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SWR2 Aula Medienwissenschaft Der Studienkompass (8/11) Von Bernhard Pörksen Sendung: Sonntag, 12. Juni 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016

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Ansage: Mit dem Thema "Der Studienkompass 8: Medienwissenschaft". Wir bringen in der SWR2 Aula eine Reihe, gedacht für ehemalige Schülerinnen und Schüler, die das Abitur hinter sich haben und die sich nun fragen: Was kommt jetzt? Was soll ich, wenn es auf die Universität geht, studieren? Wir wollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Elf AULA-Autorinnen und -Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann, wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer, um Chemie, Mathematik, Germanistik oder Philosophie. Alle Vorträge sind seit Ende April auch online erhältlich. Infos dazu finden Sie der Internetseite www.swr2.de/studienkompass. Heute also geht es um Medienwissenschaft, Autor ist Professor Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen. Er beginnt seinen Vortrag mit einer Geschichte.

Bernhard Pörksen: Wieso Medienwissenschaft studieren? Was heißt es, sich auf dieses Fach einzulassen, was bedeutet es, den medienwissenschaftlichen Blick einzuüben? Ich gebe zu, mir fällt – auf der Suche nach einer Antwort und in dem Bemühen das Programm der Medienwissenschaft zu skizzieren – nur eine sehr langweilige, sofort ermüdende Geschichte ein. Also, seien Sie gewarnt: Nun wird es gleich langweilig! Entdeckt habe ich diese Geschichte in einem kleinen Buch des französischen Schriftstellers Raymond Queneau, es heißt Stilübungen. Und ich kann es nur wiederholen: Es ist eine wirklich völlig nichtssagende Begebenheit, eine Story von erschreckender Belanglosigkeit, von der uns Raymond Quenau hier erzählt. Alles dreht sich um einen etwas seltsamen jungen Mann, der mit der Autobuslinie S irgendwo durch Paris fährt. Und die Handlung geht so: Dieser junge Mann wird im Bus stehend an mehreren Haltestellen beim Aus- und Einsteigen der Fahrgäste angerempelt und erregt sich darüber immer wieder aufs Neue. Später steht eben dieser junge Mann auf einem Platz in Paris mit einem anderen zusammen und fasst ihm an den Mantel und zeigt ihm, dass der eine Mantelknopf eigentlich ein wenig höher gesetzt werden müsste. Das ist die vollkommen triviale Geschichte, die uns Raymond Queneau hier erzählt – und zwar, darin besteht seine Genialität, in 99 Varianten und Variationen: Mal kommt diese Geschichte in Form einer Erzählung daher, dann in der atemlos-verknappten Tonlage eines Telegramms, dann in Gestalt eines Polizeiberichts, schließlich als Fernsehfeature, dann wieder als Gedicht oder als ein empörter Brief. Wer diese 99 Geschichten liest, der bemerkt: Der Inhalt erscheint uns – jeweils in einem anderen Schema der Darstellung, im Korsett einer neuen Form – als ein immer anderer Inhalt. Man hört den Sound einer Kurzgeschichte, dann den einfachen Stil eines Gebrauchstextes, schließlich bekommt man beim Lesen ein Gespür für die Kunst des Lyrikers, der alles zu einem Gedicht formt. 2

Was wir an Raymond Queneaus Stilübungen miterleben können, ist die inhaltsprägende, die inhaltsverändernde Wirkung der Präsentationsform selbst. Eben weil die Geschichte einen so grenzenlos unwichtigen Inhalt hat, machen sich die Wirkung der Gattung und die Effekte des Mediums bemerkbar. Medienwissenschaft ist – so betrachtet – das Fach, das den Blick auf die Form und die medialen Instrumente einübt. Medienwissenschaft ist – so verstanden – die Disziplin des abgelenkten Blicks, wie dies der Medienwissenschaftler Claus Pias einmal formuliert hat. Medienwissenschaft schaut zuerst auf den Rahmen, nicht zuerst auf das Bild. Sie interessiert sich für Strukturen und Formen, keineswegs ausschließlich für die Inhalte, die vermittelt werden. Was ist eigentlich passiert im Autobus S? Man weiß es nach 99 verschiedenen Nacherzählungen nicht mehr ganz so genau, aber darauf kommt es auch nicht an. Es geht um die Macht, die Form und