Sucht-Selbsthilfegruppen wiederbeleben? Die Gruppen sind tot es lebe die Gruppe!

Dr. phil. Michael Tremmel Landestagung der Sucht-Selbsthilfe Suchtkranker und der Elternkreise für drogengefährdete und drogenabhängige junge Mensche...
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Dr. phil. Michael Tremmel

Landestagung der Sucht-Selbsthilfe Suchtkranker und der Elternkreise für drogengefährdete und drogenabhängige junge Menschen 2017, Budenheim, 02. Dezember 2017 MINISTERIUM FÜR SOZIALES, ARBEIT, GESUNDHEIT UND DEMOGRAPHIE, RHEINLAND-PFALZ

Sucht-Selbsthilfegruppen wiederbeleben? Die Gruppen sind tot – es lebe die Gruppe! Ich bedanke mich für die Einladung zu Ihrer Landestagung der SuchtSelbsthilfe und für die freundliche Begrüßung!

1 Eine paar Worte zu meiner Person Mein Name ist Michael Tremmel. Ich bin Theologe und Sozialarbeiter und Referent beim Kreuzbund Bundesverband. Seit rund 20 Jahren arbeite ich in unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe. Schwerpunkt war und ist dabei die Selbsthilfe. Ich will gleich zu Beginn sagen, wovon ich überzeugt bin: Ich denke, dass die gesundheitliche Selbsthilfe und damit die SuchtSelbsthilfe mit zu dem Besten gehört, was Menschen für ihre Gesundheit tun können. Das mag sich hier auf einer Sucht-Selbsthilfetagung gefällig anhören, darin stecken aber auch Eigenverantwortung und eine Menge Konfliktpotential! Zur Selbsthilfe gehört immer auch eine kritische Distanz gegenüber Professionellen im Gesundheitswesen; und ebenso gehört eine bewusste und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Selbsthilfe-Unterstützern dazu: wir finden sie in Politik und Gesellschaft und in allen Professionen der Suchthilfe (Sozialarbeitende, Therapeuten, Ärzte etc.).

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2 Wiederbeleben? Ich bin gebeten worden, etwas über „Wiederbelebung“ von SuchtSelbsthilfegruppen zu sagen und zur „Zusammengehörigkeit“ in diesen Gruppen. Ich denke: lebendige Gruppen müssen sich über Zusammengehörigkeit keine Sorgen machen. Aber wiederbeleben? Ist es tatsächlich so schlimm, dass nach Wiederbelebung gerufen wird? Woher dieser Selbstzweifel? Warum dieser Kleinmut? Gesundheit und ein richtiges, ein gutes Leben – das sind doch Visionen, die motivieren! Wiederbelebung? – Mancher Notfallarzt hat nach einer Wiederbelebung gedacht: Ich hätte es besser seinlassen sollen. Der Schwund bestimmter Gruppen-Typen ist deutlich und natürlich darf man nach Wiederbelebungsmaßnahmen fragen. Aber das Leben selbst plant doch auch sein eigenes Ende, sein Sterben mit ein, eben damit neues Leben erst möglich wird. Hat das Ende von Gruppen vielleicht auch positive Seiten? Ich rate dazu, sich vom Gruppenschwund nicht schrecken zu lassen. Sucht-Selbsthilfegruppen sollten stattdessen fragen: Was genau ist unser Anliegen? Wodurch können wir die Idee „Gruppe“ beleben? Womit gehen wir schwanger? Geht es überhaupt primär um ‚Sucht‘? Den Gruppen geht es doch um mehr als bloß darum „nicht zu konsumieren“; es geht doch eher um das Wie?, das Leben wieder leben zu lernen, es geht darum, die eigenen ‚Selbstheilungskräfte’ zu wecken – die der Einzelnen und die der Gruppe. Je mehr davon gelingt, desto mehr hat die akute Sucht schlechte Karten. Und obwohl ich Mann bin, füge ich noch hinzu: Eine Schwangerschaft ist nicht nur Glückseligkeit, sie ist auch Schmerz und Tränen, Belastung und Sorge, auch Risiko für Gesundheit und Leben. Womit also gehen wir schwanger? Was für eine Selbsthilfe-Gruppe kommt dabei heraus? Ich rechne damit, dass der Selbsthilfe-König „Gruppe“ – so wie wir ihn bisweilen kannten und kennen –, totgeweiht ist, zumindest weniger wird und das Vergehen, Verschwinden schon in sich trägt. Seite 2 von 10

