SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Essay Erinnerungen an mich Ein Leben im Perfekt Von Wolfgang Buschlinger Sendung: Redaktion: Regie: Produktion:

Montag, 14. Mai 2018 Michael Lissek Maria Ohmer SWR 2018

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

Ich bin nicht normal. – Nein, das, was ich habe, ist kein Leiden im engeren Sinne und für mich ist es noch nicht einmal ein Leiden. Ich bin einfach anders als andere, wenn auch nicht auffällig. Mein Anderssein liegt darin, wie meine Erinnerungen mit mir umgehen. Natürlich ist niemand Herr seiner Erinnerungen. Sie kommen oft genug, ohne dass man weiß, warum. Insofern gehen Erinnerungen mit jedem irgendwie um. Trotzdem gehen meine Erinnerungen anders mit mir um als die Erinnerungen anderer mit den anderen. Ich will damit vor allem eine unausgesprochene und dennoch gern gemachte Vermutung in Frage stellen, nämlich die, dass alle Menschen auf dieselbe Art und Weise erinnern. So, wie man denkt, dass die Menschen alle auf dieselbe Art und Weise sehen, so stellt man sich das auch beim Erinnern vor. Das ist eine dieser Denk-Selbstverständlichkeit, an die auch ich früher geglaubt habe. Heute aber tue ich das nicht mehr. Es hat eine ganze Zeit gebraucht, bis ich bemerkt habe, dass ich anderes erinnere als viele Menschen um mich herum.

Mit Anders-Erinnern meine ich dabei nicht die Inhalte. Eigentlich dürfte das klar sein. Wenn zwei Menschen dasselbe Geschehnis erinnern, dann ist das, was sie erinnern, verschieden. Der Braut drängen sich einfach andere Bilder auf als dem Gast der Hochzeit. Die Verschiedenheit der Erinnerung betrifft dabei nicht nur Kleinigkeiten oder dieses oder jenes Detail, sondern einfach alles, was geschieht. Jedes kleine Fitzelchen. Wenn man es sich in Ruhe überlegt, dann kommt man darauf, dass zwei Menschen prinzipiell nie eine gemeinsame Erinnerung haben können. Denn dafür müssten die beiden nicht nur dieselbe Raumzeit-Stelle besetzen, was für sich schon unmöglich ist. Sondern sie müssten darüber hinaus, was ihre komplette Vergangenheit angeht, identisch sein. Was noch unmöglicher ist. – Natürlich, die Fakten des Hochzeitstages wissen in der Regel alle Beteiligten noch, sogar für einen langen Zeitraum darüber hinaus. Zur Not kann man das Datum nachschauen im Ehering, in der Hochzeitsurkunde, im Tagebuch oder Kalender. Vielleicht kennt man auch noch die Location und die Trauzeugen. Aber dieses Wissen ist kein bebilderter Erinnerungsinhalt, sondern bilderloses Faktenwissen. Und das meine ich erst Recht nicht.

Auch meine ich nicht die Lebhaftigkeit der Erinnerung, also, wie bewegt, wie deutlich, wie luzide das Erinnerte für mich im Moment des Erinnerns ist. Wenn ein Geschehen für zwei Betrachter eine unterschiedliche Bedeutung hat, dann ist auch die 2

Erinnerung daran für beide unterschiedlich lebhaft. Das scheint mir evident. Kurz gesagt: Das Küssen des Bräutigams dürfte der Braut lebhafter in Erinnerung sein als dem Gast, keine Frage. – Aber die Lebhaftigkeit einer Erinnerung meine ich auch nicht. Lebhaftigkeit ist so etwas wie eine Formatierung eines Erinnerungsinhaltes. Mich interessiert aber weder Inhalt noch Formatierung.

Das, was ich meine, ist vielmehr die Art und Weise, wie etwas im Erinnern zur realen Gegenwart wird. Oder nicht. Es ist schwer auszudrücken und deshalb versuche ich es gleich zweimal.

Versuch 1. Mir gelingt es oft nicht, zum Erinnerten jene Minimaldistanz aufzubringen, die man eigentlich zu jeder Erinnerung aufbringen muss, nämlich die Akzeptanz, dass das Geschehene vorbei ist. Dieses zeitliche Abstandsgefühl zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt es bei mir nicht; die Erinnerung hat vielmehr eine innere Aufdringlichkeit, die sie zur Gegenwart macht.

Das ist – so vermute ich – auch der Grund dafür, warum es bei mir viel mehr Dinge gibt, mit denen ich nicht abgeschlossen habe, als bei andere Menschen. Und damit meine ich vor allem die üblichen Phasen in einem Leben, meine Kindheit, meine Überzeugungen in der Jugend, was für mich als Student wichtig gewesen ist und wie es sich angefühlt hat, Karl Popper oder Simone de Beauvoir zu lesen. Das alles ist keine Erinnerung für mich und erst recht keine Phase, sondern im Moment des Erinnerns reale Gegenwart, die sich sogar auf mein Handeln auswirkt. Deshalb mag ich es auch nicht, wenn Menschen wie Erwachsene reden, von ihrer Vergangenheit im Präteritum erzählen und von den grandiosen Feiern in ihren Studienzeiten. Wie von den verstaubten Exponaten in naturhistorischen Museen. Das sind für mich Erzählungen von einem anderen Planeten aus dem Munde von Außerirdischen. Ich verstehe dann nicht, wie es so weit mit ihnen hat kommen können, dass sie mit Teilen ihres Lebens abgeschlossen haben. Wenn sie sich positionieren wie Erwachsene, dann machen sie in diesem Moment etwas ganz Spezielles mit ihren Erinnerungen: Sie stecken sie in einen Karton, schnüren ihn fest und... werfen ihn weg. Inklusive aller Liebesbriefe und Verflossenen. – Ich könnte das nicht. Ich kann auch sonst nicht viel wegwerfen, die Fahrscheine vom Golden Eye etwa, als ich mit meinem Sohn in London war. Meine Frau nennt mich deshalb halb im Ernst, halb 3

scherzhaft einen Messie. Aber das bin ich gar nicht. Es ist einfach nur so, dass ich weniger Müll produziere als sie.

Da ich immer noch nicht sicher sein kann, verstanden zu werden, starte ich jetzt den Versuch 2. Und zwar in den Worten des grammatikalischen Tempus.

