STRUKTUREN UND PROZESSE

STRUKTUREN UND PROZESSE IN DEN SPEZIALHEIMEN DER DDR IN THÜRINGEN FORSCHUNGSBERICHT FÜR DAS MINISTERIUM FÜR SOZIALES, FAMILIE UND GESUNDHEIT DES FREI...
Author: Busso Koenig
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STRUKTUREN UND PROZESSE IN DEN SPEZIALHEIMEN DER DDR IN THÜRINGEN

FORSCHUNGSBERICHT FÜR DAS MINISTERIUM FÜR SOZIALES, FAMILIE UND GESUNDHEIT DES FREISTAATES THÜRINGEN

Jenaer Zentrum für empirische Sozial- & Kulturforschung e.V.

Das Forschungsprojekt wurde geleitet von: Prof. Dr. Michael Hofmann von der Universität Jena. Dem Forscherteam gehören an: Dr. Agnès Arp, Prof. Dr. Michael Hofmann (Projektleiter), Jan Kalies M.A. An der Mitarbeit weiterhin beteiligt: Karolin Kalies M.A., Diana Kotte M.A. Jena, 20. November 2012

Gliederung

1.

Einführung........................................................................................................................... 5

2.

Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe. (Jan Kalies). ........ 8 2.1

Einleitung ..................................................................................................................... 9

2.2

Dokumentation des Forschungsprozesses .................................................................. 14

2.2.1 Explorative Phase zum Thema „Akten zu Spezialheimen“ ................................. 14 2.2.2 Kristallisierungs- und Untersuchungsphase........................................................... 17 2.2.3 Exkurs: (Um-)Wege einer Akte. ............................................................................ 20 2.3 Die Sozialfigur »Erzieher« in der DDR. ....................................................................... 27 2.3.1 Strategische Öffentlichkeitsarbeit .......................................................................... 27 2.3.2 Formulierungsarbeit in der öffentlichen Kommunikation ..................................... 30 2.3.3 Die Sozialfigur »Erzieher« .................................................................................... 37 2.3.4 Synopse .................................................................................................................. 47 2.4 Reflexionen: Akten als Erkenntnisobjekt. ..................................................................... 50 2.4.1 Womit haben wir es zu tun? Fragen nach dem Gegenstand .................................. 50 2.4.2 Genese und Diversifikation von Akten .................................................................. 57 2.4.3 Die explanatorische Lücke..................................................................................... 65 2.5 Welche Probleme – welche Lösungen? ......................................................................... 70 3.

Alltagserinnerungen von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen der ehemaligen DDR. (Agnès Arp) ............................................................................................................ 74 3.1

Einleitung ................................................................................................................... 75

3.2

Reden über die Jahre im Spezialheim, ein schmerzhafter Akt .................................. 77

3.3

Welche Themen werden in den Interviews am meisten angesprochen? .................... 81

3.3.1 Die Heimeinweisung und der erste Tag ............................................................... 86 3.3.2 Die Gewalt im Heim ............................................................................................ 90 3.3.3 Exkurs: Entlassung und Stigmatisierung ............................................................. 93 3.4

Die Jahre im Spezialheim der DDR: eine Vergangenheit, die nicht vergeht. ............ 94

4.

Lehrer und Erzieher in Spezialheimen der DDR im heutigen Thüringen. Ein Problemaufriss. (Michael Hofmann) ................................................................................. 97 4.1

Zur Rekrutierung von Erziehern und Lehrern für Spezialheime ............................... 98

4.2

Einschätzung der Verhältnisse in Spezialheimen und ihr Unterschied zu den Normalkinderheimen aus der Sicht der Erzieher ..................................................... 102

4.3

Forschungsbedarf ..................................................................................................... 104

Literaturverzeichnis ................................................................................................................ 106 ANHANG............................................................................................................................... 117 Inhalt....................................................................................................................................... 118 I.

Viten der Mitarbeiter dieser Studie .......................................................................... 119

II.

Übersicht SKH und JWH in den ehemaligen Bezirken Erfurt, Gera, Suhl ............. 120

III.

Übersicht der Jugendämter Thüringens ................................................................... 123

IV.

Gefundene Akten/Dokumente zu einzelnen Heimen ............................................... 126

V.

Acht Tabellen zu Alltagserzählungen und Erinnerungen an die Zeit im Spezialheim von sechzehn ehemaligen Heimkindern in Thüringen (und Sachsen). .................... 132

VI.

Kurzbiographien von sechzehn ehemaligen Heimkindern in Spezialheimen in Thüringen (und Sachsen) ......................................................................................... 197

VII. Erzieherdossiers ....................................................................................................... 214

1. Einführung Das Forschungsprojekt „Strukturen und Prozesse in den Spezialheimen der DDR in Thüringen“ verfügt über einen anspruchsvollen Auftrag. Hatten die Ergebnisse der Vorgängerstudie „Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen“ doch gezeigt, dass die Heimkinder in den Spezialheimen in besonderem Maße zu leiden hatten. 1 Dieses Projekt sollte nun, den Intentionen des Auftraggebers folgend, Strukturen und Prozesse in den Zentren der Leiderfahrungen analysieren. Es war geplant, anhand von Akten und Experteninterviews ganz konkrete Aspekte des Alltags in ausgesuchten Heimen Thüringens zu rekonstruieren. Hier ließen sich einige der geplanten Vorhaben und viele Hoffnungen nicht realisieren. Den DDR-Alltag in konkreten Spezialheimen chronologisch und systematisch empirisch zu erforschen, war in einem zehnmonatigen Projekt nicht möglich. Allein die Suche und Zugänglichmachung vorhandener Aktenbestände stellte eine zeitaufwändige Herausforderung dar. Im Wesentlichen aber fehlte es an systematisch gesammelten Akten, die die Entwicklungen auch nur in einem einzigen ehemaligen DDR-Spezialheim abzubilden vermochten. Und um das Maß der Probleme mit den Akten voll zu machen, stellten sich zudem auch starke Zweifel über die Aussage- und Abbildqualität der wenigen vorhandenen Spezialheimakten ein. Zu den Thüringer Durchgangsheimen in Schmiedefeld, Gera und Erfurt fanden sich bisher überhaupt keine relevanten Akten und auf unseren Zeitungsaufruf im Frühjahr 2012 auch keine Interviewpartner zu diesem Thema. So bleiben die Durchgangsheime auch weiterhin ein Desiderat in der Heimkinderforschung. Wegen dieser noch immer völlig unzureichend aufgearbeiteten und zugänglichen empirischen Grundlagen konzentrieren sich die Forschungsergebnisse dieser Studie auf die Problematisierung der Aktenfrage und die Auswertung der Erfahrungen von ehemaligen Heimkindern und von Heimerziehern in Thüringer Spezialheimen. Die Hauptergebnisse dieser Studie verweisen darauf, dass:

1. die Akten nicht in erster Linie als Wiederspiegelung der Heimverhältnisse oder pädagogischer Problemlagen funktionieren. Sondern sie geben vor allem Auskunft über die Strategien der Leiter und Erzieher von Spezialheimen im Umgang mit den sozialistischen Normen und politischen oder ökonomischen Anforderungen und darüber, wie sie glauben ihnen gerecht werden zu können;

1

Vgl.: Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit (2012): „Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen. Erfurt.

Kapitel 1: Einführung

6

2. es die Erzählungen ehemaliger Heimkinder sind, die authentisch die konkreten Erfahrungen und Bedrückungen in Spezialheimen schildern können, die aber durch den bisher völlig unzureichenden Aufarbeitungsprozess über viele Sprach- und Stigmatisierungsbarrieren klettern müssen. Das Zentrum der Leiderfahrungen in Spezialheimen stellen die Gewalterfahrungen (vor allem auch die Erfahrungen mit ausgeübter struktureller Gewalt) dar. Gewalt im Spezialheim entfaltet sich - das wird in diesem Bericht eindrücklich geschildert - gleich am ersten Tag in den Praktiken der Einweisung und in den vom Erziehungssystem geförderten und ausgenutzten Hierarchien und Hierarchiekämpfen in den Heimkindergruppen; 3. in der DDR ausgebildete Heimerzieher in Spezialheimen in besonderem Maße zur Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen aufgefordert waren, um stabile Erziehungssituationen herzustellen. Stabile Erziehungssituationen werden aber nicht mit der individuellen, pädagogischen Stabilisierung der betroffenen Kinder verbunden, sondern mit einem äußerlich hergestellten strengen Regelrahmen. Die Spezialheime besaßen in ihren pädagogischen Programmen und ihrer personellen und qualifikatorischen Ausstattung wenig Spezielles.

Die Arbeit an dieser Studie zeigt deutlich den weiteren Forschungsbedarf zu diesem Thema an. Den vorliegenden, meist von den Ministerien geförderten Studien und Heimkinderberichten über die DDR gelang es, das Problembewusstsein zu schärfen, grundlegende Problemlagen zu analysieren und sie mit zahlreichen Beispielen des Leids der ehemaligen DDR-Heimkinder zu veranschaulichen. Mit der Einrichtung des Heimkinderfonds (Ost) hat die deutsche Politik inzwischen auch angemessen reagiert und personelle und finanzielle Mittel in diesem Hilfsfonds konzentriert. Das Land Thüringen gab und gibt diesem Prozess in besonderem Maße Impulse. Bei der Aufarbeitung der DDR-Heimkinderschicksale stellten sich die ostdeutschen Länder und der Bund, stellte sich die Politik tatsächlich an die Spitze des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses. Denn die Einstellungen der Thüringer und der ostdeutschen Bevölkerung zeigen zwar eine hohe Zustimmung zur Entschädigung für ehemalige Heimkinder, jedoch nur ein von der Hälfte geteiltes Interesse an der Aufarbeitung des Themas in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und insgesamt einen deutlich unaufgeklärten positiven Bezug zur DDRJugendarbeit. 2

2

So haben 41% der Thüringer geringes bis gar kein Interesse an der Aufarbeitung des Heimkinderthemas, 47% sind der Meinung, die Erziehungsheime der DDR wären auch heute noch eine gewinnbringende Alternative

Kapitel 1: Einführung

7

Es besteht also weiterer Forschungs- und Aufklärungsbedarf bei der Aufarbeitung der konkreten Entwicklungen in den Spezialheimen, besonders in den Durchgangsheimen, ebenso bei den Übernahmen und Transformationen ehemaliger Spezialheime durch neue Träger in den 1990er Jahren. Diese Aufklärung muss jetzt in erster Linie im gesellschaftlichen Auftrag, als öffentlich geförderte und universitäre Forschung, organisiert werden. Diese Studie ist das Ergebnis einer zehnmonatigen intensiven wissenschaftlichen Arbeit von Januar bis Oktober 2012. Das Forscherteam bedankt sich bei seinem Auftraggeber, dem Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, insbesondere bei Frau Knauß und Herrn Scheitz für die gute Zusammenarbeit und das Vertrauen. Unseren Dank möchten wir aber auch unseren Interviewpartnern, ehemaligen Heimkindern und Heimerziehern aussprechen, sowie jenen Thüringer Archivaren und Archivleitern, die uns in unseren Recherchen unterstützten. Eine breite gesellschaftliche Basis für die Forschung und Aufarbeitung dieses Thema ist notwendig, wenn nachhaltige Lehren aus den Leidensgeschichten der Betroffenen gezogen werden sollen.

Jena, 18.11. 2012

Michael Hofmann

und insgesamt erfährt die Jugendarbeit der DDR eine deutlich positive Bewertung (+2,1), siehe ebd. S. 121, 126 und 127

2. Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDRJugendhilfe. (Jan Kalies) 2.1

Einleitung ................................................................................................................ 9

2.2

Dokumentation des Forschungsprozesses ............................................................. 14

2.2.1

Explorative Phase zum Thema „Akten zu Spezialheimen“ .......................... 14

2.2.2 Kristallisierungs- und Untersuchungsphase ................................................... 17 2.2.3 Exkurs: (Um-)Wege einer Akte. .................................................................... 20 2.3

Die Sozialfigur »Erzieher« in der DDR. ............................................................... 27

2.3.1 Strategische Öffentlichkeitsarbeit .................................................................. 27 2.3.2 Formulierungsarbeit in der öffentlichen Kommunikation ............................. 30 2.3.3 Die Sozialfigur »Erzieher«............................................................................. 37 2.3.4 Synopse .......................................................................................................... 47 2.4

Reflexionen: Akten als Erkenntnisobjekt.............................................................. 50

2.4.1 Womit haben wir es zu tun? Fragen nach dem Gegenstand .......................... 50 2.4.2 Genese und Diversifikation von Akten .......................................................... 57 2.4.3 Die explanatorische Lücke ............................................................................. 65 2.5

Welche Probleme – welche Lösungen? ................................................................ 70

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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2.1 Einleitung Die Überschrift dieses Teils mag verwundern, hat man eine Erörterung historischer Ereignisse in ganz konkreten Spezialheimen erwartet, was der Titel des Projektes auch transportiert; oder zumindest nahelegt. Tatsächlich war dies auch unsere Intention und dieser Part sollte eine andere Benennung erfahren, aber im Verlauf des Projektes hat sich der Fokus von den Akten als empirisches Material, mittels dessen die strukturellen Gegebenheiten und Abläufe in den Spezialheimen der DDR rekonstruiert werden sollten, hin zu den Akten als ein Gegenstand der Erkenntnis selbst verschoben. Nimmt man einen solchen Perspektivenwechsel vor, dann darf man eine Begründung nicht schuldig bleiben. Mit Beginn des Projektes sahen wir uns mit zwei Fragestellungen konfrontiert; einer politischen und einer wissenschaftlichen. Ausgehend von der Erfahrung, dass ehemalige Heimkinder (unabhängig ihres Aufenthaltsortes und der Aufenthaltszeit, sowie der Dauer) ähnliche Verhaltensmuster und Probleme in Bezug auf ihre Sozialbeziehungen aufweisen 3, fragten wir uns, ob dies auf ein gemeinsames, den heterogenen biographischen und lebensweltlichen Konfigurationen zum Trotz und über die Grenzen einzelner Heime hinweg, vorhandenes Generierungsprinzip verweisen könnte. Die Frage, welche uns interessierte, war, ob die Spezialheime soziale Voraussetzungen geschaffen haben, welche das Denken der Kinder und Jugendlichen regulierte, unter deren Einfluss unbewusste Klassifikationen und Schemata ausgebildet werden konnten, welche eine „systematische Verkettung“ 4 in einem gemeinsamen Habitus erzeugten. Kurz: wir wollten Möglichkeiten und Bedingungen eines gemeinsamen ‚Heimhabitus‘ eruieren. 5 Hierzu sollten die alltäglichen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens, d.h. die Organisation, die Festlegungen, programmatischen Inhalte und die methodischen Ansätze herausdestilliert, analysiert und interpretiert werden. Die politische Fragestellung, welche gleichsam mit der wissenschaftlichen verknüpft werden sollte, folgte rehabilitierungspraktischen Interessen. Es sollte untersucht werden, ob es 3

Dies war ein Ergebnis der Teilstudie Arp, A. / Butz, K. / Kalies, J. (2012): Leben nach dem Kinderheim in: Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.), Zur sozialen Lage ehemaliger DDRHeimkinder in Thüringen, Erfurt, S. 18-72. 4 Bourdieu, P. (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M., S. 134. 5 Zum Konzept des Habitus sei hier vor allem auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu verwiesen. Vgl. Bourdieu, P. / Waquant, L.J.D. (2006): Reflexive Anthropologie. 2. Aufl., Frankfurt a.M.; Bourdieu, P. (2009): Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt A.M.; Bourdieu, P. (2011): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 21. Aufl., Frankfurt a.M. Als Überblick und erster Einblick können aber auch die Arbeiten von Krais, B. / Gebauer, G. (2002): Habitus. Bielefeld; Fröhlich, G. / Rehbein, B. (2009): Bourdieu-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart; Schwingel, M. (2011): Pierre Bourdieu zur Einführung. 7. Aufl., Hamburg sowie Reckwitz, A. (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, WeilerswistMetternich dienen.

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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möglich ist, für einzelne Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR ähnliche Aufenthaltsbedingungen nachzuweisen, wie sie für den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau bereits nachgewiesen und rechtlich durch das Berliner Kammergerichtsurteil vom 15.12.2004 anerkannt wurden. Ein Nachweis solcher Lebensbedingungen hätte den Vorteil, ein mögliches Rehabilitierungsverfahren im Sinne des StrRehaG (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz) zu vereinfachen, so dass lediglich die Bescheinigung über den Aufenthalt in dieser Einrichtung eine strafrechtliche Rehabilitierung ermögliche. Um Missverständnissen vorzubeugen, unsere Aufgabe sahen wir nicht darin, „lediglich“ die Erziehungsvorstellungen in den Heimen der Jugendhilfe herauszuarbeiten, die Finanz- und Personalsituation zu eruieren, oder die bauliche Beschaffenheit zu erörtern. Dies ist an anderer Stelle schon für andere Heime (insbesondere die Jugendwerkhöfe) und für das Heimsystem im Allgemeinen rekonstruiert worden. 6 Darüber hinaus wurden mit dem Bericht „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ 7 Zwang und Gewalt im Alltag und das daraus resultierte Leid der Betroffenen nachgewiesen und auch anerkannt, was konsequenter Weise in der Einrichtung des Fonds „Heimerziehung in der DDR“ kulminierte (wenngleich der Ausgang des Berichtes und die Einrichtung des Heimkinderfonds zur Zeit der Projektierung noch nicht absehbar waren). Insofern konnte unsere Aufgabe nur darin bestehen, aufzuzeigen, welche handlungspraktische Wirksamkeit die bekannten Rahmenbedingungen und die Erziehungsvorstellungen in der konkreten Praxis entfalteten und welche verschiedenen „Spielarten“ in der Alltagsgestaltung qua individueller Handlungsmöglichkeiten auszumachen sind. Die Akten stellten für das Projekt dabei von Beginn an die wichtigste Datenbasis dar. Sie sollten in den Archiven gesichtet, systematisiert und anschließend in Bezug auf unsere Fragestellung ausgewertet werden. Dem lag, wie gesagt, die Vorstellung zugrunde, dass die Informationen aus den Akten Rückschlüsse auf die konkreten Verhältnisse in ausgewählten Spezialheimen zulassen würden, wodurch die strukturellen Bedingungen sowie die praktischen Regelungen in den Einrichtungen der Jugendhilfe rekonstruier- und vergleichbar sind. Das Ergebnis sei hier schon vorweg genommen: dieses Vorhaben ließ sich nicht realisieren. 6

Wenngleich den Jugendwerkhöfen eine dezidierte Aufmerksamkeit zuteilwurde, können wir ähnliche Bedingungen für alle Spezialheime unterstellen. Vgl. Bernhardt, C. / Kuhn, G. (1998): Keiner darf zurückgelassen werden! Aspekte der Jugendhilfepraxis in der DDR 1959-1989, Münster; Jahn, U. (2010): Jugendwerkhöfe in der DDR. Erfurt; Jörns, G. (1995): Der Jugendwerkhof im Jugendhilfesystem der DDR. Göttingen; Vogel, R. M. (2010): Auf dem Weg zum neuen Menschen. Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ in den Jugendwerkhöfen Hummelshain und Wolfersdorf (1961-1989), Frankfurt a.M. [u.a.]; Zimmermann, V. (2004): »Den neuen Menschen schaffen« Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945-1990). Köln [u.a.]. 7 Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe - AGJ (2012): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR Bericht. Berlin.

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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Die Akten, bzw. die in diesen erhaltenen Dokumente lassen keine Rückschlüsse auf die konkreten Zustände und Alltagshandlungen zu. Wenn wir aber das Datenmaterial als für unsere Belange ungeeignet zurückweisen mussten, verschob sich gleichsam auch der Forschungsschwerpunkt. In dem Moment, als die Akte hinsichtlich ihres Informationsgehaltes zur Debatte stand, wurde sie zwangsläufig selbst zum Gegenstand der Erkenntnis. Damit ging auch eine Umformulierung unseres Vorhabens einher. Was ist nun aber genau das Anliegen dieses Teilberichtes? „Die Akten lügen nicht.“ hat Arnold Vaatz 8 1992 in einem Interview im Spiegel verkündet und auch Joachim Gauck pries zwei Jahre später den Wert und die Wahrheit der Akten und untermauerte seine Position mit demselben Satz wie vor ihm Vaatz. 9 Wir wollen an dieser Stelle auch nicht behaupten, dass alle Akten gefälscht seien, das wäre ebenso irrtümlich, wie zu behaupten, dass Akten über jeden Zweifel erhaben wären. Nicht zuletzt der Organtransplantationsskandal dürfte aber auch den letzten Skeptiker davon überzeugen, dass die Inhalte einer Akte nicht einfach ohne Widerstand akzeptiert werden können. Wenn es Ärzten in der heutigen Zeit gelingt, das Krankheitsbild in den Akten so übertrieben darzustellen, dass die Patienten eine bevorzugte Behandlung 10 erfahren, wer garantiert uns dann, dass ehemalige Jugendfürsorger nicht auch Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen übersteigert angezeigt haben, um ihre „sozialpädagogische Intervention“ zu begründen? Oder dass Erzieher diese Möglichkeit der Manipulation nutzten, um unliebsame Zöglinge in eine andere Einrichtung (ein Spezialheim oder den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau) „abzuschieben“? Evidenter Weise ist eine Garantie ausgeschlossen. Und schon allein die Potentialität solcher Handlungsweisen muss einer reinen Aktengläubigkeit zuwiderlaufen, die Aussagefähigkeit von Akten in Frage stellen und eine kritische Haltung einfordern. Noch einmal: wir wollen nicht sagen, dass Akten reine Phantasiekonstrukte sind, aber wir wollen darauf aufmerksam machen, dass sie für jemanden als Handlungsgrundlage fungierten und entsprechend nur in ihren kontextuellen Bezügen zu verstehen sind. Eine Entkopplung der Akten von den aktenführenden Instanzen würde diese

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Vgl. „Die Akten lügen nicht“. Interview mit dem Bürgerrechtler und CDU-Politiker Arnold Vaatz, in: Der Spiegel, Heft 18 / 1992, S. 32-34. 9 Vgl. Gauck, J. (1994): Gegen den Schlussstrich. Gespräch mit dem Stasi-Akten-Verwalter Joachim Gauck, in: Evangelische Kommentare, 27, Heft 6, S. 341-344. 10 Darüber hinaus wurde kürzlich in einem Beitrag in „Report Mainz“ der ARD vom 25.09.2012 darauf aufmerksam gemacht, dass Patientenakten, bzw. darin enthaltene Dokumente gefälscht wurden, um Behandlungsfehler von Ärzten zu vertuschen. Analog könnten auch in den Akten der Heimkinder sowie den Dokumenten der Pädagogen in den Heimen oder der behördlichen Mitarbeitern Sachverhalte verzerrt dargestellt worden sein, um bspw. eigenes Fehlverhalten oder Fehlentscheidungen zu vertuschen. Das in den Dokumenten der DDR-Verwaltung zum Großteil beschönigt wurde und warum, darauf wird weiter unten noch einzugehen sein.

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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in ihrer Eigenmächtigkeit steigern und sie würden sich über ihre kontingenten Entstehungshintergründe zur Wahrheit schlechthin erheben. Daraus ergibt sich für uns eine doppelte Zielstellung, welche in diesem Teilbericht verfolgt werden soll: wir wollen zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand „Akte“ vornehmen und aufzeigen, was im Umgang mit diesem zu beachten ist. Zum anderen soll der Versuch unternommen werden, sich des Gegenstandes präziser zu versichern und ihn zugleich in einer Weise zu bestimmen, die ihn als einen legitimen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse kenntlich macht. Insofern es uns also gelingt, die Besonderheiten der Akten herauszustellen, wird auch eine Einschätzung der Reichweite und der Qualität dieser Datenbasis ermöglicht. Die vorliegende Arbeit ist so aufgebaut und strukturiert, dass alle ihre Kapitel zwar inhaltlich aufeinander bezogen sind, sie aber dennoch auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Zu Beginn werden wir den Forschungsprozess rekonstruieren und darstellen. Hierbei sollen vor allem die wichtigsten Stationen hervorgehoben werden, um einen Überblick zu gewähren, welche Schwierigkeiten sich im Verlauf des Projektes ergaben und wie sich diese auf den Forschungsprozess auswirkten. Im Anschluss daran werden wir mögliche (Um-)Wege einer Fallakte der Jugendhilfe rekonstruieren. Wir wollen damit einerseits bereits Probleme andeuten, welche sich bei der Suche nach Akten auftun und mit denen auch wir konfrontiert waren, andererseits schon mögliche Zugangswege konturieren. Im Anschluss daran haben wir den Bericht in zwei größere Abschnitte untergliedert. Im nächsten Kapitel werden wir unsere empirischen Befunde präsentieren. Unser Hauptaugenmerk wird dabei auf der Konstruktion der Subjektform des Erziehers im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs gerichtet sein. Hierzu werden wir die gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungshaltungen, die mit der Rolle des Erziehers in den Diskursen verknüpft wurden, mit den in den Akten geführten Interdiskursen vergleichen und aufzeigen, dass der Inhalt fast vollständig gegenüber einer Wertebestätigung in den Hintergrund tritt. Anschließend werden wir im nächsten Kapitel unsere Datenbasis, die Akten, selbst zum Untersuchungsgegenstand etablieren und sie hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Funktion als Erkenntnisobjekt hinterfragen. Diesbezüglich werden wir zuerst erörtern, welche unterschiedlichen Bedeutungen und Verwendungsweisen eine Akte, bzw. ein einzelnes Dokument aufweisen und erfahren kann, unter besonderer Berücksichtigung ihrer institutionellen Einbettung. In einem nächsten Schritt soll die Genese und die Diversifikation von Akten aufgezeigt

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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werden. Dabei wird unterschieden zwischen der Formierung von Akten in den aktenführenden Behörden und der Konvertierung und Transponierung von Akten in Archivgut und der damit einhergehenden Aufbewahrung. In diesem Teil soll vor allem erklärt werden, warum es nicht möglich ist anhand der Akten zu zeigen »wie es eigentlich gewesen ist« – wie noch der Historiker Leopold von Ranke vor einem Jahrhundert einschlägig formulierte. Diese Unmöglichkeit wird zugleich als eine »explanatorische Lücke« ausgewiesen. Im fünften und zugleich letzten Kapitel werden wir schließlich die Ergebnisse unter der Frage nach den Implikationen für die politische Praxis zusammenfassend diskutieren.