Medium über den Inhalt haben. Und es geht um die Sichtbarmachung dieser Einflüsse, die leicht übersehen werden, weil sie uns so selbstverständlich erscheinen. Man könnte sagen: Medienwissenschaftler übersetzen die Stilübungen und Erkenntniseffekte von Raymond Queneau in ein eigenes Fach. Denn ganz gleich, an welcher Universität man ein Seminar besucht, ganz gleich, ob man sich für einen Bachelor- oder einen Masterstudiengang in der Medienwissenschaft einschreibt, sich vielleicht eines Tages um eine Promotion bemüht: Stets ist es das Erkenntnisziel, die Wirkungen eines Mediums sichtbar zu machen, sich also zu fragen, wie sich die Spuren eines Mediums den Inhalten selbst aufprägen. Die Frage nach diesen Spuren eines Mediums – das ist die zentrale, alle Unterschiede überwölbende medienwissenschaftliche Gemeinsamkeit, der gemeinsame Nenner der gesamten Disziplin. In der Art der Antwort, in der Wahl der Theorien, der Perspektiven und Prinzipien, der Methodologien und Methoden, ja, schon in der Definition des Medienbegriffs beginnen die Unterschiede auf dem breiten, beständig expandierenden Markt der Studienangebote. Es ist ein Markt, der auch von Moden regiert wird, von Marketing-Gags aus den PR-Abteilungen der unterschiedlichsten Hochschulen. Sie zielen manchmal einfach nur darauf, die eigenen Bewerberzahlen hochzutreiben, können dann aber die Versprechen der Berufs- und Medienausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage nicht wirklich einlösen. Denn ihnen fehlt es an Ausstattung, an Lehrenden und an wissenschaftlicher Kompetenz. Das mag unfreundlich klingen, aber hier ist die klärende Abgrenzung ist nötig. Denn ernstzunehmende, authentische Wissenschaft muss sich vom Marketing-Geklingel der vielen, mitunter teuren Schnell-SchnellStudienangebote lösen, die gegenwärtig überall zu finden sind. Ernstzunehmende Medienwissenschaft sollte nicht dazu übergehen, mit irgendwelchen Berufsattrappen, wie dies der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube einmal zu Recht kritisiert hat, für sich zu werben – frei nach dem Motto: „Ihr geht alle in die Medien ... in den Kulturbereich ... in die Museen und die Redaktionen ...“ Ernstzunehmende Medienwissenschaft ist definitiv kein praktizistisches Ersatzangebot für eine Texterschmiede oder eine Journalistenschule, und sie will dieses Ersatzangebot auch gar nicht liefern. Sie zielt auf das breitere Bild, die umfassendere Perspektive. Sie liefert keine unmittelbar umsetzbaren Berufsfertigkeiten, sondern bietet eine allgemeinere Berufsfähigkeit in einem weiten Feld der möglichen Anwendungen. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die Medienwissenschaft studieren möchten, möglichst hinzuschauen und sich 3

umfassend informieren – gerade, weil der Markt so breit ist, gerade weil die Akzentsetzungen und Angebote so unterschiedlich sind. Wenn man also genauer hinschaut, wenn man das konkrete Studienangebot an den unterschiedlichen Standorten studiert, dann sieht man: Einzelne medienwissenschaftliche Studiengänge haben einen Schwerpunkt im Bereich von Film und Fernsehen, andere im Bereich der Hörmedien, andere im Bereich des Printoder des Buchgewerbes, und wieder andere konzentrieren sich primär auf OnlineMedien und die Erforschung von Digitalisierungsprozessen. Man kann – je nach Universität – Seminare über das Hörspiel besuchen, die Geschichte der Printmedien studieren, künstlerische Präsentationsformen analysieren, sich auf Werbetexte oder journalistische Berichte einlassen. Wer sich für ein Studium der Medienwissenschaft interessiert, sollte sich die Standorte anschauen – und sich die Frage stellen: Welches Mediengattungen werden hier bevorzugt behandelt? Geht es vor allem um fiktionale oder um faktische Formate? Ist es die Welt von Film und Kino, die einen selbst besonders interessiert? Ist es das Feld des Journalismus? Sind es die künstlerische Kommunikation oder die strategische Präsentation? In diesen Fragen den eigenen Leidenschaften und Faszinationen zu folgen, sich gleich nach dem Abitur und