Ich habe mir in den letzten Jahren angewöhnt, Menschen in zwei Kategorien zu unterteilen, und zwar nach der Art und Weise, wie sie erinnern: in PräteritumMenschen und in Perfekt-Menschen. Im Präteritum werden im Deutschen üblicherweise abgeschlossene Ereignisse beschrieben. „Präteritum-Menschen“ nenne ich folglich jene, die, wenn sie erinnern, ihre Erinnerungen nicht nur im Präteritum darstellen, sondern für die ihre Erinnerungen tatsächliche Episode sind. Präteritum-Menschen fällt es leicht, mit Dingen abzuschließen. Beispielsweise können sie Liebesbeziehungen anfangen und beenden. Ich kann nur Liebesbeziehungen anfangen. Präteritum-Menschen neigen auch dazu, ihr Leben als Aneinanderfügung von Episoden zu begreifen. Sie strukturieren sogar aktiv ihr Leben in Episoden, in Abschnitte, nach dem Motto: hier meine Kindheit, hier meine Jugend, meine Studienzeit, mein erster Mann, mein zweiter Mann und so fort. Jeder Teil ist dabei für sich abgeschlossen. Alles, was vor der jeweils aktuellen Episode liegt, ist für sie bedeutungslos, kann weg oder wird veräußert. Nicht nur die Liebesbriefe des Ex, auch die eigenen episodengebundenen Vorlieben. Es gibt Dinge in der Vorstellung der Präteritum-Menschen, die macht man mit 20, mit 40 aber macht man sie nicht mehr jetzt. Präteritum-Menschen finden auch Sätze gut wie „Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn." Präteritum-Menschen sind Menschen, die historisieren. Das sagt ja schon der Name, den ich ihnen gegeben habe.

Das grammatikalische Perfekt hingegen hat nicht die Funktion des Historisierens. Im Perfekt ausgedrückt werden Ereignisse, die zwar in der Vergangenheit abgeschlossen wurden, deren Konsequenzen aber noch bis in die Gegenwart reichen. Manchmal heißt das Perfekt deshalb auch Präsensperfekt. Für PerfektMenschen stellt sich das Leben ganz anders dar als für Präteritum-Menschen. Für sie ist das Leben keine Aneinanderreihung von Episoden, sondern eine einzige

4

Episode. Es gibt nichts, was sie abschließen nach dem Motto „Deckel drauf und Schluss“.

Um einen Geschmack dafür zu bekommen, wie sich das Leben eines PerfektMenschen anfühlt, genügt es, auf die legendäre Erinnerungsreise in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu gehen. Der Erzähler trinkt darin eine Tasse Tee und isst eines jener Biskuittörtchen, die „Madeleines“ heißen.

In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl hatte mich durchströmt. Doch woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, dass sie aber weit darüber hinausging. Es ist ganz offenbar, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihnen ist, sondern in mir. Er hat sie nur aufgeweckt, kennt sie aber nicht und kann nur auf bestimmte Zeit seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von Neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht etwas später zu meiner Verfügung haben möchte, um eine entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen.

Der Ich-Erzähler weiß nicht wie ihm geschieht, denn plötzlich reißen die Szenen seiner Kindheit vor seinem geistigen Auge auf. Es ist ein emotionaler Flash, der ihn durchrauscht, und wer die Passagen dieses ansonsten nahezu unlesbaren Werkes einmal gelesen hat, wird sie und das beschriebene Phänomen nicht so leicht vergessen. In der Wissenschaft heißt ein solches Phänomen „Proust-Phänomen“ oder auch „Madeleine-Effekt“ – gemeint ist damit ein schlagartiges, unerwartetes und distanzloses Aufspringen von Kindheitsbildern, ausgelöst vor allem durch Gerüche.

Ich kenne so etwas gut. Meine erste Flamme, eine zarte Bekanntschaft auf einer Jugendfreizeit, hat mir Briefe geschrieben. Liebesbriefe. Parfümierte Briefe. Wir wohnten 25 km auseinander – definitiv zu viel für zwei 14-jährige damals. Ich habe diese Briefe gemocht, auch wenn unsere Bekanntschaft im Sande verlief. Jahre später bin ich diesem Geruch völlig unvorbereitet noch einmal begegnet. Eine Studienkameradin hat das Parfum auch benutzt. Nicht nötig zu erklären, was damals 5

geschehen ist mit mir. Und ich bin sicher, wenn dieser Geruch mir heute wieder begegnete, ich würde ihn immer noch sofort erkennen; und ich hätte auch wieder dieses Kino im Kopf, nur wäre das, was ich in diesem Kino sähe, keine Fiktion, sondern eine Doku.

Ich kenne das aber nicht nur von den parfümierten Briefen. Ich kenne es aus meinem ganzen Leben. Ich bin ein Perfekt-Mensch, und wenn ich den Perfekt-Menschen mit Hilfe des Madeleines-Effekts charakterisieren sollte, dann würde ich sagen: Der Perfekt-Mensch lebt in einer Welt, in der ein abgemilderter Madeleine-Effekt sein Dauerzustand ist. Natürlich ist dieser Dauerzustand nicht so heftig wie beim echten Madeleine-Effekt, und es braucht auch keinen Geruch als Auslöser. Was aber ihre Unmittelbarkeit und Direktheit angeht, so unterscheiden sie sich nicht. Beide sind kognitive und emotionale Dampframmen.

Ich hoffe, mit diesen wenigen Andeutungen eine Ahnung davon gegeben zu haben, wie unterschiedlich ein Präteritum-Mensch und ein Perfekt-Mensch Vergangenes erleben. Die Andeutungen sollten dabei jeweils die beiden in ihrer Reinform beschrieben. Sie sind deshalb pointierte Idealisierungen. Und haben auch dann einen Erkenntniswert, wenn die realen Menschen fast ausschließlich Mischformen der beiden Idealisierungen sind. Denn natürlich ist es auch bei mir so, dass ich das ein oder andere Geschehnis in meiner Vergangenheit historisiert habe, zum Beispiel deshalb, weil ich keine gute Rolle darin gespielt habe oder weil ich einer offensichtlichen Verirrung unterlegen war und nur zu blöd, sie in diesem Moment zu bemerken. Ich bin also auch kein perfekter Perfekt-Mensch, aber ich muss auch keiner sein; es reichen schon – über den Daumen gepeilt – 70, 80% aus, damit die Ausprägung „Perfekt-Mensch“ auf mich zutrifft, und damit auch das Wissen um die Antwort auf die Frage, wie es sich denn so anfühlt, ein Perfekt-Mensch zu sein, zu der ich jetzt komme.

