Kind s / Sucht Familie Dokumentation

des Fachtages zu Kindesschutz im Kontext von „fetalem Alkoholsyndrom“ und „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ am 05. Oktober 2010 in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz

Veranstalter & Projektkoordination: Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG) Büro für Suchtprävention

MINISTERIUM FÜR SOZIALES, ARBEIT, GESUNDHEIT UND DEMOGRAFIE

INHALT 1.

Der Tagungsort • 3 Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz

2.

Kindesschutz im Kontext von „fetalem Alkoholsyndrom“ und „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ • 4 Eine Einführung ins Thema

3.

Die Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG) • 5

4.

Presseinformation der LZG zum Fachtag • 7

5.

Grußworte • 9 Jupp Arldt, Geschäftsführer der Landeszentrale für Gesundheits­ förderung in Rheinland-Pfalz e.V. • 9 Ingo Brennberger, Landesdrogenbeauftragter Rheinland-Pfalz, Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie • 12

6.

Familie und Sucht • 15 Auswirkungen der elterlichen Suchterkrankung auf die Kinder Dipl.-Relpäd. Brigitte Münzel, Fachstelle für Suchtprävention, SKM e.V. Köln

7.

Was bedeutet „Schutz des Kindeswohls“? • 19 Dipl.-Sozarb. Hagen Maldfeld, Sachgebietsleiter des Sozialen Dienstes des Jugendamtes Main-Kinzig-Kreis Hessen

8.

Was ist FAS bzw. FASD und wie wirkt es sich aus? • 25 Dipl.-Psych. Jessica Wagner, Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Virchow Klinikum Charité Berlin

9.

Workshop 1: • 30 Das Landeskinderschutzgesetz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ Gesetzliche Rahmenbedingungen und die Aufgaben der „insoweit erfahrenen Fachkraft“, Dipl.-Pädagogin Sandra Menk, Servicestelle Kindesschutz, Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz, Servicestelle Kindesschutz



10. Workshop 2: • 35 Wie kann die Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen? Diskussion von Fällen aus der Praxis. Dipl.-Relpäd. Brigitte Münzel, Fachstelle für Suchtprävention, SKM e.V. Köln Dipl.-Sozarb. Hagen Maldfeld, Sachgebietsleiter des Sozialen Dienstes des Jugendamtes Main-Kinzig-Kreis Hessen 11. Workshop 3: FASD – wo sind diese Kinder? • 38 Wie stellt sich der Alltag von FASD-Kindern dar und wie sieht sinnvolle Förderung durch das Umfeld aus? Dipl.-Psych. Jessica Wagner, Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Virchow Klinikum Charité Berlin

Inhaltsverzeichnis

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12.

Referentinnen und Referenten • 41

13. Tagungsflyer • 42 14. Impressum • 44

Ein herzlicher Dank geht an die Organisation FASworld, die den Fachtag mit einem Informationsstand zu den Auswirkungen des fetalen Alkoholsyndroms begleitet hat. Weitere Informationen unter www.fasworld.de.

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Der TAGUNGSORT Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz Die Akademie der Wissenschaften und der Literatur wurde 1949 in Worms gegründet – die Initiative ging von in den Westen gezogenen Angehörigen der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Preußischen Akademie der Künste aus. Heute ist die Akademie eine Vereinigung von Wissenschaftlern und Literaten, die ihre Aufgabe in der Pflege der Wissenschaften und der Literatur sieht und auf diese Weise für die Bewahrung und Förderung der Kultur wirkt. Die Akademie gliedert sich in drei Klassen: die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, die geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse und die Klasse der Literatur. Jede Klasse hat 30 ordentliche und bis zu 50 korrespondierende Mitglieder. Wie alle deutschen Akademien der Wissenschaften ist auch die Akademie in Mainz zum einen eine interdisziplinäre und die Landesgrenzen überschreitende Gelehrte Gesellschaft, zum anderen Trägerin von Forschungsvorhaben der verschiedenen Richtungen und Veranstalterin wissenschaftlicher Tagungen und Symposien. Der Schwerpunkt der Akademiearbeit liegt auf dem Gebiet langfristiger Grundlagenforschung – zum Beispiel in den Bereichen der Medizin und Biologie, der Geowissenschaften, Finanzpolitik, Klimaforschung, Geistes- und Sozialwissenschaften. Die an der Akademie Tätigen betreuen zurzeit 75 Forschungsvorhaben in elf Bundesländern. Die vom Land Rheinland-Pfalz gewährte Grundausstattung und die gemeinsame Forschungsförderung der Akademievorhaben durch Bund und Länder erreichen zusammen mit Drittmitteln bei mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Jahresetat von rund 13 Millionen Euro. Mit der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat die Akademie eine neue Initiative ergriffen: Jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhalten mit den Colloquia Academica die Möglichkeit, sich in Vortrag und Diskussion einer fachkompetenten Öffentlichkeit vorzustellen. Mit der Vergabe von Stipendien und Nachwuchspreisen bietet die Akademie jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zudem finanzielle Unterstützung und ideelle Anerkennung. Mehr Informationen finden Sie im Internet unter www.adwmainz.de.

1. Tagungsort

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2.

Kindesschutz im Kontext von „fetalem Alkoholsyndrom“ und „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ Eine Einführung ins Thema Die Erkrankungen ihrer Eltern haben für Kinder aus suchtbelasteten Familien vielfältige Auswirkungen auf ihre Lebenssituation. Häufig ist diese von Spannungsfeldern und Konflikten geprägt. In besonderem Ausmaß sind die Auswirkungen, wenn schwangere oder stillende Frauen Alkohol konsumieren und ihre Kinder dann mit dem „fetalen Alkoholsyndrom“ leben müssen – nach wie vor die häufigste nicht-genetische Behinderung in Deutschland. Generell kann Suchtmittelkonsum der Eltern dazu führen, dass die Kinder spezifische Verhaltensrollen wie beispielsweise die des „Maskottchens“ oder des „verlorenen Kindes“ entwickeln. So versuchen sie, einen Weg zu finden, mit der Situation und der Atmosphäre im Elternhaus umgehen zu können. Es bedarf spezieller fachlicher Kompetenzen und Sensibilität, um auf Kinder aus suchtbelasteten Familien adäquat eingehen zu können. Es gilt, hier Maßnahmen zur Unterstützung im Rahmen der Früherkennung zu entwickeln und ebenso effektiv umzusetzen. Das Büro für Suchtprävention der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. hat seit einigen Jahren einen thematischen Schwerpunkt auf den Bereich „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ gelegt. Neben der fachlichen Teilnahme an dem Arbeitskreis „Hilfen für Kinder aus suchtbelasteten Familien in Rheinland-Pfalz“ werden Kindergruppenangebote im Land unterstützt. Außerdem ist das suchtpräventive Multiplikatorenprogramm „Kind s/Sucht Familie“ entwickelt worden. Aktuell sind knapp fünfzig Multiplikatoren nach dem Curriculum ausgebildet worden. Diese setzen, meist in Tandems, Fortbildungsangebote für Fachkräfte, die sich im beruflichen Kontext mit Kindern aus suchtbelasteten Familien konfrontiert sehen, um. Weitere Bundesländer wie Berlin, Hessen oder Niedersachsen, haben „Kind s/ Sucht Familie“ ebenfalls in die Suchtprävention integriert. Im Rahmen der Kampagne „Mach Dir nix vor!“ zur Prävention des Alkoholmissbrauchs befasst sich ein Baustein mit dem Thema „alkoholfrei schwanger“ bzw. „alkoholfrei stillen“. Schirmherrin dieser Kampagne ist Ministerin Malu Dreyer. Ziel dieses Bausteins ist, Schwangere und Stillende zu motivieren, in dieser Zeit auf den Konsum von Alkohol zu verzichten und somit ihre Kinder zu schützen.

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Die Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG) Die Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG) wurde 1973 gegründet und ist ein gemeinnütziger, politisch und konfessionell unabhängiger Verein. 88 Organisationen und Verbände aus dem Bereich Gesundheit und Bildung sowie Wirtschaftsunternehmen und Einzelpersonen zählen zu ihren Mitgliedern. Das Land Rheinland-Pfalz unterstützt die Arbeit der LZG und fördert sie wesentlich aus Mitteln des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie. Hinzu kommen Projektgelder anderer Zuwendungsgeber, Mitgliedsbeiträge und Spenden. Grundlage der Arbeit der LZG ist ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis, wie es auch die Weltgesundheitsorganisation WHO vertritt. Danach sind körperliche, seelische, soziale und umweltbedingte Einflüsse bei der Entwicklung von Krankheit und Gesundheit gleichermaßen zu berücksichtigen. Aus dieser ganzheitlichen Sicht hat die LZG ein Gesundheitskonzept entwickelt. Gesundheitsförderung und Prävention stehen hier im Mittelpunkt und richten sich an Menschen aller Altersgruppen und in unterschiedlichen Lebensbereichen. Die Förderung gesunder Lebensweisen gilt als ebenso wichtig wie die Gestaltung gesunder Arbeits- und Lebensräume. Da der Gesundheitssektor zunehmend komplexer wird, muss sich Gesundheitsförderung zur Gemeinschaftsaufgabe entwickeln. Als zentrale gesundheitsfördernde Einrichtung vernetzt die LZG Gesundheitsprojekte, gibt fachliche Unterstützung und schult Fachkräfte. Sie ermöglicht unterschiedlichen Trägern und Einrichtungen eine organisationsübergreifende Zusammenarbeit. Dadurch bietet sich die Chance, vom vielfältigen „Know-how“ der Partnerinnen und Partner zu profitieren und finanzielle und personelle Ressourcen zu bündeln.

2. Kindesschutz im Kontext von „fetalem Alkoholsyndrom“ und „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ 3. Die Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG)

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Inhaltlich gliedert sich die Arbeit der LZG in drei Fachreferate: • Gesundheitsförderung für Familie und junge Menschen • Gesundheitsförderung für Senioren und Erwachsene • Büro für Suchtprävention Zu den Aufgaben des Büros für Suchtprävention gehört: • Die Entwicklung von Seminaren und Fachtagungen • Umsetzung von Modellprojekten • Bereitstellung / Entwicklung von Arbeitsmaterialien • Fachberatung • Evaluation / Dokumentation • Koordination Suchtprävention erstreckt sich dabei auf folgende Handlungsfelder: Kindertagesstätten, Jugendarbeit, Heime, Schulen, Betriebe und Koordination der Regionalen Arbeitskreise Suchtvorbeugung. Aktuelle Informationen über die Tätigkeiten der LZG erhalten Sie unter: www.lzg-rlp.de Informationen zum Büro für Suchtprävention der LZG erteilt: Nina Roth, Referatsleitung Telefon: 06131 2069-42 E-Mail: [email protected]

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4.