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe

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2.2 Dokumentation des Forschungsprozesses Als wir mit der Projektierung die Akten als unsere grundlegende Datenbasis ins Auge fassten, wussten wir bereits, dass damit auch Probleme verbunden sind, welche zu Beginn allerdings eher mit der undurchsichtigen Aktenlage in den staatlichen, kommunalen und städtischen Archiven als mit den inhaltlichen Schwierigkeiten verbunden waren. Wenn wir davon sprechen, dass unsere Ausgangsbedingungen problematisch waren, dann meinen wir nicht nur, dass die Archivlage für Thüringen zu dieser Thematik überhaupt nicht erschlossen war. Die Überlieferungslage war völlig unübersichtlich und ist es noch immer. Entsprechend war nicht absehbar, ob wir in den Thüringer Archiven Akten finden und wenn, in welcher Quantität und Qualität und ob diese dann auch inhaltliche Relevanz für unser Projekt aufweisen würden. Wir werden an dieser Stelle versuchen, den Forschungsprozess in seinen einzelnen Schritten und den sich ergebenen Schwierigkeiten kurz zu rekonstruieren. Dabei werden wir den Prozess in verschiedene Phasen einteilen, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte markiert haben. Weil die Phasen zum Teil parallel verliefen, ist eine klare inhaltliche und/oder zeitliche Abgrenzung nicht möglich, die Unterteilung ist also lediglich analytischer Natur. Hierdurch soll, wenn auch nur schematisch, ein Einblick in den Forschungsprozess gewährleistet werden.

2.2.1 Explorative Phase zum Thema „Akten zu Spezialheimen“ Sensibilisierung Bevor wir uns mit der Archivlage vertraut machten, arbeiteten wir zu Beginn des Projektes ein heuristisches Hilfsmittel aus, welches uns für die methodische Arbeit mit den Akten im Archiv sensibilisieren sollte. Wir erarbeiteten Kriterien, welche als Untersuchungskategorien dienen sollten. Bei den Kriterien handelte es sich um Formen elementarer und direkter Angriffe auf das Selbst, die uns in den Interviews mit ehemaligen Betroffenen aus der Soziallagestudie geschildert und von Erving Goffman 11 als der Logik der totalen Institution inhärente Modi beschrieben wurden. Gleichsam sollten diese Kriterien auch als Indikatoren für die integrierte Analyse dienlich sein, d.h. die materialübergreifenden Befunde (aus den Interviews und Akten) vergleichbar machen.

11

Goffman, E. (1995): Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10.Aufl., Frankfurt a.M.

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Systematisierung Um der diffusen Aktenlage zu begegnen, wurde zu Beginn eine Übersicht 12 erstellt, in welchen derzeitigen Landkreisen sich uns bekannte Spezialheime befanden. Daraufhin wurden dieser Übersicht die jeweils zuständigen Archive (Staats- und Kreisarchive) zugeordnet, weil die Archivalien nach ihrer Provenienz zusammengefasst und in den Archiven geführt werden (sogenanntes Provenienzprinzip). Unterlagen von und/oder zu dem Spezialkinderheim „Steigerhaus“ in Saalfeld werden demzufolge in dem zuständigen Kreisarchiv (in dem Falle das Kreisarchiv Rudolstadt/Saalfeld) aufzufinden sein und nicht etwa im Kreisarchiv des Landkreises Hildburghausen. So entstand für uns eine erste Systematik, welche die Recherchearbeit organisieren helfen sollte, insofern in diesem Schritt die Auswahl von Archiven, welche zwecks Terminvereinbarung angeschrieben werden sollten, reduziert wurde. Archivbesuche, Gesprächsführung Daraufhin wurden Termine mit dem jeweils zuständigen Personal in verschiedenen Archiven vereinbart um in einem direkten Gespräch erste Formalitäten zu klären. Hierbei konnten in den Gesprächen mit den Archivaren nicht nur archivrechtliche Fragen im Umgang mit den Akten (insbesondere bei der Erhebung und Benutzung personenbezogener Daten) sowie die formalen Anforderungen des jeweiligen Archives geklärt werden, sondern es wurde sich auch seitens der Forscher bemüht, Transparenz über das Anliegen und die Bedeutsamkeit der Forschung herzustellen und entsprechende Referenzen (Auftragsschreiben) vorgelegt. Darüber hinaus vermittelten die Archivare wertvolle Tipps und Hinweise bei der Erschließung der Bestände, was insbesondere bei den unterschiedlichen Codierungen der Bestände in den verschiedenen Archiven sehr hilfreich war. So konnte neben Einblicke in die Praxis der Archivarbeit auch ein erster Überblick über vorhandene Akten zu der Projektthematik entstehen. Die Gespräche wurden stichpunktartig festgehalten und Beobachtungsnotizen über Eindrücke, Fragen und Gedanken angefertigt. Um diese Kontextinformationen für den weiteren Forschungsprozess festzuhalten, wurden anhand der Stichpunkte Memos angefertigt. 13

Aktensichtung und -lektüre Die Sichtung begann mit den ersten Besuchen in Archiven und war zu Beginn darauf ausgerichtet, in den Akten Dokumente von und über Spezialheime zu sichten, um die quanti-

12 13

Siehe Anhang II. Vgl. Strauss, A. L. (2007): Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 2. Aufl, Stuttgart.

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tative Dimension zu eruieren und unsere Datenbasis besser abschätzen zu können. Dieser Schritt sollte dazu beitragen, anhand einer Inventarisierung gefundener Schriftstücke die Auswahl der von uns zu untersuchenden Einrichtungen zu treffen. Allerdings erwies sich der Sichtungsprozess als sehr aufwendig. So konnte es passieren, dass in einer Akte, welche einen ungefähren Umfang von 200-300 Seiten und mehr aufwies, lediglich ein Schriftstück enthalten war, welches von oder über ein Spezialheim handelte, wobei dies aber nicht bedeutet, dass es inhaltlich für uns relevant war. Dementsprechend hatten wir auch erst nach den ersten drei Monaten einen ungefähren Überblick über die vorhandenen Akten. Bereits bei der Sichtung begannen wir parallel mit der Lektüre und fertigten Notizen über den Informations- und Bedeutungsgehalt der Akten und Dokumente an, um sie so vergleichen zu können, wobei auf die Frage nach dem Alltag in den Spezialheimen fokussiert wurde. Insgesamt haben wir in den Thüringer Archiven, welche wir kontaktiert haben, für fünf ehemalige Spezialheime 14 einen größeren Bestand an Akten ausfindig machen können, wobei wir in der uns zur Verfügung stehenden Zeit nicht alle Archive besuchen konnten. Diese Bestände beinhalten neben Personalakten von Erziehern und ehemaligen Heimkindern auch weitere Unterlagen, welche in der täglichen Arbeit im Heim aus den unterschiedlichsten Gründen angelegt wurden. Wo die Aktenbestände von anderen ehemaligen Einrichtungen sind, ist bisweilen nicht eindeutig geklärt. Ein großes Fragezeichen bleibt auch hinsichtlich der Fragen danach, ob, welche und wie viele Akten sich in Besitz von Privatträgern befinden, bzw. wie die hiesigen Zuständigkeiten sind und wie die Träger einer Zusammenarbeit gegenüber stehen. Die anderen Aktenbestände in den Archiven sind sehr disparat und es handelt sich in den meisten Fällen um Verwaltungskorrespondenzen der Volksbildung der jeweiligen Territorien. Je mehr wir aber mit dem Gegenstand ‚Akte‘ vertraut wurden, welcher als Informationsgrundlage avisiert wurde, desto fragwürdiger wurde die Eignung dieses Gegenstandes als Informationsquelle im Hinblick auf unser Vorhaben. Die Beantwortung der Frage, was uns die Akten überhaupt – auch über den Alltag im Heim hinaus – beantworten können, wurde immer dringlicher. Nicht nur, dass wir mit einer Vielzahl unterschiedlichster Informationen und Schriftstücke konfrontiert waren, die Unterlagen konnten aufgrund ihrer fragmentarischen Gestalt (lückenhafte und unvollständige Dokumentenlage) auch nicht vollständig ent-

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Hierunter zählen: der Jugendwerkhof Hummelshain (Kreisarchiv Saale-Holzland-Kreis), der Jugendwerkhof Röhmhild (Staatsarchiv Meiningen), der Jugendwerkhof Wolfersdorf (Staatsarchiv Rudolstadt), das Spezialkinderheim mit Jugendwerkhofteil Bad Köstritz (Staatsarchiv Rudolstadt), sowie das Spezialkinderheim „Steigerhaus“ Saalfeld (Kreisarchiv Rudolstadt-Saalfeld).

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schlüsselt werden. Deshalb richtete sich der Fokus auf die Akte als Material selbst und es ergaben sich eine Menge neuer Fragen: Was ist eine Akte? Welche verschiedenen Arten von Akten gibt es eigentlich und was bilden diese wie ab? Wer braucht wann wozu eine Akte und gibt es andere Weisen der Benutzung (Richter nutzen Akten anders als Verwaltungsangestellte oder als Ärzte) und wenn ja, welche? 2.2.2 Kristallisierungs- und Untersuchungsphase Problematisierung Die Forschungsfrage nach den Strukturen und Prozessen in Spezialheimen in Thüringen konnte also mittels der Akten nicht beantwortet werden. Und das aus dem folgenden Grund: eine Akte stellt einen Gegenstand dar, welcher auf einer Verwaltungsebene konstituiert und konstruiert wurde und in seiner Repräsentationsfunktion als eine Art „zweite Wirklichkeit“ fungiert. Was in der Akte steht, ist – aus noch genauer zu erklärenden Gründen – nicht als tatsächliches Geschehen aufzufassen, sondern selbst als schriftlich fixiertes Verwaltungshandeln kritisch zu analysieren. Die institutionellen Aktenbestände dokumentieren Bemühungen, soziale Welten zu vermessen und dauerhaft zu fixieren und sind insofern aufs innigste verknüpft mit der Genese bürokratischer Machtausübung 15. Was in den Akten niedergeschrieben wurde, ist als dem Machtanspruch entsprechend, bestätigend, behindernd oder auch zuwiderlaufend zu verstehen. Auch eine die Vollständigkeit erreichende, rein additive Erhebung eines Aktenbestandes zu einer Einrichtung ergibt nicht mehr als eine verdichtete Dokumentation über Konstruktionen, oder Deutungsmuster sozialer Wirklichkeiten. Das heißt, dass beispielsweise die Angaben zu einer Person in einer Fallakte der Jugendhilfe nicht identisch sind mit der Person selber. Selbstverständlich stimmen einige Daten wie Name, Geschlecht, Geburtstag, Körpergewicht, Herkunft etc. überein, aber dabei handelt es sich um isolierte Fragmente, welche von der Person losgelöst betrachtet und bewertet werden. So wird dann aus diesen separierten Bruchstücken wiederum ein „scheinbar komplettes Bild entworfen […], welches dann als ‚schlüssige‘ Biographie des späteren Zöglings zur Anwendung kommt.“. 16 Es handelt sich also lediglich um eine für die Organisation typische Form der Darstellung von Wirklichkeit.

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Vgl. Weber, M. (2006): Wirtschaft und Gesellschaft. Paderborn; Taeger, A. (2002): Aktenanalyse in der kriminologisch-geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Strafrecht. Polizeiliche Aufzeichnungen über männliche Homosexuelle im Paris des 18. Jahrhunderts [19 Absätze], Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research, 3(1), Art. 19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0201190 (letzter Aufruf am 11.07.2012). Zaft, M. (2011): Der erzählte Zögling. Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung, Bielefeld, S. 89.

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Fokussierung In Anlehnung an das eben dargelegte, stellten wir uns die Frage, wie die Personen in den Dokumenten abgebildet sind. So richtete sich unser Interesse zu allererst darauf, wie die Kinder und Jugendlichen in den Akten als Klientel konstruiert wurden. Wir stellten aber sehr bald fest, dass diese im Großteil der Fälle nur eine marginale Rolle spielten und wenn sie thematisiert wurden, dann meist im Verbindung mit allgemeinen Implikationen hinsichtlich der pädagogischen Tätigkeiten in den Heimen selber, insofern die Kinder und Jugendlichen als „Störfaktoren“ erschienen, welche ein Gelingen des Erziehungsprozesses potentiell in Frage zu stellen schienen. Besonderes Augenmerk – so scheint es – wurde dabei von den Berichtenden (was in den meisten Fällen der Heimleiter war) darauf gelegt, den Vorgesetzten (zumindest den zuständigen Akteuren in den Verwaltungsapparaten; ob es sich dabei immer um einen direkten Vorgesetzten handelte, ist nicht immer nachvollziehbar), ein möglichst positives Bild von den Erziehern der Einrichtung zu präsentieren und mögliche Mängel, welche eine solche Darstellung hätten unterminieren können, von vorn herein als extrinsische, nicht von den Pädagogen verschuldete Mängel hervorzuheben. Es wurde also, so könnten wir dies zusammenfassen, eine bestimmte Darstellung auf der „Vorderbühne“ in der Interaktion aufgeführt 17. Um dies möglichst überzeugend zu gestalten, wurden von den Verfassern entsprechende Indices, also Codes, welche mit der Sozialfigur des Erziehers verknüpft waren, in der Außendarstellung aufgegriffen und angewandt. Erhebung und Analyse zum Thema: „Sozialfigur »Erzieher« Nachdem das Thema so formuliert wurde, konnte geklärt werden, worauf bei der Aktenanalyse fokussiert werden sollte und welche weiteren Daten erhoben werden müssten, bzw. welche Daten für die Analyse bereits vorhanden oder zumindest schnell zugänglich sind. Wir haben in den Akten vor allem Stellungnahmen der Heimleitung zu unterschiedlichen Themen diskursanalytisch untersucht, weil die Akteure hier angehalten waren, sich innerhalb einer Problematik selbst zu verorten, wobei sie in diesem Zusammenhang ein Verständnis von sich als handelnden Akteur darstellen mussten, unter der besonderen Berücksichtigung, dass sie selber (das heißt, in ihrer Funktion als Erzieher) auf dem Prüfstand standen.

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Die Unterscheidung in „Vorder-„ und „Hinterbühne“ basiert auf Erving Goffman. Auf der „Vorderbühne“ findet entsprechend die offizielle Außendarstellung für ein bestimmtes Publikum statt, wobei mit „Hinterbühne“ der soziale Ort gemeint ist, der für das Publikum nicht sichtbar ist. Da es sich bei dem Publikum auch um die vorgesetzte Verwaltungsbehörde gehandelt haben kann, können wir eine solche Außendarstellung auch als Technik der Imagepflege verstehen, vgl. Goffman , E. (1986): Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation. 9. Aufl., Frankfurt a.M. und Goffman, E. (2003): Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. 10. Aufl., München.

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Wir haben neben den Akten weiterhin Hefte aus der Schriftenreihe „Beiträge zur Weiterbildung“ des Instituts für Jugendhilfe zur Analyse herangezogen. 18 Untersucht wurde hierbei, wie der akademische Diskurs die Sozialfigur „Erzieher“ konstituiert hatte, um dies mit den Darstellungen in den Schriftstücken aus den Akten zu vergleichen. Wir haben – um die Termini von Jürgen Link 19 aufzugreifen – also untersucht, welche Elemente der wissenschaftlichen Spezialdiskurse in die geführten Interdiskurse eingeflossen sind. Darüber hinaus wurden die uns bereits zur Verfügung stehenden und zum Teil neu geführten Interviews mit ehemaligen Heimerziehern mit in die Analyse einbezogen, wobei der Schwerpunkt vor allem auf der Frage lag, wie Informationen erhalten, verarbeitet und weiter geleitet wurden und welchen Stellenwert die Verwaltungsarbeit im Alltag einnahm. Besonders interessant erschien die Durchlässigkeit bzw. Undurchlässigkeit von Grenzen (zu verstehen als Grenze zwischen „Vorder-„ und „Hinterbühne“). So wurden von den Interviewten Strategien benannt, mittels derer sie den Ausfluss von Informationen kontrollierten bzw. zu ihren Gunsten „frisierten“. Dabei trat eine doppelte Grenzziehung in Erscheinung: zum einen die Grenze nach Außen, welche die Heime von den Verwaltungsapparaten der Jugendhilfe abgrenzte und zum anderen im Inneren, welche eine Differenz zwischen dem im Heim angestellten Personal (zwischen Heimleiter und Gruppenerziehern, zwischen den einzelnen Erziehern untereinander, aber auch zwischen Erziehern und Lehrern sowie der Differenz zwischen Pädagogen und dem technischen Personal) markierte. So lassen sich aufgrund der unterschiedlichen Ebenen der Informationsgrenzen auch verschiedene Strategien der Informationskontrolle ausmachen, was unter anderem auch mit der räumlichen Nähe und/oder Distanz zusammenhängt. So muss die Grenze zwischen Erzieher und Heimleitung wegen der räumlichen engen Zusammenarbeit unter Umständen täglich neu ausgehandelt werden. Auch war die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen versehentlich „durchsickern“ könnten größer, weil die Kanäle vielfältiger waren (Heimkinder, Kollegen aber auch das technische Personal konnten Informationen verraten), was eine erhöhte Aufmerksamkeit bei der Weitergabe oder Geheimhaltung von Informationen von den Akteuren forderte. 20 Aufgrund der kurzen Zeitspanne des Projektes und dem Haupt-

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Wir möchten an dieser Stelle Frau Walther (Archivleiterin des Stadtarchivs Suhl) ausdrücklich danken, dass sie uns diese Hefte aus ihrem Privatbestand zur Verfügung gestellt hat. Vgl. Diaz-Bone; R. (2006): Operative Anschlüsse: Zur Entstehung der Foucaultschen Diskursanalyse in der Bundesrepublik. Jürgen Link im Gespräch mit Rainer Diaz-Bone [38 Absätze], Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(3), Art. 20, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114fqs0603208 (letzter Aufruf am 24.07.2012). Insbesondere das Ehepaar Schrade als auch Frau Maierlein haben in den Interviews darauf aufmerksam gemacht, dass möglichst wenig Information an andere Erzieher anderer Gruppen gelang, ebenso das bestimmte Informationen möglichst intern bearbeitet wurden und penibel genau darauf geachtet wurde, welche Informationen nach außen treten. Ebenso verwies auch Herr Ihle auf dieses Phänomen, welches er als „Öffentlichkeitsarbeit“ bezeichnet hat. Vgl. Interview mit Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. und

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fokus auf den Akten als primäre Datenbasis, konnten die Einsichten aus den Interviews am Ende leider ebenfalls nur als Kontextinformationen oder als Ergänzung in die hier vorliegende Untersuchung einfließen. Die nur kurz skizzierten Grenzziehungsdynamiken, deren Voraussetzungen und deren Konsequenzen für das alltägliche Miteinander bedürften einer eingehenderen Untersuchung. 2.2.3 Exkurs: (Um-)Wege einer Akte. Wenn wir Eingangs unsere Ausgangsbedingungen verknüpft mit der gegenwärtigen Aktenlage als problembehaftet qualifiziert haben, musste von uns deutlich gemacht werden, woraus solche Schwierigkeiten resultieren konnten. Wir wollen an dieser Stelle versuchen, die folgenden und bisweilen sehr abstrakten Darlegungen plastischer und unmittelbarer anhand eines beispielhaften Verlaufes einer Fallakte zu beschreiben. Darüber hinaus wollen wir aber auch einen praktischen Zweck mit diesem Kapitel verbinden. Wir sind uns darüber im Klaren, welche Brisanz und Bedeutung die Fallakten der Jugendhilfe für die ehemaligen Betroffenen aufweisen. Erhoffen sich Betroffene die Klärung verschiedener Fragen über vergangene Ereignisse und Verantwortlichkeiten, so wird die Akte zu einem notwendigen Instrument im Prozess der Selbstformierung. 21 Darüber hinaus gewinnt die Akte auch für juristische Belange an Bedeutung, insofern sie für Rehabilitierungsverfahren unabdingbarer Bestandteil der Rechtspraxis ist. Oftmals wird aber bereits die Suche nach den Akten zu einer wahren Odyssee, weil die Akteure nicht wissen, wo sie mit der Suche beginnen sollen, bzw. an wen sie sich eigentlich wenden können, wenngleich mit der Etablierung der Beratungs- und Anlaufstellen im Zuge der Errichtung des Fonds Heimerziehung zum 1. Juli 2012 Betroffene auf Unterstützung bei der Recherche ihrer Akte hoffen können. Genau aus diesem Grund haben wir uns für die „Fallakte“ als Beispiel entschieden. Mögliche (Um-)Wege einer solchen, sollen – so hoffen wir – verständlicher gemacht und offen gelegt werden, um im Anschluss Ansätze für eine Suche nach den eigenen Unterlagen konturieren zu können. Die institutionelle Karriere eines Heimkindes begann damit, dass gegen Gegebenheiten des unmittelbaren Zusammenlebens, z.B. in der Schule oder in der Öffentlichkeit versto-

28. Februar 2012; Interview mit Marit Maierlein von Jan Kalies am 06.Februar sowie Interview mit Herrn Ihle von Michael Hoffman und Jan Kalies am 07. Mai 2012. 21 Der Begriff Selbstformierung ist als eine „Technologie des Selbst“ im Sinne Foucaults zu verstehen als kulturell verbreitete „Formen, in denen das Individuum auf sich selber einwirkt“ (Reckwitz, A. (2008a): Subjekt. Bielefeld, S. 38). Dieses Konzept entwickelte er in seiner Spätphase im Rahmen seiner Subjektanalyse. Vgl. Foucault, M. (2004a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd.2, Frankfurt a.M.; Foucault, M. (2004b): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt a.M. sowie Foucault, M. (2009): Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt a.M.

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ßen wurde. Der Verwaltungsapparat der DDR-Jugendhilfe begann seine Arbeit in dem Moment, als die Eingaben seitens eines Beschwerdeführers bei ihr eingingen. Der zuständige Jugendfürsorger legte nach festgelegten technischen und funktionalen Standards (Organisationsvorschriften, Ordnungssystem/ Aktenplan, Dossierbildung usw.) eine Akte an, in welcher die künftig eingehenden und ausgehenden Unterlagen abgeheftet und relevante Dokumente registriert werden konnten. Es wurden nun die örtlichen Helfer der Jugendhilfekommission beauftragt, nähere Informationen zu dem Betroffenen und dessen Lebensumfeld in Erfahrung zu bringen und abzuschätzen, welche möglichen Hilfeleistungen angeboten werden könnten und dies dann auch zu realisieren. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Jugendhilfekommission in den Städten sollten Gespräche mit den Eltern, den Nachbarn der Familie, sowie Mitschülern, Lehrern, aber auch Freunden und Bekannten führen. Die Gespräche wurden protokolliert und alle eingeleiteten Maßnahmen und deren Resultate dokumentiert und in der angelegten Akte des Betroffenen Kindes oder Jugendlichen abgeheftet. Darüber hinaus konnten weitere Informationen in Form von ärztlichen Gutachten oder ähnliches eingeholt werden. Somit wurde das Dossier zu der betroffenen Person immer umfangreicher und die, zum Teil standardisierten Unterlagen (die Gesprächsprotokolle der Jugendhilfekommission waren standardisierte Fragebögen 22) wurden in der Akte niedergelegt. Im Zuge dieser Aktivitäten verdichtete sich für den Jugendfürsorger ein Bild des Betroffenen, welches einen Eingriff der Jugendhilfe in die Fürsorgepraxis rechtfertigte. Der sich so konstituierte „Fall“ wurde in der Folge vom Jugendhilfeausschuss auf Kreisebene verhandelt. Nehmen wir an, das Resultat war die „Heimeinweisung auf Bewährung“. Schon allein der Terminus „Bewährung“, welcher eigentlich im strafrechtlichen Gebrauch gängig ist, deutet an, dass eine Einweisung in ein Heim eine Art Bestrafung darstellte. Es wurde ein zeitliche Frist formuliert, in der sich die Betroffenen noch einmal bewähren, d.h. ihre Eignung zum Ausdruck bringen konnten, dass sie fähig sind, den sozialistischen Imperativen zu folgen. Der Betroffene und dessen Eltern mussten nun in einem festgelegten Zeitraum bestimmte Auflagen einhalten und erfüllen. Bei Zuwiderhandlung würde die Bewährung ausgesetzt und eine unmittelbare Heimeinweisung angeordnet werden. Die Auflagen, welche zu erfüllen waren, konnten z.B. besagen, dass in der Schule bessere Leistungen erzielt werden sollen und vor allem die Mitarbeit im Unterricht aktiver gestaltet werden solle. Darüber hinaus konnte auch gefordert werden, sich intensiver in den Jugendorganisationen einzubringen und damit eine positive Einstellung zum Sozialismus zum Ausdruck zu bringen. Die Eltern mussten sich zum Beispiel verpflichten, sich intensiver um 22

Neben der fragwürdigen Tatsache, dass hier Laien die Arbeit von Professionellen übernahmen, ist ebenfalls fraglich, wie eine Arbeit. die sich ausgewiesener Maßen an den Gegebenheiten des Falles orientieren müsste, mittels standardisierter Verfahren realisieren ließ.