vor der Bewerbung mit den Besonderheiten und Schwerpunktsetzungen eines Studienangebotes vertraut zu machen, um dann eine bewusste Entscheidung für einen Studienstandort zu treffen, ist entscheidend. Nötig sind – neben dem persönlichen Interesse am Medienbereich und einer Portion Leidenschaft für das Verständnis medial vermittelter Kommunikation – in der Regel ein guter bis sehr guter Abi-Durchschnitt. Und es gilt unbedingt zunächst zu recherchieren, den Markt der Angebote zu sondieren, bevor man mit Erfolg und Begeisterung einsteigen kann. Denn die Medienwissenschaft ist ein interdisziplinär schillerndes, keineswegs einheitliches Fach – mit Bezügen zur Literatur- und Sprachwissenschaft, mit unterschiedlich intensiv entwickelten Beziehungen zur Informatik, zur Psychologie, aber auch zur Philosophie. Es handelt sich nicht um eine verbindlich konturierte Disziplin mit einer fest umrissenen Identität und einem streng fixierbaren theoretischen und methodischen Kanon. Manche Medienwissenschaftler mögen dies bedauern, für andere wiederum ist die Vielfalt des Möglichen geradezu ein intellektueller Vorteil, eine großartige Erkenntnischance, um in einer sich rasant und dynamisch entwickelnden Medienwelt selbst offen und beweglich zu bleiben – offen in der Wahl der Theorien, flexibel in der Nutzung von Methoden und der fachlichen Perspektiven. Aber wie dem auch sei, das Fach im eigentlichen Sinne ist ursprünglich aus den Literatur- und Geisteswissenschaften heraus entstanden – dies im Unterschied zur Kommunikationswissenschaft, die eine deutlich stärkere sozialwissenschaftliche Tradition besitzt, sich in der Wahl von Theorien, Methoden und Leitautoren stärker an der Politikwissenschaft oder der Soziologie und ihren Leitautoren orientiert. Immerhin, diese Grobeinteilung nach fachlicher Herkunft (die Medienwissenschaft als Geisteswissenschaft, die Kommunikationswissenschaft als Sozialwissenschaft) taugt als grobes Einordnungsraster, auch wenn sie nicht immer ganz so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn an manchen Standorten ist die Medienwissenschaft eben auch sozialwissenschaftlich konturiert. Hier arbeitet man dann, ähnlich wie in der Kommunikationswissenschaft, stärker quantitativ, während in 4

den klassisch medienwissenschaftlichen Instituten die freieren, stärker interpretierend-deutenden Methoden beherrschend sind. Und wieder an anderen Orten wie etwa an der Universität Tübingen, an der ich selbst lehre, wählt man bewusst die Kombination und Integration; hier behandelt man die Fachgegenstände und Fachthemen aus einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektive und beschäftigt sich mit allen Mediengattungen – mit Printmedien und mit Netzmedien, mit dem Radio, dem Film und dem Fernsehen. Das Ziel ist es, eine Anregungsarena zu schaffen, die unterschiedliche Codes, unterschiedliche Methodologien und Methoden, unterschiedliche Fachtraditionen sichtbar macht, um intellektuell mehrsprachige und dann spezialisierungsfähige Generalisten für sehr unterschiedliche Berufsfelder auszubilden: vom Journalismus bis zur strategischen Kommunikation, vom Radio bis hin zu Film und Fernsehen, von der Medienforschung bis hin zur Medienwissenschaft. Allgemeiner betrachtet lässt sich sagen: Die Frage nach der Fachtradition, die Frage nach der geisteswissenschaftlichen oder aber sozialwissenschaftlichen Ausrichtung ist ein weiteres Schlüsselkriterium, um die Wahl des Studienortes reflektierter zu treffen, auch mit Blick auf den anschließenden Master, weil hier dann jeweils andere theoretische und methodische Vorkenntnisse nötig sind. Generell gilt: Wer heute ein Studium aufnimmt, der investiert auf unvermeidlich riskante Weise in seine Zukunft, denn er wählt einen Bildungs- und Ausbildungsweg, der ihm eines Tages helfen soll, um auf dem Arbeitsmarkt sein Auskommen zu finden, idealer Weise sogar seinen Interessen und Faszinationen zu folgen und dabei noch das nötige Geld zu verdienen. Eine Risikoinvestition und eine Wette auf die Zukunft sind die Studienplatzentscheidungen