PRESSEINFORMATION DER LZG ZUM FACHTAG Presseinformation

Das Kindeswohl steht im Vordergrund

Fachtag der LZG zum Thema Kindesschutz bei Sucht in der Familie und Alkoholkonsum in der Schwangerschaft Auf großes Interesse stieß ein Fachtag der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG), der sich dem Schutz des Kindeswohls im Kontext von elterlicher Sucht und Alkoholkonsum in Schwangerschaft und Stillzeit widmete. Bei 170 Personen musste die Teilnahmeliste geschlossen werden, viele weitere Anmeldungen konnten aus Platzgründen nicht angenommen werden. Vertreterinnen und Vertreter aus Suchtkrankenhilfe und Jugendhilfe, aber auch Hebammen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jobcentern informierten sich einen Tag lang in Vorträgen und Workshops über ein Thema von großer individueller und gesellschaftlicher Tragweite. Der Fachtag machte deutlich, dass eine Suchterkrankung nicht nur die Süchtigen selbst betrifft, sondern immer auch deren Umfeld. Gerade Kinder aus suchtbelasteten Familien werden durch die Erkrankung ihrer Eltern Situationen ausgesetzt, die risikoreich für ihre Entwicklung sind und die Entstehung einer eigenen Sucht begünstigen. Deutschlandweit leben über zweieinhalb Millionen Kinder unter 18 Jahren mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil. Hinzu kommen etwa 50.000 Kinder mit drogenabhängigen Eltern. Die Zahlen von Kindern aus Familien mit stoffungebundenen Süchten wie der Glücksspielsucht oder Essstörungen oder weiteren stoffgebundenen Süchten wie Medikamentenabhängigkeit sind kaum bekannt. Man kann davon ausgehen, dass in Deutschland mindestens jedes siebte Kind von einer elterlichen Suchterkrankung betroffen ist. „Diese vielen Kinder aus suchtbelasteten Familien gehören zu einer Risikogruppe, der unser besonderes Augenmerk gelten muss. Neben der Gefahr, selbst süchtig zu werden, sind sie anfällig für Ängste, Depressionen und andere psychische Störungen. Sie stellen daher eine wichtige Zielgruppe der Suchtprävention dar“, sagte Ingo Brennberger, Drogenbeauftragter der Landesregierung. „Ebenso erschreckend ist, dass nach vorliegenden Schätzungen etwa jedes 250. Kind mit Schädigungen aufgrund des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft geboren wird“, so Ingo Brennberger weiter. „Auch hier sehen wir die Aufgabe, aufzuklären und wachzurütteln, um Kinder von Anfang an in ihrer gesundheitlichen Entwicklung zu schützen.“ Alkohol ist die häufigste in der Schwangerschaft und Stillzeit konsumierte Substanz, die Fehlbildungen bei Neugeborenen verursacht. Jährlich werden deutschlandweit etwa 10.000 Kinder mit alkoholbedingten Beeinträchtigungen geboren, 2.200 davon weisen massive Schädigungen im Sinne eines „Fetalen Alkoholsyndroms“ (FAS oder FASD) auf. Dennoch verzichtet kaum eine Schwangere grundsätzlich auf den Konsum von Alkohol. Die Expertinnen Brigitte Münzel von der Fachstelle für Suchtprävention beim SKM e.V. Köln und Jessica Wagner, Diplom-Psychologin am „Zentrum für

4. Presseinformation der LZG zum Fachtag

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Menschen mit angeborenen Alkoholschäden“ (Virchow Klinikum Charité Berlin) berichteten in Vorträgen aus ihrer Arbeit. Für Kinder aus suchtbelasteten Familien sind häufig Erzieherinnen in der Kita die ersten Kontaktpersonen außerhalb der Familie, denen von daher ein wichtiger Stellenwert im Bereich der Früherkennung und Frühintervention zukommt, berichtete Brigitte Münzel. Kitas bieten diesen Kindern oft erstmals ein verlässliches Beziehungsangebot und erlauben ihnen, Kind sein zu dürfen und zu erleben, dass es Spiel- und Entfaltungsräume gibt und dass für sie gesorgt wird. Gerade wenn die Zusammenarbeit mit dem suchtbelasteten Elternhaus schwierig ist, hat eine gute Vernetzung der Kita mit anderen Hilfssystemen wie Suchtkrankenhilfe und Jugendamt große Bedeutung. Für Kinder mit alkoholbedingten Schädigungen ist eine frühe Diagnosestellung wichtig, so Jessica Wagner. Das Spektrum der Beeinträchtigungen dieser Kinder reicht von leichten Konzentrationsproblemen bis hin zu starken Schäden in der geistigen und motorischen Entwicklung, Wachstumsstörungen und Gesichtsfehlbildungen. Bei begründetem Verdacht auf eine Alkoholschädigung können Eltern einen Termin zur medizinischen und psychologischen Diagnostik im Berliner FASD-Zentrum vereinbaren und werden hinsichtlich Therapie, Förderung und Beschulung des Kindes beraten. Weitere Referenten der LZG-Fachtagung griffen die Frage auf, was „Schutz des Kindeswohls“ genau bedeute bzw. welche gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür gelten. Wie die Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen kann, wurde anhand von Fällen aus der Praxis diskutiert. „Der Tag hat gezeigt, dass wir nicht müde werden dürfen, Kinder vor den Folgen des Suchtmittelkonsums ihrer Eltern zu schützen“, fasste LZG-Geschäftsführer Jupp Arldt die Veranstaltung zusammen. „Mit unserer Kampagne „Mach dir nix vor“ zur Prävention des Alkoholmissbrauchs, die sich gerade unter dem Motto „alkoholfrei schwanger“ den werdenden und stillenden Müttern zuwendet und für den Verzicht auf Alkohol in dieser Lebensphase wirbt, sind wir auf dem richtigen Weg.“ V.i.S.d.P. Jupp Arldt, Geschäftsführer LZG

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GRUSSWORTE Jupp Arldt Geschäftsführer der Landeszentrale für Gesundheits­förderung in Rheinland-Pfalz e.V.

5.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie ganz herzlich hier in den Räumlichkeiten der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz zu der Veranstaltung „Kind s/Sucht Familie“ – unserem Fachtag zu Kindesschutz im Kontext von „fetalem Alkoholsyndrom“ und „Kinder aus suchtbelasteten Familien“. Suchtprävention ist bekanntlich besonders effektiv, wenn Sie als Gemeinschaftaufgabe gestaltet wird. Daher freut es mich, zur heutigen Fachtagung Vertreterinnen und Vertreter nicht nur aus der Suchtkrankenhilfe, sondern vor allem auch aus dem Bereich der Jugendhilfe, aber auch aus weiteren Berufssparten wie beispielsweise der der Hebammen oder Arge-Mitarbeitende begrüßen zu können. Die hohe Zahl der Anmeldungen (wir mussten leider einen Anmeldestopp verhängen, damit die Workshops am Nachmittag umsetzbar bleiben) zeigt, wie aktuell die Thematiken „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ und „fetales Alkoholsyndrom“, kurz FASD, sind und welchen Stellenwert der Austausch und die Kooperationen gerade im Hinblick auf den Schutz der Kinder für sie haben. Ich bedanke mich bei dem Landesdrogenbeauftragten Herrn Ingo Brennberger aus dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen in Rheinland-Pfalz (Anmerk. der Red.: seit 18.05.2011 „Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie). Das Ministerium unterstützt in vielen Bereichen der Gesundheitsförderung und Prävention die Arbeit der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. Insbesondere im Bereich der Suchtprävention wären die innovativen Entwicklungen und Projekte ohne die finanzielle, aber auch politische Unterstützung, auch im Bereich „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ und den Maßnahmen zur Vermeidung des fetalen Alkoholsyndroms im Rahmen der Kampagne „Mach Dir nix vor!“, nicht denkbar. Ich richte hiermit Grüße von Frau Birgit Aurin, der Vorsitzenden des Hebammenlandesverbandes Rheinland-Pfalz aus. Sie musste sich leider kurzfristig entschuldigen lassen, wünscht aber allen Teilnehmenden einen gelingenden Fachtag. Gemeinsam mit Frau Aurin haben wir einige Maßnahmen im Rahmen der Kampagne „Mach Dir nix vor!“ im Bereich „alkoholfrei schwanger!“ entwickeln und umsetzen können. So zum Beispiel zuletzt ein Fortbildungsangebot für Gynäkologinnen bzw. Gynäkologen und Hebammen. Weiterhin begrüße ich Frau Brigitte Münzel von der Fachstelle für Suchtprävention des SKM Köln. In der Kooperation mit dem Büro für Suchtprävention der LZG ist das Curriculum zur Fachkräfte-Multiplikatorenschulung im Themengebiet „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ in Rheinland-Pfalz entstanden, welches nicht nur in Rheinland-Pfalz, sondern inzwischen auch in einigen

5. Grußworte, Jupp Arldt, Geschäftsführer der Landeszentrale für Gesundheits­förderung in Rheinland-Pfalz e.V.

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weiteren Bundesländern wie beispielsweise Berlin oder Hessen erfolgreich umgesetzt wird. Frau Münzel wird auch am heutigen Tag durch den Vortrag „Familie und Sucht“ und in einem Workshop am Nachmittag ihre Sachkenntnis und Erfahrung zur Verfügung stellen. Außerdem begrüße ich aus dem Tätigkeitsgebiet der Jugendhilfe Herrn Hagen Maldfeld, Sachgebietsleitung des Sozialen Dienstes des Jugendamtes des Main-Kinzig-Kreises in Hessen. Wie Sie dem Programm entnehmen können, wird er Ihnen grundlegende Informationen zum „Schutz des Kindeswohls“ und den damit verbundenen Maßnahmen vermitteln. Hier wird bereits die notwenige Zusammenarbeit zwischen den Hilfesystemen spürbar.

Den dritten Vortrag am Vormittag zum Thema „Was ist das fetale Alkoholsyndrom und wie wirkt es sich aus?“ referiert Frau Jessica Wagner vom Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden der Charité Berlin, die ich hiermit ebenfalls herzlich willkommen heiße. Ich begrüße auch Frau Sandra Menk vom der Servicestelle Kindesschutz des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung in Rheinland-Pfalz, die am Nachmittag das Landeskinderschutzgesetz und die Funktion der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ darstellen und diskutieren wird. Meine Damen und Herren, Eine Suchterkrankung betrifft nicht nur die konsumierende Person selbst, sondern immer auch deren Umfeld. Gerade die Kinder aus suchtbelasteten Familien sind durch die Erkrankung ihrer Eltern besonderen Situationen ausgesetzt, die risikoreich für ihre Entwicklung bis hin zur Ausbildung einer eigenen Sucht sein können. Deutschlandweit leben über zweieinhalb Millionen Kinder unter 18 Jahren mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil. Hinzu kommen etwa 50.000 Kinder mit drogenabhängigen Eltern. Die Zahlen von Kindern aus Familien mit stoffungebundenen Süchten wie der Glücksspielsucht oder Essstörungen oder weiteren stoffgebundenen Süchten wie Medikamentenabhängigkeit sind kaum bekannt.

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Man kann demnach in etwa davon ausgehen, dass in Deutschland mindestens jedes siebte Kind von einer elterlichen Suchterkrankung betroffen ist. Kinder aus diesen suchtbelasteten Familien gehören zu einer großen Risikogruppe, selbst süchtig zu werden oder Ängste, Depressionen und andere psychische Störungen auszubilden. Sie stellen daher eine der wichtigsten Zielgruppe der Suchtprävention dar. Das Büro für Suchtprävention der LZG hat nun seit einigen Jahren unter anderem die Thematik der „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ als Schwerpunkt gesetzt. Inzwischen ist es gelungen, diesen Bereich der Suchtprävention flächendeckend in das Land Rheinland-Pfalz zu tragen. Neben fachgerechten Materialien, die entwickelt und produziert wurden, sind in vielen Regionen Netzwerke für „Kinder aus suchtbelasteten Familien“ entstanden. Etwa jedes 250. Kind wird mit Schädigungen aufgrund des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft geboren. Alkohol ist die häufigste in der Schwangerschaft und Stillzeit konsumierte Substanz, die Fehlbildungen bei Neugeborenen verursacht. Das bedeutet, dass so jährlich etwa 10.000 Kinder mit Beeinträchtigungen geboren werden. 2.200 davon weisen massive Schädigungen (fetales Alkoholsyndrom, kurz FAS oder FASD), 4.500 partielle Schädigungen auf. Obwohl es die häufigste Form der nichtgenetischen Behinderung darstellt, verzichtet kaum eine Schwangere grundsätzlich auf den Konsum von Alkohol. Aktuell hat die Kampagne „Mach Dir nix vor“ zur Prävention des Alkoholmissbrauchs den zweiten Baustein zum Thema Punktnüchternheit aufgegriffen: „alkoholfrei schwanger“. Der Ansatz der Punktnüchternheit geht in der Diskussion um den vermeintlich „richtigen“ Umgang mit Alkohol davon aus, dass es Situationen und Lebensbereiche gibt, in denen der Konsum von Alkohol nicht passt und setzt auf einen eigenverantwortlichen Konsumverzicht in folgenden Situationen: • als Kind bzw. Jugendlicher • in der Schwangerschaft und Stillzeit • im Straßenverkehr • am Arbeitsplatz • in Verbindung mit Medikamentenkonsum Schirmherrin Gesundheitsministerin Malu Dreyer unterstützt die Kampagne „Mach Dir nix vor!“, aktuell den Baustein „alkoholfrei schwanger“ – mit einer Pressemitteilung anlässlich des Tages des alkoholgeschädigten Kindes. Unterstützt wird „Mach Dir nix vor!“ durch die AOK - Die Gesundheitskasse Rheinland-Pfalz, den TÜV-Rheinland, Lotto Rheinland-Pfalz und den Landessportbund Rheinland-Pfalz. Die Kampagne wird von Ogilvy Frankfurt entworfen und begleitet. Zielsetzung von „alkoholfrei schwanger“ ist, die Motivation von schwangeren und stillenden Frauen zu stärken, in dieser Zeit auf den Konsum von Alkohol zu verzichten! Wie ist nun in diesen Kontexten das Wohl der Kinder sinnvoll zu schützen? Mit dieser Frage setzt sich der Fachtag „Kind s/Sucht Familie“ auseinander. Ich freue mich auf einen informativen Austausch, an dem die notwendigen Rahmenbedingungen und praxisrelevanten Möglichkeiten dargestellt und diskutiert werden und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

5. Grußworte, Jupp Arldt, Geschäftsführer der Landeszentrale für Gesundheits­förderung in Rheinland-Pfalz e.V.

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GRUSSWORT Ingo Brennberger Landesdrogenbeauftragter Rheinland-Pfalz, Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Sehr geehrter Herr Arldt, sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte gleich zu Beginn meines kurzen Grußwortes den Kolleginnen und Kollegen der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V., insbesondere des Büros für Suchtprävention dafür danken, dass Sie in bewährter Weise einen weiteren Fachtag zu einem wichtigen Thema durchführen. Es geht um die Kinder suchtkranker Menschen und es geht um Kinder – aber auch Erwachsene – die lebenslang durch ein fetales Alkoholsyndrom beeinträchtigt sind.

