Susanne Breit-Keßler Regionalbischöfin Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern im Gespräch mit Dr. Sabine Rauh

Sendung vom 20.12.2013, 21.00 Uhr Susanne Breit-Keßler Regionalbischöfin Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern im Gespräch mit Dr. Sabine Rauh Rau...
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Sendung vom 20.12.2013, 21.00 Uhr

Susanne Breit-Keßler Regionalbischöfin Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern im Gespräch mit Dr. Sabine Rauh Rauh:

Herzlich willkommen zum alpha-Forum, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Mein Gast ist heute die Regionalbischöfin von München und Oberbayern, Susanne Breit-Keßler. Herzlich willkommen, Frau BreitKeßler.

Breit-Keßler:

Danke schön, Frau Rauh.

Rauh:

Regionalbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Was heißt das eigentlich? Man kennt den Bischof, aber was ist eine Regionalbischöfin?

Breit-Keßler:

Das heißt, dass ich Bischöfin für einen begrenzten Raum bin, nämlich für München und Oberbayern. Und fünf Kollegen von mir sind als Regionalbischöfe eben für andere Bereiche Bayerns zuständig.

Rauh:

Für wie viele evangelische Christen sind Sie zuständig?

Breit-Keßler:

Das sind etwa 580000 und es werden immer mehr, weil München und Oberbayern ja Zuzugsgebiete sind. Wir erfreuen uns also an viel Zuwachs. Wir haben gleichzeitig nicht so viele Verluste bzw. die Zuwächse gleichen die Verluste im Moment ganz gut aus. Und es gibt etwa 400 evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen in München und Oberbayern.

Rauh:

Was machen Sie den ganzen Tag?

Breit-Keßler:

Ich mache sehr viel den ganzen Tag! Zu meiner Tätigkeit gehören z. B. die verfassungsmäßigen Aufgaben in unserer Kirche, nämlich in diesem Kirchenkreis auf Wort und Lehre zu achten, junge Theologen und Theologinnen zu ordinieren, in ihr Amt einzuführen, dafür zu sorgen, dass das Gespräch läuft zwischen allen, die in diesem Kirchenkreis leben. Und ich muss natürlich die Kirche auch in der Öffentlichkeit vertreten und selbstverständlich auch selbst sehr viel predigen und Vorträge halten.

Rauh:

Wie kann man denn "auf das Wort achten", wenn andere predigen?

Breit-Keßler:

Indem man auch andere Gottesdienste besucht und überhaupt Visitationen in Gemeinden macht. Das ist ein etwas altertümliches Wort, aber es gehört zum Bischofsamt mit dazu und ist etwas sehr Schönes. Ich beschreibe das aber lieber mit dem Wort "einen Besuch machen", um mal von draußen draufzuschauen, was in so einer Gemeinde passiert. Ich lasse mich selbst anregen von dem, was man dort erlebt, und versuche gleichzeitig, eigene Ideen mitzubringen, indem ich meinetwegen sage: "Da könntet ihr vielleicht ein bisschen weniger tun."

Denn mehr tun muss von uns so gut wie keiner, sondern sollte eher etwas weniger machen. Und dann schaut man sich natürlich auch an, was in den Gottesdiensten passiert. Rauh:

Könnten Sie denn so eine Visitation mal näher beschreiben? Sie gehen ja nicht einfach so in einen Gottesdienst oder in eine Kirchenvorstandssitzung und spielen Mäuschen und hören zu. Wie läuft so ein Visitationstag ab?

Breit-Keßler:

Ich melde mich natürlich vorher an und bespreche mit Pfarrern und Ehrenamtlichen, was sie sich erwarten und was ich mir vorstelle. Gemeinhin dauert so ein Besuch auch immer mehrere Tage. Das startet immer um halb neun oder um neun Uhr am Morgen und geht bis in die Nacht. Im Laufe des Tages besuche ich dann z. B. den Kindergarten, die Diakoniestationen und spreche mit den jungen Leuten, schaue beim Seniorennachmittag oder beim Frauenkreis vorbei. Natürlich nehme ich auch an der Kirchenvorstandssitzung teil. Ich besuche also alles, was es vor Ort gibt, auch die örtliche Presse, den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin, um die Verbindung zwischen Kirche und Welt zu zeigen und um deutlich zu machen: Kirche ist nicht etwas, was irgendwo in einer netten Kuschelecke hockt, sondern Kirche mischt sich ein, gehört mitten in die Welt. Das Ganze schließt dann nach zwei, drei Tagen mit einem festlichen Gottesdienst ab, in dem dann ich predigen darf. In dieser Predigt erzähle ich dann, was ich alles erlebt habe, und deute das dann eben auch theologisch.

Rauh:

Als sie 2001 in Ihr Amt eingeführt wurden, waren Sie die erste Frau in diesem Amt. Sie waren kurz darauf schon einmal Gast im alpha-Forum. Wenn man das damalige Gespräch nachliest, dann ist heute noch zu spüren, dass mein Kollege sehr begeistert darüber war, dass endlich eine Frau in dieses Amt gekommen ist. Das war einfach etwas ganz, ganz Besonderes damals. Heute gibt es "zweieinhalb" Frauen in Bayern in diesen Ämtern – eine "halbe" deswegen, weil sich ein Bischofsehepaar diesen Job teilt. Was hat sich verändert in diesen Jahren, seit Sie Regionalbischöfin sind?

Breit-Keßler:

Frauen in diesem Amt werden nicht mehr bestaunt, denn das ist jetzt doch selbstverständlich geworden. Wir bekommen nun auch eine neue Kollegin, was wirklich wunderbar ist. Das Ganze ist etwas ganz Natürliches, Normales geworden. Man staunt nicht mehr, man wird nicht mehr herumgereicht, wie das bei mir am Anfang noch der Fall gewesen ist. Das war schön, gleichzeitig aber auch sehr mühsam.

Rauh:

Ich hake hier mal kurz ein, denn Ihre neue Kollegin wird 2014 in ihr Amt eingeführt. Das ist die künftige Regionalbischöfin in Würzburg-Ansbach. Aber bitte erzählen Sie doch weiter: Sie werden also nicht mehr bestaunt.