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Ich kann mir aber Selbsthilfe ohne ‚Gruppe‘ nicht vorstellen – deshalb sage ich auch: Es lebe die Königin: die Gruppe nämlich! Ich bin überzeugt: Selbsthilfe-Gruppen wird es weiterhin geben! Nur wie, das ist die Frage! 2.1 Wege aus der Sucht heraus mindestens im Dreieck denken! Das Sucht-Dreieck – Person, Umwelt, Suchtmittel – umschreibt grob sehr gut die Wege in die Sucht hinein und damit aber auch die Wege aus der Sucht heraus. Man könnte sich vorstellen, dass alle, die im Stuhlkreis sitzen, ein Lebens-Dreieck mitbringen (die eigene Person, die eigenen sozialen Bezüge und den eigenen Spiritus: wovon bin ich überzeugt, was treibt mich an?). Mit dem eigenen Lebens-Dreieck wird an der eigenen Identität gearbeitet. Auch tun Selbsthilfe-Gruppen gut daran, sich in ihren Gruppenstunden an den ‚Fünf Säulen der Identität‘ zu orientieren: Leiblichkeit, soziales Netzwerk, Tätigkeit, materielle Sicherheit, Werte/Sinn. Damit nicht genug: Wenn Gruppen lebendig sein und bleiben wollen, dann müssen sie sich um ihre Gruppen-Verhältnisse kümmern, nach innen wie nach außen! Gruppen müssen vielleicht auch eine Art ‚SuchtSelbsthilfe-Politik‘ bzw. ‚Stoffwechsel-Politik‘ entwickeln: für sich selbst als Gruppe, für ihre örtliche Umgebung und darüber hinaus. 2.2 Die Frage nach der Gruppen-Identität … trägt zur eigenen Orientierung bei: Wer sind wir? (Identität). Von welchem Spiritus lassen wir uns leiten? Wovon sind wir überzeugt und womit identifizieren wir uns selbst (Identifikation von innen)? Beides ist nicht von dem zu trennen, was andere von einer Selbsthilfegruppe erwarten. Was meinen denn Gesundheitspolitiker und Akteure des Suchthilfe-Systems, was und wie Sucht-Selbsthilfegruppen sein sollen, womit werden sie identifiziert (Identifizierung von außen)? Bewältigt eine Gruppe die Spannungen, die zwischen Identifikation und Identifizierung auftreten können – und ohne Spannungen geht’s nicht –, dann könnte „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch die Gruppe gelingen. Das gelingt aber nur, wenn alle in der Gruppe die Gruppen-Ziele und die Arbeitsweisen der Gruppe „verstehen“, wenn sie sie verantwortlich Seite 3 von 10