Das Thema drängt aktuell verstärkt in die Öffentlichkeit. Zum Beispiel im Kontext der heute zeitgleich stattfindenden Jahrestagung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Mechthild Dyckmans. Aber auch in Fachpublikationen, z. B. der Zeitschrift „Sucht“ gewinnt das Thema Schwangerschaft und Sucht an Aufmerksamkeit. In der Suchtpolitik des Landes Rheinland-Pfalz wurde die schwierige Lebenssituation der Kinder von Suchtkranken bereits Mitte der 90-er Jahre aufgegriffen. Mit dem vom Ministerrat 1995 beschlossenen Aktionsprogramm „Kinderfreundliches Rheinland-Pfalz – Politik für und mit Kindern“ war auch die Entwicklung neuer Hilfekonzepte für Kinder aus Suchtfamilien verbunden. Durch zwei Modellprojekte, die von 1996 bis 2002 stattfanden, wurden neue Hilfeangebote und Zugangswege – zum Beispiel über die Kitas – erprobt. Seitdem wurden eine Vielzahl von Fachveranstaltungen und Fortbildungen durchgeführt sowie entsprechende Arbeitshilfen – z.B. das Manual zur Gruppenarbeit mit Kindern aus suchtbelasteten Familien – herausgegeben. Dadurch ist in den

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vergangenen Jahren eine zunehmende Sensibilisierung der Fachkräfte in den verschiedenen Feldern pädagogischer Arbeit erfolgt und eine spezifische Kompetenz gewachsen. Spektakuläre Einzelfälle haben außerdem bewirkt, dass sich die Jugendhilfe verstärkt mit der Problematik auseinandersetzen musste. Das Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit, das 2008 in Kraft getreten ist, und die Anregungen des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung zum Aufbau lokaler Netzwerke bieten weitere wichtige Grundlagen für die vorbeugende Arbeit zum Schutze der Kinder. Es ist selbstverständlich, dass das Thema Schwangerschaft und Alkohol auch eine bedeutende Rolle spielt bei der von Ministerin Malu Dreyer initiierten und von der LZG seit Anfang 2009 umgesetzten Kampagne „Mach Dir nix vor!“, die den Alkoholmissbrauch in unterschiedlichen Lebenssituationen bewusst macht. Die vielfältigen in Rheinland-Pfalz umgesetzten Maßnahmen werden im Rahmen des Fachtags sicher noch zur Sprache kommen. Ich kann mir hier weitere Ausführungen ersparen. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass RLP, was das Thema Kinder Suchtkranker betrifft, gut aufgestellt ist. Das ist insbesondere das Verdienst der Akteurinnen und Akteure vor Ort. Für Ihr großes und kontinuierliches Engagement danke ich Ihnen im Namen der Landesregierung gerne und ausdrücklich. Allerdings, und auch das scheint mir eine Tatsache zu sein, ist noch einiges zu tun. Die Träger und Fachkräfte der Suchtkrankenhilfe wissen, dass das ambulante Suchthilfesystem in RLP in einem hohen Maße in Anspruch genommen wird. Bei fast unverändertem Personalschlüssel – eine Verstärkung erfolgte zuletzt durch das Landesprogramm gegen die Spielsucht – werden in den Beratungsstellen jährlich rund 15.000 Menschen beraten und begleitet. Die vielen einmaligen Kontakte sind dabei nicht mitgezählt. Und das Aufgabenspektrum wächst, denken Sie nur an die nicht substanzbezogenen Probleme und Störungen. Wie können weitere Aufgaben – wie z. B. die Arbeit mit und für Kinder Suchtkranker –übernommen und fachlich verantwortlich, dass heißt für mich auch ohne lange Wartezeiten, bewältigt werden? Sehr geehrte Damen und Herren, wenn man sich den Pro-Kopf-Konsum an alkoholischen Getränken ansieht, muss man fast den Eindruck gewinnen, dass der Europäische Kontinent in Alkohol eingelegt ist. Alkohol ist gut verfügbar und durchdringt alle Lebensbereiche. Fast jede bzw. jeder von uns kennt im privaten oder beruflichen Bereich Menschen mit einem Suchtmittelmissbrauch. Die damit ausgelösten Probleme sind vielfältig und – das liegt auf der Hand – sie können nicht allein durch die Suchtkrankenhilfe, noch viel weniger allein durch die Suchtberatungsstellen gelöst werden. Aus meiner Sicht sollten sich Suchtberatungsstellen jedoch als regionale Kompetenzzentren für Suchtfragen profilieren. Das macht es zugleich erforderlich, in Abstimmung mit den regionalen Akteuren Schwerpunkte zu setzen. In der Rahmenleistungsbeschreibung der Suchtberatungsstellen der seit dem 1.1.2010 geltenden neuen Verwaltungsvorschrift zur „Förderung sozialer Beratungsstellen“ wird klar zum Ausdruck gebracht: „Die Suchtberatungsstellen

5. Grußwort, Ingo Brennberger, Landesdrogenbeauftragter Rheinland-Pfalz, Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie

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sind in der Region zentrale Anlauf- und Koordinierungsstellen für alle Fragen zum Themenbereich Sucht und Abhängigkeit.“ Deshalb wird in der Rahmenleistungsbeschreibung der Netzwerkarbeit besonders der Kooperation mit den Jugend- und Sozialämtern sowie den ARGEn auch ein hoher Stellenwert eingeräumt. Die zwischen der LIGA und dem Ministerium abgestimmte Rahmenleistungsvereinbarung lässt zukünftige Entwicklungen erkennen. Fachlich begründete Suchtkrankenhilfe muss nicht alles selbst machen, sie braucht jedoch verlässliche Partnerinnen und Partner, sie braucht verbindliche Kooperationen. Viele potentielle Kooperationspartnerinnen und -partner sind heute hier. Der Fachtag bietet eine sehr gute Gelegenheit zum weiteren Austausch darüber, wie die Zusammenarbeit verbessert werden kann. Es geht darum, im Sinne eines weiter verbesserten Hilfeangebots für Kinder suchtkranker Menschen zu arbeiten. Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern, dass Sie im Fachreferat immer ein offenes Ohr finden werden. Ich danke der LZG, namentlich ihrem Geschäftsführer Herrn Jupp Arldt, für die belastbare und zuverlässige Zusammenarbeit. Ich freue mich natürlich, dass das heutige Tagungsthema ein so großes Interesse findet und sehe darin eine Bestätigung unserer gemeinsamen Arbeit. Ich überbringe Ihnen gerne die guten Wünsche von Ministerin Malu Dreyer für den heutigen Fachtag. Sie wünscht der Tagung einen guten Verlauf und Ihnen allen gute Gespräche. Vielen Dank.

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Familie und Sucht – Auswirkungen der elterlichen Suchterkrankung auf die Kinder Dipl.-Relpäd. Brigitte Münzel Fachstelle für Suchtprävention, SKM e.V. Köln Brigitte Münzel leitet die Fachstelle für Suchtprävention des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM) e.V. in Köln. Ihr Arbeitsschwerpunkt sind suchtbelastete Familien. Anhand eines Fallbeispiels zeigt Brigitte Münzel, dass das tägliche Bild der Hilfeleistung für von Sucht betroffene Familien und Kinder in der Realität immer noch durch zu wenig Austausch zwischen den Fachkräften bestimmt wird. Sie appelliert an die Kooperation aller Beteiligten zugunsten der Kinder und Jugendlichen in von elterlichen Suchterkrankungen betroffenen Familien. Münzel beschreibt Kinder und Jugendliche belasteter Familien als Hauptrisikogruppe und verweist darauf, dass Sucht an sich eine mehr-generationale Erkrankung ist. Daher sei es umso wichtiger, betroffene Kinder und Jugendliche „aufzuspüren“, sie zu finden, um ihnen möglichst frühzeitig Hilfe in ihrer Lebenssituation anbieten zu können. Als Momentaufnahme aus ihrer Arbeit berichtet Münzel von einem ihrer Fälle: In einer Beratungsstunde hatte sich das Kind der erkrankten Eltern in eine Ecke zurückgezogen. Dort spielte es nun alleine mit Puppen. Später fanden Mitarbeiterinnen die Puppen mit zugeklebten Mündern unter einer Decke. Dieser exemplarische Fall mache laut Münzel das Erleben eines Kindes einer suchtkranken Familie deutlich. Keine Worte finden zu können für das, worüber ohnehin Schweigen herrschen solle, damit niemand Außenstehendes etwas merke sei typisch für ein Kind in der Situation. In der Regel hätten Helfende mit einer Abwehr zu tun, die diese Familie umgebe. Der Familie gehe es stets darum, das Bestehende zu erhalten und in dieser Form zusammen zu bleiben. Für Fachkräfte sei es in dieser Lage eine große Herausforderung, hilfreiche Lösungen bzw. Interventionen zu finden. Wichtig sei es daher zunächst, erst einmal Kontakt zu der Familie aufzubauen.



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6. Familie und Sucht – Auswirkungen der elterlichen Suchterkrankung auf die Kinder

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Um die Komplexität der Hilfeleistung für das „System Familie“ verdeutlichen zu können, beschreibt Brigitte Münzel einen Fall und bittet anschließend Personen aus dem Publikum als „Mitspieler“ auf die Bühne, die sie exemplarisch als Familien- und Helfersystem aufstellt. Die Teilnehmenden übernehmen jeweils eine der beschriebenen Rollen und versuchen, sich in ihre Rollen einzufühlen. Auf diese Weise soll gezeigt werden, welche Möglichkeiten sich für die Beteiligten erschließen können, wenn sie ihre Perspektive wechseln. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie das Bildungs- und Familiensystem in suchtbelasteten Familien überhaupt aussieht und wo eventuelle Anknüpfstellen vorhanden sein können.

Der von Münzel beschriebene Fall: • ein suchtkranker substituierter Vater • seine Frau: traurig, überfordert, depressiv • Zwei Kinder: ein siebenjähriger Junge und ein dreijähriges Mädchen Der Siebenjährige geht in die Grundschule und sagt über sich selbst: „Mir geht es gut, ich komme in der Schule klar. Morgens bringe ich meine kleine Schwester in den Kindergarten. Mit anderen spielen finde ich doof, ich gehe lieber nach Hause und sehe nach, ob eingekauft ist, ich mache das Essen.“ Die Dreijährige ist gerade in den Kindergarten gekommen. Sie ist sehr schweigsam, schließt wenig Kontakt zu anderen Kindern, ist zurückgezogen. Im Hilfesystem um die Familie herum werden drei Personen vorgestellt: • die Erzieherin im Kindergarten: Sie macht sich Sorgen um das Mädchen, da auch sie schwer in Kontakt zu der Kleinen kommt. Sie nimmt wahr, dass sich der Bruder um das Kind kümmert. Zu den Eltern besteht nur wenig Kontakt. Dem Kind geht es dem Eindruck der Erzieherin nach offenbar nicht gut. Sie hat Vermutungen, seltsame Gefühle, die aber für sie noch nicht greifbar sind.