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die Erziehungsfragen zu kümmern, den Kindern mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, aber auch dafür Sorge zu tragen, dass sie sich an die Verpflichtungen hielten. Der zuständige Jugendhilfefürsorger würde in Zusammenarbeit mit der Jugendhilfekommission die Einhaltung der Auflagen in regelmäßigen Abständen kontrollieren. Bis zu diesem Zeitpunkt enthielt die Fallakte alle Schriftstücke, welche im bisherigen Verlauf der Bearbeitungsaktivität durch die Jugendhilfe angefertigt wurden und welche bei ihr eingegangen und entsprechend registriert worden sind. Durch die Zusammenführung und Paginierung der Schriftstücke formierte sich so die Akte. Diese verblieb zur weiteren Bearbeitung in dem zuständigen Referat Jugendhilfe/ Heimerziehung auf der Ebene der Kreisverwaltung. Nehmen wir an, auf Beschluss des Jugendhilfeausschusses wurde eine Einweisung in ein Spezialkinderheim angewiesen. Bei einer Einweisung in ein Normalkinderheim hätte die Zuweisung zu einem bestimmten Heim bereits auf Kreisebene stattfinden können, da die Kreisbehörden für die Verwaltung der Normalheime zuständig waren. Die Einweisungsbefugnisse in die Spezialheime oblagen den Bezirksverwaltungen. Deshalb wurde der Beschluss 23 zusammen mit der Akte der Betroffenen an die zuständigen Behörden auf Bezirksebene weitergeleitet. Auf der Kreisebene, bei dem zuständigen Jugendfürsorger, verblieb derweil eine Retentakte. Ein Retent bezeichnet eine Nebenakte, welche den Verbleib der Hauptakte dokumentierte (wer, wann, warum, wem die eigentliche Akte überantwortete). Ferner enthält das Retent neben einem Aktenkontrollblatt auch Dokumente, welche nicht mit der Akte verschickt wurden (eine Kopie des Beschlusses, und dergleichen) und in ihr wurden alle Schriftstücke, die während des Heimaufenthaltes des Zöglings in der Behörde eintrafen, abgeheftet. Dabei handelte es sich um Korrespondenz des Zöglings mit seinem Jugendfürsorger, um die halbjährlichen Entwicklungsberichte aus dem Heim, Schriftwechsel mit den Eltern, aber auch Schriftstücke von anderen mitwirkenden Fachreferaten, welche den weiteren Verlauf des Umganges mit dem Zögling (bei Heimwechsel z.B. in einen Jugendwerkhof) dokumentierten. Somit enthielt sie alle Informationen über den Sachverhalt, bzw. Fall, welche für den Jugendfürsorger zur Betreuung des Falls relevant waren. Weil die Akte nun auf unterschiedlichen 23

Der Beschluss über die Anordnung der Heimerziehung setzte sich formal zusammen aus: dem Titel »Beschluss…«, der Benennung handelnder Akteure, welche anwesend waren (Betroffene, Vertreter, sowie Mitglieder des Ausschusses etc.), der Begründung der Entscheidung, Festlegungen und Anweisungen für die Heimerzieher hinsichtlich des Erziehungsplanes, Auflagen für den Betroffenen sowie dessen Eltern und dem obligatorischen Abschluss, bestehend aus Ort, Datum und Unterschrift.

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Verwaltungsebenen bearbeitet wurde, bzw. als Arbeitsgrundlage fungierte, wurden wiederum auf den Verwaltungsebenen 24 die Bearbeitungsvorgänge dokumentiert. Die hier entstandenen Dokumente wurden allerdings in Einzelsach- oder in Sammelsachakten abgelegt und nicht in der Fallakte. Ebenso wenig wurde eine erneute Einzelfallakte von dem Zögling angefertigt. 25 Die auf Bezirksebene in dem Referat für Jugendhilfe/ Heimerziehung arbeitenden Referenten für Spezialheime koordinierten nun die Einweisung in ein Spezialheim. Hierzu wurden beim Aufnahme- und Beobachtungsheim in Eilenburg 26 mögliche Kapazitäten erfragt und von Eilenburg wurde dann dem Kreisreferat schriftlich mitgeteilt, in welches Spezialkinderheim der Betroffene eingewiesen werden sollte, ebenso der Zeitraum in dem die Überführung stattzufinden hat und welche Dokumente (Personalausweis, Impfpass usw.) mitgebracht werden müssen. Die Fallakte wurde derweil von Eilenburg dem Mitarbeiterstab des Heimes übersandt. Dem Heimleiter oblag während des Aufenthaltes eines Kindes/ Jugendlichen die Aktenführung. Das heißt, er hatte dafür Sorge zu tragen, dass sämtliche Dokumente von und über das Heimkind, welche während des Aufenthaltes in dem Spezialkinderheim eingegangen oder

angefertigt

wurden

(Briefe,

Entwicklungsberichte,

Arbeitszeugnisse,

Gutach-

ten/Beobachtungsbögen usw.) in der Fallakte abgeheftet wurden. Darüber hinaus können auch Informationen über die Kinder- und Jugendlichen in den Verwaltungsakten der Heimleitung selbst aufzufinden sein. So zum Beispiel in Gruppenbüchern, oder wenn die Leitung sich zu einem Zwischenfall (z.B. bei einer Entweichung) den vorgesetzten Stellen gegenüber rechtfertigen musste. Dann wurden die Namen aller an dem Vorfall beteiligten in dem Bericht mit geführt. Es konnten auch Personenbeurteilungen von anderen Behörden (bspw. Polizei, 24

Die verschiedenen Verwaltungsebenen, auf denen die Akte bis zu diesem Zeitpunkt bearbeitet wurde, oder als Handlungsgrundlage diente sind hier nach der Kreisverwaltung, die Bezirksverwaltung. 25 Es existierte immer nur eine Einzelfallakte der Jugendhilfe. Diese wurde aber auf unterschiedlichen Ebenen bearbeitet. Ab einer bestimmten Größe konnte eine Akte auch geteilt werden (weil der Umfang der Dokumente das Fassungsvermögen des Aktenordners überstiegt), wobei eine Einteilung in Bände vorgenommen wurde. Neben der Akte der Jugendhilfe gibt es aber auch Krankenakten, evtl. auch Polizeiakten über eine Person, welche möglicherweise auch für die Jugendhilfe eine bestimmte Bedeutung haben konnten (siehe oben). Vielleicht ist dies ein Grund, weshalb des Öfteren von Akten (Plural) eines Heimkindes gesprochen wird, was sehr irritierend sein kann, wenn nicht gleichzeitig angegeben wird, von welcher Akte eigentlich die Rede ist. 26 Die Zuständigkeit des Aufnahme- und Beobachtungsheimes der Jugendhilfe in Eilenburg belief sich nicht nur auf Zweifelsfälle, wie dies Sachse und Laudien angemerkt haben (vgl. Laudien, K. / Sachse, C. (2012): Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der DDR. in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, Expertisen, Berlin, S. 125-297). Vielmehr war Eilenburg ursprünglich als Beobachtungsheim konzipiert, aber aufgrund von Kapazitätsüberlastungen als solches recht bald wieder geschlossen worden. In den darauf folgenden Jahren wurden dort aber die Kapazitäten der einzelnen Spezialheime der DDR verwaltet. Die Heimleiter wurden angewiesen, monatlich die Belegzahlen der jeweiligen Gruppen sowie die für die Gruppen festgelegten Ausbildungen nach Eilenburg zu melden. Anhand dieser Daten wurde von Eilenburg aus die Zuweisung der Kinder- und Jugendlichen in die Spezialheime koordiniert.

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MfS o.a.) angefordert werden. Diese Dokumente sind nicht in der Fallakte abgelegt, da sie die Verwaltungsvorgänge der Einrichtung, bzw. der anderen Behörden dokumentierten und in deren Verwendungskontext standen. Ebenso hatten die Schulen in den Heimen eigene Aktenbestände, auch personenbezogener Natur. Neben allgemeinen Schulverwaltungsdokumenten (u.a. die Klassenbücher, Korrespondenz, Personalakten der Lehrer usw.) wurden vor allem auch die Zeugnisse der Schüler prinzipiell in den Schularchiven gemäß den Aufbewahrungsfristen verwahrt. Es lässt sich also festhalten, dass eine Vielzahl verschiedener Dokumente, welche an unterschiedlichen Stellen im Laufe der institutionellen Karriere eines Heimkindes angefertigt wurden, existierte. Hiervon ist aber nur ein Bruchteil tatsächlich in der Einzelfallakte der Jugendhilfe aufzufinden. Nach der Entlassung aus dem Heim wurde die Akte vom Heimleiter dem zuständigen Referat des Heimatkreises zurückgesandt. Der zuständige Jugendfürsorger vervollständigte die Akte, indem er die Schriftstücke, welche in der Zwischenzeit von ihm in der Retentakte abgelegt wurden, der eigentlichen Fallakte hinzufügte. Nun wurden dem Zögling von seinem Jugendfürsorger eine Ausbildungsstelle und eine Wohnung zugewiesen, was ebenfalls in der Akte dokumentiert wurde. Kurz nach der Vollendung seines 18. Lebensjahres schloss der Zögling seine Ausbildung mit Erfolg ab. Ab diesem Moment wurde er aus der Fürsorge der Jugendhilfe entlassen. Der „Fall“ galt somit offiziell als abgeschlossen. Ob auf den Ebenen im Einzelnen genauso verfahren wurde, kann hier nicht mit Sicherheit gesagt werden. Es bedarf unbedingt noch eingehender Untersuchungen anhand von ehemaligen Fallakten der Jugendhilfe, um den Prozess der Fallkonstituierung als auch die Verwaltungshintergründe und Verläufe genauer rekonstruieren und verstehen zu können. Und dies umso dringender, als die Fallakten eine wichtige Grundlage nicht nur für die individuelle Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern ebenso für ein mögliches Rehabilitierungsverfahren darstellen. Und dies ist nicht normativ, sondern kognitiv gemeint. Wie kann nun ein Betroffener, nach mindesten 22 Jahren, die Akte ausfindig machen und prüfen, ob ein Anspruch auf Rehabilitierung für den Heimaufenthalt besteht? Die erste Anlaufstelle ist das für seinen Geburtsort zuständige Jugendamt. Dieses befindet sich im Landratsamt, bzw. bei kreisfreien Städten in der Stadtverwaltung. 27 Die dort zuständigen Mitarbeiter können bei einer ordnungsgemäßen Führung der Verwaltungsaufgaben zu DDRZeiten (aber auch darüber hinaus) mitteilen, wo sich die Akte befindet; also ob sie noch im 27

Es gibt für jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt in Thüringen ein zuständiges Jugendamt, an welches sich die Betroffenen wenden können. Eine Liste der Jugendämter befindet sich im Anhang.

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Jugendamt vorliegt, oder ob sie bereits an das zuständige Kreisarchiv weitergegeben wurde. Liegt die Akte noch im Jugendamt vor, können die Modalitäten der Einsichtnahme genauer erläutert werden, insbesondere welche datenschutzrechtlichen Aspekte zu beachten sind. Liegt die Akte nicht mehr im Jugendamt vor, sondern ist bereits an das Kreisarchiv übergeben worden, muss man dort vorstellig werden. Die Verfahrensweise ist in den Archiven ähnlich, auch hier wird aufgeklärt werden über die Modalitäten der Einsichtnahme. Eine Besonderheit soll an dieser Stelle noch erwähnt werden. Die Kreisarchive wurden im Zuge der Zentralisierung in der DDR (womit auch die Verstaatlichung des Archivwesens verbunden war) errichtet. Dabei waren die Kreisarchive für die Archivierung der Verwaltungsbestände auf Kreisebene (Kreistag und Rat des Kreises) zuständig, sowie für die Bestände der Gemeinden ohne eigenes Endarchiv. Ebenfalls sollten die Kreisarchive Verwaltungsarchive als Zwischenarchive aufbauen. In diesen konnten die Fachdienste ihre Unterlagen ablegen und somit Ordnung und Übersichtlichkeit in den Dienststellen einhalten. Alle durch lange Aufbewahrungsfristen noch verwalteten, aber bereits geschlossenen Akten konnten somit aus den Dienststellen ausgelagert werden, besitzen aber noch nicht den vollen Status von Archivgut. Diese Zwischenarchive stellen also eine Art transitorischen Raum dar. Für die Suche nach einer Fallakte bedeutet dies, dass sich die Betroffenen immer an die zuständigen Jugendämter, wahlweise auch an die zuständigen Kreisarchive wenden müssen, weil dort gemäß der Verwaltungslogik (Provenienzprinzip siehe oben) die Akten vorliegen müssten. Sollte dies dennoch nicht der Fall sein, müssten die zuständigen Jugendämter zumindest in der Lage sein, Auskünfte über den möglichen Verbleib der Akte zu erteilen, weil sie - zumindest theoretisch - den letzten Aufenthaltsort dieser vermerkt haben müssten. Allerdings kann es sein, dass ein Jugendamt oder ein Kreisarchiv tatsächlich keine Auskünfte darüber erteilen kann, wo sich die Akte befindet, bzw. zuletzt befunden hat. Gründe hierfür könnten sein: a)

Die Fallakten sind bereits zu DDR-Zeiten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen kassiert (vernichtet) worden.

b)

Die Fallakten sind während des Systemumbruchs kassiert worden, möglicherweise sogar „wilden Kassationen“ 28 zum Opfer gefallen.

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Wie noch erläutert werden wird, hat jede Behörde grundsätzlich seinen Schriftgutbestand nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen dem zuständigen Archiv zur Archivierung anzubieten. Alle Bestände, welche nicht in ein Archiv übernommen werden können dann kassiert, also vernichtet werden. Von „wilden Kassationen“

Kapitel 2: Öffentliche Kommunikation im Handlungsfeld der DDR-Jugendhilfe c)

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Im Rahmen des Systemumbruchs und den strukturellen Änderungen wurden die Akten nicht mehr an das zuständige Jugendamt zurückgesandt. In diesem Fall müsste geprüft werden, ob ein privater Träger die Einrichtung, also das Heim übernommen hat und ob die Aktenbestände übernommen, an ein Archiv abgegeben (wenn ja, an welches) oder vernichtet wurden.

d)

Problematischer wird es besonders dann, wenn in den Jahren nach der „Wende“ die Trägerschaft für ein Heim mehrfach gewechselt hat. In den meisten Fällen ist es dann schlicht unmöglich nachzuvollziehen, wo eventuell vorhandene Akten verblieben sind, meist sogar für die Träger selbst.

Allgemein kann abschließend festgehalten werden, dass das Auffinden ehemaliger Fallakten, wenn sie nicht in den zuständigen Jugendämter, resp. Kreisarchiven vorliegen, zwar nicht aussichtslos, aber auch nicht sehr wahrscheinlich ist. Einen positiveren Befund können wir leider nicht erbringen.

wird dann gesprochen, wenn behördliches Schriftgut vernichtet wird, ohne dass es einem Archiv zur Bewertung auf seine Archivwürdigkeit angeboten wurde.

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2.3 Die Sozialfigur »Erzieher« in der DDR. 2.3.1 Strategische Öffentlichkeitsarbeit Die Dokumente in den Akten unterscheiden sich von den Interviews, welche nach der Transkription ebenfalls in Form textlicher Dokumente vorliegen, darin, dass sie nicht mit eigenen Instrumenten generiert wurden. Es handelt sich also um Material, welches nicht eigens für unsere Studie evoziert, sondern welches im Alltag in den Organisationen der Jugendhilfe der DDR hergestellt und genutzt wurde. Den Vorteil, den solche prozessproduzierten Daten bieten, liegt darin, dass sie keinen Verzerrungen in der Erhebung unterliegen, weil ein direkter Einfluss des Forschers auf die untersuchten Personen, Ereignisse und Prozesse nicht ausgeübt wurde. Der Nachteil ist allerdings, dass sie auch nicht auf die Fragestellung eines Projektes fokussiert sind, sondern ein solcher Bezug vom Forscher selbst erst hergestellt werden muss. Vor diesem Hintergrund ergeben sich eine Menge Probleme im Umgang mit den Daten, sind sie doch in mehrfacher Hinsicht selektiv: einmal finden sich nur Informationen, welche in einem spezifischen Kontext von einem spezifischen Akteur zu einem spezifischen Zeitpunkt als relevant eingeschätzt wurden und zugleich auch von diesem zugänglich waren (anderen Akteuren standen möglicherweise andere Informationen zur Verfügung). Zum anderen finden sich nur Informationen, welche nicht entfernt oder gelöscht wurden. Grundsätzlich gilt für diese Dokumente in besonderem Maße das Moment der Fiktion. 29 Daraus resultiert, dass sich zwischen den in den Dokumenten beschriebenen Prozessen und dem tatsächlichen Heimalltag eine Kluft offenbart, die in diesem Projekt nicht überwunden werden konnte. 30 Wenngleich wir nicht von den Akten auf die konkrete Handlungspraxis schließen können, so sind doch die Schriftstücke als eigenständige und situativ eingebettete Leistung der Verfasser auszuzeichnen. Dokumente als Texte mit der Eigenlogik einer textlich vermittelten dokumentarischen Wirklichkeit rückten als Forschungsgegenstand bereits in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Fokus. Ausschlaggebend war hier insbesondere der Etikettierungsansatz (labeling approach), dessen Vertreter darauf hinwiesen, dass erst die gesellschaftliche Reaktion bestimmte Handlungen oder Personen mit dem Attribut „abweichend“ qualifiziert. Entsprechend wurde in der Folge versucht, Produktionsagenturen solcher Abweichungstatbestände „auf die Finger zu schauen“ und so die institutionellen Definitionsund Dokumentationsprozesse sichtbar zu machen. Vor allem Cicourel hat in seinen Arbeiten

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Vgl. Wolff, S. (2000): Dokumenten- und Aktenanalyse. in: Flick, U. et al (Hrsg.), Qualitative Forschung – Ein Handbuch, Reinbek, S. 502-514. 30 Diese Kluft wird später als »explanatorische Lücke« elaboriert werden.

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zeigen können, wie der Transfer von Angaben über Personen und Ereignisse zu amtlichen Fällen von statten geht. Im Rahmen informeller oder institutionalisierter Aushandlungsprozesse werden Entscheidungen über die Zuweisung von Kategorien entlang organisatorischer Fallgestalten und Begründungsmuster gefällt. 31 Konnte sich erst einmal eine dokumentarische (Fall-)Realität etablieren, wurde eine Eigendynamik ins Werk gesetzt, der sich weder die kategorisierte Person, noch die mit ihr beschäftigten Instanzen entziehen konnten. Lag aber der Schwerpunkt der Etikettierungsforschung auf dem Nachweis des rhetorischen Charakters von Dokumenten, so wurde spätestens mit einer ethnomethodologisch einsetzenden Dokumentenanalyse durch Harold Garfinkel ein Perspektivenwechsel vollzogen. Hatten die Untersuchungen des labeling approach Dokumente noch als eine Ressource eines Prozesses des Informationsmanagements im Blick, in dem typischer Weise die Hintergründe ihrer Produziertheit nicht mehr sichtbar waren, machte Garfinkel die Praktiken ihrer Produktion und Rezeption selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung. 32 Dokumente erscheinen somit als eine Kommunikationsform, d.h. dass sie Gesprächen ähnlich sind, deren Beteiligten sich nicht zwangsläufig kennen müssen, aber gleichwohl in der Lage sind, die Inhalte sowie die Anspielungen und indirekten Hinweise zu verstehen, weil sie wissen, worüber gesprochen werden könnte. Erscheinen Dokumente in einem Kommunikationszusammenhang, wie wir ihn hier konstatieren, dann sind sie ebenso als Sprechakte zu verstehen und als solche hinsichtlich ihrer performativen Kraft zu analysieren. Das bedeutet, dass durch den Akt des Äußerns/ Benennens (in schriftlicher Form) Zustände in der sozialen Welt zu allererst erschaffen werden, d.h. die Performativität ist mit der „Macht des Diskurses, das hervorzubringen, was er benennt“ 33, verknüpft. 34 Diskurs bezeichnet hier nicht nur die ge31

Vgl. Cicourel, A. V. / Kitsuse, J. I. (1963): The Educational Decision Makers. Indianapolis; Cicourel, A. V. (1968): The social organization of juvenile justice. New York; Scheff, T. J. (1973): Das Etikett Geisteskrankheit. Soziale Interaktion und psychische Störung, Münster; Schuhmann, C. (1975): Heimerziehung und kriminelle Karrieren. Eine empirische Untersuchung anhand von Jugendamtsakten, in: Brusten, M. / Hohmeier, J. (Hrsg.), Stigmatisierung 2, Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Darmstadt, S. 3356; Bohler, K.-F. / Engelstädter, A. (2008): Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit in der Jugendhilfe. Zur Typisierung von Fällen und ihre Folgen, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 6. Jg., Heft 2, S. 114-143. 32 Vgl. Garfinkel, H. (2000): „Gute“ organisatorische Gründe für „schlechte“ Krankenakten. in: System Familie 13(3), S. 111-122. 33 Vgl. Butler, J. (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M., S. 309. 34 Die Frage nach der kommunikativen Funktion solcher Äußerungen und der Problematisierung der Möglichkeiten des Gelingens ist insbesondere in den Sprachwissenschaften, aber auch darüber hinaus debattiert worden. Austin hat den Begriff der Performanz im Rahmen seiner Sprechakttheorie eingeführt. In dieser wollte er die Sprachspielthese Wittgensteins rekonstruieren, vor allem dessen Auffassung, dass die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen durch deren Gebrauch bestimmt wird, wobei Austin mit dem Begriff der Performanz noch eine spezifische Klasse von Sprachverwendungen bezeichnete, vgl. Austin, J. L. (1979): Zur Theorie der Sprechakte. 2. Aufl., Stuttgart. Der Begriff der Performanz erfuhr daraufhin auch über die Grenzen der Sprachwissenschaft hinaus, eine ungemeine Beliebtheit, war aber auch Auslöser hitziger Debatten, vgl. Wirth, U. (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.

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sprochene Sprache, sondern es handelt sich dabei um eine im Foucault`schen Sinne machtdurchdrungene Matrix der Bedeutungszuweisung und –genese. 35 Der Diskurs ist somit der Nährboden für eine andauernde Produktion von Bedeutungen und im Anschluss daran auch von Subjektpositionen, die denk-, sag- und lebbar sind. Es wird auf diese Weise eine Verknüpfung von performativ und konstativ einerseits und performativ und Performance andererseits vollzogen. Ein konstativer Akt des Benennens ist demnach auch als ein performativer Akt mit einer deklarativen Funktion zu verstehen, die wiederum mit einer Aufforderung zu einer Performance i.S. einer Selbstinszenierung einhergeht. 36 Überträgt man dies auf unseren Gegenstandsbereich, bedeutet das, so unsere These, dass sich in der Praktik des Verfassens institutioneller Schriftstücke die Erzieher als Subjekte fortwährend naturalisierten. Um diese These zu belegen, werden wir zwei ausholende Bewegungen vollziehen. Zunächst zeigen wir, basierend auf der Analyse der von uns untersuchten Dokumente 37, dass die Heimleitung hegemoniale Diskurse zitierte und resignifizierte. Das heißt, es wird gezeigt, wie die Erzieher in den Dokumenten eine affirmative Selbstbeschreibung vollziehen, indem sie nämlich auf Vorstellungen und Erwartungshaltungen, welche von der Gesellschaft an die Rolle des Erzieher gerichtet waren, bedienten. Unvermeidlich ist dann die Darstellung der Normen, die sie zitierten, um sich als „Erzieher-Subjekt“ zu qualifizieren. Hierzu haben wir die Materialien des Instituts für Jugendhilfe in der DDR 38 als auch Lehrbücher untersucht. Wir werden aufzeigen, was für Verantwortlichkeiten und Aufgaben ein Erzieher zu erfüllen hatte und mittels welcher Methoden diesen nachgekommen werden sollte. Im Anschluss daran soll noch offen gelegt werden, welche Rolle die Kinder und Jugendlichen im Diskurs der offiziellen Pädagogik zugewiesen bekamen. Abschließend werden wir mögliche Erklärungen zur Diskussion stellen, weshalb die Erzieher, bzw. die Heimleitung die offi35

Vgl. Foucault, M. (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.; Foucault, M. (1991): Die Ordnung des Diskurses. Erw. Aufl., Frankfurt a.M. 36 Butler argumentiert hier am Beispiel von Indices (verstanden als erkennbare Geschlechtercodes, die eine Geschlechtsidentität markieren), welche als Geschlechts-Imperative gelesene werden müssen. So impliziert die Feststellung der Hebamme (als Akt des Benennens): „Es ist ein Mädchen!“ einen performativen Prozess, „mit dem ein ›Zum-Mädchen-Werden‹ erzwungen wird“ (Butler 1997: 318). Damit geht aber auch die Aufforderung („Sei ein Mädchen!“) zu einer bestimmten Performance einher, in dessen Rahmen das Mädchen die Norm (den Geschlechtercode) zitieren muss, um sich selbst als ein Subjekt qualifizieren zu können. Vgl. auch hierzu Moebius, S. (2008): Handlung und Praxis. Konturen einer poststrukturalistischen Praxistheorie, in: Moebius, S. / Reckwitz, A. (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M.; S. 58-74; Reckwitz; A. (2008b): Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums, in: Moebius, S. / Reckwitz, A. (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M.; S. 75-92. 37 Im Anhang befindet sich eine vorläufige Übersicht über von uns vorgefundene Dokumente aus und über Spezialheime, welche uns für die Analysearbeit zu Verfügung standen. 38 Die Hefte fungierten in der DDR als Weiterbildungshefte und erschienen nach Aussage unserer interviewten ehemaligen Heimerzieher (insbesondere das Ehepaar Schrade, als auch Marit Maierlein) monatlich. In dieser Form sollte der wissenschaftliche Diskurs in die Praxis transferiert werden. Eine Auflistung uns zur Verfügung stehender Hefte befindet sich im Literaturverzeichnis unter Quellen.