Die Trennung zwischen Präteritum-Mensch und Perfekt-Mensch halte ich nicht für eine akademische, sondern eine reale. Als Philosoph betreibe ich meinen ganzen Denkaufwand nicht, um vor anderen zu glänzen, indem ich unglaublich kluge Dinge sagen. Ich tue es, weil ich denke, damit die Welt besser zu verstehen, andere besser zu verstehen und vor allem zu verstehen, warum ich bin, wie ich bin, auch wenn ich 6

nicht genau weiß, wer ich bin. Das ist für mich der Antrieb jeder Wissenschaft. Dafür macht man das Ganze.

Was die unterschiedlichen Arten des Erinnerns angeht, so bin ich der festen Überzeugung, dass sie die Persönlichkeitsstruktur wesentlich beeinflussen, wenn nicht sogar bestimmen. Perfekt-Menschen erinnern nicht nur anders als PräteritumMenschen, sie sind auch anders. Weil sie anders erinnern.

Ein paar dieser Beeinflussungen habe ich schon genannt, als ich mich als PerfektMensch von den Präteritum-Menschen abgegrenzt habe. An dieser Stelle möchte ich mehr davon skizzieren, um anhand meiner Person ein Panorama jener Welt zu entwickeln, in der ein Perfekt-Mensch lebt.

Erstens: Ich tue mich schwer damit, Dinge wegzuwerfen oder zu verkaufen, wenn sie in meiner Vergangenheit eine Bedeutung gehabt haben und ich ihnen beim Aufräumen begegne. Das ist immer so gewesen, auch schon, als ich noch ein Kind war. Wir sind damals ziemlich oft umgezogen, im Schnitt alle zwei Jahre, und diese Umzüge hat meine Mutter benutzt, um Überflüssiges loszuwerden. Ich konnte ihr Anliegen gut verstehen, und heute verstehe ich sie noch besser. Doch ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern, wie sie Dinge entsorgt hat, die mir wichtig waren, inklusive des gekochten Eis, das ich in meinem Zimmer nach Ostern so versteckt hatte, dass sie es eigentlich niemals hätte entdecken können. Dachte ich. Ich habe meine Irrtümer oft beweint.

Damals wie heute tue ich mich auch damit schwer, zum Beispiel Eintrittskarten von besonderen Gelegenheiten oder aus Urlauben und so weiter wegzuwerfen. Diese Eintrittskarten sind für mich für immer mit meinem Leben verknüpft und ich freue mich, wenn ich ihnen begegne. Warum sollte ich sie wegwerfen? Oder besser gefragt: Wie könnte ich sie überhaupt wegwerfen? Kein Wunder also, dass ich viele solcher alten Eintrittskarten besitze.

Ich besitze sogar noch alle Liebesbriefe, die man mir jemals geschrieben hat. Und überhaupt, die englischen Banknoten mit der Queen drauf, die ich im vergangenen Sommer getauscht und nicht ausgegeben habe, sind immer noch in meinem 7

Portemonnaie, und das nicht nur, weil ich mit meinem Sohn dort eine gute Zeit verbracht habe, sondern weil ich mir mit 12 meine erste Pfundnote gekauft habe, aus Sympathie für England, für London und natürlich für die Queen. Ich sehe das England der Siebziger Jahre vor meinen Augen, wenn ich morgens beim Bäcker zu wenig Kleingeld habe und deshalb mit einem Schein bezahlen muss.

Zweitens: Ich kann auch keine Liebesbeziehungen beenden, ich kann sie nur anfangen. Wozu auch? Warum sollte ich eine Liebesbeziehung beenden? Das tut kein Mensch ohne Not. Ein Grund, den ich verstünde, wäre der, dass die Liebe irgendwie an ein Ende gekommen oder erkaltet ist. Aber warum sollte sie das? Meine Liebe erkaltet niemals von mir aus. Ich weiß, es klingt doof, aber ich habe tatsächlich noch nie einer Frau einen Korb gegeben. Einmal habe ich es versucht. Da dachte ich, das macht man so, das sei erwachsen. Aber es war einfach nur dumm, und ich bin schnell wieder zurückgerudert. Nein, meine Liebesbeziehungen werden beendet, weil meine Geliebten mich verlassen.

Dass meine Liebe nicht erkaltet, hat zwei Gründe. Grund 1 ist, dass in meinem Denken die beiden Dinge „Liebesbeziehung“ und „Episode“ nicht zusammen gehen. „Liebe“ heißt für mich unter anderem: Ganz oder gar nicht, Sekt oder Selters. Sicher aber nicht das fade Episodische. Grund 2 ist, dass sich mein Gefühl für den anderen ständig aktualisiert in dem Sinne, dass es immer wieder von der Vergangenheit in die Gegenwart geholt wird. Oft, wenn ich meine Frau ansehe, liegt im Anschauen auch mein Erinnern unserer Vergangenheit aktualisiert vor mir. Und der Rest ergibt sich daraus. Meine Frau findet das zwar merkwürdig und irgendwie versteht sie es auch nicht ganz, aber wie gesagt, sie wirft ja auch mehr Dinge weg als ich und meint, ich sei der eigentliche Müllverursacher.

Drittens. Da ich mein Leben nicht in Episoden organisiere, schließe ich auch jene Teile nicht ab, die man üblicherweise abschließt. Zum Beispiel meine Studienzeit, meine frühen Jahre, meine Kindheit, meine Dreißiger. Beispielsweise stehe ich politisch immer noch dort, wo ich stand, als ich 20 war. Naja, in etwa jedenfalls, es gibt ein Update 2.0, auch die Faktenlage hat sich geändert in den letzten dreißig Jahren. Vor dreißig Jahren sprach man mehr vom sauren Regen und noch nicht vom globalen Klimawandel. 8

Aber die Politik ist es nicht allein. Im Grunde meines Herzens bin ich nämlich immer noch das Kind, das ich mit 10 oder 20 gewesen bin. Es ist einfach so: Das, was ich als Kind gerne gemacht habe, das mache ich heute immer noch gerne. Mit zehn Jahren durfte ich meine erste große Anschaffung machen, für 100 DM, die ich von meinem Sparbuch abgehoben habe. Es war ein 2-Mann-Zelt, weil ich das Zelten doch so sehr geliebt habe. Und das tue ich auch heute noch. Einige meiner Freunde habe ihre Camping-Sachen inzwischen verkauft oder weggeben. Sie fanden das ab irgendeinem Zeitpunkt unschick. Ich finde, sie sind Verräter. – Analog die Modelleisenbahn. Mit 6 habe ich meine erste Lokomotive geschenkt bekommen, mit 12 habe ich mir die erste selbst gekauft, mit 32 dann die erste gebrauchte, eine V200, mit 46 dann den Traum meiner Kindheit, die bayrische S3/6. Jetzt habe ich die S2/6 im Auge. – Analog Lego. Das letzte Set habe ich mir zu Weihnachten gewünscht und bekommen. Mehr muss ich wohl nicht sagen.