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• die Mitarbeiterin vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD / Jugendamt): Sie ärgert sich, nachdem sie mehrfach versucht hat, Zugang zu der Familie zu erhalten. Stets erhält sie die Antwort: „Uns geht es gut, alles ist in Ordnung.“ Das macht sie hilflos und in der Folge wütend. • die Drogenberaterin des substituierten Vaters: Sie ist eigentlich ganz zufrieden mit dem Vater, der in geregelter Substitution ist und regelmäßig zur Beratung erscheint. Sie weiß, dass er noch ein halbes Jahr vorher im Gefängnis gesessen hatte und nun wieder bei seiner Familie ist. Sie empfiehlt, an seinem Beikonsum zu arbeiten und eventuell eine Entgiftung zu machen. Für sie ist der Vater ein „ganz normaler Klient“. Sie hat in seiner Anamnese erfasst, dass er Kinder hat, damit war ihre diesbezügliche Aufgabe erfüllt, zumal sie für den Vater zuständig ist. Münzel fragt die Teilnehmenden und das Publikum, wer Erfahrung mit ähnlichen Konstellationen habe und Vorschläge machen könne, was Helfende tun könnten, um der Familie, insbesondere den Kindern, zu helfen. Es werden in der Diskussion folgende Vorschläge unterbreitet und von Münzel ergänzt: • versuchen, über die Mutter einen unterstützenden Zugang zu finden • einen runden Tisch für alle Helfenden anregen – auch zugunsten der Kinder, denen in der Regel zu viele „Institutionen“ Angst machen. Dazu Infos sammeln, wer überhaupt zum Hilfssystem für die Familie gehört. • Das System ganzheitlich erfassen: u.a. sollte der Drogenberater „näher ans System Familie“ und somit dichter zu den Kindern. Die Aussage des Vaters „Ich habe zwei Kinder“ als Appell begreifen. • versuchen, etwas für die Kinder zu tun, ohne vorauszusetzen, dass auf der Elternebene eine große Veränderung erreicht wird. Auch wenn noch kein Arbeitskontrakt, kein Arbeitsbündnis zu den Eltern möglich ist, so sollte die Zeit genutzt werden, um auf der Kinderebene aktiv zu werden. • Klassenlehrerin bzw. Klassenlehrer einbeziehen, fragen, wie sich der Junge in der Schule verhält. • Die Erzieherin könne – zusammen mit der Leiterin des Kindergartens – ein Gespräch mit den Eltern initiieren. Da die Erzieherin sich vermutlich stark mit dem Kind identifiziert, ist es wichtig, dass das Gespräch auch gegenüber den Eltern wertschätzenden Charakter hat. • Die Fallmanagerin bzw. den Fallmanager der Jobcenter am runden Tisch integrieren mit der Bitte um Unterstützung durch Informationen. Achtung: Datenschutz u. Schweigepflicht beachten: Dies geht nicht ohne Einbeziehung der Eltern! Was deutlich werde, so Münzel, sei die Notwendigkeit, die Rollen der beteiligten Institutionen sehr klar zu definieren, um nicht in Konkurrenz zueinander zu kommen. Das Hilfesystem dürfe sich nicht darüber streiten, was wie und wann geklärt werden müsse.



Münzel plädierte für mehr Aufmerksamkeit aller Beteiligten für die Kinder:

Die Rolle n und Funktion en der K inder müssen in den F okus gerückt werden. Denn Kinder in Familien schwach mit en Eltern figuren sind „kle ine Erwachs ene“.



6. Familie und Sucht – Auswirkungen der elterlichen Suchterkrankung auf die Kinder

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Im Fallbeispiel trage das Kind von sieben Jahren die Verantwortung und habe die „Größe“ eines Erwachsenen. Einkaufen, um das kleine Geschwisterkind kümmern, die Eltern entlasten – das seien Aufgaben, die den Jungen und die Rolle sehr stark machten. Dieses Kind wolle nicht von Pädagoginnen und Pädagogen angeboten bekommen, sich ausruhen, Kind sein zu dürfen. Es habe eine Rolle, in der es selbst bestimme und nicht gewohnt sei, dass ein Erwachsener ihm sage: „Hier am Tisch sitzen und essen, dann Hände waschen, danach Hausaufgaben!“ Wenn Helfende das Kind aus der Situation entlasteten, fehle ihm erst einmal seine Rolle, nämlich die des Familienhelden, des Starken in der Familie. Um einer möglichen Kindeswohlgefährdung vorzubeugen, müsse man stets versuchen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um dann unterschiedliche Blickwinkel einnehmen zu können. Diese seien notwendig, um die unterschiedlichen komplizierten familiären Systeme erfassen und ihnen spezifisch helfen zu können.

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Was bedeutet „Schutz des Kindeswohls“? Dipl.-Sozarb. Hagen Maldfeld

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Sachgebietsleiter des Sozialen Dienstes des Jugendamtes Main-Kinzig-Kreis Hessen

Hagen Maldfeld gibt in seinem Beitrag einen umfassenden Überblick über die Definitionsansätze der Begrifflichkeiten Kindeswohl, Schutz des Kindeswohls und Kindeswohlgefährdung. Er zeigt auf, wie kompliziert und herausfordernd die diagnostische Auseinandersetzung mit den Inhalten von Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung in der täglichen Arbeit als Soziapädagogin und Sozialpädagoge im Sozialen Dienst sein kann. Maldfeld nähert sich dem Begriff Kindeswohlgefährdung in zwei Betrachtungsweisen: rechtlich sowie sozialpädagogisch, psychosozial. Seine Einschätzung entwickelte er aus der Zusammenarbeit und den Erfahrungen verschiedener Professionen und Institutionen wie dem Deutschen Kinderschutzbund und dem Deutschen Jugendinstitut. Seit Einführung des Kinderschutzdienstes des Sozialen Dienstes des Jugendamtes des Main-Kinzig-Kreises Hessen im Jahr 2003 ist Hagen Maldfeld dort tätig. Maldfeld betont, dass es keine einheitlichen Standards dafür gebe, wie mit Kindeswohlgefährdung und auch der Diagnose Kindeswohlgefährdung umzugehen sei. Er hält das Thema Kindeswohlgefährdung für „komplex, sensibel und hoch-emotional“. Die Gefährdung von Kindeswohl wurde im Laufe der Zeit immer wieder anders ausgelegt: Etwa die Frage, inwieweit die Anwendung von körperlicher Gewalt durch Eltern akzeptiert wird, wurde früher sehr verschieden zu heute beantwortet und war die letzten Jahre sehr strittig. Heute wird wiederkehrende oder erhebliche körperliche Gewalt durch Eltern oder Sorgeberechtigte eindeutig als Kindeswohlgefährdung angesehen.

7. Was bedeutet „Schutz des Kindeswohls“?

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Maldfeld zitiert dazu aus einem Artikel der Berliner Zeitung aus dem Jahr 2005: Auf einer Parteiveranstaltung hatte ein Generalstaatsanwalt die umstrittene Äußerung getätigt, er wolle sich in der Familienerziehung „den Klaps nicht verbieten lassen“. Daraufhin war er angezeigt und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden. Das Verfahren war jedoch eingestellt worden mit der Begründung, der Generalstaatsanwalt habe nur seine private Haltung kundgetan und nicht zu Straftaten aufgefordert. Maldfeld kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in der Rechtsprechung unterschieden werde zwischen Kind und Erwachsenem. „Die Aussage ‚ich darf mein eigenes Kind schlagen’ führt erstmal zu nichts.“ In der Jugendhilfe sei es ein häufiges Erleben, dass es selbst bei heftigsten Misshandlungsfällen oft zu keiner strafrechtlichen Verfolgung komme. Gesetze und Rechtsprechung konstatierten zwar, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung hätten, nicht aber, dass Gewalt in der Erziehung verboten sei. Auch die Einschätzung von „Gewalt“ sei letztendlich subjektiv: „Wenn ich Eltern frage, ob sie Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, ist immer Kopfschütteln da: nein, niemals – nur ab und zu ein Klaps.“ Wikipedia: „Mit Kindeswohl wird ein Rechtsgut aus dem deutschen Familienrecht be­ zeichnet, welches das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen als auch seine gesunde Entwicklung umfasst. In den meisten westlichen Ländern darf der Staat nur in begründeten Ausnahmefällen in das Erzie­ hungsrecht der Eltern eingreifen. Die Gefährdung des Kindeswohls dient der Rechtsprechung als Maßstab für einen Eingriff in das Erziehungsrecht der Sorgeberechtigten. Diese Gefährdung als unbestimmter Rechtsbegriff bedarf der Auslegung durch die Rechtsprechung. Im Kern geht es um die erhebliche seelische oder körperliche Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen, sei es durch die Vernachlässigung des Minderjährigen oder durch das schädliche Verhalten der Sorgeberechtigten oder Dritter gegenüber dem Minderjährigen. (...)“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Kindeswohl, Zugriff am 05.10.2010) Deutsches Jugendinstitut: „Der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist nicht scharf definiert, sondern er fordert immer eine Einzelfall bezogene Einschätzung. Die Beschränkung oder der Entzug der elterlichen Sorge und des staatlichen Eingriffs in die Familie sollte allerdings nur bei einer Gefahr für das Kindeswohl in Frage kommen, und auch dann, wenn dieser Gefahr nicht durch andere Weise – durch öffent­ liche Hilfen – begegnet werden kann. (DJI: Handbuch Kindeswohlgefährdung, München 2006) Bundesgerichtshof: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner Rechtsprechung den Begriff der Kindeswohlgefährdung in seiner Rechtsprechung konkretisiert und versteht darunter „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“ (DJI: Handbuch Kindeswohlgefährdung, München 2006)

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Der Begriff Kindeswohl findet sich zudem auch nicht in unserem Grundgesetz, sondern im Bürgerlichen Gesetzbuch und auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), im Sozialgesetzbuch, die Grundlage allen jugendamtlichen Handelns ist. Er ist ein so genannter „unbestimmter Rechtsbegriff“, der fachlich von sozialpädagogischen, psychologischen und soziologischen Fachkräften inhaltlich gefüllt wird. Vom Grundsatz her ist damit verbunden, dass einem Kind zunächst einmal Sozialisationsbedingungen für eine körperlich, geistig und seelisch gesunde Entwicklung zur Verfügung stehen sollen. Auch der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im Einzelfall definiert werden muss. Grundlage sind die im Grundgesetz der BRD verankerten Grundrechte, die für alle Menschen gelten, also auch für Kinder und Jugendliche, hier im Dreiecksverhältnis Kind – Staat – Eltern. Von Kindeswohlgefährdung kann dann gesprochen werden, wenn keine ausreichenden Bedingungen für das seelische, geistige oder körperliche Wohl zur Verfügung stehen und die Entwicklung eines Kindes gefährdet oder schon geschädigt ist. Als wesentliche Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdung unterscheidet Maldfeld im Vortrag die Vernachlässigung und die Misshandlung: • körperliche und / oder seelische Vernachlässigung • die seelische Misshandlung • die körperliche Misshandlung • die sexuelle Misshandlung • Gewalt und Missbrauch • weitere Differenzierungen, wie etwa das Miterleben häuslicher Gewalt • die Versagung entscheidender existenzieller Entwicklungschancen, z.B. Schulbesuch (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, Infoservice Vollzeitpflege LJA Bran­ denburg) Nach Blum-Maurice et al. (2000) ist Kindesmisshandlung „eine nicht zufällige, gewaltsame, physische und/oder psychische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch Eltern, Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt.“ (Deegner, Körner: Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, Göttingen 2005) Vernachlässigung wird definiert als andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns Sorge-verantwortlicher Personen, denen es an „Erziehungskompetenz“ mangele: „Die dadurch bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nicht-Berücksichtigung, Missachtung oder Versagen seiner Lebensbedürfnisse, hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, seelische und geistige Entwicklung und kann dann auch wieder zu gravierenden bleibenden Schäden oder im schlimmsten Fall sogar zum Tode des Kindes führen.“ (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, Infoservice Vollzeitpflege LJA Bran­ denburg) Maldfeld verweist darauf, dass das Jugendamt an sich nicht berechtigt sei, in Sorgerechte einzugreifen, sondern vielmehr die Aufgabe habe, die Ergebnisse einer sozialpädagogischen oder psychosozialen Diagnostik für Juristen und Familiengerichte verständlich zu formulieren.

7. Was bedeutet „Schutz des Kindeswohls“?

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Grundsätzliche Aufgabenstellung der Kinder- und Jugendhilfe sei das Elternrecht laut dem Grundgesetz, Absatz 2, Satz 1: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Dieses gebe den Eltern das Recht auf die Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Den Eltern werde zwar Freiheit hinsichtlich ihres Erziehungsstils eingeräumt, jedoch dürfe das Elternrecht nicht beliebig ausgelegt werden. Das Kind solle zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft erzogen werden.