Breit-Keßler:

Das Ganze ist vollkommen selbstverständlich geworden. Und so sollte es ja auch sein, denn Frauen gehören in dieses Amt hinein. Es hat, so erzählt es uns ja auch die Bibel, bereits in frühester Christenheit Frauen gegeben, die als Prophetinnen gewirkt haben, die Gemeinden vorgestanden sind, die sich toll engagiert haben. Im Lukas-Evangelium findet man den namentlichen Hinweis auf zwei Jüngerinnen, auf Johanna und Susanna – worauf ich immer ganz besonders stolz bin. Das heißt,

Frauen waren bereits damals ganz selbstverständlich mit dabei: Warum sollte es dann heute nicht so sein? Rauh:

Hat sich denn etwas geändert im Umgang miteinander, in der Art zu diskutieren?

Breit-Keßler:

Überall, wo Frauen sind, verändert sich meiner Meinung nach tatsächlich die Gesprächskultur. Es ist ja nicht so, dass sich Männer nicht wunderbar unterhalten könnten, das können sie selbstverständlich. Aber ich glaube, Frauen bringen noch ein bisschen mehr einen persönlichen Zug hinein: Sie reden mehr von sich selbst her und sie trauen sich auch mehr, die geheimen Strömungen, die im Raum vorhanden sind, die Emotionen also, die sonst zurückgehalten werden, beim Namen zu nennen. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Sache, auch mal zu sagen: "Lasst uns mal eine Unterbrechung machen, denn hier ist noch was anderes los. Lasst uns zuerst einmal das anschauen."

Rauh:

In der Kirche hat sich also viel verändert. Es hat sich aber auch in der Gesellschaft viel verändert. Sie sind auch Mitglied gewesen in einer Adhoc-Kommission – so nennt das die Evangelische Kirche in Deutschland, wenn sie Orientierungshilfen erarbeiten lässt. Diese Orientierungshilfe nun, die 2013 erschienen ist, trägt den Titel "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken". Diese Orientierungshilfe hat wochen-, ja monatelang für große Aufregung gesorgt. Sie sind Mitverfasserin dieser Orientierungshilfe: Können Sie denn ganz kurz sagen, was die Leute daran so aufregt?

Breit-Keßler:

Manche regt auf, dass darin die Ehe nicht mehr als einzige und ausschließliche Lebensform präsentiert wird. Denn in unserer Schrift wird gesagt, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, beieinander zu sein und miteinander zu leben, vor allem aber, Familie zu gestalten. Manchmal wird das missverstanden und es wird nicht erkannt, dass das gar kein Text über die Ehe sein soll. Stattdessen ist das nämlich ein Text über die Familie und die verschiedenen Formen, wie man Familie heute leben kann. Diese Themen gehen natürlich immer ans Eingemachte, an die eigene Existenz, und deswegen sind sie auch so aufregend. Aber wenn ich daran denke, was bereits im Alten Testament der Heilige Geist bedeutet, dann stelle ich fest, dass da auch immer schon heilige Aufregung gewesen ist. Und das ist auch gut so! Wir müssen darüber reden, wir müssen darüber debattieren und uns überlegen, wie wir heute leben wollen, welchen Lebensformen wir Segen zusprechen und wo wir uns möglicherweise trauen wollen, das nicht zu tun. Das halte ich für wichtig und deswegen bin ich auch sehr froh, dass diese Debatten in Gang gekommen sind. Nicht froh bin ich freilich über den Ton, der dabei gelegentlich angeschlagen wird, allerdings nicht von uns selbst, denn ich denke, dass wir sehr, sehr verbindlich sind, sondern in den Angriffen. Da heißt es z. B., wir würden die Ehe demontieren wollen und lauter solche Dinge. Das ist natürlich alles nicht richtig. Ein bisschen mehr Gelassenheit tut in diesen Dingen schon auch gut.

Rauh:

Bei solchen Diskussionen spürt man ja sehr schnell, wie viele verschiedene Positionen es in der evangelischen Kirche gibt. Spüren Sie da auch eine Sehnsucht nach Verbindlichkeit?

Breit-Keßler:

Diese spüre ich deutlich und sie ist auch berechtigt. Wenn man den Text wirklich sorgfältig liest, dann merkt man, dass wir sehr für Verbindlichkeit sprechen – allerdings eben in verschiedenen Formen des Beieinanderseins. Wir sagen: Das Kriterium von Beziehung ist immer Liebe, ist Verantwortung, ist Fürsorge, ist Verlässlichkeit und ist auch lebenslange Treue. Wir geben eine klare Richtung vor. Wir übertragen also die Idee, die sich mit der Ehe verbindet, auf andere Lebensformen. Dies wird aber noch zu wenig gesehen.

Rauh:

Sie knüpfen in dieser Schrift an das Betrachten von Familie und von verschiedenen Lebensformen sehr deutliche Forderungen, denn Sie sagen: Die Familie braucht Unterstützung, ganz egal, ob das eine konventionelle Familie mit Eltern und Kindern ist, ob es eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft ist oder ob es eine Familie ist, in der die Partner nicht miteinander verheiratet sind. Und auch ein kinderloses Ehepaar, das seine alten Eltern pflegt, ist Familie.

Breit-Keßler:

Ja, natürlich.

Rauh:

Kann es sein, dass über diese Diskussion – ob all diese verschiedenen Lebensformen auch "Familie" genannt werden dürfen und ob das nicht die Ehe entwertet – die Forderungen, die Sie an Kirche und Gesellschaft und an Politik und Staat stellen, ein bisschen ins Hintertreffen geraten?

Breit-Keßler:

