbeln können." (12)

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