Gleichzeitig stelle Art. 6 die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung und die Kindererziehung in der leiblichen Familie unter verfassungsrechtlichen Schutz. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, „dass in aller Regel Eltern das Wohl ihres Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“. Das Elterngrundrecht unterscheide sich durch seinen Pflichtgehalt zum Schutz des Kindes massiv von anderen Grundrechten. Das Wächteramt des Staates nach Artikel 6, Absatz 2, GG – „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ – greife erst ein, wenn Eltern in dieser Weise versagen. Die Exekutive der staatlichen Gemeinschaft werde hierbei insbesondere durch die Jugendämter und die Judikative durch die Familiengerichte repräsentiert. Die Verfassung gebe zwei Aspekte der Betrachtung des Kindeswohls vor: einerseits die positive Förderung, andererseits den Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl. Die positive Förderung und der Schutz des Kindes vor Gefahren für sein Wohl obliege damit zunächst einmal nur den Eltern. Das staatliche Wächteramt diene also der Abwehr des Missbrauchs, der Staat habe aber zunächst nicht für eine bessere Qualität der Erziehung zu sorgen. Merkmale und Kriterien für Kindeswohlgefährdung bei Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch: • Rücksichtsloses, verantwortungsloses, gewaltsames Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern. • Handlungen und Unterlassungen von Eltern, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl von Nutzlosigkeit vermitteln und sie in ihrer seelischen und körperlichen Entwicklung beeinträchtigen. • Das Kind erlebt sich als machtlos, hilflos und wertlos. Es erleidet Kontrollverluste, verliert sein Ur-Vertrauen und seine Fähigkeit zu sicheren Bindungen. • Das Kind erleidet Regressionen, seelische Schäden, die Entwicklung des Kindes zur persönlichen Autonomie wird unterbrochen. Die Vernachlässigung stelle bei der Entdeckung von Gefährdung des Kindeswohls den gravierendsten Teil dar. Dabei gehe es meistens um soziale, materielle, psychische und kommunikative Probleme, die zusammen kommen.

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Maldfeld nennt „Basisfürsorgekriterien“, die nirgends offiziell benannt seien, jedoch fachübergreifend so angenommen werden könnten: • elementare Bedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen, ein Wach-Ruhe-Rhythmus, Zärtlichkeit, Körperkontakt. • Schutzbedürfnis: Schutz vor Gefahren, vor Krankheiten, vor materiellen Unsicherheiten. • das Bedürfnis nach Verständnis und sozialer Bindung: Dialog und Verständnis, verbal oder non-verbal, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Zugehörigkeit zu einer Familie. • das Bedürfnis nach Wertschätzung: die bedingungslose Anerkennung als seelisch und körperlich wertvoller Mensch. Seelische Zärtlichkeit, Unterstützung der aktiven Liebesfähigkeit, Anerkennung als autonomes Wesen. • das Bedürfnis nach Anregung, Spiel und Leistung: Förderung der natürlichen Neugierde, Anregung und Anforderung, Unterstützen beim Erleben und Erforschen der Umwelt. • das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung: Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensängsten, Entwicklung eines Selbstkonzeptes, Unterstützung bei der eigenständigen Durchsetzung von Bedürfnissen und Zielen – bis hin zur Bewusstseinsentwicklung. Die Bedürfnisse könne man sich auch in Form einer Bedürfnis-Pyramide vorstellen: demnach müssen zuerst die Basis-Bedürfnisse befriedigt sein, bevor sich auf der nächsten Bedürfnis-Stufe überhaupt ein Interesse entwickeln könne. Die Pyramide beginne mit den ganz einfachen, basalen, physiologischen Bedürfnissen und ende mit der Selbstverwirklichung. Die Folgen der Vernachlässigung seien umso gravierender, umso niedriger die versagten Bedürfnisse angesiedelt sind. Wenn diese Bedürfnisse auf der Strecke bleiben, entwickeln die Kinder körperliche Symptome, wie etwa Untergewicht, Allergien bis hin zu psychosozialen Schäden wie Depressionen, Aggressivität, Ängsten und kognitiven Fehlentwicklungen, wie Sprachproblemen, Wahrnehmungsstörungen, Konzentra­ tionsschwierigkeiten usw. „Selbst wenn Sie bei den Familien vor Ort sind und Beziehungsstörungen beobachten können, die zu Verhaltensauffälligkeiten des Kindes führen, kommen Sie nicht unbedingt an eine Einsichtsfähigkeit der Eltern.“ Bei der Abgrenzung und der Definition von seelischer Misshandlung, Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch gebe es noch große Unsicherheiten, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung. Dies habe zur Folge, dass die Jugendämter, die sozialen Dienste, die einzelnen Mitarbeitenden häufig vor Gericht in Beweisnot kämen und die Gerichte in der Folge dann häufig nicht geeignete Maßnahmen zum Schutz der Kinder einleiten könnten. Deshalb ist es immens wichtig als Sozialarbeiter, der zu der Einschätzung gelangt ist, dass es sich um eine Kindeswohlgefährdung handelt, diese auch entsprechend ans Familiengericht zu formulieren, so dass dieses tätig werden kann.

7. Was bedeutet „Schutz des Kindeswohls“?

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Jugendhilfe und Gesetz Maldfeld führt aus, dass sich die maßgeblichen Normierungen unserer Verfassung seit 1949 nicht mehr geändert hätten. Lediglich die einfach-gesetzlichen Regelungen hatten im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) entscheidende Änderungen durchgemacht. Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922, das als erstes den Bereich der Jugendhilfe für das gesamte Deutsche Reich regelte, sei diese eher noch eine Art Polizei und ordnungsrechtliche Eingriffsverwaltung gewesen. Das im Jahr 1961 ergangene Jugendwohlfahrtsgesetz habe sich in seiner Grundstruktur vom Reichsjugendwohlfahrtsgesetz kaum unterschieden und war ebenfalls weiterhin geprägt von Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen. Man hätte zunächst kaum präventive oder unterstützende Maßnahmen für die Familien vorgesehen. Bis zum Inkrafttreten des KJHG’s im Jahr 1991 im Sozialgesetzbuch VIII, nach dem heute alle Jugendämter standardisiert arbeiten, habe insbesondere der Schutz der Kinder vor Verwahrlosung im Mittelpunkt gestanden. Die Jugendhilfe habe sich damals in erster Linie noch als eine Art Eingriffsverwaltung verstanden. Durch die Einführung des KJHG’s habe es einen Paradigmenwechsel gegeben, wobei dieser Wechsel der Paradigmen bis heute immer noch anhalte: Vom Eingriff sei man eher zu Leistung und Hilfe gekommen. Es wurde ein präventives Angebot zur Förderung der Erziehung in der Familie entwickelt. Demnach sei ein Jugendamt zunächst reiner Dienstleister, der einen Hilfebedarf feststelle. Nur mithilfe unterschiedlicher Erfassungsmethoden könne man zu einer Feststellung gelangen, um was es eigentlich gehe. Jedes Jugendamt habe seine eigene Methode, wie etwa einen Erfassungsbogen, auf dem physiologische und psychologische Grundbedürfnisse als Kriterien angelegt werden. merat o l Beim Erkennen und Einschätzen von Kindeswohlg n Ko nd m u e d n gefährdung in der Jugendhilfe anhand von bee s i Au Kriter e n i stimmten Indikatoren und Risikofaktoren geht e S l e n i von v n versuche r/-in es um die Gratwanderung zwischen Elternrecht e eite b r a und Kindeswohl und zwischen Unterstützung Faktor l a Sozi einer s l u z a und Eingriff. t n s an en





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Stets müsse die Jugendhilfe einen Spagat zwischen Leistung und Eingriff erfüllen. Die Tätigkeit des Jugendamtes bewege sich zwischen der Unterstützung der Eltern bei Versorgung und Erziehung der Kinder und der Entlastung, die Kinder und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen.

Eine umfassende Verantwortung könne natürlich nicht vorbehaltlos übernommen werden. Zudem müsse unterschieden werden zwischen den allgemeinen Zielvorstellungen und dem konkreten Verantwortungsprofil. Das bedeutet, bei jedem Fall von gemeldeter Kindeswohlgefährdung müsse die zuständige Mitarbeiterin bzw. der zuständige Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder neu beurteilen, ob 1.) durch Leistung der Jugendhilfe eine „dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung“ gewährleistet werden könne und 2.) ob der möglichen Gefährdung eines Kindes nicht mehr anders begegnet werden könne als durch die Inobhutnahme, d.h. die Herausnahme aus der Familie.

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Was ist FAS bzw. FASD und wie wirkt es sich aus?

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Dipl.-Psych. Jessica Wagner Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Virchow Klinikum Charité Berlin

Jessica Wagner erläutert die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft auf das ungeborene Kind. Mit dem so genannten „Fetalen Alkohol-Syndrom“ (FAS bzw. FASD) beschäftigt sich Wagner bereits seit mehreren Jahren in diversen Arbeitsfeldern. Nach ihrer Diplomarbeit war sie in einer Kinderrehaklinik tätig – dort gehörten fetale Alkoholstörungen zur Indikation. Im Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden des Virchow-Klinikums der Charité Berlin arbeitet Wagner zusammen mit dem Leiter des Zentrums, Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Spohr, langjähriger Spezialist für FASD. Das Zentrum diagnostiziert rund 150 – 200 Fälle an FASD erkrankten Kinder pro Jahr. Wagner erläutert in ihrem Beitrag ausführlich, warum FASD immer noch „ein chronisch unterdiagnostiziertes Syndrom“ ist und mit welchen Auswirkungen Betroffene leben müssen. FASD – ein kurzer historischer Abriss zur Definition • Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) wurde 1973 von Jones und Smith in der Zeitschrift Lancet anhand der Gemeinsamkeiten von elf Kindern alkoholkranker Frauen beschrieben: Alle zeigten eine Wachstumsretardation, Untergewicht, einen Mikrozephalus (kleiner Kopf; Anm. der Red.), motorische und kognitive Beeinträchtigungen und charakteristische Gesichtsmerkmale sowie teilweise auch körperliche/organische Auffälligkeiten. • Zuvor war es bereits von Lemoineet al. (1968) in einer französischen Zeitschrift beschrieben worden. • Erst mit Smith, Jones, Ulleland und Streissguth (1973) wurden erstmals diagnostische Kriterien benannt: prä-und postnatale Wachstumsretardierung, spezifisches Muster von Gesichtsdysmorphien, neurokognitive Defizite, bestätigter Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft • Bald darauf wurde das Syndrom weltweit bei Kindern diagnostiziert, deren Mütter in der Schwangerschaft chronisch Alkohol konsumiert hatten. • 1974 untersuchten Jones et al. 26 Kinder von 23 chronisch alkoholabhängigen Müttern; die postnatale Sterblichkeit betrug 17%, von den überlebenden Kindern hatten 32% FAS. • Rosett beschrieb 1980 die 3 Hauptkriterien: prä- und/oder postnatale Wachstumsretardierung, Dysfunktion des Zentralen Nervensystems und ein typisches kraniofaziales Erscheinungsbild (u.a. Fehlbildungen des Kopfes und Mittelgesichtsbereiches; Anm. d. Red.). Laut Wagner seien Prävention und Intervention Aufgaben, die alle angingen. Sich an der Diagnose, Prävention und Intervention beteiligen könnten laut Wagner: Kinderärztinnen und -ärzte, Gynäkologinnen und Gynäkologen, Hebammen, Allgemeinärztinnen und -ärzte, Fachärztinnen und -ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte, Ergotherapeutinnen und -therapeuten, Logopädeninnen und Logopäden, Psychologeninnen und Psychologen, Psychiaterinnen und Psychiater, Mitarbeitende der Jugendämter

8. Was ist FAS bzw. FASD und wie wirkt es sich aus?

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und Jobcenter, Polizistinnen und Polizisten, Politikerinnen und Politiker, Juristinnen und Juristen ... Zwar sei das Syndrom in den letzten Jahren etwas mehr in die Öffentlichkeit gerückt – wie etwa durch mediale Beiträge oder auch den Tag des alkoholgeschädigten Kindes (9. September) –, doch sei es erstaunlich, dass es so lange gedauert habe, bis man das Syndrom überhaupt habe beschreiben und diagnostische Kriterien benennen können. Wagner verweist darauf, dass FASD immerhin die häufigste nicht genetische Ursache für geistige Retardation sei. Doch lange Zeit herrschte Skepsis, ob Alkohol tatsächlich ursächlich für das Syndrom sein könnte. Andere bzw. zusätzlich mögliche Effekte durch Nikotinkonsum, schlechte Ernährung, schlechte soziale Verhältnisse, Stress wurden vermutet. Tierexperimentelle Untersuchungen und klinische Langzeituntersuchungen belegten dann die fortbestehende toxische Wirkung des Alkohols auf den sich entwickelnden Feten. Körperliche Auswirkungen von FASD • das am häufigsten und dauerhaftesten geschädigte Organ ist das Gehirn • Hirnschäden sind überwiegend massiv und nicht reversibel • damit einhergehend: eine Vielzahl von Beeinträchtigungen, wie etwa eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten, Teilleistungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Probleme bzgl. der Handlungs- und Lernfähigkeit, des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit... • Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen (höhere kognitive Funktionen) Die Diagnose von FASD: Schwierigkeiten und Differenzierungen Zwar gebe es eindeutige Erkennungsmerkmale von FASD – wie das kraniofaziale Erscheinungsbild (typische Gesichtsauffälligkeiten) mit kleiner Nase, schmaler Oberlippe, kleinen Augen, kleinem Kopf, und abgeflachtem philtrum (Rinne zwischen Nase und Oberlippe) sowie heruntergesetzten Ohren. Doch sei es zum einen nicht einfach, im Säuglingsalter eine Diagnose zu stellen, erst recht nicht, wenn der Alkoholkonsum nicht von vornherein benannt werden könne. Zum anderen sei bis auf das klassische „full blown“-FAS-Gesicht keine andere physische Anomalie oder kognitive Störung, die bei Kindern mit Alkoholexpositionen beobachtet wird, notwendigerweise spezifisch (d.h. allein verursacht) durch die intrauterine Alkoholexposition (direkt in der Gebärmutter auf das Ungeborene wirkender Alkohol; Anm. d. Red.) – somit sei FASD äußerlich nur schwer erkennbar. Bei der Diagnose zu berücksichtigen sei auch, dass in den verschiedenen Entwicklungsphasen unterschiedliche Merkmale entstünden, wie etwa die Gesichtsauffälligkeiten eher in der ersten Phase. Erschwert werde die eindeutige Diagnose zudem durch eine Reihe von Komorbiditäten (parallelen Erkrankungen; Anm. d. Red.), wie etwa ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens. Heute sei bekannt, dass der Embryo durch die Plazenta mit Alkohol versorgt werde und der Fötus diesen nicht abbauen könne, da Organe und Enzyme noch nicht richtig entwickelt seien, so dass der Alkoholspiegel beim Embryo viel größer sei als bei der schwangeren Frau selbst.