In einigen Diskussionsgängen war genau das der Fall und das hat uns auch betrübt, denn die sozialpolitischen Forderungen in unserem Text sind enorm. Wir sagen nämlich: Wie auch immer Menschen heute zusammenleben, wenn sie diese Grundprinzipien, die ich vorhin genannt habe, einhalten, dann brauchen sie Unterstützung. Vor allem brauchen Kinder Unterstützung: Kinder haben ein Recht auf Bildung und sie brauchen das, was sie gegebenenfalls im Elternhaus nicht bekommen können, vom Staat, auch von der Kirche. Und alle miteinander müssen darauf achten, dass in Familien Gerechtigkeit herrscht. Familien können eigentlich nicht existieren, wenn es in ihnen ein Oben-Unten gibt, wenn Frauen nicht gleichberechtigt sind und sie sich nicht entfalten können wie ihre Männer und wenn die Kinder sich allem zu fügen haben: Das kann nicht gut gehen. Das Prinzip der Gerechtigkeit spielt also für uns eine ganz große Rolle. Dazu gehört für uns selbstverständlich auch – das wird mancherorts gerne übersehen – die Gerechtigkeit für alte Menschen, ihr Recht zu leben, da zu sein, Pflege zu bekommen, nicht einfach abgegeben zu werden, sondern auch dann unterstützt zu werden, wenn sie in Familien gepflegt werden. Und wer pflegt in den Familien? Zu ungefähr 80 Prozent eben doch die Frauen. Das bedarf alles der Unterstützung. Wenn Frauen zu Hause bleiben und sich ihren Kindern zuwenden, weil sie sagen, dass sie den Kindern eine gewisse Zeit ihres Lebens schenken und dafür auf den eigenen Beruf verzichten wollen, dann verdienen auch sie Berücksichtigung bei den Rentenansprüchen usw. Das muss alles noch einmal neu bedacht werden. Ich möchte in der Tat, dass genau diese Dinge wieder in den Vordergrund gerückt werden. Denn die Ehe ist ja auch für uns nach wie vor ein Leitbild. Wir nehmen die Ehe als Leitbild und sagen, dass wir Menschen damit gute Erfahrungen gemacht haben. Und das übertragen wir nun auf andere Formen des Zusammenseins.

Rauh:

In den Diskussionen fällt dann manchmal der Satz, dass das nicht schriftgerecht sei, dass diese verschiedenen Lebensgemeinschaften so nicht in der Bibel stünden. Was entgegnen Sie diesen Ansichten?

Breit-Keßler:

Es geht tatsächlich um die Art und Weise der Auslegung der Bibel: Nimmt man alles wörtlich oder macht man es wie Luther, unser reformatorischer Ahnherr, der gesagt hat: "Die Mitte der Schrift ist das, was Christum treibet!" Es geht also darum, was Jesus in der Schrift macht. Erkennen wir aus seinem Verhalten das, was für uns wichtig ist? Ich meine, ja. Denn wenn man alles, was in der Bibel steht, wörtlich nimmt – und das machen ja diese Kritiker an unserer Orientierungshilfe auch nicht –, dann müsste man bei Ehebruch steinigen, dann dürften sich Männer die Haare nicht mehr schneiden lassen, dann müsste man bestimmte Speisevorschriften einhalten usw. Es ist doch aber klar, dass die Bibel, das wunderbarste Buch der Welt, eben auch ein Zeitzeugnis ist. Natürlich ist das die Heilige Schrift, aber doch dadurch, dass wir begreifen: "Jesus hat uns den Willen Gottes nahegebracht, nämlich sich selbst zu lieben und auch den Nächsten zu lieben wie sich selbst und auch den Feind zu lieben und Gott an die erste Stelle zu setzen. Das sind doch schon mal Prinzipien, die ziemlich anstrengend sind und die viel von uns fordern – wenn nicht gar alles. Damit ist man den ganzen Tag lang doch gut beschäftigt. Wenn man immer darauf schaut, den Nächsten wirklich zu achten, mit Respekt zu behandeln, und auch den, den man auf den Tod nicht leiden kann, leben zu lassen, sein zu lassen, als Mensch existieren zu lassen, dann ist das die Mitte der Schrift. Das kann man natürlich mit Blick auf Beziehungen auch so gestalten.

Rauh:

Das ist ja eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland. In der evangelischen Kirche gibt es sehr, sehr unterschiedliche Frömmigkeitstraditionen und Kulturen. Alleine schon in Bayern gibt es einen großen Unterschied zwischen Oberbayern und Franken, zwischen Stadt und Land. Wie gehen Sie und Ihre Kollegen damit um, wenn Sie zusammensitzen und solche Dinge beraten oder entscheiden?

Breit-Keßler:

Wir berücksichtigen das, denn es ist ja wunderbar, dass es diese Vielfalt gibt. Es ist doch nichts langweiliger, als wenn alle immer dasselbe denken und machen. Das ist doch öde. Gott hat uns die Vielfalt geschenkt, denn man muss ja nur einmal die Evangelien anschauen: Da sieht man schon, wie verschieden die sind. Und diese Vielfalt muss man leben lassen. Das Leben ist bunt und es ist ein wunderbares, ein himmlisches Präsent, das auch zu akzeptieren. Und das machen wir, wie ich denke. Wir im Landeskirchenrat z. B. sind ja selbst auch alle sehr verschieden. Das ist ganz lustig, und manchmal hakeln wir uns auch ein bisschen, aber das geschieht immer in aller Freundschaft, wie ich sagen muss. Denn wir genießen es, dass wir z. B. auch Hochkirchler haben, die nach einem sehr strengen Ritus ihre Gottesdienste feiern. Dann gibt es diejenigen, die all diese Krabbel- und Mini-Gottesdienste gestalten. Es gibt die Stadt mit ihrer Kultur, mit ihrem Bezug zur Kunst, zur Politik. Das ist herrlich, ich finde das wirklich nur wunderbar. Ich genieße das. Ich habe z. B. hochkirchliche und evangelikale und charismatische Gemeinden: Ich liebe sie, ich kann es nicht anders sagen. Das ist nicht meine Frömmigkeit, aber ich finde es einfach toll, dass die anderen

anders sind. Ich genieße das wirklich. Wie gesagt, alles andere wäre ja langweilig. Rauh:

Sie haben soeben das Stichwort "Landeskirchenrat" genannt. Vielleicht sollten wir uns zwei, drei Minuten Zeit nehmen, um mal diese komplizierte Führungsstruktur der evangelischen Kirche zu beleuchten. Es gibt in der evangelischen Landeskirche in Bayern vier Gremien, die die Kirche leiten. Da gibt es den Landesbischof, der allerdings kein Gremium ist, sondern eine Person.

Breit-Keßler:

Aber er ist ein eigenständiges Organ.

Rauh:

Genau, ein Organ. Zweitens gibt es den Landeskirchenrat. Wer sitzt da drin?