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ziellen Normen zitierte. Die ausschlaggebende Frage war, warum die Erzieher genau so agierten, was sie zu verlieren hatten, oder sogar gewinnen konnten. Oder anders: für welches Bezugsproblem stellte ein solches Handeln eine Lösung dar?

2.3.2 Formulierungsarbeit in der öffentlichen Kommunikation Die Ebenen des kommunikativen Handelns Unser Vorgehen orientierte sich an diskurs- und konversationsanalytischen Methoden und wurde entsprechend durch die zentrale Frage geleitet, was von wem wozu wie diskursiv im interaktiven Vollzug hervorgebracht wurde. Aus dieser Ausgangsfrage haben wir wiederum weitere Fragen formuliert, welche als heuristisches Mittel zur Analyse genutzt wurden und bei der Analyse der Dokumente sensibilisieren sollten. Hauptsächlich handelte es sich um folgende Fragen, welche für uns von besonderem Interesse waren: a) Was wird von wem über wen in welchen Begriffen weshalb angesprochen? b) Wie und nach welcher Logik wird ein Gegenstand diskursiv hervorgebracht? c) Welche unterschiedlichen Diskurse werden angesprochen und miteinander in Verbindung gebracht? d) Welches (machtstrategische) Ziel wird mit dem Gesagten verfolgt? Um die Formen der Herrschaftsausübung und politischer Kontrolle analysieren zu können, bedurfte es weiterhin eines Analyserasters, mittels dessen wir das kommunikative Handeln, wie es sich in den Dokumenten darbot, strukturieren und untersuchen konnten. So konnten wir Handlungsmuster aufdecken, welche als Erfahrungsschemata verinnerlicht und tradiert wurden und das kommunikative Handeln in der öffentlichen Situation einerseits restringierten und andererseits aber auch entlasteten. Das von uns gewählte Raster strukturierte die Kommunikation nach verschiedenen Ebenen: 1.

gesellschaftlich-politische Ebene

Auf dieser Ebene wurde nach den Handlungsspielräumen gefragt, die beim Verfassen der Texte vorhanden oder nicht vorhanden waren. Das heißt, welche Möglichkeiten die jeweiligen Akteure hinsichtlich der Wahl von Form und Inhalt der Texte hatten. Es wurde untersucht, ob die gesellschaftlichen Machtverhältnisse Auswirkungen auf die Distribution kommunikativer Handlungsoptionen zeitigten.

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31

soziale Ebene

Hier wurde untersucht, in welcher Art von Beziehung die an der Kommunikation teilhabenden Akteure zueinander standen. 3.

normativ-ethische Handlungsebene

Hinsichtlich der normativ-ethischen Handlungsebene wurde gefragt, an welchen Maximen sich die Akteure in der Kommunikation orientierten, was also als offiziell ethische Norm des kommunikativen Handelns galt, an welchen Sprachspielen, bzw. Diskurstypen man sich orientierte. 4.

Wissensebene

Auf der Wissensebene wurden die Handlungsstrategien ausgearbeitet, welche den Kommunizierenden in Form kommunikativer Muster zur Verfügung standen. Solche Muster „sind sprachlich »gekodet« und bilden »objektive« Bausteine von »Problemlösungen«“ 39, welche als Orientierungsrahmen entlasten und kommunikative Handlungen situationsabhängig steuern. Dies vermögen sie, indem sie für die Produzenten als auch für die Rezipienten Bezugspunkte schaffen, auf die sie sich aufgrund ihrer Erfahrung stützen können. Es wurde also danach gefragt, inwiefern Erfahrungen reproduziert und interdiskursive Verbindungen hergestellt wurden, sich also auf bereits bestehende Diskurse bezogen. 5.

Sprachebene

Schließlich wurden auf der sprachlichen Ebene die bevorzugten Verwendungsweisen und Gebrauchshäufigkeiten sprachlicher Mittel untersucht. So handelt es sich beispielsweise bei der Verwendung formelhafter Einheiten um Verfahren, bei denen Formulierungen in spezifischen Situationen oder Anlässen repetitiv verwendet werden, wodurch aufgrund der wiederholten Verwendung Routinen entstehen, die für die Bewältigung bestimmter Formulierungsaufgaben immer wieder genutzt werden, um keine neue Formulierungen erzeugen zu müssen. Bestätigung ideologischer Werte Wie es die Überschrift ausweist, hatten wir es mit einer Vielzahl verschiedener Schriftstücke der öffentlichen Kommunikation zu tun. Nun kann man einwenden, dass diese Dokumente nur einer begrenzten Gruppe von Menschen zugänglich gewesen sind. Der Perso-

39

Luckmann, T. (2007): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. in: ders., Lebenswelt, Identität und Gesellschaft, Schriften zur Wissens- und Protosoziologie, Konstanz, S. 283.

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nenkreis konnte eventuell erweitert werden (beispielsweise durch Einbeziehung von Ärzten für die Erstellung von Gutachten oder bei Verlegung in andere staatliche Einrichtungen) aber er beschränkte sich doch auf den institutionellen Referenzrahmen. Es war also nicht möglich, dass ein Max Mustermann daherkam und auf die Verwaltungsschriftstücke beliebig zugreifen konnte. Zugriff hatte nur autorisiertes Personal, weshalb von einer öffentlichen Kommunikation nicht die Rede sein kann. An dieser Stelle ist nun wiederum einzuwenden, dass es sich doch lediglich um eine Frage der Beschreibung handelt, die man wählt. Prinzipiell könnte man zwischen »öffentlichen«, »halb-öffentlichen« und »privat-zwischenmenschlichen« Kommunikationsbereichen unterscheiden. Weil aber der Begriff »halb-öffentlich« keinen klaren Raum angeben kann, er zumeist auch nur als eine Art »zwischen« verstanden wird, der all das fasst, was nicht öffentlich und auch nicht privat ist, haben wir uns der Einfachheit halber für die binäre Unterscheidung öffentlich / privat entschieden. In Anbetracht der hohen Varianz differenter Verwaltungstexte, haben wir unser Augenmerk auf Situationsberichte als eine Sonderform von Beurteilungstexten gerichtet. Beurteilungstexte stellen eine eigene Textsorte dar, weil sich die Texte durch einen ähnlichen Handlungszusammenhang auszeichnen und zwar aus folgenden Gründen 40: a)

sie haben alle einen institutionellen Bezug, insofern sie von Institutionen mit Regelungskompetenzen verfasst, oder veranlasst worden sind,

b)

sie haben alle einen Bezug inhaltlicher Art, insofern sie eine Stellungnahme zur Eignung einer Person oder Einrichtung für eine bestimmte Aufgabe / Funktion aufweisen,

c)

sie haben eine gemeinsame Intention, nämlich das Bewerten einer Person oder Einrichtung, also ein gesellschaftlich gefordertes Urteil nach gesellschaftlich vorgegebenen Maßstäben,

d)

weiterhin weisen alle ein identisches Ziel auf, insofern sie Hilfestellung für eine Entscheidung über die Eignung einer bestimmten Person oder Einrichtung geben sollen und

40

Vgl. Fix, U. (2008): Die Ordnung des Diskurses in der DDR – Konzeption einer diskurslinguistisch angelegten Monographie zur Analyse und Beschreibung von Sprache und Sprachgebrauch im öffentlichen Diskurs eines totalitären Systems. in: Warnke, I. H. / Spitzmüller, J. (Hrsg.), Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin / New York, S. 385-404.

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sie können auch einen formalen Bezug aufweisen, insofern in ihnen dieselben sprachlichen Mittel und dieselben Fach- und Ideologietermini enthalten sind.

Hinzuzufügen wäre an dieser Stelle noch, dass in den Handlungszusammenhang auch die Unterscheidung in „inklusive“ und „exklusive“ Texte gehört. Für das Feld der Beurteilungstexte bezieht sich diese Differenzierung darauf, ob die Beurteilungstexte öffentlich, d.h. den beurteilten Akteuren bekannt waren, oder ob sie nicht öffentlich, d.h. den beurteilten Akteuren nicht bekannt waren. Die Beurteilten wussten, dass es über sie exklusive Beurteilungen geben könnte, ob es sie letztlich tatsächlich gab und was der Inhalt dieser war, wussten sie allerdings nicht. Dies ist schon von Muckel 41 als subtile panoptische Struktur beschrieben worden. Allein die Potentialität einer negativen Beurteilung veranlasst die Subjekte ihr Handeln hinsichtlich der an sie gestellten normativen Erwartungen zu disziplinieren. Die Unterscheidung in inklusive/exklusive Texte ist deshalb von Bedeutung, weil sie unterschiedliche Adressatenbezüge, Mittel und Zielsetzungen aufweisen können, die bei der Analyse mit beachtet werden müssen. Bei den meisten von uns untersuchten Dokumenten handelte es sich allerdings um „inklusive“ Beurteilungstexte. Was können wir nun vorläufig aus der Analyse der Schriftstücke festhalten? Beurteilungen setzen immer Bewertung voraus. Ein Beurteilungstext ist also eine beurteilende Stellungnahme zu einer Person oder zu den Geschehnissen oder Gegebenheiten in einer Einrichtung auf der Grundlage eines spezifischen Wertsystems, mit einer bestimmten Intention für einen ganz bestimmten Empfänger. Hinzu kommt, dass Verfasser und Empfänger der Beurteilung eine bestimmte Beziehung zueinander haben, jeder von ihnen eine gewisse Einstellung zu der Beurteilung als auch zu dem Bewertungsmaßstab selbst hat. Wenn ein Heimleiter einen Situationsbericht an seinen Vorgesetzten, den Schulrat im Referat Heimerziehung schreibt, dann ist er überzeugt, dass diese Beurteilung notwendig ist. So schreibt bspw. der Heimleiter des Spezialkinderheimes „Steigerhaus“ in Saalfeld: „…hat sich die Situation in unserem Heim stark verändert - ist weitaus komplizierter geworden, so dass ich es als meine Pflicht ansehe, Dich über einige wenige Fakten hierzu zu informieren.“ 42 Er verweist explizit darauf, dass er es als seine „Pflicht“ versteht, womit er zu verstehen gibt, dass er dies aus moralischen 41

Vgl. Muckel, P. (1997): Der Alltag mit Akten – psychologische Rekonstruktion bürokratischer Phänomene. Eine empirische Untersuchung in verschiedenen Institutionen auf der Grundlage der Grounded Theory, Aachen; Muckel, P. (2000): Methodische Reflexionen zur Forschung in Institutionen – Phänomenspiegelungen als Erkenntnisinstrument [23 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 1(2), Art. 22, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0002221 (letzter Aufruf am 11.07.2012). 42 Vgl. Kreisarchiv Saalfeld, „Sonderschulheim Steigerhaus“, 075, 04.09.1987

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Gründen tut und auch berechtigter Weise davon ausgeht, dass sein Vorgesetzter dies von ihm erwartet, weil er der Autorität des Schulrates gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet ist. Er stimmt den offiziellen Normen zu und weiß auch, dass sein Vorgesetzter dies genauso sieht. In den Beurteilungstexten wurden allgemeine gesellschaftliche Normen wie Verbundenheit mit der Arbeiterklasse, Loyalität gegenüber der Partei sowie Liebe zur DDR als Normen benannt. Damit wird deutlich, dass die Produzenten die „sozialistischen Grundwerte“ als zentrales Beurteilungskriterium angesehen haben. Indem sie diese Werte zitierten, signalisierten sie zum einen ihre Anerkennung dieser Werte und geben aber ebenso zu erkennen, dass sie um die Bedeutung der politischen Einstellung in Beurteilungstexten wissen. Der Handlungsspielraum war entsprechend limitiert. Die Adressatenbeziehung war eindeutig autoritär-asymmetrisch und wurde obendrein auch als eine didaktische Beziehung verstanden. Als dominierende Handlungen in den Dokumenten standen Feststellen, Beschreiben und Begründen von Eigenschaften, Handlungen und Entscheidungen im Vordergrund. Hinzu kamen Mahnungen und Empfehlungen. Dies entspricht einem didaktischen Anliegen, die Beurteilten sollten mittels Lob und Kritik erzogen werden. 43 Die Maximen nach denen die Kommunikationsteilnehmer offenbar gehandelt haben, waren Kooperativität/Offenheit untereinander, d.h. wenn es sich um Beurteilungen „Dritter“ handelte: „Um was für Schüler es sich bei den Neuzuweisungen handelt, kannst du [Herv. d. V.] zum Beispiel aus nur einer beiliegenden Beurteilung der bisherigen Hilfsschule ersehen!“ 44 Die zweite geltende Maxime war die des Beschönigens, vielleicht sogar des Verschleierns/Lügens: „Bei politischen Diskussionen bezieht … noch zu wenig Position.“ 45 heißt eigentlich: „Er zeigt keine politischen Ambitionen.“ 46

43

Dies trifft insbesondere für Entwicklungsberichte über Heimkinder zu, vgl. Kreisarchiv Sömmerda, Rat des Kreises Sömmerda, 3686, S. 148. Aber auch in Kontrollberichten ist diese Struktur anzutreffen, sowie in Stellungnahmen der Heimleitung. Allerdings wird bei letzteren vom Verfasser der Stellungnahme der Modus des Kritisierens als Selbstkritik mit Vorschlägen wie man die Mängel in Zukunft abstellen könne, formuliert, vgl. hierzu Kreisarchiv Saalfeld, Sonderschulheim „Steigerhaus“, 073, 09.09.1988. 44 Kreisarchiv Saalfeld, Sonderschulheim „Steigerhaus“, 075, 04.09.1987.

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Das Wissen um diese Maximen bestand aufgrund der Erfahrungen und Kenntnisse, die im Umgang mit diesen Texten gemacht wurden, sowie deren Intentionen und möglichen Strategien. Die Regeln und die Codes des Beschönigens und der Kooperativität waren jedem Teilnehmer bekannt und aufgrund ihrer Erfahrung konnten sie auch die Kodierungen und damit den Sinn einer Mitteilung entschlüsseln als auch beim Verfassen von Texten bedienen. Prinzipiell gilt, wenn Tätigkeiten, Eigenschaften oder auch Ereignisse angesprochen wurden, dann nur deshalb, weil sie für die Intention der Beurteilung als hervorhebenswert erschienen. Dies ist bedeutsam, weil die Beurteilungstexte in der Regel zu den regulativen und integrativen Sprachspielen bzw. Diskurstypen gehören. Politisches Handeln und Sprechen ist interessengeleitet und zielt auf eine möglichst breite Zustimmung ab, weshalb unter „perlokutionären“ Gesichtspunkten politische Kommunikationspraxis zwischen den Polen Überreden und Überzeugen oszilliert. Aus diesem Grund können mit Grünert 47 in den verschiedenen Dokumenten vier Diskurstypen unterschieden werden, welche jeweils eine andere politische Funktion erfüllten: (1) disponierender-regulativer Diskurs Innerhalb dieses Diskurstyps wurden Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, also zwischen „oben“ und „unten“ definiert, d.h. es wurden bestimmte sprachlich-kommunikative Normen und Regeln markiert. Dieser Diskurstyp fand sich in Texten wie Verordnungen, Verfügungen oder auch in Beschlüssen und hatte in erster Linie regulative Funktion. (2) instrumental-ersuchender Diskurs Von diesem Diskurstyp kann gesprochen werden, wenn die Heimakteure gegenüber den Behörden Wünsche geäußert hatten oder Bitten vortrugen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um Forderungen nach Gebrauchsgegenständen, wie Baumaterial, Nahrungsmittel, Einrichtungsgegenstände und dergleichen, aber auch Fragen nach finanziellen Zuwendungen, nach neuem Personal, ärztliche Unterstützungsleistungen etc. Auch Anfragen von Mitarbeitern nach Versetzungen oder die Verlegung von Kindern und Jugendlichen in andere Einrichtungen zählen zu diesem Diskurstyp. 45

Kreisarchiv Sömmerda, Rat des Kreises Sömmerda, 3686, S. 148. Zu diesem Phänomen auch Keßler, C. (1997): „… und fügt sich gut ins Kollektiv ein“ - Muster personenbeurteilender Texte in der DDR. in: Barz, I. / Fix, U. (Hrsg.), Deutsch-deutsche Kommunikationserfahrungen im arbeitsweltlichen Alltag. Heidelberg, S. 303-314. 47 Vgl. Grünert, H. (1984): Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung. in: Besch, W. / Reichmann, O. / Sonderegger, S. (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 1, Berlin / New York, S. 29-37. 46

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(3) integrative Diskurse Diese dienten der Definition der jeweiligen sozialen Gruppe. Innerhalb dieser Diskurse wurde die Gruppensolidarität erzeugt oder erhalten, indem die Mitglieder gegenüber anderen Gruppen nach außen abgegrenzt und somit nach innen stabilisiert wurden. Solche Diskurse sind insbesondere in Plänen und Programmen anzutreffen. (4) informativ-persuasive Diskurse Wird in einem Schriftstück darauf abgezielt, ein bestimmtes Bewusstsein zu erzeugen, es der Meinungssteuerung dient, dann handelt es sich um einen informativ-persuasiven Diskurs. Sie dienen der Begründung, der Analyse und Kritik sowie der Rechtfertigung von politischem Handeln und können in drei Varianten auftreten: zum einen als reine politische Theorie (als Vortragsmanuskripte), zum zweiten als praktische Information, welche wiederum der Vorbereitung regulativer Sprachspiele dienen konnte und zum dritten als Propaganda. Wie bereits gesagt, die Diskurstypen, wie sie im offiziellen institutionellen Handeln der Jugendhilfeorganisationen in der DDR auftraten, waren zum Großteil auf disponierende, also regulative und integrative Diskurse reduziert. Regulativ deshalb, weil Personen erzogen, Institutionen in ihren Handlungen beeinflusst werden sollten. 48 Integrative Funktion hatten Beurteilungen insofern, als die Beurteilten durch Lob und/oder Kritik stärker in das System eingebunden werden sollten, indem man ihnen bspw. nahelegte, sich stärker in das Kollektiv einzubringen. Die verwendeten sprachlichen Mittel waren vor allem formelhafte Wendungen, die zum Allgemeingut gehörten und sich in ihrem Sinn nur den Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft der DDR vollständig erschlossen hat. Am Auffälligsten ist die beinah schon inflationäre Verwendung des Wortes „sozialistisch“. Offenbar fungierte es in den meisten Fällen als ein Verstärker, das von einem folgenden Wort abhängig war und dessen Bedeutung hervorheben sollte. Durch die Verwendung solcher Sprachmittel wurden Einstellung und damit auch Anerkennung und Zugehörigkeiten signalisiert. Ferner bot die Nutzung solcher

48

Erziehung wurde nicht nur als ein gesamtgesellschaftlicher, sondern vor allem auch als ein fortdauernder Prozess verstanden. D.h., Erziehung als gezielte und bewusst gesteuerte Sozialisation zielte nicht auf ihr eigenes Ende ab, sondern konnte und sollte sogar lebenslanges Erziehen sein. vgl. hierzu Laudien / Sachse 2012.

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Formelwendungen aber auch die Möglichkeit, einen Text indirekt und vage zu halten und somit als beurteilende Person zurücktreten zu können. 49 Bis hierhin können wir folgendes festhalten: Beurteilungstexte hatten eine deskriptive, instruktive, expressiv-bewertende als auch eine isolative Funktion. Die isolative Funktion war eine zweifache: zum einen bestand sie bei exklusiven Beurteilungstexten darin, dass die beurteilte Person aus der Kommunikation ausgeschlossen wurde und zum anderen darin, dass ein spezifischer Code die Gruppe der Mitarbeiter innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft von anderen Gruppen abschirmte. 50 Der Sprachgebrauch trat oftmals in ritualisierter Form zu Tage, was durch das vielfache mechanische Rekurrieren auf die Sprache der Partei als verbindliche Vorlage deutlich wurde. Im Zentrum stand - und das scheint für alle Schriftstücke der behördlichen Verwaltung zu gelten - die Bestätigung zentraler politischer Werte. Die öffentliche Kommunikation diente somit nicht der diskursiven Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern aktualisierte und ratifizierte die von der SED konstituierte Realität.

2.3.3 Die Sozialfigur »Erzieher« Um die Frage beantworten zu können, welche Anforderungen und Erwartungen an die Erzieher gerichtet wurden, haben wir anhand von Weiterbildungsmaterialien des Instituts für Jugendhilfe in der DDR, sowie anhand von Lehrbüchern für Erzieher und Sozialpädagogen herauszuarbeiten versucht, welche Kriterien, bzw. Normen die Erzieher erfüllen mussten. Hierbei haben wir vor allem folgende Fragen an das Material gerichtet: a) Was waren die ideologischen Implikationen erzieherischer Tätigkeiten in der DDR allgemein? b) Welche Rechtfertigungen wurden aus a) abgeleitet, um die Eingriffe in die familiale Erziehung in Form einer Unterbringung in die Einrichtungen der Jugendhilfe zu legitimieren? 49

Das Ehepaar Schrade (beide Werkhofleiter in der DDR) schildert dieses Phänomen im Interview sehr eindrücklich und beschreibt, wie penibel auf die Formulierungen in allen Schriftstücken geachtet wurde, um somit die Systemtreue zum Ausdruck zu bringen und sich damit einerseits nicht dem Verdacht der kritischen Positionierung dem System gegenüber auszusetzen und andererseits nicht den Eindruck zu erwecken, etwas verheimlichen bzw. vertuschen zu wollen. Auch Herr Ihle (Leiter eines Spezialkinderheimes mit Jugendwerkhofteil) beschreibt im Interview die Verwaltungsakte als „Öffentlichkeitsarbeit“. 50 So grenzen sich unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen durch den spezifischen Gebrauch spezifischer Termini von anderen Disziplinen ab. Ebenso funktioniert dies bei dem Phänomen der „Insidergespräche“. Wenn sich eine kleine Gruppe von Personen über ein Ereignis unterhält, reichen oftmals nur Andeutungen aus, um die kommunikative Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. Außenstehenden erschließt sich aber der Sinn in Ermangelung von Informationen nicht, weshalb sie an dem Gespräch auch nicht im gleichen Maße partizipieren können.

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c) Wie wurde die erzieherische Tätigkeit in den Einrichtungen der Jugendhilfe verstanden? Was sollte wie erreicht werden und lassen sich unter Umständen verschiedene pädagogische Vorstellungen herausdestillieren? d) Welche Methoden wurden den Erziehern konkret an die Hand gegeben? e) Wie wurde die erzieherische Praxis, also die Tätigkeiten des Erziehers in den wissenschaftlichen Diskursen strukturell gedacht und welche Kriterien und Maßstäbe für den Erfolg der erzieherischen Arbeit wurden benannt, nach denen die Praxis, bzw. der einzelne Erzieher bewertet wurde? Wie schon bei der Dokumentenanalyse waren diese Fragen nur vorläufig und sollten als heuristisches Hilfsmittel für die Sensibilisierung im Umgang mit dem Datenmaterial dienen. Im Folgenden werden wir Deutungen zur Diskussion stellen, die aus der Exegese des genannten Materials und dem Vergleich mit den Erfahrungen von Erziehern und Heimkindern resultieren. Soteriologie: Heilsgeschichtliches Denken als Voraussetzung (fremd-)erzieherischer Tätigkeit. Die Vorstellung davon, was eine Pädagogik und deren Vertreter, also die Pädagogen zu leisten haben und mittels welcher Methoden dies geschehen soll, war und ist im höchsten Maße von der Selbstkonzeptionalisierung der Gesellschaft abhängig. 51 Die bestimmende politisch-ideologische Anschauung in der DDR war der historische Materialismus marxscher Prägung. Die Grundlage für die sozialtheoretischen Überlegungen von Karl Marx bildeten die mit der 1850 in England einsetzenden Industrialisierung und der darauf folgenden Erschütterung der materiellen und sozialen Ordnung und die aufkommenden sozialen Probleme, insbesondere dem Pauperismus. Die Feststellung, dass die gewaltigen Umwälzungen offensichtlich soziale Ursachen hatten, aber von niemandem geplant oder gelenkt wurden, bildete dabei den Ausgangspunkt seines Denkens. Seine Auseinandersetzung mit der Frage, was gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zugrunde liegt, führte ihn schließlich zu der Überzeugung, dass es die wirtschaftlich-sozialen und technischen Strukturen sind, welche die politische und kulturelle Ordnung bestimmen. Die Basis für Veränderung lag also seiner Ansicht nach im Bereich der materiellen Arbeit und den wirtschaftlichen Verhältnissen. Diese materialistische Position stellte er dabei insbesondere der idealistischen Position Hegels gegenüber. Während Hegel davon ausging, dass die Kraft der Ideen die Entwicklung der Gesellschaft vorantreibt

51

Die folgenden Überlegungen basieren vor allem auf einer kritischen Exegese der Lehrbücher Autorenkollektiv (1984): Heimerziehung. Berlin (Ost) und Autorenkollektiv (1971): Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus. Berlin (Ost).