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„In den seltensten Fällen ist sofort etwas zu sehen. Daher fragen wir immer nach Kinderfotos, um uns möglichst verschiedene Altersstrukturen in der Diagnostik anschauen zu können.“ Nachdem „fetale Alkoholeffekte“ (FAE)“ als Bezeichnung für die Auswirkungen „moderaten Alkoholkonsums“ lange ein vager Begriff geblieben sei, hätten dann die Richtlinien der Research Society of Alcoholism (Sokol & Clarren, 1989) und 1996 schließlich die Institute of Medicine (IOM)-Kriterien für mehr Klarheit in der Differenzierung gesorgt. Letztere legen fünf diagnostische Kriterien fest: • FAS mit bestätigtem Alkoholkonsum • FAS ohne bestätigten Alkoholkonsum • partielles FAS • ARBD (alcohol-related birth defects): bestätigter Alkoholkonsum, typische Facies (Gesichtauffälligkeiten), normales Wachstum, normale Entwicklung, jedoch spezifische strukturelle Anomalien (z.B. nicht sofort erkannte Herzfehler) • ARND (alcohol-related neurodevelopmental disorders): bestätigter Alkoholkonsum, normales Wachstum, normale strukturelle Entwicklung, aber ein Muster von typischen Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven bzw. neuropsychologischen Auffälligkeiten „Der Begriff FASD (fetal alcohol spectrum disorders) bezeichnet das Kontinuum bzw. Spektrum von möglichen Auffälligkeiten (Riley & McGee, 2005) und ist eine Sammelbezeichnung für alle möglichen Formen, aber keine diagnostische Kategorie. Der Begriff ist eine Sammelkategorie: Jeder Mensch, der FASD hat, hat auch eine spezifischere Unterform.“ Wichtige Weiterentwicklungen der letzten Jahre zeigten, dass die Präzisierung der Diagnostik voranschreitet. Heute machte auch mehr ein multi-disziplinäres Feld die Diagnostik: Es würden viel mehr Befunde von Ergo- und Sprachtherapeutinnen bzw. –therapeuten, Psychologinnen bzw. Psychologen und Sozialarbeiterinnen bzw. -arbeitern einbezogen. „FASD ist wie ein Eisberg: Die meisten Probleme sind versteckt, die Menschen mit den auf den ersten Blick wahrnehmbaren körperlichen Auffälligkeiten sind mit Sicherheit die kleinste Gruppe!“

8. Was ist FAS bzw. FASD und wie wirkt es sich aus?

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Wagner erklärt die im Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden angewandten „4-Digit-Kriterien“ von Astley (2004): Diese ermöglichten die Erfassung des ganzen Spektrums von Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen, machten klinische und berichtete Fälle nachvollziehbar und stellten ein quantitatives wie auch qualitatives Diagnosesystem dar. Die Methode fragt vier wichtige Aspekte ab: Wachstumsstörungen des Kindes, Gesichtsauffälligkeiten, Schädigung des Zentralen Nervensystems und pränataler Alkoholkonsum. „Es ist wichtig, dass diese Diagnostik nicht nur eine Basis sein sollte, um Defizite festzustellen, sondern auch eine Basis für die Ermöglichung spezifischer Förderung!“ Häufigkeit der FASD-Erkrankung • Internationale Vergleichsstudien schätzen die Neuerkrankungen in Industriestaaten auf 0,5 bis 2 betroffene Neugeborene pro 1000 Geburten (May & Gossage, 2001) • In Deutschland ist daher mit jährlich 600 bis 1.200 Neugeborenen mit FAS zu rechnen • Für FASD ist die Häufigkeit deutlich höher: bei 4 bis 6 pro 1000 Geburten (Sampson, Streissguth, Bookstein, Little, Clarren, Dehaene, 1997) • Insgesamt kommen in Deutschland ca. 3.000 bis 4.000 Neugeborene mit FASD auf die Welt Die Auswirkungen von FASD auf Betroffene Langzeitstudien hätten gezeigt, dass ‚milde‘ Formen von FASD in der Realität nicht oder kaum existierten. Die meisten FASD-Erwachsenen könnten demnach nicht alleine leben und für sich selbst sorgen, hätten psychische und andere Gesundheitsprobleme und nur die wenigsten würden einer Beschäftigung nachgehen. Wagner betonte, dass FASD eine lebenslange Behinderung sei. Die Betroffenen würden oft missverstanden, ihr Verhalten als „nicht wollen“ interpretiert. Eine Diagnose sei oft eine große Erleichterung. Hilfreich sei in jedem Fall die Stärkung der Betroffenen und auch eine Stärkung der Bezugspersonen. Wagner folgert: „Für Menschen mit FASD gibt es keine kausale, keine „richtige“ oder spezifische Therapie.“ FASD – eine Zusammenfassung • FASD ist eine lebenslange Behinderung, die sich nicht ‚auswächst’. • Menschen mit FASD sind chronisch unterdiagnostiziert. • Menschen mit FASD brauchen oft lebenslang eine intensive Betreuung. Diese Hilfen sollten ihnen auch gewährt werden. Gezieltere Förderungen und Hilfen sind wichtig. • Eine Diagnose ist ein wichtiger Schritt für eine optimalere Förderung, aber vor allem für mehr Verständnis. • Es gibt noch zu wenig Möglichkeiten, sich diagnostizieren zu lassen. Prävention ist unerlässlich, denn: FASD ist zu 100 % vermeidbar!

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Wagner fasst zusammen, dass Alkohol in der Schwangerschaft ein sensibles Thema bleibe, über das zu wenig aufgeklärt und nach dem zu wenig nachgefragt werde. Die öffentliche Wahrnehmung sollte gesteigert und Hilfe gezielt angeboten werden, statt Schuld zuzuweisen. Schließlich sei jeder Erfolg ein Erfolg.



Moti va inter view tional ande ing i re s als d Form nac t eine er Sa hzufr Alko agen h o l ? ’ t z : ‚ Tr i n k e E n Sie Mütt ern z s bedeut e u t, de kein n Angr zeigen, d a i ff ge s sond s es gen s ern l ie ist angf Kind ristig de , m hilft.



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Workshop 1: Das Landeskinderschutzgesetz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ – Gesetzliche Rahmenbedingungen und die Aufgaben der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ Dipl.-Pädagogin Sandra Menk

Servicestelle Kindesschutz, Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz, Servicestelle Kindesschutz

Sandra Menk gliedert ihren Workshop in drei wesentliche Punkte: Sie stellt das System der Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz vor, erläutert das Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit sowie den § 8a des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Menk spricht von „vielen Puzzleteilchen, die das Gesamtkonzept ergeben“. Kindeswohl fördern und Kinder schützen könne wesentlich unterstützt werden durch gezielte Information der Eltern und Fachkräfte über bestehende Angebote, die Förderung und Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern sowie über Früherkennungsuntersuchungen und insbesondere über Netzwerkbildung des Hilfesystems selbst und gemeinsame Standards. Menk erarbeitet mit den Teilnehmenden, welche Aufgabe der „insoweit erfahrenen Fachkraft“ dabei zukommt. Das System der Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz Menk erläutert zunächst, welch wichtiger Platz dem Kinder- und Jugendschutz im Grundgesetz (GG) zukommt: Aus den Artikeln 1, 2 und 6 ergeben sich die so genannten „Elternrechte“ und „Elternpflichten“, ihre Kinder zu deren Wohle zu erziehen und zu versorgen. Gleichermaßen geht aus dem GG hervor, dass eine Kindesentnahme durch das Jugendamt stets das „letzte Mittel“ sein sollte. Menk weist darauf hin, dass zuerst die Frage geklärt werden solle, wie Eltern unterstützt werden könnten (vgl. auch Beitrag Hagen Maldfeld). Als weitere wichtige Grundlage für das System der Kinder- und Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz nennt sie das Kinder- und Jugendhilfegesetz und insbesondere den § 1, der das Recht auf Erziehung, die Elternverantwortung und den Auftrag der Jugendhilfe beschreibt. Daraus leitet sich ein Doppelmandat der Kinder- und Jugendhilfe ab, das Förderung, Unterstützung, Beratung, Hilfe und Schutz vereine und folgende Aspekte beinhalte: • Eltern bei der Erziehung beraten und unterstützen • Erziehungstätigkeit der Eltern überwachen • Förderung der Erziehung in der Familie • Erziehungshilfen anbieten • junge Menschen in ihrer Entwicklung fördern • Benachteiligung vermeiden oder abbauen • positive Lebensbedingungen erhalten bzw. schaffen • Kinder vor Gefahren schützen • Gefährdungen für Kinder einschätzen • Inobhutnahme von Kindern

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Das Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit (Landeskinderschutzgesetz): Ziele und Kernelemente Das Landeskinderschutzgesetz stellt Menk als Haus dar, dessen Fundament die Zielgruppe Familie ist, wobei besondere Aufmerksamkeit Familien in benachteiligten Lebenssituationen gelte. Eine Kooperation müsse herbeigeführt werden zwischen den beiden zentralen Bausteinen: Verbesserung des Kindeswohls / Kinderschutz durch Aufbau lokaler Netzwerke und Entwicklung Früher Hilfen (Servicestelle Kindesschutz) und Förderung Kindergesundheit durch gesteigerte Inanspruchnahme der U-Untersuchungen (Vorsorgeuntersuchungen). Das verbindliche Einladungswesen Menk erläutert den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops den Ablauf des verbindlichen Einladungswesens zu den U-Untersuchungen durch das Zentrum für Kinderfürsorge (ZfK). Die einmal im Jahr in stattfindende Untersuchung ist in Rheinland-Pfalz im Gegensatz zu anderen Bundesländern kostenfrei. Bestätigt werde nur die Anwesenheit, medizinische Einzelheiten dürften nur in Gefährdungsfällen an das Jugendamt weitergegeben werden. Die Prüfung des Jugendamtes, ob ein Hilfebedarf nach SGB VIII vorliege, komme erst dann zustande, wenn nach den Maßnahmen des Gesundheitsamtes keine Untersuchung stattfinde oder Anzeichen für Kindeswohlgefährdung erkennbar seien. Menk weist darauf hin, dass eine Nicht-Teilnahme jedoch kein unbedingter Hinweis auf Kindeswohlgefährdung sei. Seit dem Start des Vollbetriebs des Einladungswesens in Rheinland-Pfalz im Juni 2009 gab es positive und negative Erfahrungen und Bewertungen: Stärken bzw. positive Effekte: • Viele Eltern begrüßen es, dass sie an die U`s erinnert werden • Angebot der Früherkennungsuntersuchung wird vermehrt von sozial benachteiligten Familien in Anspruch genommen • U8 und U9 werden vermehrt in Anspruch genommen • deutlich bessere Inanspruchnahme der J1 (12. –14. Lebensjahr) • Untersuchungskosten für nicht krankenversicherte Eltern werden durch das Land übernommen Schwächen bzw. Schwierigkeiten: • „Anlaufschwierigkeiten“ mit dem Verfahren (Eltern vergessen U-Bestätigung) • zahlreiche unnötige Meldungen an die Gesundheitsämter, dadurch hohe Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden • Vergessen Eltern die Untersuchungsbestätigung, kann der Arzt keinen Ersatz ausstellen Die Vorteile lokaler Netzwerke Wichtig seien zudem lokale Netzwerke. Zwar würden die meisten Kinder in Deutschland gesund und gut versorgt aufwachsen, die meisten Eltern ihre elterliche Sorge ernstnehmen und wahrnehmen, doch könne man das Risiko der Vernachlässigung und Misshandlung eindeutig verringern, wenn Netzwerke stärker genutzt würden. Menk führt dazu die Statistiken zu Kindesmisshandlung und -vernachlässigung auf: • bundesweit rund 80 -120 Todesfälle pro Jahr • Im ersten Lebensjahr sterben mehr Kinder in Folge von Vernachlässigung und Misshandlung als in jedem späteren Alter