schon allein deshalb, weil man nie ganz absehen kann, ob all dies, was man sich wünscht, dann auch klappt und wie sich der Medien- und Arbeitsmarkt entwickeln wird – eben deshalb braucht man Kriterien und Kategorien der Beurteilung, eben deshalb benötigt man Suchbegriffe und Einordnungsschemata, die eine begründete Einschätzung ermöglichen. Das Risiko einer Fehlentscheidung bleibt natürlich trotz allem, aber man kann es dann besser kalkulieren, sich klarer zu Bewusstsein bringen, was einzelne Studienangebote bieten. Mit Blick auf das weite Feld der Medienwissenschaft sind es drei Such-Begriffe, die einem weiterhelfen können: Theorie, Empirie, Praxis. Wer sich fragt, welche Theorien man wählt, welche empirischen Beobachtungen man macht und was Praxis in einem medienwissenschaftlichen Studium an einer Universität eigentlich bedeutet, der sieht genauer und kann besser einschätzen, was auf ihn zukommt. Theorie, Empirie, Praxis – dieser begriffliche Dreiklang taugt als ein nützliches Such- und Einordnungsschema, um den eigenen Studienkompass scharf zu stellen. Greifen wir den ersten Orientierungsbegriff heraus – den Begriff der Theorie. Schon wer sich nur oberflächlich informiert, der erkennt unmittelbar, dass medienwissenschaftliche Institute eigene, besondere Schwerpunkte im Theoriebereich setzen. Es gibt in der Medienwissenschaft unterschiedliche Paradigmen, Basistheorien und Ansätze und dann noch sogenannte Theorien mittlerer Reichweite, die sehr viel direkter einer empirischen Überprüfung zugänglich sind. Der Theoriekosmos ist vielfältig, variantenreich, dies gewiss. Aber eben nicht unendlich vielfältig, nicht unendlich variantenreich. Wer die medienwissenschaftliche Institute des Landes durchstreift, der erkennt unvermeidlich: An manchen Orten ist 5

die Auseinandersetzung mit den Cultural Studies prägend. An anderen hat man sich traditionell besonders intensiv um Techniktheorien und die Kybernetik gekümmert, wieder andere zehren von den Anregungen, die Gesellschaftstheoretiker wie Jürgen Habermas und Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann formuliert haben und die dann in der Medienwissenschaft aufgegriffen wurden. Es gibt überdies Handlungstheoretiker, die das Zustandekommen von Entscheidungen im Mediengeschäft analysieren; man stößt auf postmodern orientierte, feministisch oder gesellschaftskritisch ausgerichtete Medientheoretiker; man findet diejenigen, die mit Zeichentheorien arbeiten. Man trifft auf Konstruktivisten, die sich von der philosophischen Frage nach dem Wahrheitsstatus der Erkenntnis leiten lassen und Erkenntnistheorie mit Medientheorie verbinden. Sie gehen davon aus, dass Medien Wirklichkeit nicht einfach nur abbilden, sondern aktiv konstruieren. Viele dieser Ansätze und Entwürfe stammen gar nicht aus der Medienwissenschaft im engeren Sinne. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns kommt ursprünglich – wie auch die Handlungstheorie – aus der Soziologie. Die Cultural Studies sind aus den Geistes- und Kulturwissenschaften in die Medienwissenschaft hinein diffundiert; die Gender Studies haben einen feministischen Hintergrund. Der Konstruktivismus hat vor allem naturwissenschaftlich-biologische Wurzeln. Einzelne Medientheorien von Günther Anders über Marshall McLuhan bis hin zu Slavoj Žižek verdanken ihre Existenz – ohne eine ganz klare fachliche Anbindung – einer philosophischen Essayistik oder einem kultur- und gesellschaftskritischen Wirkungswillen; wieder andere bedienen sich aus der mathematischen Informationstheorie von Claude Shannon und Warren Weaver, den Milieu- und Feldstudien des Soziologen Pierre Bourdieu oder den Machtanalysen des Philosophen Michel Foucault. Dieser Theorien-Pluralismus und die unterschiedlichen Akzentsetzungen innerhalb der Medienwissenschaft sind kein Indiz für schlechte Wissenschaft, sondern Ausdruck der anregenden Normalität und Vielfalt. Aber dieser Pluralismus zeigt doch, dass es sich lohnt, sich vor dem Studium die Frage vorzulegen: Welche Theorieschule regiert an meinem