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„gestalten/mitgestalten, mittragen“ können und wenn sie spüren: dies ist für mich und für andere sinnvoll, sinnstiftend. 2.3 Selbstheilung Man traut sich kaum, davon zu sprechen: Forschungen zur Selbstheilung1 bei akuten Suchterkrankungen legen nahe, dass – vorsichtig geschätzt – deutlich mehr als 50% der Betroffenen aus eigener Kraft gesunden. Diese Selbstheilerinnen und Selbstheiler bekommen ihre Suchterkrankung ohne professionelle Hilfe und ohne Selbsthilfe in den Griff. Kratzt das am Selbstwertgefühl? Das kratzt am Selbstwert, der Professionellen ebenso wie der Selbsthilfe! Doch warum ist die Selbstheilung so wenig geschätzt, warum wird dieses Phänomen nicht gründlicher untersucht? Warum wird über das Wie? der Selbstheilung in unseren Kreisen so wenig gesprochen? Vielleicht können Selbsthilfe und Professionelle ihre Bemühungen verbessern (Konzepte, Ziele, Methoden), wenn wir uns diesen Tatsachen gegenüber offener zeigten und mehr darüber wüssten. Wir können uns darüber freuen, denn: dies bestätigt doch nur: Hilfe zur Selbsthilfe wirkt! Und bei näherem Hinsehen könnte sich zeigen: Auch „Selbstheiler“ sind keine freischwebenden Solisten. Auch für sie ist die jeweilige soziale Einbindung unverzichtbare Komponente ihrer Gesundung. 2.4 Sucht-Selbsthilfe-Empowerment Auf Konferenzen werden häufig in Grußworten die Millionen und Abermillionen Suchtkranken und von Sucht mitbetroffenen Angehörigen, Freunde und Kollegen aufgezählt. Doch diese Millionenaufzählungen über Jahrzehnte hinweg lassen das Empfinden dafür, was das heißt, taub werden. Die Verluste sind unermesslich. Dazu gehören die Lebensqualität der Betroffenen, die gesellschaftlichen Schäden durch Glaubwürdigkeitsverluste und Kosten, ganz zu schweigen von den Leiden und den vorzeitigen Todesfällen. Die herrschende Alkohol-Politik kalkuliert dies alles mit ein oder sie schaut weg und nimmt es hin. Ich habe die Suchthilfe-Power der Drogen-Selbsthilfe und der Professionellen während der HIV- und Aids-Krise der 1980er und 1990er Jahre 1

Klingemann, Harald: Sucht. Selbstheilung ist möglich. 2017 --- Rumpf, Hans-Jürgen: Der Elefant, den niemand sieht. In: Rausch, 04/2010, 24-27.

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miterlebt und bin davon immer noch beeindruckt. Die HIV-Infektion und das massenhafte Sterben an Aids stellte alles in Frage und auf den Kopf, was wir bis dahin kannten und gewohnt waren. Probleme wie diese forderten uns heraus: Die Kämpfe zum Spritzentausch und zu Spritzenautomaten: Sucht in Kauf nehmen, um Leben zu retten. Die Gefahren reduzieren, für Lebens- und Überlebensqualität kämpfen (Harm Reduction). Und heute? Gibt es kein Sucht-Elend mehr? Wird nicht mehr gestorben?, an Alkohol, Nikotin, Drogen aller Art? Gibt es heute nichts mehr zu erkämpfen? Die Not der einen und der fehlende Wille der anderen zu einer wirksamen Verhältnis-Prävention fordern SuchtSelbsthilfegruppen heraus! – nur diese müssen sich herausfordern lassen! 2.5 Niedrigschwellig denken … ist eine Notwendigkeit, wenn sich Gruppen auf die komplexeren Notlagen sozialer, medizinischer und psychischer Art einstellen wollen. Sucht- und Suchthilfe-Landschaften sind im ständigen Wandel. Das fordert Sucht-Selbsthilfegruppen heraus – ob sie wollen oder nicht. Dabei darf und muss jede Gruppe in ihrer Unabhängigkeit vor Ort verantworten, wie sie sich zu diesen Herausforderungen verhalten will. „Sich-nicht-verhalten“ geht nicht! Es ist notwendig, dass eine Gruppe sich klar darüber wird: was wollen wir, was können wir – und was eben nicht. 2.6 Niedrigschwellig präsent sein … wäre eine Konsequenz niedrigschwelligen Denkens. Gruppenmitglieder, die es wollen und können, sollten vor Ort persönlich bekannt sein. Apotheken, Arztpraxen, Bibliotheken, Kirchengemeinden, Sozial- und Pflegeeinrichtungen, Selbsthilfe-Strukturen vor Ort sind auf eine niedrigschwellige Sucht-Selbsthilfegruppe angewiesen: Es braucht ein Gesicht, ein engagiertes und attraktives Auftreten und regelmäßige Pflege solcher Netzwerkkontakte. Die persönliche Ansprache ist wichtiger als ein Faltblatt! Nur so lassen sich Ratsuchende zuverlässig an eine Gruppe vermitteln. Es müsste zum Wesen einer Gruppe gehören, dass Betroffene und Angehörige auch außerhalb ‚der Gruppen-Sitzung’ begleitet werden. Seite 5 von 10