Manchmal heißt es deshalb über mich: „Der Typ ist einfach nicht erwachsen geworden.“ und ich denke dann im Stillen: „Das stimmt. Aber wenn Erwachsenwerden bedeutet, das nicht mehr zu tun, was man als Kind gut gefunden hat, dann kann ich auch nicht erwachsen werden. Dann verlangt Ihr von mir Unmögliches. Sorry.“ Ich mache dafür mein Anders-Erinnern verantwortlich. Da es mir nicht gelingt, Distanz zwischen mich und meine Erinnerung zu bringen, mache ich eben das, was für mich so schön gewesen ist und in seiner vergegenwartlichten Erinnerung auch schön ist: genau, spielen.

Viertens: Das einzige, was ich erwartet habe als Perfekt-Mensch zu sein, aber nicht bin, ist nachtragend. Ich bin einfach nicht nachtragend. Nachtragend zu sein, bedeutet ja, Kränkungen oder Herabsetzungen über lange Zeit hinweg nicht vergessen zu können und sie einem anderen vorzuwerfen. Tatsächlich ist es so, dass ich so gut wie niemandem etwas vorwerfe und auch Kränkungen und Herabsetzungen einfach vergesse. Und das ziemlich rasch. Mein Gehirn legt, was Kränkungen und Verletzungen angeht, eine strikte Töpfchen-Kröpfchen-Mentalität an den Tag. Kränkungen und Verletzungen erinnert es einfach nicht, und damit hat sich die Sache erledigt. Ohne Erinnerung keine Aktualisierung. Es gibt Momente, da finde ich mein Gehirn einfach formidabel. 9

Fünftens: Weniger formidabel ist mein Gehirn allerdings im Umgang mit Trauer. Sie trifft es immer mit voller Wucht. Eine Töpfchen-Kröpfchen-Mentalität hat es da nicht, obwohl ich sie gerne hätte. In Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“ bin ich einmal, ganz am Ende, auf eine Passage gestoßen, die mich gerührt hat, weil die Tiere eine Eigenschaft haben, die ich nicht habe. Nils Holgersson muss sich darin von den Wildgänsen verabschieden.

Da stand der Junge auf und trat dicht an Akka heran. Er liebkoste und streichelte sie. Dasselbe tat er Yksi und Kaksi, Kolme und Neljä, Viisi und Kuusi, allen den alten, die von Anfang an dabei gewesen waren.

Hierauf ging er vom Ufer weg landeinwärts; er wußte, der Schmerz der Tiere dauert nie lange, und so wollte er lieber von ihnen scheiden, solange sie noch betrübt darüber waren, daß sie ihn verloren hatten.

Wie wahr. Der Schmerz der Tiere dauert nie lange. Das liegt an ihrem mangelnden Erinnerungsvermögen. Der Perfekt-Mensch ist aber kein Tier. Für einen PerfektMenschen stellt sich Trauer deshalb nicht nur anders, sondern gerade umgekehrt dar, er wird immer und immer wieder heftig von ihr ergriffen. Ich will hier nicht ins Detail gehen. Ich will nur sagen, die Momente der Trauer sind jene Momente im Leben eines Perfekt-Menschen, in denen er sehnlichst wünscht, er wäre ein Tier.

– Soweit das Panorama der Perfekt-Mensch-Welt in Kürze. Vielleicht ist spürbar geworden, dass der Perfekt-Mensch in einer anderen Welt lebt als der PräteritumMensch. Seine Welt ist vor allem eines, nämlich näher an ihm dran. Weil der PerfektMensch stärker als der Präteritum-Mensch in seiner permanent aktualisierten Vergangenheit lebt, neigt er deshalb eher dazu, das distanzlos Aufgedrängte für wahr zu halten. Und weil mehr von seiner Vergangenheit für ihn handlungsleitend ist als beim Präteritum-Menschen, stellen sich ihm zwei Fragen besonders eindringlich: Wie wahr ist das, was ich erinnere, wirklich? Und:

Wie wahr bin ich?

10

Im Wesentlichen orientiert jeder Mensch sein Handeln an zwei Informationsquellen: an seinen Sinnen und an seiner Erinnerung. Auch ich. Auf meine Sinne ist dabei einigermaßen Verlass. Das merke ich beim Autofahren. Ich erkenne Hindernisse als solche und weiche ihnen aus. Auch sehe ich keine Hindernisse dort, wo keine sind. Natürlich weiß ich, dass meine Sinne mich täuschen können. Aber im Großen und Ganzen sind sie recht zuverlässig.

Aber meine Erinnerung? Wie steht es um sie? Ist auch sie im Großen und Ganzen recht zuverlässig? – Ich habe da meine starken Zweifel. Und das nicht nur, weil der Frankfurter Neurophysiologe Wolf Singer zu meinem großen Vergnügen Erinnerungen einmal als „datengestützte Erfindung“ bezeichnet hat. Für Singer ist Erinnern so wörtlich „ein kreativer, konstruktivistischer Prozeß ist, bei dem das Gehirn versucht, aus den Gedächtnisspuren, die es ins Bewußtsein zu heben vermag, ein kohärentes Gesamtbild zu rekonstruieren. Damit ist Erinnerung für die gleichen Deformationsprozesse anfällig wie die Primärwahrnehmung selbst. Ich meine damit die Fehler, die beim Rekonstruktionsprozeß des Erinnerns unterlaufen können. Und dieser ist naturgemäß noch weit anfälliger, als die Primärwahrnehmung. Die Freiheitsgrade für die synthetischen Bemühungen des inneren Auges sind beträchtlich. Und so nimmt es nicht wunder, daß beim Erinnern nur schwer zu trennen ist, welche Inhalte und vor allem welche Bezüge zwischen denselben bereits im Zuge des Wahrnehmungsaktes abgespeichert wurden und welche erst beim Auslesen und Rekonstruieren definiert oder gar hinzugefügt wurden. Das Problem hier ist, daß dem Erinnernden selbst meist nicht erkennbar ist, was von dem, was ihm als Erinnerung erscheint, tatsächlich wahrgenommen oder erst im Zuge des Rekonstruktionsprozesses hinzugefügt, umgeordnet und neu gedeutet wurde.