9. Workshop 1: Das Landeskinderschutzgesetz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ – Gesetzliche Rahmenbedingungen und die Aufgaben der „insoweit erfahrenen Fachkraft“

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• 77% aller misshandlungsbedingter Todesfälle ereignen sich in den ersten 48 Lebensmonaten • Gefahr der Vernachlässigung steigt, je geringer die finanziellen und materiellen Ressourcen der Familien sind • soziale Benachteiligung bedeutet auch schlechtere Gesundheit sowie häufigeres Auftreten von Behinderung (Quelle: Robert-Koch-Institut 2001 und KIGGS-Studie 2007) Quelle: www.fruehehilfen.de Risikofaktoren, die Eltern „aus der Balance“ bringen könnten, seien vor allem schwierige Lebenssituationen, ein Überforderungsgefühl, eine Gewalterfahrung in der eigenen Kindheit und/oder Beziehung, häufige Beziehungsabbrüche, psychische Erkrankungen und/oder Suchterkrankungen, hohe Ansprüche oder auch ein „schwieriges“ Temperament des Kindes. Diese Risikofaktoren führten nicht zwangsläufig zu Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung, sollten jedoch ernst genommen werden. Unterstützt werden könnten Eltern durch unterschiedliche Hilfsangebote, die im Netzwerk transparent angeboten würden, bedarfsgerechte und niedrigschwellige Angebote, die Stärkung ihrer Erziehungs- und Beziehungskompetenzen, Fachkräfte, die „vernetzt“, aber nicht „verstrickt“ seien sowie durch eine wirkungsvolle Umsetzung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung nach §8a SGBVIII. Die Akteure der interdisziplinären Netzwerke Jugendhilfe: Freie Träger der Jugendhilfe, Familienbildung, Kindertagesstätten, Kinderschutzdienste,… Gesundheitshilfe: Gesundheitsamt, Hebammen, Kinderärztinnen und -ärzte, Geburts- und Kinderkliniken, Sozialpädiatrische Zentren, Gynäkologinnen und Gynäkologen, Frühförderung, Psychiatrie,… Beratungsbereich: Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Suchtberatung, Schwangerenberatung, Erziehungsberatung, Frauenberatungsstellen,… Flankierende Partner: Polizei, Frauenhäuser, Sozialämter, Familiengerichte, Agenturen für Arbeit,… Schulen: Leitungen, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und –arbeiter, Schulpsychologinnen und -psychologen,… Jugendamt: Koordinatorinnen und Koordinatoren,... Auch andere Landesgesetze wie das Landesgesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst, das Heilberufsgesetz, das Landeshebammengesetz, das Landeskrankenhausgesetz, das Schulgesetz und das Kindertagesstättengesetz hätten Wahrnehmungs-, Informations-, Hinwirkungs- und Mitwirkungsaufgaben. Dies bedeute, dass es Fachkräften durch die Änderungen in ihren jeweiligen Spezialgesetzen ermöglicht würde, Situationen und Probleme schneller bzw. besser wahrzunehmen, Eltern zu informieren über Hilfsmöglichkeiten, auf Annahme der Hilfsangebote hinzuwirken und schließlich daran mitzuwirken. Dabei sollten die Fachkräfte natürlich nicht die Aufgaben des Jugendamtes übernehmen oder ausfüllen. Menk zeigt den Teilnehmenden ein grundlegendes Modell zum Netzwerkaufbau. Dieses beinhalte eine einmal jährlich stattfindende Netzwerkkonferenz, drei bis fünf Arbeitsgruppen sowie interdisziplinäre Fortbildungen und Informationsveranstaltungen (z.B. über die Themen Datenschutz, Kindeswohlgefährdung, Vorgehen gem. §8a SGB VIII).

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Wesentliche Aufgabe sei es etwa, gemeinsam Themen und Ziele zu generieren, Instrumente, Kommunikationswege und Reaktionswege festzulegen und zu überlegen, wie präventive Angebote gestärkt und Frühe Hilfen ausgebaut werden könnten. Menk berichtet von bereits 33 Netzwerken, die in RheinlandPfalz aktiv seien. Datenschutz und Kinderschutz (§12 LKindSchuG) Ein besonderer Aspekt des Kinderschutzgesetzes sei der Datenschutz. In jedem Fall habe jedoch das Kindeswohl oberste Priorität: Lägen Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls vor und reichten die eigenen fachlichen Mittel zur Abwehr der Gefährdung nicht aus, solle zunächst auf die Inanspruchnahme weitergehender Hilfen durch die Eltern hingewirkt werden. Sei dann keine Bereitschaft oder Möglichkeit der Eltern zur Mitarbeit gegeben, hätten die Fachkräfte die Befugnis, dem Jugendamt ihre Erkenntnisse mitzuteilen. Die Eltern müssten in jedem Fall aber informiert werden über die Informationsweitergabe an das Jugendamt. Die Ausnahme sei im §12 „Schweige- und Geheimhaltungspflichten, Befugnis zur Unterrichtung des Jugendamts“ des Landeskinderschutzgesetzes (LKindSchuG) geregelt. Die gesetzliche Grundlage für den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ Menk stellt mit der Workshop-Gruppe zusammen, welche Aufgaben die Beteiligten auf der Grundlage des §8a des KJHG / SGB VIII erfüllen müssten. So müsse das Jugendamt mit Eltern, Fachkräften und Kindern die Gefährdung einschätzen (vgl. Abs.1 des §8a des KJHG), den Eltern Hilfen anbieten (vgl. Abs.1), Vereinbarungen mit Freien Trägern abschließen (vgl. Abs.2), das Familiengericht einschalten, wenn Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, die Gefährdung einzuschätzen (vgl. Abs.3) sowie das Kind gegebenenfalls in Obhut nehmen (vgl. Abs.3). Die Fachkräfte / Freie Träger müssten demnach Vereinbarungen mit dem Jugendamt abschließen (vgl. Abs.2), den Schutzauftrag wahrnehmen (vgl. Abs.2), bei Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen

9. Workshop 1: Das Landeskinderschutzgesetz und die „insoweit erfahrene Fachkraft“ – Gesetzliche Rahmenbedingungen und die Aufgaben der „insoweit erfahrenen Fachkraft“

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und auf Hilfen hinwirken bzw. das Jugendamt informieren (vgl. Abs.2). Die Eltern selbst seien verpflichtet, bei der Einschätzung der Gefährdung mitzuwirken sowie Hilfen annehmen (vgl. Abs.1). Der insoweit erfahrenen Fachkraft komme die Aufgabe der Begleitung der Gefährdungseinschätzung beim Freien Träger zu (vgl. Abs.2). Die „insoweit erfahrene Fachkraft“ (InSoFa) Menk fasst zusammen, wer als „InSoFa“ gelte und welche Aufgaben der „InSoFa“ zukämen: Grundsätzlich gälten Fachkräfte in den Jugendämtern/Allgemeinen Sozialen Diensten vielerorts bereits als „insoweit erfahrene Fachkräfte“ im Kinderschutz. Für die Qualifikation seien eine mehrjährige Berufserfahrung und eine Zusatzqualifikation zur Gefährdungseinschätzung bzw. Fortbildung zur Kinderschutzfachkraft wichtig. Die „InSoFa“ müsse die Fachkräfte der Freien Träger bei der Risikoeinschätzung beraten und begleiten sowie einen Schutzplan mit dem anfragenden Team erstellen und auf Elterngespräche vorbereiten. Zu beachten sei, dass der Gesetzgeber die „insoweit erfahrene Fachkraft“ zwar als neuen Akteur eingeführt, aber für diese keine fachlichen Handlungsleitlinien oder Vorbilder definiert habe. Die „InSoFa“ müsse genau erfassen können, was das Kind benötige, was es bekomme, und Risikofaktoren, aber auch Ressourcen beobachten und dokumentieren können. Problemakzeptanz und Problemkongruenz, also die Frage, was die Eltern leisten könnten und welche Hilfen angemessen seien, müssten detailliert erfasst werden. Die „insoweit erfahrene Fachkraft“… … wird auf Anfrage tätig … muss Ruhe bewahren! … ist neben fachlichen und rechtlichen Aspekten auch kompetent in Sachen Gesprächsführung … sollte bei den Fachkräften bekannt und gut vernetzt, aber nicht verstrickt sein! … informiert sich im Team, sortiert und wertet aus ... erarbeitet mit dem Team einen Schutzplan … bereitet Elterngespräche vor (Ziel ist immer: Eltern ins Boot holen) … dokumentiert den Beratungsprozess … behält im Blick, dass eine Krise im Familiensystem zumeist auch eine Krise im Helfersystem ist (Gefühle und Identifikation) … sollte nicht in den eigenen Reihen beraten und begleiten! … ermittelt keine Sachverhalte! … trägt keine Fallverantwortung!

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Workshop 2: Wie kann die Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen? Diskussion von Fällen aus der Praxis.

Dipl.-Relpäd. Brigitte Münzel Fachstelle für Suchtprävention, SKM e.V. Köln Dipl.-Sozarb. Hagen Maldfeld Sachgebietsleiter des Sozialen Dienstes des Jugendamtes Main-Kinzig-Kreis Hessen Anhand zweier Fallbeispiele versuchen Workshopleiterin Brigitte Münzel und Workshopleiter Hagen Maldfeld mit den Teilnehmenden herauszuarbeiten, auf welche Weise Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen kann. Zunächst wird diskutiert, wie eine Gefährdung des Kindeswohls während der alltäglichen Arbeit – etwa einer Erzieherin – überhaupt erkannt werden kann. Die Gruppe erarbeitet die möglichen Funktionen der Suchtkrankenhilfe in diesem Kontext und thematisiert, was in der Zusammenarbeit der Hilfesysteme von Suchtkrankenhilfe und Jugendamt zu berücksichtigen ist. Beispielhaft wird folgende Situation aus dem Alltag geschildert: Die Erzieherin einer Kita hat am Freitagnachmittag Dienst. Sie bemerkt, dass eine Mutter ihr Kind in angetrunkenem Zustand von der Kita abholen möchte. Die Mutter ist zu Fuß gekommen, an ihrem Gang ist nichts Auffälliges, ein Alkoholgeruch ist jedoch deutlich wahrnehmbar. Der Erzieherin fällt dieses zum ersten Mal auf. Was soll sie machen? Ist das Wohl des Kindes gefährdet? Die Teilnehmenden des Workshops hinterfragen, was über Mutter und Kind bekannt sei. Hintergrundwissen über die Mutter oder etwa zur Entwicklung des Kindes könnte erste Hinweise geben oder auch die Beobachtung relativieren. Die Situation würde sich auch anders darstellen, wenn die Mutter das Kind mit dem Auto abgeholt hätte. Vor allem eine Beobachtung des Kindes und seiner Reaktion könnte aufschlussreich sein und zeigen, ob es etwa unsicher sei oder Angst habe. Zudem schlagen die Teilnehmenden vor, die Mutter direkt anzusprechen und ihr die Beobachtung mitzuteilen, sie gegebenenfalls sogar zu fragen, ob noch eine Aufsichtsperson zuhause sei. Das erfordere allerdings Mut. Alternativ könne ein Gespräch mit der Mutter in der kommenden Zeit gesucht werden. Eine differenzierte Beobachtung sei auf jeden Fall unerlässlich, zumal es schwierig sei, das Thema anzusprechen, insbesondere, wenn die Mutter der Erzieherin persönlich bekannt sei. Geklärt werden solle, ob die Situation öfter vorkomme oder Ausnahme sei. Im Zweifel sollten Kolleginnen und Kollegen bzw. die Leiterin der Kita oder sogar der Notdienst informiert werden.