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Gruppen, die nicht niedrigschwellig denken und nicht engagiert öffentlich präsent sind – sie sind Zellen vergleichbar, die ihren Stoffwechsel reduzieren oder ganz einstellen. Solche Zellen, solche Gruppen sterben. Und das darf auch sein! 2.7 Selbsthilfe-Zeitgeister wehen … … wie und wo sie wollen. Und natürlich muss sich die Selbsthilfegruppe diesen Zeitgeistern stellen und sich in der Unterscheidung der Geister bewähren: Was hilft? Was lindert? Was heilt? und was eher nicht? Wir alle müssen die Zeitgeister befragen, wo, wie und warum sie wehen und sie vorurteilsfrei prüfen, welche Wirkungen sie entfalten. Solche Zeitgeister sind beispielsweise  persönliche Ziele, die sich nicht mehr allein an der Abstinenz

orientieren;  „Frischlinge“ zeigen eine Gruppen-Verbindlichkeit, die Altgediente allzu leicht (und gern) als Unverbindlichkeit missverstehen.  Online-sein – das ist Mehrheitsnormalität; Süchtige sind in diesem Sinne auch völlig normal – und nicht nur onlinesüchtig!  Ressourcen statt Defizite – nicht: Was macht dich krank?, sondern: Was erhält Dich gesund?  Mitglied im Selbsthilfeverband werden? Was bringt mir das?!  Findet die Sucht-Selbsthilfegruppe in Zukunft als „Projekt“ statt?2 Vor allem die verbandliche gesundheitliche Selbsthilfe-Landschaft verändert sich: Ihr Durchschnittsalter steigt, die Mitgliederzahlen sinken. Außerhalb der Verbände, also im Bereich „freier Selbsthilfe-Gruppen“, scheint es eher gegenläufig zu sein. In der Sucht-Selbsthilfe ist das nicht anders.3 Wir müssen Zeitgeister nicht unbedingt wertschätzen, aber wir sollten uns auch nicht nur zur Klage verführen lassen. Es lohnt sich, das Bewerten einmal loszulassen, seinzulassen; ganz sicher hilft es in der Suchthilfe nicht, Zeitgeister abzuwerten.

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Passt die Selbstbezeichnung „Selbsthilfe“ noch in die aktuelle Zeit? Brauchen wir eine andere Bezeichnung? SHILD-Studie (vom BMG geförderte 5jährige Studie zum Stand gesundheitsbezogener Selbsthilfe; Ende 6/2017

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2.8 Sucht-Selbsthilfe 2.0 Die Selbsthilfe muss Lösungen dafür finden, wie sie die sich wandelnden Nutzungsarten des Web aufgreift und für ihre Zwecke nutzt. WhatsApp und Facebook werden von der Sucht-Selbsthilfe genutzt. Man mag das mögen oder nicht: Die Sucht-Selbsthilfe muss Antworten darauf finden, wie sie wesentliche Teile ihres analogen Angebotes digital abbilden kann, und zwar mit möglichst viel Datenschutz: Chats und OnlineGruppen, eine optimale online-Erreichbarkeit und online-Beratung von Betroffenen für Betroffene, von Angehörigen für Angehörige etc. Vielleicht muss es eigene online-Plattformen und Messanger-Apps der Sucht-Selbsthilfe geben. Online-Sucht-Selbsthilfegruppen werden face-to-face-Angebote niemals verdrängen können. Sie werden und müssen aber selbstverständlich werden und die Selbsthilfe-Landschaft wesentlich ergänzen und verändern. 2.9 Das Kreuz mit der Professionalisierung Seit einigen Jahren loten Sucht-Selbsthilfe und professionelle Suchthilfe ihr Miteinander aus. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Nur eines kommt mir dabei häufig quer: „Wir arbeiten auf Augenhöhe zusammen!“. Mit wessen ‚Augenhöhe‘ wird da geguckt? Verstellt die ‚Augenhöhe‘ nicht eher den Blick auf den Unterschied, auf das Andere der Selbsthilfe? Solches kann die professionelle Suchthilfe weder quantitativ noch qualitativ jemals leisten. Wer es nötig findet, von Augenhöhe zu sprechen, der hat sie nicht oder kann/will sie nicht zulassen. Wertschätzung der Selbsthilfe zeigt sich darin, dass das Unverwechselbare der Selbsthilfe nicht von professioneller Logik und Sprache vereinnahmt wird. Man kann auf Konferenzen und Tagungen fast darauf warten: Irgendjemand aus der Selbsthilfe steht auf und erklärt: Man möge doch nicht von „professioneller Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe“ sprechen, denn: „Wir, die Selbsthilfe, sind auch Profis, nicht nur die anderen!“ Nach welchen Decken streckt die Selbsthilfe sich hier? Es ist eine Decke, die von einem fragwürdigen medizinischen Professionalisierungsdenken immer höher gelegt wird und für das Selbstverständnis der Selbsthilfe mehr Belastung als Entlastung bringt. Solche Einwände aus den Reihen der Sucht-Selbsthilfe schaden der Identitätsfindung der Sucht-Selbsthilfe. Der professionellen Sozialarbeit Seite 7 von 10