Ich könnte Wolf Singer stundenlang zuhören. Weil er so schön darstellt, wie ich meine eigenen Erinnerungsinhalte unausweichlich verzerre. Verzerrung ist eine eingebaute Systemeigenschaft meines Gehirnes. Wenn ich Singer richtig verstehe, dann muss ich mir wiederholtes Erinnern so vorstellen: Am Anfang steht das Ereignis und ich bin wahrnehmender Teil dieses Ereignisses. Die gemachte Wahrnehmung wird abgespeichert. Dann erinnere ich mich das erste Mal daran. Diese erste Erinnerung ist schon kein Abbild mehr des Ereignisses, sondern eine verzerrte, eher schlechte Kopie desselben. Doch damit nicht genug. Zu allem Überfluss tritt sie jetzt 11

selbst an die Stelle des ursprünglichen Eindrucks, an die Stelle der Rohdaten. Beim zweiten Erinnern wiederholt sich das Ganze, ich erhalte also die schlechte Kopie einer schlechten Kopie. Genauso wie beim dritten Mal, und so weiter und so weiter. Mathematisch gesprochen handelt es beim wiederholten Erinnern also um ein permanentes Ersetzungsverfahren ohne Fixpunkt.

Die Konsequenzen daraus sind bittersüß. Meine Erinnerungen mögen ja zu vielem taugen und für manches nützlich sein. Eines jedoch darf ich ihnen in keinem Fall, nämlich trauen. Erinnerungen sind keine gute Quelle für Wahrheit, das kennt man nicht nur von Studien über die Belastbarkeit von Zeugenaussagen. Man kennt es auch von sich selbst. Ich habe jedenfalls mein eigenes Gehirn schon mehrmals dabei erwischt, wie es in seiner durchaus liebenswürdigen Voreingenommenheit für mich etwas zensiert, das mich in ein schlechtes Licht stellt. Oder wie es etwas übertreibt, wo ich in gutem Licht dastehe. In Sachen Selbstdarstellung ist das Gehirn wirklich ein guter Verbündeter. In Sachen Wahrheit allerdings nicht. Wenn ich mich frage, wie wahr meine Erinnerungen sind, dann muss ich antworten: eher unwahr, datengestützte Erfindungen eben.

Eine dieser datengestützten Erinnerungen bin ich selbst. Ich werde zur Person nur dadurch, dass ich mich an mich selbst erinnere. Die Frage: Wer bin ich? ist also demnach identisch mit der Frage: Wie wahr bin ich selbst in meinen Erinnerungen?

Um diese Frage zu klären, stelle ich mir gerne vor, ich wäre Erinnerungslos für einen Tag [Beatles: A day in the life anspielen]

Es war in meinen jungen Jahren, als ich mit meiner Freundin am Inn entlang ging an einem Januarabend. Das Thermometer zeigte -25 Grad und Wasserdampf stieg aus dem Inn auf, vielmehr aus dem, was die fast geschlossene Eisdecke vom Fluss noch offen gelassen hatte. Der aufsteigende Wasserdampf kondensierte an unseren Haaren und gefror dort sofort. Als wir uns anschauten, mussten wir grinsen, denn äußerlich waren wir schlagartig alt geworden. Ergraut vom gefrorenen Wasserdampf, ergraut wie unsere Großeltern, und zugleich jung im Gesicht. – Ich habe das nicht vergessen, denn es gab mir die Ahnung davon, wie ich aussehen könnte, wenn ich alt bin. Aber natürlich war ich damals nicht alt und deshalb der Eindruck vermutlich 12

auch halbgar. Das machte aber nichts, es hat mich trotzdem beeindruckt. Dann, als wir das Haus betraten, verflog die Grautönung unserer Haare natürlich sofort. Alt für eine Stunde, das waren wir gewesen.

Wenn es ginge, dann wäre ich auch gerne einmal erinnerungslos für einen Tag. Nein, das ist keine Verharmlosung der Demenz und ich wünsche mir innig, mein Leben lang von Demenz verschont zu bleiben. Aber erinnerungslos für einen Tag? Und danach wäre wieder alles auf normal? Hätte ich die Wahl, ich würde es tun. Warum? Ganz einfach. Ich will wissen, wie es ist, wenn man sich nicht erinnert oder nicht richtig. Ich habe keine Vorstellung davon, was es mit mir macht, wenn plötzlich keine Vergangenheit mehr zu mir gehört oder eine falsche, die ich aber nicht als falsch erkenne, weil ich sie für richtig halte. Die Wissenschaft sagt mir, meine Erinnerung konstituiere meine Identität. Wo aber ist meine Identität dann hin, wenn meine Erinnerung verschwindet? Oder ist sie etwa noch da?

Was mich am meisten an einem Tag ohne Erinnerung interessiert, ist, ob ich mich an diesem Tag als mich anfühlte oder ob ich mich an diesem Tag verlöre. Ich meine das so: Wäre ich an diesem Tag eher ein Automat, der aus mechanischer Gewohnheit tut, was er tut, aber nicht weiß, was er tut? Oder wäre es anders? Wüsste ich dann, dass ich es bin, der da handelt? Und wer wäre dieser Ich? Oder wüsste ich einfach nur nicht genau, wer dieser Ich ist, der ich bin?

Wenn die Philosophie-Geschichte ein Körnchen Wahrheit enthält, dann wird vermutlich das Letztere der Fall sein. Schon Immanuel Kant hat sich mit dieser Frage beschäftigt und sie auch beantwortet. Den Kant mag ich zwar nicht sonderlich, aber ich habe bei ihm etwas über Mäuse gelernt, und auch über mich.

In seiner Kritik der reinen Vernunft, über die man frotzelt, man müsse sie erst einmal ins Deutsche übersetzen, um sie verstehen zu können, heißt es im Kapitel „Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“:

Dass: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für 13

mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.