Wunsch-Standort? Existiert hier das Regiment der einen Schule? Und liegen mir, wenn dem tatsächlich so ist, die Texte und Theoretiker, die hier als grundlegend angesehen und empfohlen werden? Springt also der Funke der Faszination über und vermag ich den irritierenden Eigenwert theoretischer Reflexion, die einem das Selbstverständliche so merkwürdig fremd erscheinen lässt, anzuerkennen und wertzuschätzen? Gehen wir zum zweiten Orientierungsbegriff über – dem Begriff der Empirie. Es lohnt sich allerdings inne zu halten – und zurückzublicken in die Geschichte der Medien und der Kommunikation. Was sieht man, wenn man versucht, einzelne mediale Evolutionsstufen in der Zusammenschau zu präsentieren?  Man sieht, dass sich Kommunikation schrittweise und schubweise zur Massenkommunikation entwickelt und schließlich – nach dem Kulturbruch der Digitalisierung – zur digitalen Kommunikation mit neuen Vereinzelungs- und Vernetzungsmöglichkeiten expandiert.  Man sieht, dass immer mehr Menschen Zugang zu den Medien bekommen; aus dem homogenen Publikum wird das disperse Publikum, dessen 6

Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, dass es sich kollektiv einer Aussage der Massenmedien zuzuwendet. Dieses Medienpublikum kann heute, im digitalen Zeitalter, selbst publizieren. Das starre Sender-Empfänger Modell ist damit obsolet, denn jeder Mensch ist zum Sender geworden.  Man sieht, dass Medienkommunikation immer aktualitätsbezogener wird – immer kürzer gerät der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Bericht, zwischen dem Geschehen und seiner medialen Verarbeitung. Der Höhepunkt ist die Echtzeit-Berichterstattung, die Hektik der Live-Ticker, die heute mit großen Klickerfolgen eingesetzt werden.  Man sieht, dass Medien zwar miteinander konkurrieren, aber sich nicht kannibalisieren und wechselseitig verdrängen. Die Befürchtungen, dass das Buch von der Zeitung, die Angst, dass die Presse vom Rundfunk, die Furcht, dass das Kino vom Fernsehen, dass der Brief von der E-Mail und sie allesamt von dem Meta-Medium des Computers geschluckt werden würden, haben sich bislang als unbegründet erwiesen. Menschen kombinieren Medien, sie nutzen sie komplementär, aber unter Umständen mit unterschiedlicher Funktion. Medien suchen sich dann neue ökologische Nischen, in denen sie fortbestehen.  Man sieht, dass sich mediale Kommunikation immer mehr aus ihrer örtlichen Verankerung und aus der direkten Interaktion gelöst und immer stärker beschleunigt hat: Schon die Schrift trennt ja den Schreibenden von seinem Produkt, dem Geschriebenen; sie ermöglicht die Übertragung von Wissen über lange Zeiträume und löst die Erinnerung von der Person. Heute – in den Zeiten der digitalen Überall-Medien – ist die Ad-hoc-Kommunikation mit Abwesenden an weit entfernten Orten blitzschnell möglich.  Und man sieht, dass Massenkommunikation ein immer breiteres Publikum erreicht und andere Medien immer engere Segmente des Medienpublikums bedienen: Medienangebote haben sich also, das sind zwei nebeneinander herlaufende Trends, gleichzeitig universalisiert (man denke nur an die Massenblätter des Boulevardjournalismus oder den Erfolg einzelner ViralPlattformen), aber eben auch beständig spezialisiert. Warum, so ließe sich weiter fragen, diese Aufzählung? Nun, in all diesen Entwicklungsschüben der Medienevolution und in der zunehmenden Durchdringung der Welt mit Medieneffekten zeigen sich die Ansatzpunkte der empirischen Forschung; hier verbergen sich große und kleine Themen der Medienwissenschaft. Man kann mit den unterschiedlichsten qualitativen oder quantitativen Methoden Studien anfertigen und sich – beispielsweise – der Frage zuwenden, wie sich das Rezeptionsverhalten geändert, der Medienmarkt transformiert, die Berufsbilder gewandelt, die Distributionskanäle transformiert und die Skandalisierungsformen mit den neuen Medienmöglichkeiten verändert haben. Man kann sich der Frage zuwenden, wie die moderne Computeranimation den Kinofilm prägt, welche Lerneffekte Computerspiele bereit halten und ob die Kommunikation in den Echokammern sozialer Netzwerke in Richtung eines politischen Extremismus kippt. Und damit sind wir endgültig bei dem zweiten Orientierungsbegriff im medienwissenschaftlichen Feld, dem Begriff der Empirie: Es ist sinnvoll, sich die 7