10. Workshop 2: Wie kann die Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen?

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Weiterhin wird vorgeschlagen, Mutter und Kind ein Stück zu begleiten, um die Situation besser einschätzen zu können. In jedem Fall müsse Gelassenheit bewahrt werden. Hilfreich könne es sein, den Vorfall zu dokumentieren oder auch bereits im Vorfeld solch möglicher Vorkommnisse Handlungsstrategien zu erstellen. Die vielfältigen Rückmeldungen und Kommentare zeigen, dass es in alltäglichen Situationen oft nicht einfach ist, eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum einzuschätzen und dementsprechend zu handeln. Wie ist die Suchtkrankenhilfe hier sinnvoll einzubinden und welche Funktionen kann und soll sie und können und sollen insbesondere die Suchtberatungsstellen übernehmen? Folgende Antworten wurden im Workshop erarbeitet: • Die Suchtberatung erhält häufig wichtige Informationen über die Erziehungsfähigkeit von Klientinnen und Klienten und kann Beurteilungen dazu erstellen, die für die Einschätzung der Kindeswohlgefährdung wichtig sein können. • Die Suchtberatung verfügt über detaillierte Kenntnisse zum Verlauf einer Suchterkrankung und ist bei der Einschätzung von Situationen bis hin zur konkreten Diagnostik tätig. • Arbeitsbündnisse der Suchtberatung mit Klientinnen und Klienten können dazu beitragen, für das Wohl des Kindes zu sorgen. Die Frage lautet: Was können wir tun, damit es dem Kind gut geht? Was ist zu tun, damit das Kind nicht selbst süchtig wird oder andere Angsterkrankungen entwickelt? • Die Suchtberatung kann betroffenen Eltern – gemeinsam mit dem Jugendamt – mögliche Wege und Konsequenzen aufzeigen.

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Was ist in der Zusammenarbeit der Hilfesysteme von Suchtkrankenhilfe und Jugendamt zu tun? Um dieser Frage nachgehen zu können, wird ein zweites Fallbeispiel angeführt: Justine, 16, äußert in der Gruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien, ihre Mutter sei fast ständig bekifft. In alkoholisiertem Zustand werde sie aggressiv, in bekifftem nur müde. Es ist bekannt, dass im Haushalt noch der dreijährige Bruder von Justine lebt. Auf die Frage an Justine, ob die Mutter in diesem ihren Zustand den Bruder versorgen könne, antwortet sie: „Ja, wenn er schreit, dann erhebt sie sich vom Sofa und guckt nach ihm.“ Eine Kontaktaufnahme mit der zuständigen Familienhelferin erwies sich in der Praxis als unproduktiv. Die politoxikomane (multipler Substanzgebrauch; Anm. d. Red.) Mutter fühlt sich hintergangen und lässt dies an Justine aus. Was ist zu tun? Vorgestellt werden die möglichen Vorgehensweisen nach einer Meldung, die beim Jugendamt eingeht. Es zeigt sich, dass diese unter den weiteren Institutionen und Hilfesystemen noch nicht ausreichend bekannt sind. Angenommen wird, dass Kinderschutzfachkräfte nach §8a des SGB VIII flächendeckend vorhanden und beratend tätig sind. Die Teilnehmenden diskutieren über Handlungsmöglichkeiten und merken Folgendes an: Es sollte eine Fallberatung zur Klärung der weiteren Schritte hinzugezogen sowie das soziale Umfeld der Familie eruiert werden. Zu klären sei insbesondere, wie die Mutter ihre Kinder versorge und wozu sie in der Lage sei und was das Jugendamt an Informationen brauche, um sich des Falles anzunehmen. Es sollte versucht werden, die Mutter als „Kooperationspartnerin“ zu gewinnen. Generell wird empfohlen, mit Suchtkranken „kurze“, zeitnahe und überschaubare Vereinbarungen zu treffen. Das Jugendamt könne dann parallel zur Installation einer Familienhilfe die Kontaktaufnahme zu der Suchtberatungsstelle anordnen. Zwar seien Schweigepflicht und Datenschutz zu berücksichtigen, aber das Kindeswohl gehe vor. Deshalb raten die Workshop-Teilnehmenden dazu, sich Schweigepflichtentbindungen zu Beginn des Beratungsprozesses geben lassen. Ferner müsse geklärt werden, welche Position das Familiengericht einnehme und ob weitere Institutionen, wie etwa Jobcenter, hilfreich sein könnten. Ein Zusammenführen der Professionen und Kompetenzen könne durch Helferkonferenzen und Runde Tische geschehen. Dabei sollte jede Helferin und jeder Helfer stets die Bedürfnisse des Kindes zentral im Blick behalten.

10. Workshop 2: Wie kann die Suchtkrankenhilfe sinnvoll zum Schutz des Kindeswohls beitragen?

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Workshop 3: FASD – wo sind diese Kinder? Wie stellt sich der Alltag von FASD-Kindern dar und wie sieht sinnvolle Förderung durch das Umfeld aus? Dipl.-Psych. Jessica Wagner,

Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Virchow Klinikum Charité Berlin Anhand von Fallbeispielen stellt Jessica Wagner mit den Teilnehmenden heraus, was FASD im Alltag, in der Kindheit, in der Schulzeit und im Jugend- und Erwachsenenalter kennzeichnet. Dabei geht sie auf einzelne Problembereiche und hilfreiche Strategien ein. Auch die oft vergessenen positiven Seiten werden in diesem Workshop benannt. Einleitend berichtet Wagner, dass die meisten Kinder und Jugendliche mit FASD in Deutschland in Pflege- oder Adoptivfamilien oder Kinderheimen lebten. Ein mehrfacher Wechsel in der Unterbringung führe wiederum zu frühen Traumata. Dass die meisten Menschen mit FASD nicht diagnostiziert würden bzw. die meisten diagnostizierten Menschen mit FASD Odysseen ärztlicher Untersuchungen und therapeutischer Interventionen über sich ergehen lassen müssten, sei typisch für den aktuellen Status Quo. Somit würde man nur den wenigsten Menschen mit FASD gerecht – am wenigsten denjenigen, die keine ‚sichtbaren’ Beeinträchtigung aufwiesen und einen durchschnittlichen IQ hätten. Die Diagnose sei elementar wichtig für das Verständnis und zum Teil auch Voraussetzung für weitere Hilfestellungen. Eine genaue Kenntnis der Stärken und Schwächen der Betroffenen könne helfen, die Förderung spezifizieren, das Verhalten besser verstehen und besser für die Zukunft planen zu können.

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Für jeden Betroffenen empfiehlt Wagner herauszuarbeiten, welche positiven Seiten mit dessen Erkrankung einhergingen. So sei etwa das prosoziale Verhalten bei Menschen mit FASD oft stark ausgeprägt. Betroffene seien selten krank, oft fröhlich, kreativ, musikalisch oder sportlich.

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FASD im Alltag Aufgrund der jeweils individuellen Schädigung und den ganz persönlichen Umständen sei eine allgemeine Aussage schwierig. Allgemein festgehalten werden könne jedoch, dass etwa Veränderungen für Menschen mit FASD meist schwierig zu bewältigen seien. Die Betroffenen seien häufig entweder überoder unterstimuliert. Menschen mit FASD hätten zudem oft Probleme mit dem Verständnis von Konzepten, sie lernten zum Teil langsamer oder anders, sie schienen aus Fehlern nicht zu lernen, wirkten oft impulsiv und seien leicht ablenkbar oder hyperaktiv. Daher sei es umso wichtiger, dass Pflege- oder Adoptiveltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Therapeutinnen und Therapeuten kreativ und flexibel reagierten. Hilfe und Selbstfürsorge könnten FASD-Betroffene und -Angehörige erheblich entlasten. Die wichtigsten Empfehlungen werden im Folgenden aufgeführt. Was hilft? • ein stabiles Umfeld • wichtige Bezugspersonen • „external brain“(unterstützende Erinnerungssysteme von außen) • intensivste Betreuung • Diagnostik • Aufklärung • spezifische Förderung • Routinen • wenig Ablenkung bei Aufgaben Tipps und hilfreiche Strategien für Hilfe und Selbsthilfe: • Fragen Sie nicht nach dem Warum. Die Betroffenen kennen es nicht. • Versuchen Sie sich in die Person mit FASD hineinzuversetzen. Versuchen Sie nicht zu überlegen, was Sie tun würden oder was Sie getan hätten. • Meiden Sie Veränderungen bzw. bereiten Sie Menschen mit FASD ausreichend auf Veränderungen vor (und auch das Umfeld auf mögliche Schwierigkeiten). • Denken Sie „sie können nicht“ anstatt „sie wollen nicht“. • Versuchen Sie, konkretes Denken zu verstehen. • Vermeiden Sie Reizüberflutungen. • Helfen Sie Menschen mit FASD Situationen zu vermeiden, in denen sie „erstarren“ oder „ausflippen“ können. • Geben Sie Menschen mit FASD möglichst viel Struktur, Unterstützung und Supervision. • Zeigen Sie Verständnis, auch wenn Sie es nicht verstehen. • Achten Sie auf Depressivität, negative Selbsteinschätzungen, Überschätzungen. • Überfördern Sie Menschen mit FASD nicht. • „Don‘t try harder, try differently!“ Versuchen Sie es nicht stärker, sondern versuchen Sie es auf anderem Weg. • Denken Sie daran, dass Menschen mit FASD sich meistens nicht altersentsprechend verhalten, sondern jünger. • Helfen Sie Menschen mit FASD sich zu stärken und ihre eigenen, positiven Seiten zu entdecken. • Seien Sie kreativ und flexibel! • Schließen Sie sich Menschen an, die sich mit dem Störungsbild auskennen und tauschen Sie sich aus. • Holen Sie sich notfalls Hilfen. • Vernetzen Sie sich.

11. Workshop 3: FASD – wo sind diese Kinder? Wie stellt sich der Alltag von FASD-Kindern dar und wie sieht sinnvolle Förderung durch das Umfeld aus?

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Literaturempfehlungen: • www.fasworld.de • www.fasd-zentrum.blogspot.com • www.nacoa.de • www.fetales-alkoholsyndrom.de • www.fasstar.com • www.nofas.org • www.niaaa.nih.gov • www.betterendings.org • Kulp, L. & Kulp, J. (2009). The best I can be. Living with Fetal Alcohol Syndrome or Effects. Brooklyn Park: Better Endings:, 3rd ed. • Dorris, M. (1990). The broken cord. NY: Harper Perennial. • Kleinfeld, J. (2000). Fantastic Antone Grows up. Adolescents and Adults with Fetal Alcohol Syndrome. University of Alaska Press • Golden, J. (2006). Message in a bottle. The making of Fetal Alcohol Syndrome. Harvard University Press

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Referentinnen und Referenten Dipl.-Relpäd. Brigitte Münzel SOZIALDIENST KATHOLISCHER MÄNNER E.V. KÖLN - SKM Köln Große Telegraphenstraße 31 50676 Köln E-Mail: [email protected] Dipl.-Sozarb. Hagen Maldfeld Sozialer Dienst Jugendamt Main-Kinzig-Kreis Kuhgasse 6 63571 Gelnhausen E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Jessica Christine Wagner Charité Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden Augustenburger Platz, Mittelallee 1 13353 Berlin E-Mail: [email protected] Dipl.-Pädagogin Sandra Menk Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung RLP Sozialpädagogisches Fortbildungszentrum Servicestelle Kinderschutz Hartmühlenweg 8 55122 Mainz E-Mail: [email protected]

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TAGUNGSFLYER

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13. Tagungsflyer

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IMPRESSUM

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Herausgegeben durch das Büro für Suchtprävention der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. (LZG) Hölderlinstraße 8 55131 Mainz Telefon: 06131 2069-0 Fax: 06131 2069-69 www.lzg-rlp.de

V.i.S.d.P.: Jupp Arldt, Geschäftsführer der LZG Autorin: Gesine Pannhausen, GP Editorial – Foto Text Design Konzept Redaktion: Nina Roth, Referatsleitung Büro für Suchtprävention Grafisches Konzept und Design: Andrea Wagner, [email protected] Fotos: LZG Druck: johnen-druck GmbH & Co. KG

Mit Unterstützung des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz

MINISTERIUM FÜR SOZIALES, ARBEIT, GESUNDHEIT UND DEMOGRAFIE

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Materialien zur Gesundheitsförderung LZG-Schriftenreihe Nr. 242 / Artikel-Nr. BfS4107