Klingt kompliziert, ist aber nach Übersetzung echt schlau. Kant sagt: Frei flottierende Anschauungen oder Gedanken ohne Anschauer oder Denkerin, die herrchen- oder frauchenlos wie Seifenblasen durch die Gegend wabern, kann es nicht geben. Damit eine Anschauung überhaupt eine Anschauung sein kann, und damit ein Gedanke überhaupt ein Gedanke sein kann, braucht es eine Zentrale, zu der er gehört und in der – bei mehreren Gedanken oder Anschauungen – alles zusammenläuft. Das könnte man „mein Ich“ nennen bzw. das „Ich denke“. Im Vergleich zu dem, was andere Ich-Philosophen für Ansprüche an das Ich gestellt haben, ist das wenig. Trotzdem spricht Kant etwas Wahres aus, über Mäuse und über mich. Wenn ich mir vorstellte, ich wäre eine Maus, säße in der Ecke, und zwei Meter vor mir befände sich eine nicht besonders große, pelzbehaarte Entität mit spitzen Ohren, großen Augen und Tasthaaren um den Mund, die ‚Miau’ macht – dann muss ich meine visuellen und auditiven Eindrücke als zu mir gehörig empfinden können, um die Flucht zu ergreifen. Klar ist: Der Begriff „Ich denke“ ist bei Mäusen vielleicht zu hoch gegriffen. Klar ist aber auch: Eine Maus mit einer Störung der ursprünglichsynthetischen Einheit ihrer Apperzeption ist eine tote Maus. Aus ganz evolutionsbiologischen Gründen darf man deshalb davon ausgehen, dass die heutigen Mäuse keine solchen Störungen aufweisen. Bei mir ist es nun wie bei der Maus. Da ich annehme, dass meine bewussten biologischen Basisfunktionen auch dann ablaufen, wenn ich gerade vergessen habe, wer ich bin, verfüge ich auch an einem Tag ohne Erinnerung über eine solche Zentrale und werde mich als mich wahrnehmen, als Zentrum meiner Welt. Das heißt nicht, dass ich darüber hinaus viel mehr weiß. Oder dass ich eine Vorstellung davon habe, wer dieses Ich genau ist, das da das Zentrum seiner Welt innehat.

Aber, unter uns gesagt, weiß ich das überhaupt je? Ich frage mich manchmal, wer ich bin oder wer ich sein könnte. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr zerfließt meine Vorstellung davon. Es hat zu tun mit dem seltsamen Begriff Identität.

14

Ich bin jetzt schon über 30 Jahre Philosoph und ich weiß immer noch nicht genau, was er bedeutet. Deswegen weiß ich auch immer noch nicht genau, was sich hinter Begriffen wie „Ich“ und „Selbst“ verbirgt. Aber eine vage Vorstellung habe ich davon.

Für mich lässt sich auf zweierlei Weise von „Identität“ sprechen. Die erste hat etwas mathematisch-logisches. Sie meint die totale Gleichheit, also die Übereinstimmung in allen Merkmalen und Eigenschaften. Diese Art zu sprechen, scheint mir klar und deutlich zu sein, allein, sie trifft auf nichts Reales zu. Ich kann mir zwar vorstellen, dass ich jetzt einen Gegenstand anschaue, in fünf Minuten diesen Gegenstand wieder anschaue, und dann feststelle, es hat sich nichts an ihm verändert. Dann würde ich sagen: „Die beiden Gegenstände sind identisch“ oder „Es ist ein und derselbe Gegenstand“. Ich kann mir das aber nur vorstellen, denn in der Realität gibt es so etwas nicht. Der Gegenstand hat sich nämlich in jenen fünf Minuten zumindest auf der atomaren Ebene verändert, nur kann ich es nicht bemerken. Das sagt jedenfalls die Thermodynamik. Alles, was dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik unterliegt, verändert sich permanent. Das ist gewiss. Und da nun einmal alles diesem Hauptsatz unterliegt, verändert sich alles permanent. Das bedeutet: Echte Identität gibt es in der Realität nicht.

Aber um das einzusehen, brauche ich die Thermodynamik nicht einmal. Der dort verallgemeinerte Sachverhalt ist nämlich ganz augenscheinlich und war schon den alten Griechen bekannt, unter dem Label „Das Schiff des Theseus“. Darin geht es um ein Schiff aus Holz, das hin und wieder in die Werft kommt, weil an ihn Planken repariert werden müssen. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Ist das Schiff nach der Reparatur noch dasselbe Schiffe wie vor der Reparatur, ja oder nein? Und falls ja, dann stelle man sich nur einmal vor, dass nach und nach immer mehr Teile ersetzt werden. Wann würde man sagen, dass das mehr und mehr reparierte Schiff nicht mehr dasselbe sei wie das vor der ersten Reparatur? Bei 50%? Bei 100%? – Und was erst wäre, wenn der Werfteigener die alten Planken nummeriert und aufbewahrt hätte, um ganz am Ende ein Schiff aus ihnen zusammenzubauen, wobei jede Planke an genau jeder Stelle säße, die sie vor der Reparatur innegehabt hat? Wäre dann nicht das Schiff dasselbe Schiff wie jenes vor der ersten Reparatur?

15

Es war Heraklit, der jede dieser Fragen mit Nein beantwortet hätte und dem auch der Ausspruch zugeschrieben wird: „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“ Das ist das bekannte Panta Rhei, das Alles-Fließt, das auch auf meinen Körper zu 100% zutrifft. Denn rein körperlich bin ich nie, wirklich nie mit mir identisch. Ich bin zwar kein Holzschiff und werde auch nicht repariert. Dennoch werden ständig meine materiellen Bestandteile ersetzt. Man sagt, dass pro Jahr 98% der Atome, die meinen Körper konstituieren, ausgetauscht werden. Eine ganze Menge. Von Stabilität auf atomarer Ebene und damit von Identität lässt sich da nicht mehr sprechen. Oder gar von struktureller Stabilität, denn ich altere in jedem Moment, und damit bleibt noch nicht einmal meine Körperstruktur stabil.

Mein Körper ist also nicht zeitstabil. Dennoch könnte mein Geist oder mein Charakter oder meine Persönlichkeit, oder wie immer man es nennen mag, zeitstabil sein. Ist er oder sie das? –

Damit sind wir bei der zweiten möglichen Bedeutung von Identität angekommen, der Identität des Selbst. Ich sehe da allerdings die gleichen Probleme wie bei meinem Körper. Ich wüsste auch nicht, warum es sich bei meinem Selbst um etwas grundsätzlich anderes handeln sollte als bei meinem Körper. Meine Persönlichkeit ist natürlich nicht mit meinem Körper identisch. Sondern ein besonderes Merkmal des belebten Systems, das man mit dem Wort „Mensch“ bezeichnet. Aber grundsätzlich fußt die Persönlichkeit in meinem Körper und ist nur ein ausgezeichneter Aspekt von ihm. Deshalb erwarte ich auch da nichts anderes. Und durch die Erinnerungsforschung wird diese grundsätzliche Erwartung auch bestätigt. Doch eins nach dem andren.