Schwerpunktsetzungen eines Instituts im Blick auf die empirische Forschungsarbeit vor der Bewerbung für einen Bachelor oder Master anzuschauen. Man sollte sich darüber klar zu werden, ob einen die leitenden Forschungsfragen der Dozentinnen und Dozenten interessieren und ausreichend faszinieren. Mögliche Leitfragen zur Orientierung lauten: Scheint mir die hier betriebene Forschung relevant, zeitdiagnostisch bedeutsam und analytisch zum Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart der Medienwelt erhellend? Könnte ich mir vorstellen, im Rahmen einer Abschlussarbeit oder einer Promotion ein vergleichbares Thema zu wählen? Wie sehen die Medienthemen aus, deren Erforschung ich mich selbst gerne widmen möchte? Der Kultur- und Medienwissenschaftler Marschall McLuhan und seine geistigen Mitstreiter Joshua Meyrowitz und Neil Postman waren es, die schon vor Jahrzehnten den Begriff der Ökologie in die medienwissenschaftlichen Debatten eingeführt haben. Ihr Argument besagt, dass medialer und technologischer Wandel weder additiv noch subtraktiv funktioniert, also eine neue Erfindung nicht einfach der Welt ein paar neue Medienspielzeuge hinzufügt oder ein paar ältere verdrängt. Die Wirkung des Medienwandels, eben dies lässt sich nach dem Kulturbruch der Digitalisierung fraglos belegen, ist ökologisch. Sie verändert auf oft schwer fassliche und eben deshalb erst in der Anstrengung der bewussten Analyse und der wissenschaftlichen Reflexion erkennbare Weise alles – die Raum- und die Zeitverhältnisse, die Beziehungen und den Beruf, die Politik und die Liebe, die Art des Aufwachsens und das Ansehen von Autoritäten, den Charakter von Enthüllungen und Geheimnissen, die auf Informationskontrolle beruhende Macht von Institutionen und Eliten. Derartige Veränderungen in ihren persönlichen und gesellschaftlichen Folgen zu erforschen, sie mit Blick auf die soziale Umwelt und die kognitive Innenwelt zu begreifen und die Gesellschaft mit Wissen über diese Prozesse zu versorgen – das ist so etwas wie der empirische Grundauftrag der Medienwissenschaft. Damit kommen wir zum dritten und letzten Orientierungsbegriff – es ist der Begriff der Praxis. Aber was ist Praxis? Praxis signalisiert eine Verwurzelung im Konkreten und Lebensnahen. Praxis meint: ein handlungsbezogenes Weltverhältnis eingehen. In der Regel geht es um die handwerkliche Fertigkeiten, um Lehrveranstaltungen, die durch einen besonders hohen Anteil von Übungen charakterisiert sind; man lernt hier beispielsweise gattungsgerecht zu schreiben und methodengeleitet zu recherchieren; hier bekommt man Einblicke in die Arbeit mit der Kamera und am Schnittplatz; hier beschäftigt man sich mit Fotografie, neuen Werbeformaten, einzelnen Genres wie dem Drehbuch, der Reportage, dem Feature. Die Schlüsselfragen, die sich im Sinne der Studienorientierung anschließen, heißen: Welches Verständnis von Medienpraxis vertritt ein Institut? Kommt die Medienpraxis überhaupt vor? Besitzt sie einen erkennbaren Stellenwert im Curriculum und in den Modulhandbüchern oder dient sie lediglich als marketingtaugliches Aushängeschild? Sind die Aussagen zum Berufsfeld und möglichen Karrierewegen, die sich finden lassen, nachvollziehbar und plausibel? Denn natürlich gibt es eine Fülle von Medienberufen, für die ein medienwissenschaftliches Studium zumindest nützlich sein kann. Zu den Klassikern zählen Journalismus, PR und Werbung, aber auch Tätigkeiten im Medienmanagement, in der Film-, Fernseh- und Computerspielbranche, der Entertainment-Industrie. Die wenigsten Absolventen dürften dauerhaft Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Denn eines ist – trotz aller Umbrüche – offenkundig: Der Medienmarkt akademisiert sich. Selbst für ein 8