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und er damit der Welt der Begriffe und Ideen den Vorrang einräumte, dreht Marx diesen Ansatz vom Kopf auf die Füße, indem er der ökonomischen und technischen Entwicklung den Vorrang vor den Ideen zusprach. Diese Vorstellung kulminierte dann in dem berühmten Leitspruch „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Die Auseinandersetzung mit und in dessen Zuge die Negation idealistischer Vorstellungen schlug sich dann insbesondere in der pädagogischen Vorstellung der DDR-Funktionäre nieder. Darauf werden wir noch zurückkommen. Um seine Ausgangsthese zu rechtfertigten und um erklären zu können in welche Richtung sich gesellschaftliche Entwicklung vollzieht, bestimmte Marx den Menschen als ein Naturwesen, welches sich im Austausch mit der Natur und in der Arbeit an ihr entwickelt. Aus dieser anthropologischen Perspektive heraus erschien für ihn die Geschichte der Menschheit als die Domestizierung der Natur durch Arbeit. In und durch seine Arbeit verändert der Mensch nicht nur die Natur, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und entwickelt dabei auch sein eigenes Wesen. Die Arbeit ist für Marx der Kern der Gesellschaft und der Motor für Veränderungen. Weil die Produktivkraft (die Kenntnisse und Fähigkeiten, mit deren Hilfe die Natur durch den Menschen bearbeitet wird) unaufhaltsam wächst, verändert sich auch der Arbeits- und Produktionsprozess und damit ändern sich wiederum auch die sozialen Verhältnisse, weil eine komplexere soziale Organisation, etwa in Form von Arbeitsteilung gefunden werden muss. Für Marx fördern also die Produktionsverhältnisse eine Zeit lang das Wachstum der Produktivkräfte. Diese wachsen früher oder später über die sozialen Verhältnisse hinaus, weshalb es zu einer politisch-sozialen Revolution kommt, in deren Zuge die bestehenden Verhältnisse umgewälzt werden und sich eine neue gesellschaftliche Ordnung mit neuen Produktionsverhältnissen etabliert, bis diese wiederum überholt ist. Nun glaubten Marx und auch Engels gemäß ihres Ansatzes, dass die kapitalistische Gesellschaft, wie sie sie erlebten, sich nicht dauerhaft bewähren könnte. Vielmehr würde es zu einer neuerlichen, ja sogar einer letzten revolutionären Umwälzung der Verhältnisse kommen, welche nach einer kurzen Übergangsphase des Sozialismus in einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaftsform münden würde. Sobald dieser Zustand erreicht sei, wäre die Geschichte der Menschheit abgeschlossen. Die dialektisch-dynamische Geschichte sich ablösender Repressionsverhältnisse, die Herrschaft von Menschen über Menschen fände ihr Ende und der Mensch könne im „Reich der Freiheit“ 52 zur vollen Verwirklichung seiner Möglichkeiten gelangen. Die Vision der kommunistischen Gesellschaftsformation skizzierte Marx allerdings nur flüchtig. Wie er sich eine solche Alternativgesellschaft und den Weg dorthin genau vor52

Marx, K. (1983): Das Kapital. Bd. 3, in: MEW 25, Berlin, S. 828.

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stellte, hat er nie wirklich ausgearbeitet. Dies überrascht jedoch nicht, lag doch sein Augenmerk auf der Analyse der Funktionslogik des Kapitalismus und dessen Krisentendenzen. Ging Marx noch von einer deterministischen Geschichtsphilosophie aus, erfuhren seine Lehren durch die voluntaristische Auslegung Lenins einen bedeutsamen Wandel. Lenin war davon überzeugt, dass das Proletariat es nicht aus eigener Kraft vermag, ein Klassenbewusstsein auszubilden, welches für eine revolutionäre Umwälzung im marxschen Sinne ausreichen würde. Mit der Vorstellung, dass ein politisches Klassenbewusstsein „dem Arbeiter nur von außen gebracht werden kann“ betonte Lenin 53, dass einerseits lediglich der Wille zur Veränderung notwendig wäre und eine kleine Minderheit (in Form der Partei) ausreiche, die Revolution voranzutreiben, indem sie die Diktatur des Proletariats in dessen Sinne durchführe und die Massen zum Kommunismus erziehe. Andererseits wird mit dieser Vorstellung aber auch die Passivität gegenüber dem Fortschreiten der Geschichte durch (subjektiven) Aktivismus überwunden. Gingen Marx und Engels noch davon aus, dass nur in fortgeschrittenen industrialisierten Ländern eine sozialistische Revolution möglich sei, war Lenin davon überzeugt, dass auch in rückständigeren Ländern eine solche beginnen könne, wenn diese nur durch eine avantgardistische Vorhut herbeigeführt werde. Die selbstständige proletarische Bewegung wie sie Marx verstand, wird nach Lenin durch die Bewegung der Partei erwirkt. Aus einer solchen Auffassung ergeben sich nun weitreichende Konsequenzen für einen Gesellschaftsentwurf. Diese müssen und sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Kritik am Marxismus und am realsozialistischen Staatengebilde der DDR gab es sicherlich genug. Es soll aber zumindest noch einmal ein Schwerpunkt herausgegriffen werden, welcher uns für die Beantwortung der oben genannten Fragen wichtig erschien. Wird die gesamte Geschichte der Menschheit unter dem eschatologischen Gesichtspunkt eines erwarteten Heils betrachtet - welches durch den Willen zur aktiven Gestaltung obendrein auch noch schneller erreicht werden kann - so wird ein „nicht-partizipieren-wollen“, aufgrund anderer Vorstellungen und Weltanschauungen schier undenkbar. Pluralität wurde nicht als ein der Gesellschaft inhärentes Merkmal verstanden, sondern als etwas, was dem Sozialismus wesensfremd ist, weshalb andere Denktraditionen dem ideologischen Dogma diametral (in Form eines FreundFeind-Schemas) gegenüber gestellt wurden. Um aber die herausragende Stellung der sozialistischen Gesellschaft zu untermauern, wurde das „Andere“ nicht nur externalisiert, es wurde darüber hinaus als defizitär herabgewürdigt. Aus einer solchen Perspektive blieben all jene,

53

Vgl. Lenin, W. I. (1902): Die Arbeiterklasse als Vorkämpfer der Demokratie. in: ders. (Hrsg.) Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, abrufbar unter: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/index.htm, letzter Aufruf am 10.10.2012.

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die noch den bürgerlich-kapitalistischen Wertvorstellungen nachhingen, auf einer Entwicklungsstufe stehen, welche man im Sozialismus bereits überwunden hat. Entwicklung ist gleich Höherentwicklung und alle „Minderentwickelten“ mussten durch Erziehung dazu befähigt werden, die „Herrlichkeit“ des Kommunismus zu erkennen und anzuerkennen, sprich die nächste Stufe auf dem Baum des Wissens zu erklimmen. Nur dann sind auch sie in der Lage, ihre gesamte Kraft dem Erreichen dieses allen Menschen gemeinsamen Zieles, die Verwirklichung des Kommunismus zu widmen. Nicht nur, dass hier Erziehung mit Bildung gleichgesetzt wird (evtl. auch ein Grund dafür, weshalb Erziehungseinrichtungen dem Volksbildungsministerium unterstanden), es erscheinen im Lichte einer solchen ideologischen Vorstellung sämtliche Abweichungen von der ideologisch gesetzten Norm als ein Zustand, dessen Aufhebung zwingend notwendig ist, steht das Erreichen des Kommunismus höchst selbst auf dem Spiel. Und weil jeder dieses Ziel erreichen möchte, ist es auch die Aufgabe eines Jeden, Abweichungen zu erkennen und durch gezielte Einflussnahme zu beheben. So wird Erziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und allgemeingesellschaftliches Prinzip verständlich. Heimerzieher als Organisatoren – Zöglinge als Nebensächlichkeit Welche Rolle spielte nun eigentlich die Heimerziehung? Im Grunde war diese ein gesellschaftlicher Bereich, der, so die Vorstellungen, mit dem Fortschreiten des Sozialismus und der damit einhergehenden Auflösung gesellschaftlicher Problemlagen qua Angleichung der Klassen obsolet werden würde. Dass diese Vorstellung sich nicht erfüllte, ist bekannt. Die DDR als ein totalitäres System mit seinen verordneten Wertgefügen und Normsystemen war darauf ausgerichtet, die Einhaltung der spezifischen Normen und die Respektierung der postulierten Grundwerte zu kontrollieren und deren Nichteinhaltung oder gar Ablehnung zu sanktionieren. Und dies umso mehr, als der DDR-Obrigkeitsstaat nicht nur allein an der Erfüllung oder Übertretung eines Gesetzes, bzw. einer Norm interessiert war, sondern auch an den Motiven, welche dabei eine Rolle spielten. Ein Gesetz zu befolgen reichte nicht aus, es sollte auch in der richtigen Gesinnung befolgt werden. 54 Weil aber Abweichungen, also soziale Probleme nicht durch den Sozialismus verursacht sein konnten, verschob man die Verantwortung nach „außen“. 55 Somit waren es die schädlichen Einflüsse des kapitalistischen Westens, welche Teile der Jugend zersetzten, deren Lebensbedingungen nicht dem „sozialistischen 54

Vgl. Vismann, C. (2003): Autobiographie und Akteneinsicht. in: Unverhau, D. (Hrsg.), Hatte „Janus“ eine Chance? Das Ende der DDR, Münster, S. 173-190. 55 vgl. hierzu das Interview mit dem Ehepaar Schrade: „Sie: Schwererziehbarkeit gibt`s nicht im Sozialismus. Er: Das war ja wesensfremd der Ursprung wird ja aus dem Kapitalistischen gesehen, das sind ja die restlichen Dinge des Kapitalismus in der DDR.“ Interview mit Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. und 28.02.2012, 01:48:19.

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Standard“ entsprachen. Allein deshalb waren die Kinder und Jugendlichen für dieses schädliche Gedankengut anfällig. Genau dies bildete die Grundlage für die Handlungseingriffe der Jugendhilfe. Im Grunde handelte es sich bei dem, was von der Jugendhilfe diagnostiziert wurde, um soziale Pathologien, die mit dem Funktionieren oder Nichtfunktionieren von Institutionen, hier im Speziellen der Familie, zu tun hatten. Es wurden die Beschränkungen analysiert, welche die Chancen der Kinder und Jugendlichen einschränkte, eine „sozialistische Persönlichkeit“ zu entwickeln. Primär war es nicht von Bedeutung, wie ein Kind erzogen wurde, sondern ob die Erziehung zu dem gewünschten Ziel führte. Anders ausgedrückt: nicht die Probleme in der Familie standen im Zentrum, sondern ihre moralische und normative Funktion. Die Lösung für solche Probleme lag auch klar auf der Hand: wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann müssen die Umstände unter den die als deviant gekennzeichneten Kinder und Jugendlichen leben, geändert werden, will man das Verhalten dieser ändern. Um das Verhalten in der Situation in die Bahnen zu lenken, die man für angemessen hielt, bedurfte es der Erzieher, welche die „besten Menschen“ 56 waren. Die Betonung liegt auf dem Superlativ der starken Flexion des Adjektivs gut. Lässt man einmal die gesellschaftsphilosophischen Probleme außen vor, welche sich zwangsläufig auftun, wenn man die Vorstellung vom „besseren Menschen“ mit dem Gedanken einer egalitären Gesellschaft miteinander vermischt, stellt sich dennoch die Frage, was eine solche Attribuierung konzediert? Oder soziologisch ausgedrückt: wird eine Disparität vorausgesetzt, welche die Menschen anhand einer Skalierung identifiziert und anordnet, muss nach den Kriterien gefragt werden, die eine solche soziale Konfiguration legitimiert. Leider wird man auf der Suche nach Antworten feststellen, dass es keine klaren Kriterien hierfür gibt. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass Erzieher das Ideal der sozialistischen Persönlichkeit am eindrücklichsten verkörpern. 57 Was eine sozialistische Persönlichkeit auszeichnet, bleibt allerdings ebenso unklar. Die Eigenschaften, welche einer sozialistischen Persönlichkeit zugeordnet wurden, waren im Allgemeinen: •

gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein, welches sich dadurch äußerte, dass die Akteure fähig sind, die Zusammenhänge von Produktion und Gesellschaft zu erkennen und sich aktiv an der Gestaltung zu beteiligen;

56

57

Mannschatz, E. (1972): Die zielstrebige Entwicklung und Führung des politisch-organisierten Kinderkollektivs im Heim. Institut für Jugendhilfe, Beiträge zur Weiterbildung, Heft 28, Ludwigsfelde, S. 54. hierzu vor allem Mannschatz, E. (1973): Zur Verhinderung und Überwindung des Zurückbleibens einzelner Schüler in der Persönlichkeitsentwicklung. in: Zur Verhinderung des Zurückbleibens von Kindern und Jugendlichen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, Institut für Jugendhilfe, Beiträge zur Weiterbildung Heft 31, Ludwigsfelde, S. 5-19.

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die Kollektivität in seinen sozialen Beziehungen;



ein politisches Bewusstsein, sprich ein fester »Klassenstandpunkt« als Folge der Aneignung der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus.

Ferner zeichnete sich die allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit durch ihr „revolutionäres Kämpfertum“, ihr hohes „sozialistischen Bewusstsein“ und durch die „volle Entfaltung ihrer produktiven, intellektuellen, sozialen, politischen, moralischen, künstlerischen und physischen Beziehungen und Betätigungsweisen“ aus. 58 Interessant an dem Konstrukt der sozialistischen Persönlichkeit ist weniger die scheinbar arbiträre Aneinanderreihung von Aufgaben und Eigenschaften, welche selbst wiederum einer genaueren Klärung bedurft hätten (wodurch zeichnet sich denn beispielsweise ein »sozialistisches Bewusstsein« aus und anhand welcher Kriterien wurde eine Klassifizierung in hohes oder weniger hohes Bewusstsein vorgenommen?), sondern dass diese das Ziel einer steten Entwicklung sein sollte (ebd.). Dieses Ziel zu erreichen, war die eigentliche Aufgabe. Der Fokus lag somit auf dem Prozess, auf dem modus operandi und nicht auf dem opus operatum. Aus dieser Akzentverschiebung stellt sich aber auch die Frage nach dem »besten Menschen« anders. Nicht mehr diejenigen, welche das Ideal der sozialistischen Persönlichkeit am eindrücklichsten verkörpern sind die »besten Menschen«, sondern diejenigen, welche in der Lage sind, den Prozess der Genese möglichst optimal zu gestalten. Augenscheinlich wird nur ein anzustrebendes Ideal benannt, wobei der Prozess des Werdens danach bewertet wurde, wie er selbst das Erreichen dieses Ideals ermöglichte. Die Qualität des Prozesses hing wiederum von der Qualität der Methoden ab und die Erzieher waren qua Ausbildung mit den notwendigen und als geeignet betrachteten Methoden vertraut, was sie zu den besten Menschen machte. Sie zeichneten sich also durch eine spezifische Form des Wissens aus, nämlich dem Wissen-wie, welches ein praktisches Können (techne) meint. Wissen-wie setzt aber wiederum ein propositionales Wissen-dass, also ein theoretisches Wissen (episteme) voraus. 59 Das bedeutet, dass es keinen Handlungserfolg geben kann, ohne dass ein Akteur ein propositionales Wissen von den Mitteln zum Erfolg hat. Handlungserfolg ist nichts anderes als die Manifestation eines Wissen-wie und das Wissen von den Mitteln, die den Erfolg einer Handlung ermöglichen. Allerdings krankt die theoretische Setzung schon an ihrer Annahme. Das Problem besteht darin, dass für die Bewertung des Prozesses das Ziel selbst schon vorausgesetzt wurde. Eine sozialistische Persönlichkeit konnte sich nur unter sozialistischen Lebensbedingungen entwickeln, die aber selbst nur durch eine sozialisti58 59

Vgl. Autorenkollektiv 1971: 470 ff.. Ryle hat in seinem Buch „Der Begriff des Geistes“ (1969) gegen die sogenannte intellektualistische Legende argumentiert und versucht zu zeigen, dass nicht jedes Wissen-wie von einem Wissen-dass abhängt, oder aus diesem erklärt werden kann. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Ryles Argumenten vgl. Grundmann, T. (2008): Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie. Berlin / New York.

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sche Persönlichkeit geschaffen werden konnten. 60 Die sozialistische Persönlichkeit ist hier das explanans, nicht das explanandum. Oder, um die Termini auch weiterhin zu gebrauchen: das opus operatum bildete die generative Grammatik, welche den modus operandi zuallererst erzeugte, wobei in der Praxis das opus operatum inauguriert wurde. Wir wollen an dieser Stelle abbrechen, weil eine weitere Vertiefung uns womöglich in Regionen abschweifen lässt, von denen wir nur schwer wieder zu unserem ursprünglichen Interesse zurückfinden. Für uns ist lediglich von Interesse, dass in den gesellschaftlich-politischen als auch den wissenschaftlichen Diskursen der Prozess Vorrang gegenüber dem Ziel hatte, weil letzteres a priori gesetzt wurde. Aufgrund einer solchen Schwerpunktsetzung verwundert es auch kaum, dass ein Erzieher sich dadurch auszeichnen sollte, dass er eine Situation so zu planen, regulieren und zu kontrollieren vermochte, dass eine sozialistische Persönlichkeitsentwicklung bei seinen Zöglingen automatisch instituiert wurde. 61 Im Umkehrschluss heißt dies aber auch, dass die Kinder nur insofern eine Rolle spielten, als sie selber lediglich als „Material“ auftauchten; „ein Material, … aus dem etwas Neues wird, indem es in eine kunstvoll ersonnene Form gebracht wird.“. 62 Dass die Kinder aber kein totes Material waren, sondern sich gegenüber den an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen verhalten haben, wurde offenbar in den Diskursen nicht bedacht. Die Vorstellung war, dass ein gut gelenkter Erziehungsprozess auch eine erfolgreiche Erziehung impliziert. Ist das Resultat nicht den Vorstellungen entsprechend, dann war der Prozess nicht gut genug organisiert. 63 Diese Organisation zum Optimum zu treiben war gemeint, wenn von „pädagogischer Meisterschaft“ 64 die Rede war. Das war die Aufgabe der Erzieher, daran wurden sie gemessen und bewertet. 65 Technokratisches Management: Selbstführung und „Heil der Polis“ Um die Aufgaben zu bewerkstelligen, hatten die Erzieher als Methode lediglich die der Kollektiverziehung an die Hand bekommen. Dass diese in der Praxis keine Handlungsgrundlage bot, darauf hat Krause 66 schon hingewiesen. Interessant ist aber, dass die Kollektiverziehung als pädagogische Methode, wie sie in den offiziellen Weiterbildungsheften vorgetragen wurde, ein seltsames Mischungsverhältnis zweier Lerntheorien aufzuweisen scheint. 60

Vgl. Autorenkollektiv 1971. Im Heft 28 heißt es hierzu: „Er (der Erzieher, J.K.) ist Entscheidender und Organisator und wird so organisieren, dass seine Entscheidungen den Intuitionen der Kinder nicht zu wider laufen“, Mannschatz 1972: 27. 62 Vgl. Gadamer, H.-G. (2010): Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a.M., S. 51. 63 Vgl. Steinig, H. (1977): Die individuell bezogene Aufgabenstellung als Methode zielgerichteter Einflußnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung im Kollektiv. Institut für Jugendhilfe, Heft 34, Ludwigsfelde, S. 56 ff. 64 Vgl. hierzu Mannschatz 1973: 6 ff. und Mannschatz 1972: 48, 54. 65 „…sein Erfolg hängt davon ab, inwieweit er seiner objektiv bestimmten Funktion in der Praxis gerecht wird.“, Mannschatz 1972: 27. 66 Vgl. Krause, H.-U. (2004): Fazit einer Utopie. Heimerziehung in der DDR – eine Rekonstruktion, Freiburg. 61

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Zum einen wird eine Form des mimetischen Lernens angenommen. Diese ist eher implizit in den Anforderungen an die Tätigkeiten des Erziehers enthalten und entsprechend nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Und zum anderen wurde offensichtlich davon ausgegangen, dass die Kinder und Jugendlichen allein mittels Konditionierung zu sozialistischen Persönlichkeiten werden würden. Betrachten wir aber kurz die lerntheoretischen Annahmen. Unter mimetischem Lernen verstehen wir, in Anlehnung an Wulf, einen Prozess der Nachahmung, der über bloßes Imitieren und Kopieren hinausgeht. 67 Mimesis bezeichnet die unbewusste Fähigkeit des Menschen, sich kulturelle Ausdrucksformen sinnlich-körperlich zu Eigen zu machen, wobei die Wahrnehmungen als innere Bilder gespeichert werden, um diese durch körperliche Reinszenierung zu reproduzieren, zu modifizieren, bzw. neu zu erzeugen. Mimetische Prozesse sind nach Wulf eine notwendige Bedingung der Entwicklung und kennzeichnen eine Praxis, mittels derer sich die Akteure zu ihrer Umwelt ins Verhältnis setzen. Kraft der mimetischen Lernprozesse wird so ein praktisches Wissen – analog zu Bourdieus Habitus-Wissen – erworben, welches sinnvolles Handeln in sozialen Situationen ermöglicht. Zum Tragen kam diese Vorstellung des mimetischen Lernens dadurch, dass die Erzieher als Vorbilder auftreten sollten. 68 Sie erschienen selber als Kollektivmitglieder und in der Ausübung ihrer Pflichten als solche, waren sie ein leuchtendes Vorbild für die Kinder. Wenn er seinen Pflichten und Funktionen nachkommt und gerecht wird, erscheint er als Repräsentant der gesellschaftlichen Ordnung und die Kinder würden diesem Vorbild „intuitiv“ nacheifern. 69 Auf der anderen Seite heißt dies aber auch, dass die Erzieher nicht nur daran gemessen wurden, ob sie den Prozess mit dem gewünschten Erfolg organisiert haben, sondern dass bei Nichteinhaltung der (Erziehungs-)Pläne ihre (politische) Einstellung zur gesamten Gesellschaft zur Diskussion stand. Zum anderen wird von den Erziehern als Organisatoren des Erziehungsprozesses aber verlangt, dass sie die Situationen so planen und gestalten, dass ein bestimmtes Verhalten bei den Kindern und Jugendlichen wahrscheinlicher wurde, als ein anderes. Um die Auftretenshäufigkeit eines spezifischen Verhaltens zu erhöhen, wurde auf das Prinzip der Verstärkung 67

Vgl. Gebauer, G. / Wulf, C. (1992): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek; Gebauer, G. /Wulf, C. (1998): Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek; Wulf, C. (2007): Mimetisches Lernen. in: Göhlich, M. / Wulf, C. / Zirfas, J. (Hrsg.), Pädagogische Theorien des Lernens, Weinheim / Basel, S. 91-101. 68 So lautete das „Oberste Gebot an den Erzieher…, an sich hohe Anforderungen zu stellen, um auch Pubertierenden ein Vorbild zu sein. […] Gewohnheiten und Verhalten wird von den Jugendlichen wahrgenommen und kritisiert oder vertrauensvoll nachgeahmt.“ Jurich, K.-H. (1982): Die Rechte und Pflichten des Erziehers in den Heimen der Jugendhilfe - Fragen der Fürsorge und Aufsicht. Institut für Jugendhilfe, Beiträge zur Weiterbildung, Falkensee, S. 16 f. 69 vgl. Mannschatz 1972.

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zurückgegriffen. Das heißt, auf erwartetes und gewünschtes Verhalten des Zöglings wurde mit einem Verstärker reagiert. So konnte ein Heimkind nach dem Erfüllen einer Aufgabe bei der Zufriedenheit des Erziehers von diesem belohnt werden. Andererseits wurden Verhaltensweisen, welche als unerwünscht angesehen wurden, bestraft. Belohnung und Strafe wurden eingesetzt, um ein gewünschtes Verhalten zu verstärken und ein anderes zu tilgen. Lernen geschieht nach dieser Sichtweise nach dem Modell des trial and error. Demnach kann Lernen beschrieben werden als eine immer wiederkehrende Schrittfolge der gleichen Operationen: es wird etwas getan, man schaut, was dabei herauskommt und man verändert das Vorgehen, bis ein gewünschter Effekt erzielt wurde. Im Grunde handelt es sich hierbei um blinde Versuche, da der Handelnde zunächst nicht weiß, was er tut. Es wird derart gelernt, dass erfolglose Versuche aus dem Handlungsrepertoire ausscheiden. Klug wird man nur durch Schaden. 70 Fraglich erscheint auch die Vorstellung von Lernerfolg, der lediglich durch eine reine Anpassungsleistung definiert wird. Im Lernen passt sich der Lernende an bestimmte Maßstäbe oder bestimmte Gegebenheiten an, das heißt, es wird etwas gelernt, von dem der Lernende gar nicht weiß, was es ist. Lernen vollzieht sich primär mittels blinder Mechanismen, und etwas zu können hieß, in der gewünschten Weise zu reagieren. Es wurde gar nicht erwartet, dass die Kinder ihren Verstand benutzten, zumal dieser nur ein Überbauphänomen war. Dennoch wurde darauf insistiert, dass die Kinder und Jugendlichen den Erziehern intuitiv folgten, d.h. weil ihnen aufgrund ihres Bauchgefühls die Entscheidungen der Erzieher stimmig und richtig erschienen und nicht weil sie diese Entscheidungen durch Schlussfolgerungen als adäquat betrachteten. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir nicht behaupten wollen, dass es kein Lernen durch Versuch und Irrtum gebe, die Frage ist nur, ob ein solches Lernen die Regel ist. Auf etwas anderes wollen wir hier auch noch verweisen: die Heime als „totale Institutionen“ 71 stellten sehr künstliche Lebensbedingungen zur Verfügung. D.h., es handelte sich um ein Arrangement ähnlich einer Laboratoriumssituation, die mit einer normalen Lebenssituation nicht ohne weiteres kurzgeschlossen werden konnte. Was dies bedeutet haben wir bereits an anderer Stelle beschrieben: die Heimkinder haben in den Einrichtungen Verhaltensweisen erworben, welche unter den Bedingungen des Heimlebens angebracht und auch gewünscht, außerhalb der Einrichtungen aber nicht mehr adäquat waren. 72

70

Vgl. Waldenfels, B. (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M.. 71 Vgl. Goffman 1995; Laudien / Sachse 2012. 72 Vgl. Arp / Butz / Kalies 2012.