Breit-Keßler:

Da sitzen sechs Regionalbischöfe und sechs Abteilungsleitende drin, die mehr die Binnen-Oberkirchenräte sind und die sich um die Finanzen kümmern, um das Personal, um bestimmte Zielgruppen, um die Bauten in den Gemeinden, um das Recht in der Kirche, um die Ökumene. Gut, die Ökumene ist dann weniger binnenkirchlich, denn das hat sehr mit der Arbeit nach "draußen" zu tun. Alle Themen, die die Kirche betreffen, werden durch diese sogenannten Binnen-Oberkirchenräte abgedeckt. Aber so "binnen" sind sie gar nicht, wie es immer heißt, denn auch sie haben natürlich einen weiten Blick für das, was in der Welt geschieht. Und die Regionalbischöfe sind ja in der Regel bis auf meine Person weit ab von München, denn sie sitzen in Augsburg, Ansbach-Würzburg, Bayreuth, Regensburg und Nürnberg und schauen dort im Land, was sich so tut, und kümmern sich um das, was ihnen anvertraut ist.

Rauh:

Praktischerweise sind Sie, die in München sitzt, die ständige Vertreterin des Landesbischofs. Aber das nur nebenbei. Das dritte Leitungsorgan – wobei ich hier aber keinesfalls eine Hierarchie vorgaukeln möchte – ist die Landessynode, die sich zusammensetzt aus Pfarrern und Dekanen und den sogenannten Laien – das ist ein Ausdruck, den ich eigentlich nicht mag –, also aus theologischen Laien, aus Ehrenamtlichen, die von den Gemeinden gewählt oder vom Landeskirchenrat in die Landessynode berufen werden. Diese Laien sind natürlich gar keine "Laien", sondern auf ihren Gebieten absolute Profis.

Breit-Keßler:

Ja, genau so ist es.

Rauh:

Das vierte Organ müssen Sie wiederum ein wenig erklären, denn das ist das komplizierteste, wie ich finde.

Breit-Keßler:

Das ist der Landessynodalausschuss, dem 15 Menschen angehören, die aus der Synode heraus gewählt werden. Sie vertreten die Synode in den Zeiten, ich denen sie nicht tagt, denn sie tagt ja nur zwei Mal im Jahr für vier Tage. Wenn sie nicht tagt, braucht man jedoch auch ein Gremium, das einspringt, das Synodaltagungen vorbereitet, das sich mit dem Landeskirchenrat austauscht. Das heißt, diese Arbeit ist außerordentlich wichtig und konstruktiv. Diese 15 Leute sind also auch immer präsent.

Rauh:

Wie kann ein "Laden" funktionieren, der vier Leitungsorgane hat?

Breit-Keßler:

Mit Diskurs, Diskurs, Diskurs! Also mittels Reden, Reden, Reden! Manchmal ist das sehr mühsam und gelegentlich auch richtig nervig, um ehrlich zu sein. Aber letztlich ist das doch großartig, weil das einfach

Beteiligung bedeutet. Das bedeutet eben auch, dass es hier keine klerikale Herrschaft gibt. Stattdessen gibt es ein Mitarbeiten, ein Mitdenken, ein Mitentscheiden der Ehrenamtlichen, die ja, wie Sie so wunderbar gesagt haben, auf ihrem Gebiet jeweils wirkliche Profis sind. Sie können noch einmal auf eine andere Art und Weise die Lebenswirklichkeit mit einbringen. Ja, das ist mühsam, aber das ist typisch evangelisch und sehr demokratisch. Ich möchte das nicht missen, wie ich ganz ehrlich sagen muss. Rauh:

Ich komme jetzt auf die Ökumene zu sprechen. In der katholischen Kirche ist die Struktur ja eine andere – auch wenn es dort selbstverständlich ebenfalls eine hohe Beteiligung von Ehrenamtlichen gibt. Die Ökumene ist ja immer ein etwas schwammiger Bereich: Man hätte sie so gerne und es steht ja auch als Auftrag in der Bibel, "seid eins". Man hat aber immer ein bisschen das Gefühl, dass es da ganz viele Leute gibt, die versuchen, die Ökumene voranzutreiben, ohne dass diese wirklich weiter vorankäme. Wie packen Sie Ökumene ganz persönlich an?

Breit-Keßler:

Ich ermutige die Leute an der Basis, denn sie leben ja Ökumene. Und dort funktioniert sie weithin auch. Wobei ich sagen muss, dass sie doch sehr personenabhängig ist. Wenn jemand keine Ökumene betreiben will, dann findet sie auch nur wenig statt. Gemeinhin ist es aber so, dass sowohl die evangelischen wie auch die römisch-katholischen Glaubensgeschwister munter an der Ökumene, an größerer Gemeinsamkeit stricken. Sie machen auch viel, was sie offiziell gar nicht tun dürften. Sie machen es dennoch und auch mit gutem Gewissen und großer Überzeugung. Denn für sie ist der Gehorsam gegenüber Gott mehr wert als der Gehorsam gegenüber der Institution. Das sehen wir in der evangelischen Kirche auch so, denn das ist ja die Basis dessen, was Luther uns gelehrt hat. Ich ermutige vielleicht nicht gerade zum Widerstand, aber doch zu einem klaren Leben dessen, was man als richtig erkannt hat. Bei großen Ereignissen, zumal in Bayern, ist es immer so, dass Ökumene stattfindet. Ob es nun darum geht, den Terminal 2 auf dem Flughafen München einzuweihen, einen Forschungsreaktor oder irgendein neues Gebäude der Technischen Universität München, das findet immer ökumenisch statt, weil es von denen, die dort leben und arbeiten, so verlangt wird. Dafür bin ich sehr dankbar. Das heißt, man kann sich hier nicht davonschleichen. Es gibt aber auch Themen bei der Ökumene, die mühsam sind, z. B. konfessionsverschiedene Ehen. Ich persönlich nenne sie ja viel lieber konfessionsverbindende Ehen, denn genau das machen diese zwei Menschen ja: Sie verbinden das und sie leben das auch. Sie können aber in der römisch-katholischen Kirche noch nicht gemeinsam zum Abendmahl gehen. Das empfinde ich als sehr schade. Auch die Frage der Sonntagsgottesdienste ist immer noch nicht abschließend geklärt. Da merke ich das Drängen der Bevölkerung, aber da geht es noch nicht weiter. Das ist etwas mühsam.

Rauh:

Ich schätze, das ist eine Wunde für die Betroffenen.

Breit-Keßler:

Ja.