Volontariat ist in der Regel ein abgeschlossenes Studium die Voraussetzung. Und der Medienmarkt expandiert und besitzt eine Vorreiter- und Indikator-Funktion im Blick auf die allgemeinen Veränderungen der Arbeitswelt, die nicht nur positiv sind und von denen man wissen sollte: Beobachtbar sind unstete, allein projektbezogene Beschäftigungsverhältnisse, die Tendenz zur Beschleunigung und Arbeitsverdichtung durch die Digitalisierung; beobachtbar sind noch ungelöste Refinanzierungsprobleme des Qualitätsjournalismus, Boulevardisierungsschübe in den Netzöffentlichkeiten – all dies rüttelt die Medienbranche durch. Allerdings, man muss dies festhalten: Die universitäre Medienwissenschaft wird nie linear und stromlinienförmig für die Berufspraxis ausbilden können, und sie sollte dies auch gar nicht erst versuchen. Eine allzu starke Praxisorientierung könnte sie gleichermaßen überfordern und unterfordern. Überfordert wäre die universitäre Medienwissenschaft schon deshalb, weil die technische Infrastruktur nicht in der gebotenen Schnelligkeit besorgt werden kann. Hier sind die auf dem universitätsexternen Markt operierenden Ausbildungsinstitute mit ihrer sehr viel höheren Fluktuation an geschultem Personal eindeutig im Vorteil. Sie können auf kurzfristig aufflackernde Medientrends reagieren und sie rasch in Workshopangebote ummünzen. Unterfordert wäre die Medienwissenschaft mit einem solchen Ausbildungsmodell, weil die autonome, wissenschaftlich fundierte (und das heißt auch: die marktunabhängige) Reflexion der jeweiligen Medienpraxis unvermeidlich zu kurz käme. Das heißt, anders gesagt: Universitäre Medienpraxis kann nie einfach nur Berufsausbildung sein, sondern muss immer im Paket geliefert werden: Erst in der Einheit von Wissenschaft und Anwendung, erst in der Verbindung von TheorieWissen und Umsetzungskompetenz, erst in der didaktisch geschickten Verklammerung der beiden Welten zeigt sich ihre Besonderheit und ihr Mehrwert. Erinnern Sie sich noch an Raymond Queneau und seine Stilübungen und seine Geschichte vom Autobus S? Raymond Queneau erscheint mir als ein Verbindungskünstler und als das faszinierende Leitbild einer Medienwissenschaft, die Theorie, Empirie und Praxis verbindet. Seine Kernthese als Theoretiker lautet: Gattungen und mediale Muster sind Ordnungsformen des Wirklichen. Sein empirisches Material besteht aus eben jenen 99 Anwendungsexperimenten – vom Bericht bis zum Gedicht. Und er tritt, das macht schon der Buchtitel Stilübungen deutlich, mit der Ambition des Praktikers an und möchte zeigen, wie man formgerecht formuliert. Ich persönlich glaube: Dieser Dreiklang aus Theorie, Empirie und Praxis und dieses Bemühen um Verbindung des Verschiedenen macht ein Studienangebot an einer Universität erst so richtig attraktiv. Nur Theorie bliebe blass und lebensfern, die rein empirische Ausrichtung wäre zu schmalspurig, die alleinige Orientierung an der Praxis hingegen wissenschaftsfeindlich. Wer jedoch die Kombination erlebt, der begreift, was es heißt, in verschiedenen Köpfen zu denken. Das könnte und sollte die Besonderheit der Medienwissenschaft an den Universitäten sein: in der Reibung von Theorie und Praxis, in der inspirierenden Konfrontation von Abstraktion und Anschauung, in der Verbindung von Universität und Umwelt intellektuelle Intensität und erhellende Interpretationen zu erzeugen – als ein Beitrag zur Selbstaufklärung der Mediengesellschaft.

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Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten und zentralen Themengebieten gehören: der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Krisen- und Reputationsmanagement, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien und die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten. Bücher (Auswahl): - Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. CarlAuer-Systeme. 2015. - Kommunikation als Lebenskunst (zus. mit Friedemann Schulz von Thun). AuerVerlag. 2014. - Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Herbert von Halem Verlag. 2012.

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