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Die Aufgabe der Erzieher bestand darin, das Lernen zu strukturieren entlang folgender Operationen: Vorüberlegungen durch Feststellung der Ausgangslage, Zielstellung definieren, Maßnahmen vorbereiten, Durchführung, Auswertung des Resultates und Nachbereitung. 73 Hierbei ist zu beachten, dass das Lernmodell des trial and errors auch auf den Erzieher zutraf. War das Resultat nicht das gewünschte, musste der Prozess erneut durchlaufen werden, bis das erwünschte Resultat erzielt wurde. Erziehung wurde auf rein technische Abläufe reduziert. Erzieher waren nichts anderes als bessere Ingenieure. Sie konnten und sollten durch Planung, Organisation und Kontrolle Situationen erzeugen, welche die Entwicklung im Sinne des Sozialismus ermöglichte. Dies umso mehr, als die Erzieher gemäß den Vorgaben der pädagogischen Meisterschaft an sich selbst die höchsten Ansprüche stellten. Nur durch eine optimale Planung konnten sie gewährleisten, dass der Erziehungsprozess gelingt und sie als Vorbild fungierten, womit sie zum Heil der Gesellschaft selbst beigetragen haben. Das „Heil der Polis“ war die Belohnung für die Praktiken der Selbstführung der Erzieher, welche selbst durch die Gesellschaft gewährleistet wurden. 74 Darauf konnten und wurden die Erzieher auch festgelegt. Bei Nichterreichen der Pläne wurden sie haftbar gemacht und zur Rechenschaft gezogen.

2.3.4 Synopse Wir haben damit begonnen, dass die Erzieher in den Dokumenten sich an der Bestätigung der ideologischen Werte orientiert haben. Im Anschluss daran haben wir gefragt, auf welches Bezugsproblem ein solches Vorgehen eigentlich eine Lösung darstellt. Wir können bisher folgendes festhalten: Die Erzieher haben, indem sie die gängigen Normen zitiert haben, nicht nur die gängige Praxis der Schriftgutproduktion reproduziert und tradiert, sondern sich in erster Linie als Erzieher konstituiert. Sie haben damit zu erkennen gegeben, dass sie die Anforderungen, welche an sie als Erzieher von gesellschaftlicher Seite gestellt wurden, kannten und anerkannten. Dass die Erzieher (allen voran aber der Heimleiter, welcher innerhalb der hierarchischen Organisation Jugendhilfe die öffentliche Kommunikation mit den Vorgesetzten führte) in routinisierter Form auf typische vorgeformte Sprachwendungen zurück gegriffen haben, war für sie, wie wir oben bereits betont haben, eine Erleichterung der Formulierungsarbeit. Gleicher-

73

Vgl. Mannschatz 1972: 39 ff.; Scheler, E. (1973): Zur Förderung der schulischen Entwicklung der Kinder in den Heimen der Jugendhilfe. Institut für Jugendhilfe, Heft 32, Ludwigsfelde, S. 24 ff.; Jäger, A.-C. (1974): Die Gestaltung des pädagogischen Prozesses zur Sicherung der allseitigen Persönlichkeitsentwicklung verhaltensgestörter Kinder. Institut für Jugendhilfe, Heft 34, Ludwigsfelde, S. 56 ff. und Steinig 1977: 16 ff. 74 Vgl. Foucault 2009 und Foucault, M. (2012): Die Regierung des Selbst und der anderen. Frankfurt a.M.

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maßen brachte dies aber auch eine Zeitersparnis mit sich, mussten nicht immer wieder neue Formulierungen gefunden werden. Darüber hinaus hatte die repetitive Zitation der Normen aber auch die Möglichkeit geboten, dass die Erzieher sich der Verantwortlichkeit für Nichterfüllung von Erziehungsplänen oder bei anderen Problemen (bspw. Entweichungen) entziehen konnten. In einem System, in dem nicht nur Normerfüllung sondern darüber hinaus auch die „richtige“ Einstellung bei der Normerfüllung bewertet wurde, lief man Gefahr, dass bei auftretenden Problemen zugleich die Einstellung zum Staat, sprich zum Sozialismus, ebenfalls in Zweifel gezogen wurde. Die Zitation der Normen kann also auch als eine Art Ausweichstrategie benutzt worden sein. Sprachliche Konformität muss schließlich noch kein Ausdruck politischer Überzeugung sein. Indem sie darauf verweisen, dass sie sich in ihren Vorgehen und ihrem Handeln den Kindern und Jugendlichen gegenüber folgerichtig im Sinne der vorgegebenen Prozesslogik verhalten haben, verweisen sie auch darauf, dass die Schuld für den Misserfolg nicht ihnen selbst zuzurechnen ist. Dabei konnte die Schuld den unerfüllbaren Forderungen seitens der Politik zugeschoben werden, dem nicht an der tatsächlichen Praxis orientierten Handlungsansätzen des Wissenschaftssystems oder schließlich - und dies war sicherlich die häufigste Praktik - der Renitenz der Klientel, nämlich den Kindern und Jugendlichen. Da von Seiten der Politik Effektivitätserwartungen in Rechnung gestellt wurden (die Kinder sollten schnellst möglich umerzogen werden, nicht selten war nur von ein paar Monaten die Rede), welche wiederum vom Wissenschaftssystem als Methodenproblem aufgegriffen wurden, konnten sich die Erzieher hier notfalls aus beiden Töpfen bedienen und sogar die eine Seite gegen die andere ausspielen. Gegen die Forderungen der politischen Bürokratie konnten so die Methoden der Wissenschaft, welche umgesetzt werden sollten, als Argument in Stellung gebracht werden. Andersherum konnte aber auch gegen die Methoden und Handlungsansätze des Wissenschaftssystems die ökonomischen Forderungen der Politik und damit die Unmöglichkeit der Umsetzung ins Feld geführt werden. Um nicht selber als Systemkritiker in den Blick der Funktionäre zu geraten, musste mit diesen Strategien vorsichtig verfahren werden. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Kinder und Jugendlichen häufiger als Sündenböcke für entstandene Probleme und nicht erfüllte Pläne in den Dokumenten herhalten mussten. 75 Neben den Kindern gerieten auch die Eltern als schuldige Instanz in den Fokus. In den Dokumenten wurde oft erwähnt, dass die Kinder durch den Umgang mit den Eltern wieder in Verhaltensmuster zurückfielen,

75

Untersucht werden müsste vielleicht, ob in solchen Fällen, in denen sich die Erzieher rechtfertigen mussten und die Schuldfrage an die Klientel verschoben wurde, gehäuft Anträge in den zuständigen Behörden eingingen, in denen die Überführung von Kindern und Jugendlichen in andere Einrichtungen gefordert wurden.

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die vorher durch mühevolle Erziehungsarbeit abgestellt wurden. Allerdings wurde ebenso konsequent im Folgenden darauf verwiesen, dass es zum gängigen pädagogischen Konzept gehörte, die Eltern in den (Um-)Erziehungsprozess mit einzubinden. Aus diesem Grund kann dies sogar als eine latente Form der Kritik betrachtet werden, die eindeutig an das Wissenschaftssystem adressiert ist. Dass der Anspruch der Funktionäre nicht mit den tatsächlichen Bedingungen in der Praxis übereinstimmte, eigentlich als realitätsfremd bezeichnet werden kann, ist hinlänglich bekannt. Am eindrücklichsten hat dies auch für die pädagogische Praxis Hans-Ulrich Krause 76 nachgewiesen. Möglicherweise steckte hinter den genannten Ausweichstrategien sogar eine List von der Lehre der Machbarkeit, wo man ein Können behauptete, wo etwas nicht gekonnt wurde.

76

Vgl. Krause 2004.

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2.4 Reflexionen: Akten als Erkenntnisobjekt. 2.4.1 Womit haben wir es zu tun? Fragen nach dem Gegenstand Die hier vorliegenden Reflexionen zielen ganz bewusst auf Akten im Allgemeinen ab und beziehen sich nicht explizit auf die bürokratischen Verwaltungsdokumente der DDR, wenngleich diese ebenso darunter zu fassen sind. Wir werden aufzeigen, dass hinsichtlich der Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge, ebenso wie bei der Archivierung von Akten Selektions- und Relevanzkriterien (strukturelle, personale, institutionelle und ökonomische) ihre Wirksamkeit entfalten, welche im persönlichen oder methodisch-wissenschaftlichen Umgang mit den Akten bedacht werden müssen. Und weil die genannten Kriterien für Verwaltungshandeln allgemein Gültigkeit aufweisen, spielt es keine Rolle, ob wir von Akten aus der ehemaligen DDR, BRD oder der heutigen Zeit sprechen. Was ist eine Akte? Die Bedeutung des Begriffs „Akte“ kann – wie bei Begriffen schlechthin 77 – grundsätzlich weder durch den Verweis auf ein empirisches Korrelat noch durch eine reine Begriffsexplikation geklärt werden. Besonders deutlich wird dies, betrachtet man sich die unterschiedlichen Definitionen, in denen jeweils verschiedene Facetten von Akten thematisiert werden. Die Diversität vorhandener Definitionsvorschläge resultiert dabei einerseits daraus, dass ganz verschiedene Professionen (Juristen, Historiker, Archivare u.a.) einen je anderen Blick auf den Gegenstand ‚Akte‘ haben und zum anderen auch aus der Komplexität des Gegenstandes selbst. Welche unterschiedlichen Facetten machen nun aber den Gegenstand Akte aus? Zum einen sind es ganz formale Aspekte der äußeren Ordnung, durch die sich eine Akte auszeichnet. Sie weist einen Aktendeckel auf, wobei dieser die wichtigsten Erschließungs-

77

Im Anschluss an die Dekonstruktivisten, insbesondere Derrida, wird davon ausgegangen, dass jedes gesprochene oder schriftliche Zeichen wegen seiner Iterierbarkeit „mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen“ (Derrida, J. (2001): Signatur Ereignis Kontext. in: ders., Limited Inc, Wien, S. 32) kann. Kein Kontext und kein Code kann ein gesprochenes oder schriftliches Zeichen abschließen. Dies ist für Derrida konstitutiv für das Funktionieren jedes Zeichens. In ähnlicher Weise ist auch die Indexikalität der Sprache zu verstehen, auf die vor allem die Ethnomethodologen hingewiesen haben. Vgl. Garfinkel, H. (1967): Studies in Ethnomethodology. Malden/ MA; Garfinkel, H. / Sacks, H. (1976): Über formale Eigenschaften praktischer Handlungen. in: Weingarten, E. et al. (Hrsg.), Ethnomethodologie: Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt a.M., S. 130-176; Weingarten, E. / Sack, F. / Schenkenbein, J. (1976): Ethnomethodologie: Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt a.M.; Patzelt, W. J. (1987): Grundlagen der Ethnomethodologie: Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München und Abels, H. (2004): Interaktion, Identität, Repräsentation. Eine kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, 3. Aufl., Wiesbaden.

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elemente trägt. Dabei handelt es sich um den Aktentitel, welcher im Allgemeinen den Inhalt der Akte formuliert, und es sind eventuell weitere Inhaltsangaben aufgeführt in Form von „Enthält-„ oder „Darin-„ Vermerke. Weiterhin findet sich auf der Akte das Aktenzeichen, Laufzeitangaben und Datierungen, sowie Angaben von Sperrfristen und Nutzungsbeschränkungen. Neben den formalen Aspekten werden auch zum anderen inhaltliche Aspekte aufgeworfen. So wird insistiert, dass in Akten vorwiegend Handlungsprozesse dokumentiert werden, wodurch Einsichten in Verhandlungen, Auseinandersetzungen, Entwicklungen usw. potentiell ermöglicht werden sollen. Die Verhandlungen, Auseinandersetzungen und Entwicklungen führten zu bestimmten, in den Schriftstücken festgehaltenen Ergebnissen und Vereinbarungen, welche als Niederschlag der schriftlichen Geschäftsführung veraktet wurden. Der funktionale Aspekt von Akten ergibt sich aus der Pluralität von Dokumenten, welche in einer Akte formiert werden. In einer Akte sollen diese Dokumente nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet, registriert (erfasst), bereitgestellt, aufbewahrt und ausgesondert werden, um somit behördlichem Handeln die nötige Transparenz zu verleihen, es nachvollzieh- und überprüfbar zu machen. Akten werden in vielen unterschiedlichen Behörden produziert, welche ebenfalls unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben. Damit zusammenhängend wird die kontextuelle Einbindung von Akten bedeutungsvoll. Je nachdem, wie eine Institution seine Aufgaben, Interessen und Bedürfnisse definiert, werden Akten gebildet und in Dienst genommen. Beispielweise wird die Bundesagentur für Arbeit Akten nach anderen Schwerpunkten und Interessen anlegen, als eine Krankenkasse, das Finanzamt oder eine Meldebehörde. Darüber hinaus sind auch regionale Unterschiede in der Aktenführung in einer Behörde nicht auszuschließen. Es werden also institutionenspezifische Informationen über ein Geschehen erhoben und schriftlich niedergelegt. Daraus ergibt sich eine Filterfunktion von Akten, welche nur als Teil und im Kontext der aktenproduzierenden Institution heraus entschlüsselt werden kann. Unter der kontextuellen Einbindung ist aber nicht nur die Autorenperspektive bedeutsam. Der Umgang mit Akten hängt ebenso damit zusammen, also die Rezipientenperspektive. Je nachdem, wer eine Akte in den Händen hält, wird das Interesse (und damit die Lesart) an den Inhalten ein anderes sein. Der Entwicklungsbericht einer Schulleitung über einen Schüler wird von einem Arzt unter anderen Gesichtspunkten betrachtet und beurteilt werden, als von einem Jugendhilfemitarbeiter oder Wissenschaftler. Neben solchen interdisziplinären Unter-

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schieden in der Rezeption von Dokumenten können auch innerhalb einer Profession abweichende Lesarten auftreten. So wird ein Therapeut, welcher eine psychoanalytische Psychotherapie praktiziert, eine andere Lesart (qua theoretischer Vorannahmen) an eine Fallakte herantragen, als ein systemischer Familientherapeut, obwohl sie beide Psychologen 78 sind. Ferner sind aber auch verschiedene Modellannahmen innerhalb einer solchen therapeutischen Ausrichtung, sowie personenspezifische Erfahrungshorizonte und Einstellungsmuster als Indikatoren unterschiedlicher Rezeptionen zu berücksichtigen. Zusammenfassend können wir bis hierhin festhalten, dass sich verschiedene Perspektiven auf den Gegenstand Akte eröffnen, je nachdem welches Element als konstitutiv herausgeschält wird. So können die Aspekte des Sammelns und Ordnens von Schriftstücken von Bedeutung sein, oder aber ihre institutionelle Genese und Einbettung. Akten sind in ihrer Entstehung, Rezeption und Instrumentalisierung, so scheint es bisher, in komplexe Interaktionszusammenhänge eingewoben. Das Prinzip der Schriftlichkeit erhöht dabei die Reichweite der Kommunikation erheblich, insofern sie diese von dem Ort und der Zeit der Mitteilung entkoppelt. Um dies zu gewährleisten, müssen in einer Akte die verschiedenen Dokumente sinnvoll zusammengesetzt werden. Nun bleibt uns an dieser Stelle aber noch zu klären, was wir eigentlich unter einem „Dokument“ verstehen können. Was ist ein Dokument? Wenn wir von Dokumenten sprechen, können wir ganz allgemein sagen, dass es sich um Schriftstücke handelt, welche Informationen in schriftlicher Form enthalten. Gemeinhin dienen sie, wie wir bereits dargelegt haben, als Aufzeichnungen oder Belege für einen Vorgang oder Sachverhalt. Insofern ihnen eine solche Funktion zukommt, treten sie typischerweise auch in bestimmten Formaten auf, d.h. sie sind standardisierte Artefakte (als Fallberichte, Verträge, Tagebücher, Statistiken, Jahresbericht, Urteile, Gutachten usw.). Wie wir aber bei unseren Überlegungen über die Facetten von Akten bereits festgestellt haben, lassen sich diese nur in ihrer institutionellen Kontextualisierung verstehen. Entsprechendes gilt dann ebenso für die Dokumente, welche ja letztlich in einer Akte formiert werden. Demnach benötigen wir eine Definition, die sich stärker an der Verwendung von Dokumenten orientiert: „Yet, as with the gold weights, their status as documents depends not so much on features intrinsic to their existence, nor on the intentions of their makers, but on factors and processes that lay beyond their boundaries. Indeed, we shall note 78

Gemeint ist hier die Psychologie als wissenschaftliche Disziplin. Differenzierungen innerhalb dieser Fachrichtung werden hier nicht in Rechnung gestellt, da keine Notwendigkeit einer solchen Einführung für die hier angeführte Argumentation gesehen wird.

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throughout this book that if we are to get to grips with the nature of documents then we have to move away from a consideration of them as stable, static and predefined artefacts. Instead we must consider them in terms of fields, frames and networks of action. In fact, the status of things as ‘documents’ depends precisely on the way in which such objects are integrated into fields of action, and documents can only defined in terms of such fields.” 79 Wie wir bereits gesehen haben, gibt es eine ganze Menge unterschiedlicher Dokumente. In der Tradition der ‚non-reaktiven‘ Forschung 80 werden diese nach verschiedenen Charakteristika differenziert. 81 So kann zum Beispiel der temporäre Aspekt der Dokumente als Differenzmarker angeführt werden, indem sie in laufende oder episodische Dokumente eingeteilt werden. Ersteres bezeichnet hierbei Schriftstücke, welche angelegt werden, um bestimmte Verwaltungsroutinen zu dokumentieren. Episodische Dokumente sind demgegenüber solche, welche nicht kontinuierlich angelegt werden, sondern nur zu bestimmten Anlässen. Nach Scott können Dokumente anhand von zwei anderen Dimensionen unterschieden werden: anhand der Autorenschaft und anhand des Zugangs. 82 Die Dimension der Autorenschaft gliedert sich nach Scott in persönliche und offizielle Dokumente und letztere unterteilen sich noch einmal in private und staatliche Dokumente. Persönliche Dokumente können Tagebücher sein, welche während des Aufenthaltes in einem Heim vom Heimpersonal angelegt wurden. Diese dokumentieren die ganz persönliche Sichtweise der Betroffenen. Darüber hinaus gibt es Zeugnisse, welche jeder als privates, wenn gleich auch staatliches Dokument besitzt und es gibt Registrationen (z.B. Geburtsregister), welche vom Staat erstellt, verwaltet und verwendet werden. Ordnet man die Dokumente nach den Zugangsmöglichkeiten, können mit Scott wiederum vier Alternativen aufgemacht werden. Der Zugang zu den Dokumenten ist ausgeschlossen, begrenzt, archiv-öffentlich und schließlich offen-öffentlich. Ein ausgeschlossener Zugang bedeutet, dass in der Regel dritte Personen keinen Zugang zu diesen Dokumenten haben (bspw. zu Dokumenten aus Krankenakten). Begrenzten Zugang zu Doku79

Vgl. Prior, L. (2003): Using Documents in Social Research. London, S. 2. Non-reaktive Verfahren bezeichnet Datenerhebungsmethoden, die keinerlei Einfluss auf die untersuchten Personen, Ereignisse oder Prozesse ausüben, da die Beobachter nicht mit den Untersuchungsobjekten in Kontakt treten. Somit entstehen keine Interviewer- oder Versuchsleitereffekte, Testverfälschungen oder andere Antwortverzerrungen. Die Techniken der non-reaktiven Verfahren werden auch als Sonderform der Beobachtung aufgefasst, wobei zu unterscheiden ist zwischen verdeckten Beobachtungen (die keine Störung der ‚natürlichen‘ Situation hervorrufen) und indirekten Beobachtungen. Letztere erschließen menschliches Handeln indirekt aus Dokumenten. Die Auswertung von Dokumenten unterschiedlichster Art ist das Hauptanwendungsfeld non-reaktiven Vorgehens, vgl. hierzu Bungard, W. / Lück, H. E. (1995): Nichtreaktive Verfahren. in: Flick, U. et al. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung: Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, 2. Aufl., Weinheim, S. 198-202; Lamnek, S. (2010): Qualitative Sozialforschung. 5. Aufl., Weinheim. 81 Vgl. Flick, U. (2007): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, 4. Aufl., Reinbek. 82 Vgl. Flick 2007; Mogalakwe, M. (2006): The Use of Documentary Research Methods in Social Research. in: African Sociological Review, 10(1), S. 221-230; Scott, J. (1990): A Matter of Record – Documentary Sources in Social Research. Cambridge. 80

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menten haben nur Personen bestimmter Berufsgruppen (bspw. zu Dokumenten aus Fallakten der Jugendhilfe können neben den Jugendhilfemitarbeitern auch Lehrer, Juristen, Therapeuten u.a. Zugang haben). Unter ‹archiv-öffentlich› ist ein Zugangsmodus zu verstehen, bei dem jeder Dokumente unter bestimmten Voraussetzungen innerhalb einer Behörde oder einem Archiv einsehen kann, diese aber nicht mitnehmen und woanders lesen darf. Ein ‹offenöffentlicher› Zugang bedeutet schließlich, dass die Dokumente veröffentlicht wurden und so für alle Interessierten zugänglich sind. Anhand dieser beiden Dimensionen der Autorenschaft und des Zugangs ergeben sich schließlich nach Scott zwölf verschiedene Dokumenttypen, weil diese Dimensionen in jeder Variante miteinander kombinierbar sind. Es kann aber auch eine weitere Unterscheidung von Dokumenten eingeführt werden, nämlich danach, ob die Dokumente von Augenzeugen verfasst wurden, welche an einem Ereignis direkt beteiligt waren, oder ob es sich um Dokumente handelt, bei denen die Verfasser nicht unmittelbar an dem Geschehen oder Ereignis beteiligt waren, sondern dieses nur vom Hörensagen kennen (bspw. in Form von Erzählungen der Eltern, Großeltern oder Freunde), oder weil sie sich damit beschäftigt haben (bspw. auf der Basis wissenschaftlicher Bearbeitung). 83 Uns geht es aber gar nicht so sehr um die verschiedenen Typen von Dokumenten sondern lediglich darum, zu zeigen, dass Dokumente immer von jemanden (einer bestimmten Institution) zu einem bestimmten (praktischen) Zweck und für eine bestimmte Art und Weise des Gebrauchs (was auch die Zugangsmodalitäten impliziert) erstellt wurden. Aus diesem Grund sind sie nicht einfach als eine Abbildung der Realität oder von Fakten aufzufassen, als Daten, die man ohne weiteres nutzen kann, vielmehr müssen sie immer auf ihre Eigenschaften, besonderen Bedingungen ihrer Entstehung und Nutzung etc. befragt werden. 84 Bilden Dokumente die Grundlage für die Entstehung von Akten und stellen wir gleichsam die kontextuelle Eingebundenheit solcher Dokumente in Rechnung, drängt sich die Frage nach dem Ort ihrer Entstehung auf. Wenn Dokumente standardisierte Artefakte institutionellen Handelns sind, müssen wir erläutern, was wir unter einer Institution verstehen. Der institutionelle Kontext der Akten Bevor wir klären, welche Elemente Institutionen ausmachen und was sie leisten, wollen wir vorab eine Unterscheidung einführen, welche für das Verständnis zentral ist. Es han83

Diese Unterscheidung in Primär- oder Sekundärdokumente hat aber vor allem aus Forschungsperspektive Relevanz, nämlich dann, wenn es darum geht, die Qualität von Dokumenten zu beurteilen, also ob bestimmte Dokumente für die Beantwortung der Forschungsfrage genutzt werden können. 84 Vgl. Wolff 2000; Flick 2007.

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delt sich hierbei um die Unterscheidung von Welt und Realität. Mit Welt bezeichnen wir die durch den „unablässigen Wandel bewirkte Exteriorität“ 85, also »alles, was der Fall ist«86. Realität meint demgegenüber alles, was in Form von Realitätsprüfung und mehr oder weniger etablierten Einordnungen von der Welt reflexiv erfasst wurde. 87 Im Unterschied zur Welt ist die Realität konstruiert. 88 Hinzu tritt eine Schwierigkeit, zwischen den Menschen eine Übereinstimmung über die Realität herzustellen. Diese Schwierigkeit beruht im Wesentlichen auf der Tatsache, dass wir als Menschen einen Körper haben, der uns notwendig in der Welt situiert, d.h. uns äußerlich zu einem bestimmten Zeitpunkt und einen bestimmten Ort im Raum platziert, von dem aus wir die Welt wahrnehmen. Aber ebenso auch innerlich, insofern wir unseren Leib mit seinen Begierden, Trieben usw. erfahren. 89 Weil wir nur diesen einen Standpunkt in Bezug zur Welt haben, erlaubt uns nichts die verschiedene Standpunkte a priori als geteilte vorzustellen. 90 Das bedeutet, dass selbst dann, wenn wir eine Situation gemeinsam durchleben, nicht davon ausgegangen werden kann, dass wir die Situation gleich wahrnehmen, weil wir nicht über die gleichen Ressourcen wie der Andere verfügen. 91 Daraus resultiert eine prinzipielle Ungewissheit der Situation die, wollen die Akteure weiterhin miteinander kommunizieren, aufgelöst werden muss. Die Akteure müssen eine gemeinsame Situationsdeutung aushandeln, um ihr Handeln aufeinander abzustimmen, zu rechtfertigen und gegebenenfalls zu kritisieren. 92 Diese Aktivität läuft aber nicht chaotisch oder ungeregelt ab, sondern die Akteure berufen sich auf sozial und kulturell vermittelte Argumentationsmuster93, um anzugeben wie sie die Situation interpretieren. Die Aufgabe anzugeben, was das, was ist, in Wirklichkeit ist, wird also an einen Dritten delegiert, an eine Institution. Welche Eigenschaften zeichnen Institutionen aus, welche Elemente beinhalten sie? Institutionen sind mittels sozialer Praktiken konstituierte Einrichtungen, welche zur Gewohnheit wurden (Habitualisierung). Sie sind also selbst Resultate menschlichen Handelns. Sie bilden weiterhin ein System dauerhafter wechselseitiger Verhaltenserwartungen, etablieren relativ

85

Boltanski, L. (2008): Individualismus ohne Freiheit. Ein pragmatischer Zugang zur Herrschaft, in: WestEnd, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 5. Jg., Heft 2, S. 133. 86 Vgl. Wittgenstein, L. (1992): Tractatus logico-philosophicus. 23. Aufl., Frankfurt a.M. 87 Vgl. Boltanski, L. / Thévenot, L. (2007): Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg. 88 Vgl. Berger, P. L. / Luckmann, T. (2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie. 17. Aufl., Frankfurt a.M. und Schütz, A. / Luckmann, T. (2003): Strukturen der Lebenswelt. Konstanz. 89 Vgl. Waldenfels 2000. 90 Vgl. Boltanski 2008. 91 Vgl. Schütz / Luckmann 2000. 92 Vgl. Boltanski / Thévenot 2007. 93 Vgl. Celikates, R. (2008): Von der Soziologie der Kritik zur kritischen Theorie? in: WestEnd, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 5. Jg., Heft 2, S. 120-132.