Rauh:

Für Außenstehende ist das manchmal nur etwas schwer zu verstehen. Es könnte ja auch von außen den Anspruch geben, und den gibt es

wahrscheinlich auch, dass gesagt wird: "Es mag ja sein, dass da vieles verschieden ist und vieles nicht funktioniert. Aber könnt ihr nicht ein bisschen mehr an einem Strang ziehen, was z. B. die sozialen Probleme betrifft, die Hilfe in der Stadt, die politischen Äußerungen usw. Könnt ihr euch als Christen da nicht mehr vernetzen?" Breit-Keßler:

Ich finde, gerade auf diesen Gebieten funktioniert das eigentlich ganz gut. Bei den theologischen Fragen sind wir weiter auseinander als bei sozialpolitischen Fragen, denn dort erlebe ich immer sehr gute Gespräche, hervorragende Absprachen zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche. Immer dann, wenn wir an einem Strang ziehen, haben wir auch großen Erfolg. Wir dürfen uns da nicht auseinanderdividieren lassen, vor allem nicht bei den Lebensfragen wie der vorgeburtlichen Diagnostik, der Sterbebegleitung, dem Umgang mit Demenz, der Sozialhilfe, der Bildung für Kinder, der Asylpolitik usw. Ich erlebe da schon, dass wir an einem Strang ziehen. Und das geht eigentlich auch immer relativ schnell, d. h. ich bin diesbezüglich ganz glücklich.

Rauh:

Schön. Sie haben soeben ein paar wichtige Stichworte genannt, u. a. die Sterbebegleitung. Sie sind in mehreren Arbeitsgruppen gewesen bzw. noch drin, die sich mit Bioethik oder mit ethischen Fragen in der Medizin befassen. Auch in vielen unserer Beiträge haben wir Sie dankenswerterweise interviewen können zu diesen Fragen. Wenn es um Sterbehilfe geht, wenn es um Präimplantationsdiagnostik, um Pränataldiagnostik geht, dann sind Sie gefragt. Gibt es eine Leitlinie, die Sie bei all diesen bioethischen Fragen in den Randbereichen des Lebens, also am Beginn und am Ende des Lebens, führt?

Breit-Keßler:

Ja, das ist die Würde des Menschen und der Respekt vor dem einzelnen Lebewesen. Das heißt, jeder Mensch, egal wie winzig er ist, ob im embryonalen Stadium oder am Ende seines Lebens, hat das Recht, da zu sein. Und niemand darf ihm dieses Recht streitig machen. Denn unsere Würde kommt uns von Gott her zu, das ist meine, das ist unsere feste Überzeugung. Daran darf niemand rühren. Ich weiß, dass da viel getan wird überall auf der Welt, dass genau das immer wieder versucht wird, aber ich sehe meine Aufgabe doch darin, mich für diesen Lebensschutz einzusetzen und zu sagen: "Gott schenkt Leben und wir haben dieses Leben anzunehmen und zu akzeptieren – auch mit den Schwächen, die ein Leben mit sich bringt." Das heißt, wir müssen und dürfen nicht nur die tollen, die glanzvollen Seiten des Lebens mit ihrem möglichen Chic akzeptieren, sondern wir müssen auch die Schwächen, die Krankheiten, die vermeintlichen Defizite akzeptieren, die eh ein Leben oft nur anders, aber nicht wirklich defizitär machen. Ja, das ist meine klare Leitlinie.

Rauh:

Kommen wir zum Thema "Abtreibung". Das, was Sie soeben gesagt haben, ist die eine Seite, auf die man dabei achten muss: auf die Würde des Lebens, das da bereits wächst. Die andere Seite kann eine sehr, sehr belastete Frau sein.

Breit-Keßler:

Wir haben immer gesagt, wir können das Leben des Kindes nicht gegen die Mutter schützen. Das geht nicht. Unsere Aufgabe ist es, einer Frau beizustehen, damit sie Ja zu diesem neuen Leben sagen kann. Denn

sehr häufig – in den Befragungen kommt immer wieder heraus, dass das in 90 Prozent der Fälle so ist – ist es die Familie, ist es der Partner, die sagen, dass sie dieses Kind nicht bekommen soll. Nur in zehn Prozent der Fälle sagt das die Frau selbst. Aber abgesehen von diesen Zahlen: Wir sind dafür da, Frauen beizustehen, sie zu ermutigen. Und wenn eine Frau dennoch das Kind nicht bekommen kann und will, dann müssen wir sie, das sage ich klipp und klar, weiter begleiten – auch durch die Abtreibung hindurch. Es muss klar sein, was dabei passiert, denn sonst kann sie ja ihr Leben hinterher nicht weiterführen: Alles, was man verdrängt, wegsteckt, kommt irgendwann wieder ans Tageslicht. Man muss also der Frau ganz klar sagen: "Das ist eine Tötung von werdendem Leben. Aber wir sind an deiner Seite. Wir begleiten dich." Deswegen war es uns auch immer wichtig, dass diese Frauen das Kind auch bestatten dürfen. Weil sie sich nämlich, das habe ich auch von Psychoanalytikern so gehört, oft 10, 20 oder gar 30 Jahre später noch einmal damit auseinandersetzen und auf diese Weise dann einen Ort haben, an den sie gehen können, um dort noch einmal mit diesem Kind einen Dialog führen zu können. Denn diese Frauen wissen ja, dass es ein Kind gewesen ist. Diese Ehrlichkeit sollte man sich also gönnen. Klar ist jedenfalls, dass so eine Frau von uns niemals alleine gelassen wird: Das geht auf gar keinen Fall! Rauh:

Sie haben selbst keine Kinder, sind in zweiter Ehe verheiratet und auch Ihr Mann ist mit Ihnen in zweiter Ehe verheiratet. Sie haben vor vielen Jahren eine schwere Krankheit hinter sich gebracht. Macht einen so ein Leben dünnhäutiger? Oder macht es einen stärker und robuster?

Breit-Keßler:

Beides. Es macht stärker und es macht empfindsamer und auch achtsamer für die Kleinigkeiten des Lebens. Es macht einen, wie ich hoffe, auch barmherziger. Da sind wir nun auch wieder ein bisschen bei diesem vorhin angesprochenen Familienpapier von uns: So etwas macht einen gnädiger gegenüber dem, was einem im Leben alles widerfahren kann. Ich denke daher, dass ich nicht von einer rigiden Moral geprägt bin – wobei manche genau das von mir gelegentlich denken, wenn sie mitbekommen, wie ich mich für den Lebensschutz einsetze. Denn auf diesem Gebiet bin ich sehr kämpferisch, das ist wohl wahr. Aber insgesamt, glaube ich, habe ich ein weites, weites Herz für die Vielfalt des Lebens und dafür, was Menschen biografisch alles einstecken müssen, hinnehmen müssen, z. B. auch in Bezug auf Scheitern und Krankheit, wie ich selbst sehr gut weiß. Wie Menschen dann ihr Leben wieder neu gestalten, verdient, wie ich meine, auch Respekt. Das sage ich freilich nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrungen, sondern auch aufgrund vielfältiger seelsorglicher Erfahrungen.