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in der Suchthilfe leistet die Sucht-Selbsthilfe mit solchen Forderungen einen Bärendienst, denn es ist die Soziale Arbeit in der Suchthilfe, deren professionelle Position gegenüber den tonangebenden Professionen wie Ärzten, Therapeuten und Psychologen gestärkt werden muss. Wir sollten es wagen, gemeinsam über „Entprofessionalisierung in der Suchthilfe“ nachzudenken4. Denn es gibt in der Sucht-Selbsthilfe eine ‚schleichende Professionalisierung‘. Diese Tendenz wirkt sich immer zersetzender aus. Ich nenne nur das Beispiel Finanzen: Buchhaltung, Mitgliedsbeiträge, Spenden, Raumkosten, Fördermittelanträge, Verwendungsnachweise etc. Dazu höre ich: „Wir brauchen Entlastung. Wir sind zu viel mit Papierkram beschäftigt!“ Richtig – es gibt zu viel Papierkram! Wie wird die Selbsthilfe diesen Zeitgeist „Professionalisierung“ wieder los oder könnte sie ihn neutralisieren? Ich habe dazu im Moment keine Antwort. 2.10 Förder-Schätze Das Ansehen gesundheitlicher Selbsthilfe steigt enorm: Entgegen dem Mitglieder- und Gruppen-Schwund verbandlicher gesundheitlicher Selbsthilfe quellen die Schatztruhen über: Die Krankenkassen förderten die gesundheitliche Selbsthilfe mit 27,5 Millionen Euro im Jahr 2006; im Jahr 2016 waren es dann 71,2 Millionen: eine Steigerung von rd. 159 Prozent; allein von 2015 zu 2016 stieg die Förderung von 45 Millionen auf 71,2 Millionen – also innerhalb eines Jahres um rd. 58 Prozent!5 Grundlage hierfür ist das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung6. Diese Steigerung in so kurzer Zeit auszuschütten und diese Summen auszugeben, allein das war schon eine Meisterleistung. Ist das Geld nun Fluch oder Segen? Dazu kamen mir drei Sätze in den Sinn: Einmal von Andre Gide7: „Das Furchtbare ist, dass man sich nie genügend betrinken kann." Zum anderen: Geld verdirbt den Charakter! – auch den einer SelbsthilfeGruppe?8 4

Gronemeyer, R.; Jurk, Ch.: Entprofessionalisieren wir uns! Ein kritisches Wörterbuch über die Sprache in Pflege und Sozialer Arbeit. 04/2017. 5 NAKOS-Zahlen 6 Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) 7 französischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger (1947)