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stabile Statuspositionen und zeichnen sich durch öffentliche Anerkennung aus. 94 Sie machen die Welt berechenbar, indem sie Deutungen zur Verfügung stellen, was die Realität ist und wodurch sie sich auszeichnet. Institutionen setzen Bedeutungen, besitzen also Definitionsmacht, welche Bourdieu als „symbolische Gewalt“ 95 identifiziert hat, kodifizieren Handlungen. Dadurch stabilisieren sie die soziale Welt und entlasten den einzelnen Akteur, indem eine permanente Reflexion auf sein Handeln unnötig wird. 96 Eine Institution bestimmt bspw. was eine Familie, oder was eine „sozialistische Persönlichkeit“ ist. Wir können dann etwas als Familie, oder als „sozialistische Persönlichkeit“ verstehen und uns entsprechen verhalten. Damit ist aber auch ein sozialer Druck impliziert, sich an den normativen Verhaltenserwartungen zu orientieren. Abweichungen können sozial sanktioniert werden. Um dies aber zu gewährleisten, d.h. um handeln zu können, müssen sich Institutionen in Form von Verwaltungen und Organisationen materialisieren. Sie benötigen auch Akteure, die als ihre Sprecher auftreten. Insofern sich Akteure aber als Delegierte einer Institution artikulieren, werden wir aber mit einem Widerspruch konfrontiert, der für Institutionen, bzw. für unser gemeinsames soziales Leben konstitutiv ist. Wenngleich offiziell beauftragt und autorisiert, sind die Akteure qua ihrer Körperlichkeit situierte, interessierte, triebhafte Wesen, sie sind zu einem Standpunkt verdammt wie wir oben bereits sagten. Aus diesem Grund sehen wir uns immer mit einem Dilemma konfrontiert: entweder wir entheben die Institutionen der Aufgabe, Grenzen zu ziehen, zuzuordnen und Muster zu schaffen, mit dem Risiko nicht mehr zu gemeinsamen Interpretationen zu gelangen, die Bildung eines Common Sense zu verhindern und bei einer vollständigen semantischen Fragmentierung zu enden, womit soziales Handeln nicht mehr möglich wäre. Oder wir delegieren diese Aufgabe der Klassifizierung und Etablierung sozialer Realität an die Institutionen zu dem Preis permanenter Verunsicherung, weil die Frage, ob die Sprecher nicht doch ihren eigenen Willen und egoistische Ziele befriedigen und damit der Institution zuwider handeln, immer im Raum steht. 97 Nun wissen Institutionen selber auch um diesen Widerspruch und versuchen sich gegenüber Kritik zu schützen. Einmal dadurch, indem sie ihre Sprecher mit besonderen symbolischen Kennzeichen ausstatten, wie zum Beispiel Uniformen. Und zum anderen dadurch, dass sie die von ihnen erzeugten Wirklichkeitskonstruktionen immer wieder neu bestätigen, 94

Vgl. Jaeggi, R. (2009): Was ist eine (gute) Institution? in: Forst, R. et al. (Hrsg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a.M., S. 528-544. 95 Vgl. Bourdieu, P. (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 96 Damit geht aber auch immer ein Verlust von Handlungsfreiheit einher. Institutionen beanspruchen immer eine dem speziellen Fall übergeordnete Rationalität im Interesse des Funktionierens von Handlungsabläufen. 97 Vgl. Boltanski 2008.

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also einen bestimmten Stand der Beziehung zwischen symbolischen Formen und Sachverhalten sichern müssen. Aufgrund institutionell gebräuchlicher Klassifizierungen und Kategorisierungen wird die Wirklichkeit zu einem „Fall von“. So werden bestimmte Eigenschaften von Verhaltensweisen innerhalb solcher Kategorien je nach Institution zu Fällen von Kriminalität, „schwer-Erziehbarkeit“, „burn-out“ etc. Dies impliziert aber auch eine formalisierte Zuordnung von Fällen, damit Handlungsalternativen entscheidbar werden. Fassen wir kurz zusammen: Wenn ein Kind/Jugendlicher in der DDR ein Verhalten zeigte, welches nicht den erwarteten Normen entsprach, wurde dieses Verhalten als Abweichung angesehen. Es lag also eine Krisensituation vor. In einer solchen Situation der Krise hat man nun zwei Reaktionsmöglichkeiten: entweder man nimmt eine Art Außenperspektive ein und verhandelt die Situation in einer reflexiven Einstellung. D.h. derjenige, dem das Verhalten des Kindes/Jugendlichen als abweichend erscheint, würde mit dem Kind/Jugendlichen darüber reden und dabei die Gültigkeit der Normen hinterfragen. Oder man verlässt sich dabei auf die Realitätsdefinition einer institutionellen Autorität, d.h. das Verhalten des Kindes/Jugendlichen wird als schwererziehbar etikettiert, wie es die Jugendhilfe vorgibt. In beiden Fällen wird eine Lösungsmöglichkeit angestrebt, das Verhalten zu deuten und damit handhabbar zu machen.

2.4.2 Genese und Diversifikation von Akten Unser Augenmerk wird in diesem Kapitel auf dem prozessualen Charakter von Akten liegen. Nicht nur, dass Akten in institutionellen Zusammenhängen zu verorten sind. Wir haben es vor allem mit Akten zu tun, die nicht mehr in Behörden, sondern in Archiven aufbewahrt werden, womit wieder eine Reihe spezifischer Probleme nicht nur bei der Recherche, sondern vor allem bei der Analysearbeit zutage treten. Diese möchten wir im Folgenden herausarbeiten. In einem ersten Schritt werden wir die Entstehung von Akten durch behördliche Formierung untersuchen. Entsprechend wird uns interessieren, welche verschiedenen Akten klassifiziert werden und nach welchen Ordnungs- und Sammlungsprinzipien dies geschieht. Als zweites wollen wir die Konvertierung des behördlichen Registraturguts in Archivgut betrachten. Dieser Schritt wird als ein Transformationsprozess elaboriert, in dem sich der Funktionszusammenhang und damit die Bedeutung einer Akte wandeln. Erscheinen Akten in ihren institutionellen Bezügen als für den Arbeitsalltag notwendige Artefakte, werden sie als Archivgut zu einem Dienstleistungsgegenstand. 98 Abschließend werden die Ergebnisse noch 98

Insofern sich Archive als »Gedächtnisinstitutionen« begreifen, die die Diskurse von Einrichtungen registrieren und konservieren, vgl. Foucault 1981.

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einmal zusammengefasst und die Unmöglichkeit des Rückschließens auf den konkreten Heimalltag als »explanatorische Lücke« ausgewiesen. Formierung Das Wort Akte stammt von dem lateinischen Wort acta ab, was so viel wie „das Geschehene, Vollbrachte“ bedeutet. Wie wir bisher gesehen haben, meint Akte hier jedoch ganz offensichtlich nicht das Geschehene selbst, vielmehr handelt es sich lediglich um Aufzeichnungen über das Geschehene. Ein Geschehen bezeichnet dabei einen Ablauf, oder eine Abfolge von Ereignissen oder Vorfällen, welche sich ereignet haben, also allgemein einen Prozess. Dieser Prozess ist in Schriftstücken dokumentiert und diese Dokumente bilden den inhaltlichen Kern einer Akte. Das heißt, dass damit eine Akte gebildet werden kann, eine unbestimmte Anzahl von, mitunter auch disparaten Dokumenten zusammengefasst werden müssen. Dies geschieht in behördlichen Verwaltungszusammenhängen grundsätzlich nach zwei Ordnungskriterien. 99 Zum einen nach inhaltlichen, rein sachbezogenen Gesichtspunkten und zum anderen nach formalen Bezügen, insbesondere nach Schriftstückarten. Aus diesen Ordnungskriterien lässt sich auch eine Unterteilung der Akten in Serien- und in Sachakten ableiten. Serienakten stellen hierbei auch die ältere Form der Aktenbildung dar, in der Dokumente, meist ohne Rücksicht auf deren Inhalt, in chronologischer Abfolge, weil sie mehr als einen Betreff aufwiesen oder wegen ihres besonderen Formats abgelegt, bzw. zusammengefügt wurden. Beispiele hierfür sind Zeitungsausschnitte, Gerichtsentscheidungen, Erlasse, Protokolle usw. Diese Form der Aktenbildung ist auch heute noch anzutreffen, wenn auch in geringerem Umfang. Vielmehr haben sich die Sachakten etabliert. Diese werden gegenüber den Serienakten nach inhaltlichen Aspekten gebildet. Das bedeutet allerdings nicht, dass Sachakten nicht auch aufgrund formaler Merkmale gebildet werden können. Sachakten können ferner in vier weitere Aktenarten differenziert werden: in Einzelsachakten, Sammelsachakten, Sondersachakten oder abgeleitete Einzelsachakten und in Fallakten. Einzelsachakten stellen die Regel- und damit die häufigste Aktenform dar. Sammelsachakten enthalten Schriftstücke, welche nicht eindeutig einer Einzelsachakte zugewiesen werden können und damit nicht „einzelsachaktenwürdig“ sind, oder erst zu einem späteren Zeitpunkt in einer neuen Einzelsachakte zusammengeführt werden können. Sondersachakten werden aus einer Einzelsachakte gebildet (deshalb auch die Bezeichnung abgeleitete Ein99

Vgl. Hoffmann, H. (2000): Behördliche Schriftgutverwaltung. Ein Handbuch für das Ordnen, Registrieren, Aussondern und Archivieren von Akten der Behörden. München.

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zelsachakte) und umschließt Schriftgut, welches einen abweichenden Informations- und Rückgriffswert aufweist. Die Informationen können also durchaus höher sein, als der einer Einzelsachakte. Diese Art der Akten wird dann gebildet, wenn in einem bestimmten Zeitraum viele Schriftstücke zu einer Einzelsachakte anfallen. 100 Der Bezug zur Einzelsachakte wird aber durch gemeinsame Aktenzeichen und räumlich verbundene Ablage aufrechterhalten. Hierdurch können aufgrund gleichartiger Schriftstücke, die über die ganze Akte verteilt sind, Schwierigkeiten bei der Bearbeitung auftreten. Sondersachakten werden also nur bei Bedarf gebildet, um die Übersichtlichkeit durch eine zu hohe Anzahl von Akten nicht zu verlieren, die Materialkosten gering zu halten und unnötigen Arbeitsaufwand zu vermeiden. Die letzte Aktenart ist die Fallakte. Fallakten finden sich in jeder Behörde, fallen aber vor allem in nichtministeriellen Dienststellen, welche Durchführungsaufgaben haben, an. Diese Akten werden nur gebildet, wenn ein Rückgriffsinteresse, also ein besonderer Bedarf hierzu besteht. Die bekanntesten Fallakten sind Personalakten und Steuerakten, ebenso wie die von der Jugendhilfe der DDR angelegten Akten der Heimkinder. Bei der Bildung von Akten geht es zunächst darum, eine Ordnung in einen Bestand von Dokumenten, oder besser Schriftgütern herzustellen. Es handelt sich also um eine Verwaltungstätigkeit, bei der systematisch Unterlagen geordnet, registriert (erfasst), bereitgestellt, aufbewahrt und ausgesondert werden. Wie wir gesehen haben, wird erst durch das Ordnen das Schriftgut zu Akten, bzw. Aktenbeständen zusammengefasst. Bei der Registrierung werden formale und inhaltliche Merkmale erfasst. Das Bereitstellen umfasst alle Tätigkeiten, welche ein rechtzeitiges und vollständiges Vorlegen, sowie die Erteilung von Auskünften sicherstellen. Die Aufbewahrung beinhaltet neben der Integrierung von Schriftstücken mit den dazugehörigen Akten, den damit einhergehenden Beschriftungsarbeiten auch die Prüfung des Übergangs von der Bearbeitung in die Registratur sowie die Auswahl geeigneter Lagerungsmöglichkeiten und –orte. Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei der Schriftgutverwaltung um eine Verwaltung, also um ein Element der Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung mit definierten Verantwortungen und Tätigkeiten. Dementsprechend ist die Schriftgutverwaltung selbst nur ein Teil einer Organisation (wie bspw. einer Behörde, eines Unternehmens, eines Verbandes etc.). Und sie verwaltet etwas, was die Organisation selbst in einem Verwaltungsprozess pro-

100

Die Bildung von Sondersachakten stellt allerdings nur eine Möglichkeit dar. Eine andere Möglichkeit die Aktenordnung zu verbessern, oder weiterhin zu gewährleisten, ist die Bildung neuer selbstständiger Einzelsachakten. Diese müssen sich dann aber klar von den anderen Einzelsachakten abgrenzen lassen.

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duziert hat, nämlich Schriftgüter, die im Idealfall die Aufgaben und Entscheidungsprozesse abbilden, welche zu ihrer Entstehung führten. Wie oben bereits erwähnt, wird Schriftgut aber nicht grundlos produziert und formiert, sondern die Bildung von Akten richtet sich auch nach einem bestimmten Interesse, bzw. nach einem Bedarf. Behördliches Verwaltungshandeln, oder besser institutionelles Handeln weist einen Gemeinwohlbezug auf, unterliegt aufgrund seiner Gemeinwohlorientierung besonderen Bedingungen 101, die ihren Ausdruck insbesondere in bestimmten Rechts- und Verwaltungsvorschriften finden. An das Verwaltungshandeln richtet sich die Anforderung, jederzeit nachprüfbar zu sein und zwar nicht nur für die betreffende Behörde selbst, sondern auch gegenüber vorgesetzten Behörden, Gerichten und anderen Institutionen. Um diesen Anforderungen zu entsprechen, muss das Verwaltungshandeln seinen Niederschlag in ausreichend Schriftlichkeit finden, welche den Stand der Bearbeitung als auch deren Entwicklung belegt. Die dadurch anfallenden Unterlagen müssen in benutz- und verwertbarer Form geordnet sein, damit das Verwaltungshandeln transparent und nachvollziehbar ist. Es geht also um eine sinnvolle Zusammensetzung der Dokumente, was durch die Bildung von Akten gewährleistet werden soll und diese Akten müssen für eine eventuelle weitere Bearbeitung oder einen späteren Rückgriff aufbewahrt werden. An dieser Stelle werden wir unsere vorläufige Deskription noch einmal zusammenfassen. Wir haben versucht darzustellen, wo und wie Akten entstehen, was Akten beinhalten, haben versucht die verschiedenen Arten von Akten anzugeben und warum das Prinzip der Aktenförmigkeit überhaupt von Relevanz ist. Diesen Darstellungen folgend, wurden Schriftgüter, welche im Rahmen des Verwaltungshandelns in den Referaten für Jugendhilfe sowie in deren Einrichtungen angefallen sind und welche quasi als „institutionalisierte Spuren“ fungieren, mit dem Zweck der Nachvollziehbarkeit und Rechtssicherung in Akten zusammengefasst und aufbewahrt. Konvertierung Behördliches Handeln soll neben fachlich-inhaltlichen Aspekten auch formale Gesichtspunkte beachten. Damit die Aufgaben gewahrt werden können, wenn also die dauernde Funktionsfähigkeit vorausgesetzt werden soll, muss „das angefallene Schriftgut wirtschaftlich 101

Die Bedingungen, denen behördliches Handeln unterliegt, sind historisch, sowie soziokulturell variabel. Insofern ist eine Klärung dessen, um was für Bedingungen es sich im Einzelnen handelt unerheblich für die hiesige Argumentation. Wichtig ist nur, dass Verwaltungshandeln, wie dies auch immer aussieht, oder ausgesehen hat, bestimmten Regelungen unterworfen war, an denen sich die Akteure orientieren mussten, bzw. auf welche sie festgelegt wurden.

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verwaltet werden“ 102. Hierzu gehört auch eine sachgerechte Aussonderung. Wenn die Akten in den Behörden nicht mehr für die dienstlichen Aufgaben benötigt werden und die Aufbewahrungsfristen abgelaufen sind, sind diese von den Einrichtungen den zuständigen Archiven anzubieten und gegebenenfalls zu übergeben. Dem Prozess und den Konsequenzen der Transformation von behördlichem Registraturgut in Archivgut, werden wir uns hier widmen. Die zwei Körper des Archivs Ein Archiv hat stets zwei Körper. Es ist ebenso Institution wie Konzeption, also Arbeitsort und Methode gleichermaßen. Archiv meint nicht nur die Räume und Praktiken des Ablegens und Speicherns des Wissens, sondern zu allererst die Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit des Wissens, also eine Instanz, die eine Ordnung der Vergangenheit produziert. 103 Der in der Archäologie des Wissens dargebotene Archivbegriff von Foucault kennzeichnete ausdrücklich die archivische Methode (archive), von der er die Institution Archiv (archives) abgrenzte. Allerdings darf der Begriff nicht ohne Bezug auf den Ort verstanden werden, dessen sich auch Foucault bewusst ist. In seiner Definition des Archivs als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“ 104, rekurriert er auf ein Verständnis von Archiven, wie es im 16. Jahrhundert verwendet worden war. Hier erschien das Archiv als Rechtsgedächtnis, was auf den Ort verweist, an dem die Gesetze aufbewahrt wurden. 105 Es wird uns im Folgenden nicht darum gehen, die Entwicklung des Archivdiskurses nachzuzeichnen. Wir werden aber kurz darlegen, wie einerseits die Ökonomie des Archivs zugleich in das zu Speichernde selbst eingreift und andererseits, dass das Archiv stets gegen sich selbst arbeitet, da es den Inhalt durch die Speicherung nicht still stellt, sondern wiederholbar macht, was immer auch Veränderung bedeutet. Für uns ist nicht (so) wichtig zu verdeutlichen, was wann wo passierte, sondern wie eine Bewertung oder Einordnung ermöglicht wurde. Welche Architekturen, Diskurse und Techniken dem Archiv zugrunde liegen und vor allem, wie es sein kann, dass bestimmte Informationen verbreitet und andere vergessen werden. Auch wenn Archive die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Kulturen regulieren, bleibt 102

Hoffmann, H. (2005): Schriftgutverwaltung in Bundesbehörden – Einführung in die Praxis. Eine Darstellung des Bundesarchivs, 2. Aufl., Köln, S. 10. 103 Vgl. Foucault 1981. 104 Foucault 1981: 187. 105 Das Archiv als Ort der „Verräumlichung und Versprachlichung“ (Foucault, M. (1972): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M., S. 9) der Gesetze bleibt auch Foucaults Konzeption eingeschrieben. Allerdings erzeugte die Spannung zwischen Theorie und Institution eine provokative Aufladung und verlief als „Diskurs des Archivs“ (Ebeling, K. / Günzel, S. (2009): Einleitung. in: dies. (Hrsg.), Archivologie: Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten: Exterioritäten des Wissens in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin, S. 7) quer durch verschiedene Bereiche der Kultur. Den Höhepunkt des Archivdiskurses markierte in den 1990ern Derridas Formulierung einer »allgemeinen Archivologie«, Derrida, J. (1997): Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression. Berlin.

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die Kontingenz des Archivprozesses selbst viel zu oft im Verborgenen. Die Hinwendung zu diesen Mechanismen, welche die Archive als Orte der Wissensproduktion elaborieren, ist unsere Absicht. Überlieferungsbildung oder die Praktiken des Archivs Wie bereits angeklungen ist, findet die erste Entscheidung bei der Ursprungsstelle statt, indem die Akten von der Verwaltungsbehörde geschlossen werden. Die Beendigung der Sache – wie es in der Verwaltungssprache heißt – ist die Voraussetzung für die Bewertung und Übernahme des Registraturguts in das Archiv. Die zweite Entscheidung, welche Dokumente übernommen werden, wird durch den Archivar getroffen. In diesem Schritt soll die Menge der Aufzeichnungen auf „ein handhabbares Mass (»sic!«)“ 106 reduziert werden. Die weiteren Schritte werden innerhalb der Archive vollzogen. Das übernommene Schriftgut wird registriert, formatiert und gespeichert. Während der inhaltlichen Erschließung werden Hilfsmittel erstellt, welche meist in Form von Findbüchern der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, womit die Benutzung und Auswertung für andere ermöglicht wird. Die Praktiken des archivierenden Sammelns und Speicherns können im weitesten Sinne als politische bezeichnet werden. Die Praktiken folgen hierbei einer bestimmten „Politik des Archivs“ 107, denn die verschiedenen Entscheidungen folgen der Anwendung eines bestimmten Selektionsprinzips, welches sowohl einschließend als auch ausschließend ist. Ein Aspekt dieser ‚Archivpolitik‘ betrifft die Entscheidung darüber, ob ein Dokument als archivwürdig anzusehen ist oder nicht. Mit der Entscheidung dieser Frage wird beschlossen, welche Dokumente in das Archiv aufgenommen und welche ausgeschlossen werden, was die Kassation zur Folge hätte. Der Begriff Kassation entspringt dem lateinischen Wort cassare und bedeutet „vernichten, bzw. ungültig machen“. Im Kontext des Archivwesens wird damit gemeinhin die Vernichtung von Unterlagen bezeichnet, welche von einem Archivar bei der archivischen Bewertung als nicht archivwürdig eingeschätzt wurden. 108 Schriftgut, was einmal kassiert wurde, ist endgültig verloren; die Korrektur einer Fehlentscheidung ist ausgeschlossen. Die Wertmaßstäbe, die dieser Aussonderung zugrunde liegen, sind aber alles andere als eine universale und ahistorische Entität.

106

Menne-Haritz, A. (2001): Archivische Bewertung. Der Prozess der Umwidmung von geschlossenem Schriftgut zu auswertungsbereitem Archivgut, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 51, Heft 4, S. 450. 107 Wirth, U. (2005): Archiv. in: Roesler, A. / Stiegler, B. (Hrsg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn, S. 17. 108 Vgl. Menne-Haritz, A. (1999): Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Veröffentlichung Nr. 20 der Archivschule Marburg, Marburg.

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Ein weiterer Aspekt der „Politik des Archivs“ betrifft die Möglichkeiten des Zugangs zu den Beständen. Auch hier ist ein Selektionsprinzip am Werk, welches den Benutzerkreis definiert, für den sich das Archiv öffnet, bzw. für welchen es geschlossen bleibt. Nicht anders ist die Differenzierung in öffentliche, private und geheime Archive zu verstehen. Und schließlich lässt sich auch eine politische Dimension hinsichtlich der Praktiken des archivischen Speicherns ausmachen, insofern diese das Konservieren, Registrieren und Formatieren der Dokumente, welche als archivwürdig qualifiziert wurden, betreffen. Die Praktiken des Speicherns oszillieren dabei zwischen einem statischen und einem dynamischen Archivmodell, zwischen dem des „storage and retrieval“ (Speichern und Abrufen) und dem des „retention and recall“ (Konservieren und Aktualisieren). 109 Medialität des Archivs Wie wir oben bereits erwähnt haben, grenzt Foucault seinen Archivbegriff explizit von den Einrichtungen, die die Diskurse registrieren und konservieren, ab. Für ihn sind Archive Systeme der Diskursivität, welche das Erscheinen von Aussagen als Ereignisse beherrschen und sich obendrein dadurch auszeichnen, dass sie die gesagten Dinge „nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen“, sondern diese sich „in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden“ 110 können. Und genau in diesen distinkten Figuren und vielfältigen Beziehungen manifestiert sich die oben genannte Politik des Archivs als eine diskursive Praktik des selektiven Sammelns und eines konservierenden und transformierenden Speicherns, welches spezifischen Regeln und Regelmäßigkeiten unterliegt. Archiv als Technik der Wiederholung Die Medialität als Rahmenbedingung von Archivierungstechniken greift aber auch in das zu Speichernde selbst ein, oder wie Derrida schrieb: „…die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung“. 111 Anders ausgedrückt: gäbe es keine Räumlichkeiten in denen Akten abgelegt werden können, dann gäbe es auch kein Archiv. Die Größe der Räume bedingt wiederum die Anzahl der Akten, die archiviert werden können. Sind die räumlichen Kapazitäten erschöpft, kann nichts mehr archiviert werden. Neue Orte müssten erschlossen oder Akten aussortiert werden.