Rauh:

Regionalbischöfin in München und Oberbayern zu sein, das ist der kleinen Susanne nicht an der Wiege gesungen worden.

Breit-Keßler:

Wahrlich nicht.

Rauh:

Wo kommen Sie also her?

Breit-Keßler:

Mein Vater war Arbeiter, ein Feinmechaniker, meine Mutter war Schreibkraft. Beide hatten nur eine damals sogenannte Volksschulbildung, mehr war da nicht drin gewesen für sie. Sie waren ganz einfache, schlichte Leute. Wir hatten ein Bücherregal, und auf

diesem Bücherregal standen gerade mal eine Handvoll Bücher. Mehr hatten wir nicht. Das war also eine ganz einfache Familie. Was aber meine Eltern ausgezeichnet hat und wofür ich ihnen bis heute danke, ist, dass sie zu mir gesagt haben: "Mach du mal!" Sie haben mich also machen lassen, sein lassen und mich z. B. nicht genötigt, von der Schule abzugehen, um eine Lehre zu machen. Nein, sie haben sich erkundigt bei mir, ob ich aufs Gymnasium gehen möchte. Als ich dann gesagt habe, dass ich das möchte, und als auch die Lehrer gesagt haben, ich solle aufs Gymnasium gehen, ließen sie mich aufs Gymnasium gehen. Nach der Mittleren Reife haben sich mich gefragt: "Willst du weitermachen, willst du Abitur machen? Oder willst du einen Beruf lernen?" Ich habe geantwortet, dass ich das Abitur machen möchte. Daraufhin gingen sie zu den Lehrern und haben sich erkundigt, ob das alles klappen könnte mit mir. Diese haben ihn gesagt, dass ich weiter auf dem Gymnasium bleiben soll. So ging es immer weiter. Sie waren sehr zufrieden mit mir und waren unterstützend für mich, indem sie mich haben machen lassen, indem sie mich entfalten ließen. Helfen konnten sie mir nicht. Aber ich glaube, die größte Hilfe bestand wirklich darin, dass sie dieser kleinen Susanne ihren Weg gebahnt haben. Das finde ich bis heute ganz wunderbar und zeigt eine eigene Art von Größe und Herzensbildung, die ich vielen Menschen wünsche. Rauh:

Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, Pfarrerin zu werden?

Breit-Keßler:

Das hat ziemlich lange gedauert, denn ich wollte ja zuerst Lehrerin werden. Ich habe Germanistik und Alte Geschichte studiert und habe mich in meinen Freistunden, weil ich ein sehr effizienter Mensch bin, nicht ins Café gesetzt, sondern bin in andere Vorlesungen gegangen. In den theologischen Vorlesungen habe ich mir dann immer wieder gedacht: "Oh, die sind ja interessant!" Ich selbst hatte ja bis dahin so einen schönen, netten Kinderglauben, aber da dachte ich dann auf einmal: "Mensch, das lässt sich ja verbinden, dieser mein kindlicher Glaube mit der Wissenschaft." Da wurde also etwas ergänzt, was ich bis dahin noch nicht gehabt und gekannt hatte. Das wollte ich dann alles wissen, denn das fand ich toll. Also habe ich dann zusätzlich Evangelische Theologie studiert und irgendwann kam mir der Gedanke: "Oh, da wird man dann ja Pfarrerin!" Denn bis dahin war mir das gar nicht klar gewesen, d. h. ich war da, wie ich zugeben muss, etwas unbedarft. Aber ich dachte mir dann: "Na ja, warum nicht, das ist doch auch schön."

Rauh:

Sie wurden also quasi Pfarrerin aus Verlegenheit, statt Lehrerin?

Breit-Keßler:

Ich wurde en passant Pfarrerin, nicht direkt aus Verlegenheit, denn das habe ich dann schon wie immer in meinem Leben mit vollem Schwung und mit voller Kraft gemacht. Aber es war schon so, dass sich das irgendwie ereignet hat, d. h. das war bei mir nicht so zielgerichtet wie bei anderen Menschen. Heute sagen mir z. B. oft junge Leute: "Ich wollte schon mit 13 Jahren Pfarrer werden." Wenn ich so etwas höre, bin ich immer ganz erstaunt, denn bei mir war das nicht so gewesen.

Rauh:

Sie haben dann zusätzlich noch eine journalistische Ausbildung gemacht – selbstverständlich mit voller Kraft und mit vollem Elan.

Breit-Keßler:

Ja, das stimmt.

Rauh:

Was haben Sie da für Ihren Beruf als Pfarrerin gelernt?

Breit-Keßler:

Mit der Sprache umzugehen, an Wörtern und an Sätzen zu feilen, sehr präzise zu sein in meiner Sprache und – das verbindet Journalisten mit Theologen – mich immer der Wahrheit verpflichtet zu fühlen, also nie etwas unter den Tisch fallen zu lassen. Ich ersticke, wenn ich z. B. nicht sagen kann, was ich denke. Das bringt mich manchmal in nicht so ganz einfache Situationen, aber ich kann das einfach nicht. Wahrheit und Präzision in der Sprache: Auch das verfolge ich mit ganzer Kraft.

Rauh:

Sie haben ein paar Jahre lang auch das "Wort zum Sonntag" gesprochen. Sie schreiben zurzeit Kolumnen in der evangelischen Zeitschrift "Chrismon". Was ist anders, wenn man auf der Kanzel steht und predigt bzw. wenn man solche Kolumnen schreibt? Denn diese Kolumnen sind ja auch eine Art von Zuspruch.