Personale Identität wird nicht nur in der Psychologie in etwa so vorgestellt. Ich bin eine Person, wenn ich bestimmte Eigenschaften als zu mir gehörig empfinde. Das sind dann meine Merkmale oder anders gesagt, die Merkmale, die meine Person ausmachen. In meiner Selbstwahrnehmung bin ich dann zum Beispiel der Treue, der Zuverlässige, der Beschützer, der Kindliche, der Alberne und so weiter. So weit, so gut.

16

Solange diese Eigenschaften an ein und demselben Körper feststellbar sind – und dieser Körper mit dem Namen „Wolfgang Buschlinger“ bezeichnet wird, finde ich diese Art, von „Identität“ zu reden, problemlos und einwandfrei. Eines aber sollte ich deshalb nicht glauben. Nämlich dass das, was meine Person ist oder ausmacht, zu irgendeinem Zeitpunkt fertig oder unveränderlich ist. Einen festen und unveränderlichen Persönlichkeitskern braucht es deshalb nicht zu geben und kann es nach meinem Dafürhalten auch nicht geben. Und schon gar nichts, das mich und mein Leben überdauert.

Wie soll das auch gehen? Wenn ich mich frage, wer ich eigentlich bin und welche Persönlichkeitsmerkmale mich ausmachen, dann stoße ich auf ein bisschen genetisches Erbe und einen riesigen Haufen Erinnerung. Zusammen ergibt das: Ich bin derjenige, der ich bin, weil sich einige Erfahrungen meiner Kindheit vergleichsweise fest in meinem Kopf verdrahtet haben. Vor allem aber bin ich derjenige, der ich bin, weil ich mir im Erinnern immer wieder selbst erzähle, wer ich bin, und mich dabei vergewissere, dass ich der bin, der da in der Erinnerung auftaucht. Erinnern ist auch und vor allem ein Selbstvergewissern. Genauso wie das Sprechen einer Sprache im alltäglichen Umgang auch und vor allem das Einüben dieser Sprache ist. Nur deshalb, weil ich wieder und wieder Deutsch spreche, beherrsche ich diese Sprache ganz gut. Wenn ich es nicht mehr tue, dann verschwindet sie auch nach und nach. Analoges gilt für mich und mein Erinnern. Wenn ich nicht mehr erinnere und mich so nicht mehr meiner selbst vergewissere, verschwinde ich langsam.

Wenn man nun in Rechnung stellt, wie mein Gedächtnis tatsächlich funktioniert, dann vergewissere ich mich meiner selbst durch wiederholtes, systematisch verzerrtes Erinnern. Das Problem dabei für meine Identität: durch die systematische Verzerrung gibt es kein festes, starres Bild von mir, weil ich es dauerhaft wandle. Auch meine Mitmenschen können mir kein festes Bild von mir vermitteln, weil sich auch deren Erinnerungen an sich und an mich permanent verändern. Ich folgere daraus, dass es einen festen Persönlichkeitskern nicht geben kann. Und ich folgere auch: Je weniger ich mich überhaupt erinnere, umso weniger erinnere ich mich auch an mich. Und umso mehr nähere ich mich der Maus. Genau wie die Maus geht die ursprünglich-

17

synthetische Einheit meiner Apperzeption nicht verloren, aber genau wie die Maus werde ich dann auch keine Person mehr sein.

Die Unmöglichkeit von Stabilität einer Person ist Folge des so genannten Privatsprachenarguments des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ geht es darum, dass die Bedeutungen von Begriffen nicht starr sind und auch nicht starr gehalten werden können. Für Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache. Mehr nicht. Das meint: Ein Wort bedeutet nicht von sich aus etwas, sondern es hat seine Bedeutung nur innerhalb der Gepflogenheiten, in denen es gesprochen wird. Genauso, wie die Springer-Figur nicht ihre Zugmöglichkeiten bestimmt, sondern sie erst im Schachspiel zugewiesen bekommt. Normalerweise sind die Sprachspiele und die Bedeutungen der Wörter einigermaßen stabil, weil sie immer von größeren Gruppen gespielt werden. Bei Bedarf helfen nämlich die anderen einem Mitglied auf die Sprünge, wenn es sich nicht an den korrekten Gebrauch eines Wortes erinnert. Was aber, so die Frage Wittgensteins, wenn dieses arme, sich falsch erinnernde Mitglied die anderen nicht mehr hat, zum Beispiel, weil es als Robinson auf einer einsamen Insel gestrandet ist? – Dann ist es, so Wittgenstein, schlicht aufgeschmissen. Denn wie soll dieser Sprach-Robinson wissen, was eines seiner Wörter bedeutet, wenn er sich nicht mehr daran erinnert, in welchen Zusammenhängen man es gebraucht? Oder wenn er sich falsch erinnert? Dann hat sich die Bedeutung dieses Wortes geändert, ohne dass Robinson es gemerkt hat. Er ist ein Solitär-Spieler geworden, da auf seiner einsamen Insel.

Analog muss ich auch im Falle der personalen Identität einsehen: Was ich bin, das ist das, was ich mir in meiner Erinnerung bedeute. Da sich diese Erinnerung wandelt, kann es auch in Falle der Person keine Stabilität geben.

Im Übrigen ist der Gedanke eines stabilen Persönlichkeitskerns auch mit unserem gesamten wissenschaftlichen Wissen unvereinbar. Nirgends im Universum gibt es starre Systeme, von Schwarzen Löchern vielleicht abgesehen. Warum sollte also ausgerechnet ich, ein völlig unbedeutendes Lebewesen auf einem kleineren Planeten am Rande einer eher durchschnittlichen Spiralgalaxis inmitten eines mit Milliarden von Galaxien angefüllten Universums ein solches starres System sein oder 18

als Kern in mir tragen? Das ist in einem Wort gesagt: unwahrscheinlich. Wenn es einen Begriff gibt, mit dem sich das gesamte Universum treffend charakterisieren lässt, dann ist es der Begriff „transient“. Das gilt auch für mich.

Natürlich ist deshalb nicht alles an mir instabil. Irgendwie muss ich ja auch von mir als „Ich“ sprechen können, denn eine blind diffundierende Nebelwolke bin ich ja auch nicht. Wenn ich also suche, was ich an mir, an meinem Körper und meiner Persönlichkeit als recht stabil erkennen kann, dann fallen mir zur zwei Dinge, die miteinander zusammenhängen: Zum einen besteht meine Stabilität darin, dass man mich von meiner Umwelt abgrenzen kann. Anders gesagt: Mein Körper hat keine fließenden oder ausgefransten Grenzen. Ich bin ein recht dauerhaftes Objekt. Wäre ich eine Farbe, dann sicherlich keine Wasser-, sondern eine Ölfarbe.