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Und in Anlehnung an ein biblisches Wort: Der Mensch lebt nicht vom Geld allein – erst recht nicht die Menschen in einer Sucht-Selbsthilfegruppe! 2.11 Gruppen-Wert-Schätzung Mit welchen Schätzen geht die Sucht-Selbsthilfe schwanger? Im Grunde wissen Sie das alles aus eigener Erfahrung:  Die Gruppe ist Erzählgemeinschaft – erzählt wird das eigene Leben, wie es ‚kontrolliert abstinierend‘ vorangeht, wie es sich entwickelt, mit Höhen und Tiefen, auch mit Rückschlägen.  Keine Erzählgemeinschaft ohne Discretio, ohne Verschwiegenheit! Verschwiegenheit – sie ist ein Segen und hat ihre eigene heilsame Wirkung: Sie lässt Vertrauen wachsen – in Beziehungen, in Menschen, in das Leben!  Gruppen sind geschützte Räume für neue Lernerfahrungen. Zu den entscheidenden Wirkfaktoren für die eigene Genesung – neben Partnerschaft und Arbeit – gehören: Das Gefühl von Übereinstimmung mit sich selbst (Kohärenz: verstehen, handhaben, sinn-stiften) und von Zugehörigkeit zu anderen.  Oft höre ich: Ich möchte zurückgeben, weitergeben, was ich geschenkt bekommen habe: Wertschätzung meiner Person und ermutigende, motivierende Beziehungen zu den Menschen in der Gruppe – kurz: ein neues, ein lebenswertes Leben!  Was ist das anderes als DANKBARKEIT! gegenüber dem Leben?!  Einer sagte mir einmal: Ich freue mich auf die Gruppe, weil ich dann an den „Frischlingen“ sehen kann, was ich geschafft habe. Auch das ist eine legitime Motivation!  Nicht für alle, aber doch für viele wird die Gruppe zur WahlFamilie – und ein Verband wird zu einer Art ‚geliebte, bucklige Verwandtschaft’.  Einer Gruppe vorzustehen, beschert der Leitung weder ein Königreich noch begründet es eine Hierarchie, eine ‚heilige Herrschaft‘. Eine Gruppe leiten heißt ‚dienen im Auftrag der Gruppe‘: 8

Förderung von Selbsthilfegruppen, -organisationen und –kontaktstellen: § 20h des SGB V; ab 2018: 1,10 € pro Versicherten = ca. 79,5 Mio. €.

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moderieren, zusammenführen, erinnern und anregen, begleiten, schlichten und ermutigen9  Wie wäre es, wenn die Gruppenleitung jährlich wechselt? und die Gesprächsführung wöchentlich? Ich denke, es täte Gruppen gut, sie würden ‚mehr Demokratie‘ wagen. Mit diesen Schätzen und Möglichkeiten geht die Selbsthilfe schwanger und sie entfaltet mit ihnen ihre Selbstheilungskräfte. Sie darf damit gelassen in die Zukunft schauen! Wenn wir alle schwanger gehen, die Politik, die Professionellen und die Selbsthilfe – welche Gesundung, welches Leben wird dabei herauskommen? Wenn uns gemeinsam, der Politik, der professionellen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe, die Unterscheidung der Geister gelingt und wir alle bereit sind, loszulassen und uns zu verändern, dann müssen wir uns keine Sorgen um die Frage machen, ob es morgen und übermorgen noch Sucht-Selbsthilfegruppen geben wird. Der Politik möchte ich sagen: Sorgt für Lebensverhältnisse, in denen eine gesündere Lebensführung zur leichteren Entscheidung wird. Den Professionellen möchte ich sagen: Die Königsdisziplin im Suchthilfe-System ist die Sucht-Selbsthilfe, quantitativ (von den Zahlen, von der Menge her10) und qualitativ (also: Eigenschaft11). Das hat Konsequenzen und muss das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Selbsthilfe-Unterstützern verändern. Um das Schlusswort bitte ich Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328), der im vierzehnten Jahrhundert lebte. Diesen Satz aus einer seiner Predigten möchte ich der Sucht-Selbsthilfe, insbesondere den Gruppen, aber sicher auch weiterhin mir selbst mit auf den Weg geben. Eckhart sagte:

Ich war in der Hölle! Das einzige, was da brennt, ist das, was ihr nicht loslassen wollt.

Danke! 9

„Heilige Herrschaft“ im Sinne: die Ordnung unseres Miteinander- und Gruppe-Seins tut uns gut, hilft, unterstützt, heilt uns, bringt uns in unserer Entwicklung voran – als Einzelne und als Gruppe. 10 erreichte Personen: Betroffene und Angehörige etc., ehrenamtliche Stundenzahl, Unentgeltlichkeit, Angebotsvielfalt, Erreichbarkeit etc. 11 Erfolgszahlen, Stabilisierungszahlen

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