Breit-Keßler:

Für mich ist das nicht zu sehr unterschiedlich. Denn ich versuche ja immer, ganz nah am Menschen zu sein, immer in der Lebenswirklichkeit der Menschen zu starten und dort auch wieder zu landen. Und ich versuche vor allem, dieses unser Leben mit all seinen Höhen und Tiefen mit dem Glauben an Gott zu verbinden. Denn Glaube muss alltagstauglich sein. Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn man sagt: "Auf der einen Seite ist mein Leben, ist mein Beruf, ist meine Familie und auf der anderen Seite ist da am Sonntag mein Glauben!" Das ist Firlefanz, das bringt nichts. Der Glaube muss in jedem Moment irgendwie präsent sein, d. h. man muss mit seinem Glauben überlegen, wie man z. B. Weihnachten gestaltet. Man muss meinetwegen überlegen, was der Urlaub mit dem eigenen Glauben zu tun hat oder auch nicht. Das gehört also alles nahtlos ineinander verschränkt, wie ich finde. Deswegen ist das für mich nicht so ganz anders.

Rauh:

Sie haben auch mehrere Bücher geschrieben, das jüngste Buch von Ihnen trägt den Titel "Lebenssätze". Denn in diesem Buch praktizieren Sie genau das. Es geht darin darum, in den Zehn Geboten Inspirationen für das alltägliche Leben zu finden. Ich empfinde es doch als sehr bemerkenswert, wie Sie tatsächlich selbst bei kleinsten Alltagsdetails Gott ins Spiel und zur Sprache bringen.

Breit-Keßler:

Ich glaube, nur so kann man auch vom christlichen Glauben wirklich überzeugen. Denn wenn ich mir beispielsweise diese fantastischen Zehn Gebote anschaue, die wirklich grandios sind, dann stelle ich fest: Auch sie waren ursprünglich dazu gedacht, Leben zu gestalten. Heute sagt man sich vielleicht als junger Mensch: "Ach, das muss ich jetzt alles auswendig lernen. Wie überkommen, wie langweilig ist das denn!" In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Das ist prickelnd, das ist aufregend, das hilft einem, das Leben so zu gestalten, dass es einem besser geht. Genau dazu waren diese Zehn Gebote ja auch gedacht. Wenn man das vierte Gebot nimmt, in dem es heißt, die Eltern zu ehren, auf dass es einem wohlergehe auf Erden und man lange lebe, dann heißt das, auch die eigene Geschichte zu ehren, hinzuhören, woher die Eltern kommen, was sie erlebt haben und warum sie so geworden sind, wie sie sind. Wie ist das mit den Eltern und der Familie des Partners? Das bedeutet doch, man erweitert den eigenen Horizont und lernt daraus, wenn man auf diese Lebensgeschichten hört. Und man begreift doch dann auch viel

besser, was jetzt gerade passiert. Ich verstehe den eigenen Cousin, den eigenen Ehemann, die eigene Freundin besser, wenn ich über diese Elterngeschichten etwas weiß. Diese Zehn Gebote sind also ganz, ganz dicht dran an der Existenz von uns Menschen. Rauh:

Wir haben aber doch gelernt, dass diese Zehn Gebote nicht nur Gebote, sondern schon auch so etwas wie Verbote sind: "Du sollst nicht, du darfst nicht ..." Das hat doch den Beigeschmack von: "Ja, ja, das gehört schon irgendwie zu unserer Geschichte mit dazu." Ist es denn wirklich so etwas Tolles, immer auf die Zehn Gebote zu schauen?

Breit-Keßler:

Ja, das ist toll, weil es da nicht um Verbote geht. Das Wort "Gebot" trifft die Sache schon viel besser: Das ist eine Hilfe zum Leben, das ist eine Hilfe zur Freiheit. Wenn ich als Beispiel noch einmal das vierte Gebot nehmen darf: Wenn man sich abschottet gegenüber diesen Familienbiografien, dann nimmt man Dinge einfach nicht mehr wahr, dann ist man eng, dann ist man klein, dann hat man nur einen ganz kleinen Blickwinkel. Wenn man sich jedoch umschaut, dann wird man weiter, dann sieht man: "Aha, du bist in der Nazizeit groß geworden. Du warst im BdM, du warst bei der SA. Was bedeutet das denn? Lass es uns besprechen, lass es uns thematisieren." Oder man erfährt: "Dein Vater war in der Bekennenden Kirche. Was bedeutet das denn?" Man kann aber z. B. auch erfahren: "Du bist Jüdin. Du hast dich verstecken müssen, du bist gerettet worden. Was bedeutet das?" Das ist doch grandios, wenn einem solche Geschichten den Blick öffnen. Sie merken schon, ich lasse mich gleich schon wieder hinreißen.

Rauh:

Das ist doch wunderbar.

Breit-Keßler:

Nehmen Sie das Gebot, du sollst nicht stehlen und du sollst keinen Neid gegenüber dem Besitz anderer haben. Es schenkt einem doch unglaublich viel Freiheit, wenn man nicht immer nur darauf starrt, was andere haben. Wenn man stattdessen darauf schaut: "Was habe ich? Womit bin ich gesegnet? Was ist mir alles geschenkt an Charismen, an Gnadengaben, an Wohlstand? Was haben andere nicht, was ich habe? Wo und wie kann ich ihnen helfen?" Ich finde, es geht da wirklich um den freien Atem! Das ist es! Es geht um das Leben.

Rauh:

Weil Sie gerade durch die Stichworte "BdM" oder "SA" die Nazizeit angesprochen haben: Sie waren Regionalbischöfin, als die Meiserstraße in München umbenannt wurde in Katharina-von-Bora-Straße. Wie klug das gewesen ist, das sei mal dahingestellt. Aber es war so, dass die Meiserstraße entnannt wurde, weil dieser Landesbischof Meiser, bevor er Bischof wurde, judenfeindliche Schriften veröffentlicht hatte. Wie haben Sie diese Zeit der Entnennung, der Diskussion um den Landesbischof Meiser und um die Haltung der Kirche in der Nazizeit erlebt? Was haben Sie aus diesen Diskussionen vielleicht auch gelernt?