Freilich ist auch diese Abgrenzbarkeit nicht von Dauer; sie geht dahin mit meinem Tod, sinnfällig bei der Verbrennung meines Leichnams und dem Ausstreuen meiner Asche im Meer. Die Gebundenheit meines Objektstatus’ an die Stabilität weist damit auf eine andere, grundlegendere Eigenschaft hin, die diese Stabilität erst ermöglicht: meine Belebtheit. – Ich habe mich Zeit meines Lebens immer gefragt, welchen Narren die Menschen an der Belebtheit von Systemen gefressen haben. Menschen haben einen Blick für belebte Systeme. Und sie neigen dazu, belebten Systemen einen besonderen, einen höheren Wert zuzuschreiben. Ich denke da nicht nur an die tibetischen Mönche in Lhasa oder an Albert Schweitzer und seine Ehrfurcht vor dem Leben. Auch vielen Vegetariern scheinen belebte Systeme generell erhaben in dem Sinne, dass man zwar vieles mit ihnen machen darf, zum Beispiel sie im Stall halten, um ihre Milch zu trinken oder ihre Eier zu essen; eines jedoch aber darf man mit ihnen ganz gewiss nicht tun, nämlich ihnen das Leben nehmen, um sie zu verspeisen. Das ist für manchen ein Sakrileg oder wenigstens der Bruch des vermeintlich natürlichen Rechts auf Leben, das auch Tiere haben. – Um es klar zu sagen: In meinen Augen gibt es ein natürliches Recht auf Leben nicht und ich bin auch kein Vegetarier. Aber ich habe mich immer gefragt, wie man auf einen solchen, nicht abwegigen, sondern durchaus naheliegenden Gedanken kommen kann. Was erhebt die Eigenschaft, belebt zu sein, über andere Eigenschaften wie „hat zwei Beine“ oder „hat Facettenaugen“ hinaus? – Ich bin bei meiner Suche nur auf eine einzige Antwort gestoßen, nämlich, dass die Eigenschaft belebt zu sein, die einzige 19

Eigenschaft ist, die ein belebtes System dauerhaft hat. Die einzige, wirklich die einzige. Alle anderen Eigenschaften des Systems können sich an ihm nur zeigen, solange es belebt ist, und ist es nicht mehr belebt, dann ist für immer nicht mehr belebt. Andere Eigenschaften können kommen und gehen. Die Eigenschaft, belebt zu sein, ist da anders. Wenn sie geht, kommt sie nie wieder.

Doch wie auch immer. Das Problem der eigenen Identität und das Problem der Wahrheit von Erinnerungen haben beide, Präteritum-Mensch wie Perfekt-Mensch. Der Perfekt-Mensch hat es allerdings stärker, weil für ihn mehr aus der Vergangenheit Bedeutung hat und damit seine Gegenwart und sein Tun stärker bestimmt.

Noch ein Allerletztes, und zwar zur Identität und dem ganzen Brimborium. Seinen Ausgang hat das Ganze ja genommen an dem einen Tag ohne Erinnerung und den Fragen: „Wüsste ich dann, dass ich es bin, der da handelt? Und wer wäre dieser Ich? Oder wüsste ich einfach nur nicht genau, wer dieser Ich ist, der ich bin?“ Oh, ich liebe diese Fragen und erst recht die Antworten darauf.... Je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, umso mehr geht das eigene Ich flöten. Früher oder später weiß man nicht mehr, wer man ist. Und das Erstaunlichste daran: Das macht einem ab einem gewissen Punkt nicht einmal mehr etwas aus. Es ist, als hätte man sich besoffen, nicht an Alkohol, sondern an der angestrengten Suche nach dem eigenen Ich oder, vornehmer gesprochen, der eigenen Identität. Erstaunlicherweise ist die dann irgendwann weg und man lächelt trotzdem. Seltsam.

Aber auch, wenn das eigene Ich weg ist, etwas ist dennoch geblieben. Die Erinnerung. Für den Präteritum-Menschen bedeutet sie so viel wie das Blättern in Fotoalben, die mit dem heutigen Selbst so viel zu tun haben, wie jedes andere Faktum der Geschichte. Es war....

Für den Perfekt-Menschen ist das anders. Er wird getrieben von dem, was er aus der Vergangenheit für Gegenwart hält. Das lebendige Geflacker der Erinnerung in seinem Kopf, der zwar nicht weiß, wer er ist, für den sich aber trotzdem alles perfekt anfühlt.

20

Meine Absicht hier war es lediglich, darzustellen, wie sich ein Leben im Perfekt anfühlt, auf welche Weise ich mich an mich erinnere und deshalb als Person wahrnehme. Wie gesagt, ich bin der Überzeugung, dass unsere Erinnerung unsere Persönlichkeitsstruktur bestimmt. Und ich bin der Überzeugung, dass die Menschen nicht alle auf dieselbe Art und Weise erinnern.

Natürlich habe ich mich gefragt, ob es nicht auch anders oder umgekehrt sein könnte. Ob ich nicht vielleicht doch nur eine verquere Person bin, die einfach nur ihre Eigenarten erklären möchte und in ihrer intellektuell-theoretischen Art auf die abwegige Theorie verfällt, es gäbe unterschiedliche Arten der Erinnerung.

Ich habe mich also geprüft und weise das zurück. Ich habe keine Traumata, keine frühkindlichen Störungen meiner geistigen Entwicklung. Ich war, wenn man so will, in psyche-verändernder Hinsicht ein ganz normaler Junge. Glücklicherweise. Jetzt erlebe ich mich anders als andere, und alles erklärt sich mir wunderbar, wenn ich es durch meine Art des Erinnerns erkläre.

Außerdem, ich kenne da eine Dame aus der Schule. Kennen ist vielleicht zu viel gesagt. Mit der habe ich jedenfalls einmal über Präteritum- und Perfekt-Menschen gesprochen. Sie hat sofort verstanden, worum es ging, und sie sagt von sich, sie sei auch so eine, so eine Perfekt-Frau. In diesem Moment war mir klar, ich musste diesen Essay verfassen. Am Ende gibt es mehr von uns als man denkt.

21