Breit-Keßler:

Ich habe das als eine produktive Debatte empfunden. Auch die heftigen Streitereien fand ich produktiv, weil wir durch sie dazu angeleitet wurden, uns erneut mit der Geschichte der Kirche in der Nazizeit zu beschäftigen. Dieses Thema ist ja längst nicht abgeschlossen. Es werden nun verschiedene Publikationen vorbereitet, die in diese Richtung gehen, um das alles noch einmal genau anzuschauen. Wichtig ist, niemals zu sagen: "Wir zeigen vorlaut oder selbstgerecht mit dem Finger auf

andere." Stattdessen müssen wir aus dieser Zeit lernen: Was haben unsere Vorfahren großenteils falsch gemacht? Wo haben sie sich nicht eingesetzt? Welche unserer Vorfahren haben sich eingesetzt? Wenn man sagt: "Das war halt in der damaligen Zeit so", dann stimmt das eben nicht, denn in der damaligen Zeit gab es auch welche, die sich eingesetzt haben für jüdische Mitbürger und für verfolgte Menschen. Was lernen wir also heute daraus? Wann muss man heute den Mund aufmachen? Denn wir sind alle immer in der Gefahr, es uns bequem zu machen und zu sagen: "Na ja, es ist halt so." Aber es gibt heute eben wieder Menschen, die an den Rand gedrängt werden. Menschen mit Behinderungen haben es mancherorts leicht, weil sie gestützt werden, während sie woanders rausgedrängt und verachtet werden. Demente Menschen sind zwar in jeder Podiumsdiskussion ein Thema, aber wenn einem ein dementer Mensch oder ein schwer geistig behinderter Mensch begegnet, dann sagt man meistens: "Na ja, vielleicht lieber doch nicht so nah!" Da muss man schon schauen, dass man sie integriert, dass man bei ihnen ist und sagt: "Sie gehören zu unserer Gesellschaft dazu." Wir haben also überhaupt keinen Grund, pharisäerhaft über andere zu urteilen, sondern wir müssen uns genau anschauen, welche Strukturen dazu geführt haben, dass beide Kirchen mehrheitlich versagt haben in der Nazizeit. Was machen wir heute hoffentlich besser? Wo müssen wir uns selbst am Schlafittchen nehmen, damit wir nicht den alten Fehlern verfallen? Rauh:

Sie haben einen Preis gestiftet. Ob Sie ihn selbst gestiftet haben, weiß ich jetzt gar nicht, aber es gibt jedenfalls einen Preis, den Sie nun alle zwei Jahre verleihen. Das ist der "Wilhelm Freiherr von Pechmann Preis". Was wollen Sie da würdigen?

Breit-Keßler:

Die Synode hat diesen Preis gestiftet und ich darf die Jury-Vorsitzende sein, d. h. ich habe da also eine entsprechende Verantwortung. Wir wollen die Auseinandersetzung mit der Nazizeit befördern, wir zeichnen daher immer Menschen aus, die dazu entweder wissenschaftlich arbeiten oder eine entsprechende Aktion, ein Projekt in der Jetztzeit gestartet haben oder starten, das die Zivilcourage befördert, oder die sich in den Medien dazu geäußert haben. Der Bayerische Rundfunk, also Hörfunk und Fernsehen, ist da sehr weit vorne mit dabei, wie ich hier, ohne einen "Werbeblock" zu machen, sehr wohl sagen darf: Wir haben da bereits vieles ausgezeichnet. Und jetzt, beim neuen Preis, sind wieder zwei BR-Produktionen mit dabei. Offenbar ist der BR eine Institution, die sich sehr intensiv damit auseinandersetzt.

Rauh:

Das vertiefe ich jetzt nicht (lacht).

Breit-Keßler:

Das ist jedenfalls sehr schön und wir freuen uns auch darüber, weil es einfach wichtig ist, dass sich auch die Massenmedien damit befassen. Wir haben auch immer wieder Schüler- und Jugendgruppen, die vor allem den internationalen Austausch suchen und damit Begegnungen ermöglichen, um die Feindseligkeiten in der Welt in einem kleinen Bereich einfach einzustellen und aufeinander zu hören. Aber auch Literatur zu dieser Zeit wird von uns ausgezeichnet. Dieser Preis ist eine sehr, sehr schöne Sache und ich freue mich, dass jetzt auch bei diesem Mal etwas aus dem Medienbereich mit dabei ist, wo es um den Alltagswiderstand geht: Da geht es um eine Prostituierte, die während

der Nazizeit in Berlin Juden versteckt hat. Wissen Sie, das tut uns gut zu hören. Denn auch wir in der Kirche sind ja doch sehr schnell mit der Moralkeule bei der Hand: "Gut, ja, Prostituierte, die gibt es halt!" Es war schlicht eine Hure, die Juden versteckt hat! Das Großbürgertum hingegen hat sich einen Dreck geschert um Juden, um Homosexuelle, um Sinti und Roma, um Sozialisten und Kommunisten, die alle im KZ ums Leben gekommen sind. Die Großbürger haben sich um diese Menschen nicht gekümmert, aber diese eine Frau, die auf der sozialen Leiter wirklich ganz unten stand, hat das gemacht, eine Frau, die in ihrer Existenz ohnehin schon gefährdet gewesen ist. Daraus kann man wirklich nur lernen und da kann man im Nachhinein wirklich nur noch den Hut ziehen. Sie hat nach dem Krieg ihre bescheidene Rente eingeklagt und nichts bekommen, während ein Nazirichter hinterher in der Bundesrepublik seine volle Beamtenpension eingestrichen hat. So etwas mal in einem Hörfunkbeitrag zu lernen, tut uns allen wirklich sehr, sehr gut. Rauh:

Wir haben an mehreren Stellen dieses schönen Gesprächs gemerkt, welche Energie in Ihnen steckt, welcher Furor bei manchen Themen aufblitzt. Eine letzte Frage: Woher nehmen Sie Ihre Energie, wo tanken Sie auf? Was sind Ihre Energiequellen?

Breit-Keßler:

Ich habe zwei Quellen. Da gibt es zuerst einmal meinen Glauben. Das ist dieser Glaube an Gott, der mir mein Leben einmal, zweimal geschenkt hat und der mir jeden Tag beisteht, wie ich ganz klar spüre. Die zweite große Quelle ist die Liebe meines Mannes, der vor, hinter und neben mir steht, wo und wann immer ich das brauche. Er unterstützt mich bei allem, was ich mache. Er hört mir zu, er begleitet mich, er hinterfragt mich kritisch. Er ist wirklich das größte Geschenk meines Lebens.

Rauh:

Herzlichen Dank dafür, dass Sie uns so viel von sich haben spüren lassen – thematisch und im Hinblick auf Ihr Temperament. Ich danke für dieses Gespräch und sage Auf Wiedersehen bis zum nächsten alphaForum. Vielen Dank für Ihren Besuch hier im Studio. Das war heute Susanne Breit-Keßler, die Regionalbischöfin für München und Oberbayern in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Vielen Dank.

Breit-Keßler:

Ich danke Ihnen, Frau Rauh.

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