109

Vgl. Wirth 2005. Foucault 1981: 187. 111 Derrida 1997.: 35. 110

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Mit der Verräumlichung wird aber auch das Gespeicherte wiederholbar und aufgrund dessen ist es für Derrida die Technik der Wiederholung, welche die Ökonomie eines Archives bestimmt: „Kein Archiv ohne einen Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen.“. 112 Der Möglichkeit der Memorisierung liegt nach Derrida also eine „Logik der Wiederholung“ 113 zugrunde, welche den Inhalt nicht still stellt, sondern der ein Moment der Entfremdung immanent ist, wodurch sich die Perspektive des Archivs als Ort der Bewahrung nachhaltig verschiebt. Wie ist dies zu verstehen? Der Gedanke, dass jeder Wiederholung Veränderung inhärent ist, bezeichnet nichts anderes, als das sich mit jeder Wiederholung („Iteration“) die Bedeutung des Wiederholten verändert, also niemals dieselbe Bedeutung reproduziert wird wie beim vorausgehenden Gebrauch. Die Iteration hat also eine Variation zur Folge, welche dem Ursprünglichen etwas hinzufügt, es bereichert. Ein Beispiel: Im schweizerischen Bundesarchiv in Zürich wurden in den 1960er Jahren Unterlagen von einer Gläubigerkommission der Schweizerischen Verrechnungsstelle abgegeben. Diese Verrechnungsstelle hatte unter anderem die Aufgabe, nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Vermögenswerte in der Schweiz zu identifizieren und abzuwickeln. Dass diese Unterlagen überhaupt aufgenommen und nicht vernichtet wurden, war einem Archivar zu verdanken, welcher zu der Zeit tätig war. In den 1990er Jahren wurde im Zuge einer erneuten Evaluation der Archivbestände die Frage aufgeworfen, ob nicht ein Großteil dieser Unterlagen kassiert werden könnten. Sie wurden nicht kassiert. Dafür wurden diese Unterlagen aber in den letzten Jahren vor der Jahrtausendwende offenbar zu heiß begehrten Dokumenten für Finanzinstitute und Versicherungsgesellschaften. Innerhalb weniger Jahre änderte sich also die Bedeutung von Unterlagen gravierend. 114 Ebenso verhält es sich, wenn wir einen Text (bspw. ein Dokument) zwei Mal lesen. Allein das Wissen über den Inhalt des Textes nach der ersten Lektüre ändert die Voraussetzung für das erneute Lesen des Textes. Durch das Hinzufügen verändert sich die ursprüngliche Ausgangssituation unwiederbringlich. Hier vollzieht sich für Derrida der Austritt des Identischen in Dasselbe: „Die Rückkehr ergreift nicht mehr Besitz. Sie eignet sich den Ursprung nicht wieder an. Dieser ist nicht mehr.“ 115 Streng genommen ist ein Archiv keine Bewahrung, weil es die Ereignisse speichert und diese damit wiederholbar macht, Wiederholung aber Veränderung bedeutet. Damit wird

112

ebd.: 25. ebd.: 25 f. 114 Vgl. Chiquet, S. (2001): Was heisst eigentlich archivwürdig? in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 51, Heft 4, S. 470-486. 115 Derrida, J. (1972): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M., S. 444. 113

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ein Ereignis nicht still gestellt, sondern konstant verschoben und somit für die Zukunft geöffnet. Zusammenfassend heißt dies für uns, dass sich in Archiven Ereignisse als Spuren niederschlagen, deren Ursprünglichkeit nicht mehr erschlossen werden kann.

2.4.3 Die explanatorische Lücke Die Akte als Kontrollmedium Zur Nachvollziehbarkeit institutioneller Entscheidungen bedarf es eines Instrumentes. Akten stellen ein solches Werkzeug institutionellen Handelns dar und sind somit als Produkt einer gesellschaftlichen Praxis nicht nur ein Gegenstand mit spezifischen Formen, Inhalten, und physikalischen Eigenschaften, sondern darüber hinaus ein, auf eine bestimmte Art und Weise genutztes Artefakt. Die Kategorien der Akten entspringen dabei der Wirklichkeitskonstruktion der jeweiligen Institution. Genau aus diesem Grund kann für Außenstehende bereits das Ausfüllen von einfachen Formularen Schwierigkeiten bereiten, weil die benutzten Kategorisierungen immer ein Produkt der Interessen der Institution und deren Wirklichkeitskonstruktionen sind. Die Interessen einer Institution sind aber auch ausschlaggebend dafür, welche Informationen erhoben werden und wie umfangreich diese sein müssen. So hat Goffman nachweisen können, dass es in einer psychiatrischen Klinik offiziell keine Einschränkungen hinsichtlich dessen gibt, was von Seiten der Administratoren und Therapeuten als relevante Informationen erachtet werden, was aus dem Anspruch resultiert, dass die Psychiatrie den ‚ganzen Menschen‘ behandelt. 116 Der Umfangreichtum einer Akte kann also variieren. Der Sinn dessen liegt darin, dass zum einen eine möglichst vollständige Dokumentation und Sammlung von Informationen der Kontrolle der Patienten (Strafgefangen, oder sonstigen verakteten Personen) dienen soll und zum anderen wird die Vollständigkeit von Akten zu einer Eigenschaft, welche Rückschlüsse auf die Korrektheit geleisteter Verwaltungsarbeit erlaubt, weil sie in ihrer Lückenlosigkeit Transparenz demonstriert und als Beleg für eine ordnungsgemäße Führung und damit als Legitimitätsnachweis herangezogen werden kann. 117 Bürokratisch instituierte Nivellierungsdynamik Fassen wir noch einmal kurz zusammen: Akten, die in der Verwaltung einer Institution angelegt wurden, sind Materialsammlungen, die zu verschiedenen Zwecken erstellt wurden und die Bearbeitung eines Vorganges dokumentieren sollen. Dabei ist entscheidend, dass die Dokumente einem der Institution inhärentem System (ein Aktenplan o.ä.) entsprechend angeordnet wurden und damit selbst wieder eine Ordnung herstellen. Neben den ordnenden 116 117

Vgl. Goffman 1995. Vgl. Muckel 1997.

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und verwaltenden Funktionen von Akten tritt noch der Modus der Repräsentation hinzu. Die in den Akten zusammengeführten Informationen präsentieren ein Bild von etwas, was sich innerhalb der Institution als gültige Wirklichkeit konstituiert. Dies kann bisweilen dazu führen, dass sie als das Repräsentierte selbst behandelt wird. Im Zusammenhang mit personenbezogenen Akten hat dies teilweise schwerwiegende Konsequenzen. Eine gewichtige Folge bürokratischer Praxis ist, dass sie dazu neigt, die an ihr beteiligten Personen einer Nivellierungsdynamik auszusetzen. Um Arbeitsprozesse zu ermöglichen und Entscheidungen zu strukturieren, kann eine zu verwaltende Person nicht in ihrer Einzigartigkeit betrachtet werden. Vielmehr wird sie unter die gebräuchlichen Kategorien einer Institution als „Fall“ subsummiert. Damit sind sie aber nur ein „Fall“ von vielen, der wie jeder andere auch nach bestimmten Regeln behandelt und verwaltet wird. Weil die Darstellung selbst standardisiert ist, wird der Mensch nunmehr zu einem geschichtslosen Objekt der Verwaltung. In der Regel werden biographische Ereignisse der Personen herausgegriffen und hervorgehoben, welche im Zusammenhang mit dem institutionellen Zugriff bedeutungsvoll erscheinen, was das Personenbild prägt und festschreibt. Meist wird die Biographie in den Akten negativ verzerrt, womit aber auch die Institution in ihrer Wahrnehmung und ihrer Arbeit bestätigt wird. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang auch von einer self-fulfilling prophecy 118 gesprochen: „Die Verbindung zur selbsterfüllenden Prophezeiung drängt sich auf, bei welcher das Ergebnis eines Vorgangs gleichsam als Beleg für die Richtigkeit einer anfänglichen Annahme oder Behauptung gelesen wird. Auch im Fall der Zöglingsakte bringt die Akte schlussendlich einen Zögling hervor, der haargenau ihren Ordnungen entspricht – Oder gar erst entspringt? – was gleichsam als verifizierendes Moment der Dokumentation ebenso gelesen werden kann wie als ein rückwirkend

118

Das Phänomen der Selbsterfüllenden Prophezeiung als sozialer Mechanismus wurde von Robert K. Merton analysiert, um Auswirkungen von Einstellungen und Handlungsweisen zu erklären. Bis heute sind eine Vielzahl von Studien durchgeführt wurden, welche sich direkt oder indirekt auf dieses Phänomen beziehen. So hat z.B. Myrdal Rassenvorurteile in den USA auf einen sich selbst verstärkenden Prozesses zurückgeführt. Ein klassisches Experiment von Rosenhan konnte nachweisen, welche Auswirkungen die Etikettierung „Schizophrenie“ bei der Beurteilung der etikettierten Personen hat. Ein weiteres klassisches Experiment führte Rosenthal an Grundschulen der USA durch und konnte nachweisen, wie Lehrer sich von der Zuschreibung bestimmter Attribute (intelligent-nicht intelligent) bei der Bewertung beeinflussen ließen. Vgl. Merton, R. K. (1948): The self-fulfilling prophecy. in: The Antioch Review (summer), Bd. 8, S. 193-210; Myrdal, G. (1944): An American dilemma: The negro problem and modern democracy. New York; Rosenhan, D. L. (1973): On Being Sane in Insane Places. in: Science, Vol. 179, no. 4070, S. 250-258; Rosenthal, R. (1983): Pygmalion im Unterricht. Lehrererwartungen und Intelligenzentwicklungen der Schüler. Weinheim als auch Snyder, M. / Tanke, E. D. / Berscheid, E. (1977): Social Perception and Interpersonal Behavior: On the SelfFulfilling Nature of Social Stereotypes. in: Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 35, No. 9, S. 656-666.

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abschließbarer Beleg für die Notwendigkeit dessen, was es zu dokumentieren galt. Quod erat demonstrandum.“ 119 Eine weitere Folge des Gebrauchs von Akten äußert sich darin, welche Autorität den Dokumenten aufgrund ihres offiziellen Charakters bisweilen zugesprochen wird und welche Macht der Institution sich daraus über die Konstruktion von Wirklichkeiten ableiten lässt. Erhalten Vertreter einer Institution Kenntnis von einem Ereignis, müssen diese reagieren. Dies geschieht in erster Linie dadurch, dass sie die Informationen in Bezug auf die Interessen der Institution bewerten. Werden den Informationen eine bestimmte Bedeutung verliehen, erhalten sie häufig offiziellen Charakter und werden aufgrund der Verpflichtung zur Dokumentation festgehalten. Dokumentieren Akten eine institutionelle Wirklichkeit, dann erhält das, was nicht in den Akten steht, im Diskurs und im Handeln der Institution keine, zumindest nach außen sichtbare Wirklichkeit, es existiert mithin nicht (was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt). Nicht nur, dass über die Akten Bedeutungszuschreibungen vollzogen werden können, es können genauso gut Bedeutungen entzogen werden und zwar insofern, als bei der Entstehung von Akten Dokumenten die Relevanz abgesprochen und vernichtet werden kann. Was bleibt? Akten als institutionelle Artefakte schaffen Bezüge zwischen dokumentierten Ereignissen, erzeugen Ordnungen, welche als Sedimente der Wirklichkeit Bedeutung aufweisen und erheben den Anspruch, Verwaltungsabläufe zu repräsentieren. Akten weisen immer auch eine Asymmetrie auf, weil sie von Personen der Verwaltung angelegt wurden, womit immer eine Informationsselektion einhergeht. Es werden von der Institution nämlich nur Informationen gesammelt, welche sich aus den Aufgaben, Interessen und Bedürfnissen der Institution selbst ergeben. Deshalb können Akten zum Beispiel nicht erklären, wie es um die Wirklichkeit der verakteten Personen bestellt ist, z.B. warum ein Heimkind aus dem Heim entlaufen ist, sondern sie können lediglich das Handeln der Verfasser aufzeigen. Allerdings müssen auch hier Selektionsprozesse angenommen werden, insbesondere dann, wenn wir die Kontrollfunktion der Dokumente/ Akten für das Handeln der Verfasser in Rechnung stellen. So kann der Heimleiter der Aufforderung hinsichtlich des Umstandes der Entweichung Stellung zu beziehen nachkommen, dabei aber seine Rolle als positiv herausstellen und die entwichene Person als besonderen Problemfall schildern. Das heißt, dass über die Akten die Wirklichkeit potentiell manipulierbar ist.

119

Zaft 2011: 98.

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Aber nicht nur allein das Verwaltungshandeln als solches birgt Problemkonstellationen, welche bei der Arbeit mit Akten Berücksichtigung finden müssen. Weil es sich zum größten Teil um Dokumente handelt, die in einem Archiv aufbewahrt werden, verkompliziert sich der Umgang noch einmal erheblich. Wie wir dargelegt haben, kann es sich bei einem Archiv um zweierlei handeln: einerseits um die Institution, also die Räume und Praktiken des Ablegens und Speicherns von Wissen und zum anderen wird damit auch eine bestimmte Methode der Wissensproduktion gemeint. Als Urheber von Wissen und Erkenntnis sind Archive Ensembles menschlicher Agenten, Apparaturen und Artefakten ebenso wie immaterieller Faktoren wie beispielsweise Traditionen der Überlieferungsbildung, aber auch Erwartungen, welche an die Archive herangetragen werden und welche von den Archivaren selbst hervorgebracht werden. Welche spezifischen Probleme treten nun auf, wenn das Archiv als Institution und Methode die behördlichen Dokumente beherbergt? Zum einen ist das Problem des Zugangs. Die Mehrheit der Archive sind die Verwaltungsarchive 120 und diese sind für Forscher so lange nicht betretbar, wie die Akten noch wirksam, also nicht geschlossen sind. Die Archive, welche für die Forscher zugänglich sind, sind die staatlichen, kommunalen und städtischen Archive. In diesen öffentlichen Archiven ist aber lediglich der Restbestand von Institutionen auffindbar, also all jene Spuren, die nicht vernichtet wurden, weil sie im Rahmen der archivischen Bewertung als unbrauchbar und redundant abqualifiziert worden sind. Weiterhin haben wir festgestellt, dass das Bewahren immer eine Veränderung bedeutet und jede Veränderung neue Mannigfaltigkeit produziert. Eine Ablage von Dokumenten bedeutet nie, dass das Abgelegte gleich bleibt oder mit sich selbst identisch ist, sondern das Ablegen selbst markiert eine Differenz und ein Gefälle. Ferner tritt die Materialität des Wissens als ein zu berücksichtigender Faktor hinzu und zwar insofern, als jedes Material Veränderungen unterliegt und schlicht durch seinen Verfall eine Differenz ‚an-sich‘ hervorbringt. Eine Speicherung kann somit nicht vor Veränderungen bewahren. Darüber hinaus verändert sich der Status eingelagerter Objekte auch grundlegend in dem Moment ihrer Aushebung. 121 Für uns ist an dieser Stelle wichtig, dass das Archiv die Struktur eines wirksamen Ein- und Ausschlussmechanismus ist, der zwar ohne seine materiellen Grundlagen keine Macht ausüben kann, dessen 120

Verwaltungsarchive sind Zwischenarchive, welche im Rahmen der Zentralisierung von den Kreisarchiven aufgebaut werden sollten. In diesen Zwischenarchiven konnten die einzelnen Fachdienste Unterlagen ablegen, um Ordnung und Übersichtlichkeit in den Dienststellen zu gewährleisten. Alle Akten, welche zwar bereits geschlossen, aber aufgrund von Aufbewahrungsfristen noch verwaltet wurden, konnten somit ausgelagert werden, ohne den Status von Archivgut zu erhalten (durch Registrierung, Bewertung und Speicherung durch die Archivare). Die Archive haben keinen direkten Zugriff auf diese Akten. Sie müssen vorher die Zustimmung der Fachdienste einholen. Die Verwaltungs- oder Zwischenarchive stellen demnach eine Art transitorischen Raum dar. 121 Aushebung ist ein Terminus aus dem Archivwesen und meint das Entfernen von Archivgut aus dem Magazin und dem zur Verfügung stellen zur Benutzung. Das Zurücklegen des Archivguts wird als Reponieren bezeichnet. Vgl. Menne-Haritz 1999.

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Dinglichkeit aber nicht allein die Ordnung des Archivs begründet. Es ist die „privilegierte Topologie“ 122 des Archivischen, welches für uns wichtig ist. Die Möglichkeit Informationen andernorts zu lagern, ermöglichte vor allem die Kopplung von Wissen an die juridische Macht. Insofern das Archiv ein Ort ist, an dem Dokumente und Daten vor der Öffentlichkeit verborgen werden können erscheint das Archiv nicht mehr nur als passive Ablage. Es war insbesondere der Archivbegriff von Foucault, der den Archiven ihre „dokumentarische Passivität und konservierende Unschuld nahm“. 123 Was bleibt am Ende noch zu sagen? Akten, oder genauer die in ihnen enthaltenen Dokumente, lassen sich nur äußerst eingeschränkt als Beleg oder Hinweis für die in ihnen angesprochenen Sachverhalte oder Entscheidungsprozesse verwerten und können schon gar nicht auf die Funktion von „Informations-Depots“ reduziert werden. Das heißt, die Akten können nicht als Repräsentationen für etwas anderes (in unserem Falle das Geschehen im Heimalltag) gelesen werden, so als seien sie lediglich eine Fensterscheibe, durch die hindurch man auf eine Person, eine Tat oder einen Sachverhalten blicken könnte. Alle Dokumente, auch solche, die explizit als Tatsachenberichte firmieren, stellen eine eigenständige Datenebene dar und müssen als methodisch gestaltete Kommunikationszüge angesehen und analysiert werden. Wir haben es schlicht und ergreifend nur mit verdoppelten Verdopplungen zu tun. 124 So können wir beispielsweise anhand einer Heimordnung rekonstruieren, worauf im Allgemeinen im alltäglichen Umgang (Disziplin, Sauberkeit, Respekt usw.) Wert gelegt wurde. Wie aber diese Heimordnung im Alltag handlungspraktische Wirksamkeit entfaltet hat, können wir nicht sagen. Mal abgesehen davon, dass wir nicht einmal wissen, ob die Heimordnung handlungswirksam sein sollte 125, wissen wir nicht, wie die Ordnung von den einzelnen Akteuren ausgelegt und angewendet wurde und welche Konsequenzen sich wann für wen ergeben haben, wenn gegen die Heimordnung verstoßen wurde. Diese „explanatorische Lücke“ kann anhand der Akten nicht geschlossen werden. 122

Derrida 1997: 33. Ebeling / Günzel 2005: 18. 124 Die erste Verdopplung geschieht auf der behördlichen Ebene, insofern als ein Ereignis in Begriffen der behördlichen Verwaltung geschildert und handlungsanweisend wird. Wir haben also Ereignis (p) und wie dieses Ereignis für die Behörde erscheint (p‘). Wenn Wissenschaftler nun die Verwaltungsunterlagen als Datenbasis für ihre Arbeit nutzen, erfahren sie nur über das Ereignis, wie es für die Behörde erschien (also p‘) und können dies rekonstruieren und beschreiben. Somit wird aber nur die Beschreibung beschrieben, es wird p‘‘ erzeugt, womit die Verdopplung durch die Behörde noch einmal auf einer höheren Ebene verdoppelt wird. Zu der These, dass Organisationen die Realität verdoppeln, siehe hierzu Nassehi, A. (2011): Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Frankfurt a.M sowie dem Prinzip der „doppelten Hermeneutik“ als erkenntnistheoretisches Prinzip der Sozialwissenschaften bei Giddens, A. (1995): Die Konstitution der Gesellschaft: Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M./New York. 125 Wenn in den Archivdokumenten eine Heimordnung für ein konkretes Heim gefunden wird, ist nicht geklärt, ob diese tatsächlich auch bindend war. Genauso gut kann es sich um einen Entwurf handeln, der lediglich beim Heimleiter in der Schulblade lag. 123

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2.5 Welche Probleme – welche Lösungen? Wenn wir das Gesagte Revue passieren lassen und unter den Gesichtspunkten unseres ursprünglichen Auftrages diskutieren, was lässt sich dann zusammenfassend sagen? Eine Rekonstruktion des Heimalltags ist über die Akten allein nicht einzulösen. Sowohl personelle als auch institutionelle Selektionskriterien und Relevanzsysteme konstruieren in den Verwaltungsdokumenten eine „zweite Wirklichkeit“, weshalb die in den Dokumenten beschriebenen Phänomene nicht den tatsächlichen Phänomenen entsprechen. Hinzu kommt obendrein, dass die Schriftgüter in der DDR nach spezifischen Codes und Maximen produziert wurden, die nur den Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft zugänglich waren. Die Codes zu entschlüsseln und zu dekonstruieren steht noch aus. Aber auch wenn man diese Befunde nicht in Rechnung stellt, ist die epistemologische Reichweite von Akten als Datenmaterial beschränkt. So können wir beispielsweise anhand einer Heimordnung erfahren, wie das Zusammenleben aller in dem Heim lebenden und arbeitenden Personen offiziell geregelt wurde, welche Rechte und Pflichten ein jeder hatte. Welche inoffiziellen Regelungen es innerhalb der Kollegschaft der Erzieher und Lehrer gab, wird daraus nicht ersichtlich. 126 Ebenso wenig, ob und wie die Ordnung handlungspraktische Wirksamkeit entfaltet hat und wie die einzelnen Akteure die Punkte verstanden und ausgelegt haben, was geschah, wenn jemand gegen die Ordnung verstoßen hat. All diese Gesichtspunkte, welche die je konkret gelebte Praxis des Alltags berühren, erschließen sich uns nicht. Um diese Fragen beantworten zu können, müsste man die Betroffenen Akteure, Heimkinder gleichermaßen wie auch Heimpersonal (nicht nur Erzieher und Lehrer, sondern auch technisches Personal) konsultieren. So könnte man die Akteure mit der Heimordnung konfrontieren und danach fragen, welche Bedeutung dieser beigemessen wurde und wie sie ausgelegt wurde. So könnte man mittels einer systematischen komparativen Analyse zumindest partiell die explanatorische Lücke schließen und so fundierte Einsichten in den Alltag eines Heimes gewinnen. Damit einhergehend stellt sich aber indes die Frage danach, wie hoch die Fallzahl, also die Anzahl der Interviewpartner sein müsste, um valide Erkenntnisse über eine einzige Einrichtung zu gewinnen, auf deren Basis dann politische Entscheidungen getroffenen werden können. Das Gelingen eines solchen Unterfangens hinge also maßgeblich von zeitlichen und finanziellen Ressourcen ab.

126

Diese wären aber von besonderem Interesse, weil sie das Verhalten der Gruppenmitglieder (des Personals im Heim) in zweifacher Weise regulierten: Einerseits das Verhalten untereinander und andererseits gegenüber den formalen Regelungen. So konnten bspw. informelle Normen die Gültigkeit formeller Normen in Frage stellen. Insofern sie quer zu den offiziellen Regelungen verliefen, hatten sie erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des Heimalltags, welcher aus den Unterlagen nicht hervorgehen wird, bestätigen diese lediglich die offiziell angegebenen Normen.

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Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob eine Rekonstruktion der Lebensbedingungen in einzelnen Einrichtungen wirklich notwendig ist? Nachzuweisen, dass die Bedingungen ähnlich gelagert waren wie im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau dürfte nicht ohne weiteres möglich sein. Im Gegensatz zum Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, waren die anderen Spezialheime nicht explizit als Disziplinareinrichtungen konzipiert. Torgau war offiziell als „Endstation“ entworfen worden, wo die besonders renitenten Kinder und Jugendlichen die ganze Rigidität und Macht des Regimes zu spüren bekommen sollten. 127 In den Heimen der Jugendhilfe waren aber körperliche Strafen oder eine Arrestierung in dunklen Räumen über die vorgegebenen Richtlinien hinaus verboten. 128 Wenngleich wir Kenntnis davon haben, dass solche Maßnahmen trotzdem in diesen Einrichtungen an der Tagesordnung waren, ist nicht davon auszugehen, dass die Maßnahmen offen protokolliert wurden. Wenn überhaupt, dann wurden solche Handlungen in Kontrollberichten erwähnt. Kontrollen wurden aber nicht täglich durchgeführt, weshalb die Frage bleibt, ob diese eine systematische Misshandlungspraxis glaubhaft belegen können. Wenn aber für die Rehabilitierung neben dem Nachweis politisch motivierter Einweisungsgründe ebenfalls menschenunwürdige Bedingungen geltend gemacht werden können, dann ist u.E. dies allein schon durch die konzeptionellen Implikationen sowie die Erziehungsvorstellungen der DDR gewährleistet. Die Kinder und Jugendlichen wurden zu Objekten degradiert, sie waren beliebig formbares Material. Pointiert brachte dies ein Heimleiter in einem Interview zum Ausdruck, als er uns mitteilte, dass sie aus dem, was sie vorgefunden haben noch „brauchbares Menschenmaterial“ machen sollten. 129 Aberkennt man jemanden bereits den Status als Mensch, verwundert es kaum, wenn den Kindern und Jugendlichen selbst die basalsten Rechte nicht zugestanden worden. Die Erzieher waren sogar explizit angehalten, gegen die Vorstellungen ihrer Klientel zu entscheiden und so qua Autorität das Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft zu setzen. Meinungsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Eigentum, Bildung und Gleichberechtigung spielten kaum ein Rolle in einem System, in dem die Heimerzieher eher darauf bedacht waren, durch Überstrukturierung für reibungslose Abläufe und Planerfüllung zu sorgen. Im Vordergrund standen die effektive und rationale Durchführung zielorientierter Vorhaben. Während sich beinah die gesamte Aufmerksamkeit auf die Mittel und Wege konzentrierte, wurden die betroffenen Kinder 127

Vgl. Gatzemann, A. (2009): Der Jugendwerkhof Torgau. Das Ende der Erziehung, Berlin [u.a.]; Jahn 2010; Krausz, D. (2010): Jugendwerkhöfe in der DDR. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, Hamburg. 128 Vgl. Wapler, F. (2012): Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR. in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Expertisen, Berlin, S. 5124. 129 Interview mit Herrn Ihle von Michael Hofmann und Jan Kalies am 07.05.2012.

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und Jugendlichen ganz offen den Sachzwängen einer technokratischen Prozess- und Ergebnisorientierung untergeordnet. Dass solche Verhältnisse gegen die Menschenwürde verstoßen, liegt auf der Hand und ist bereits für das System der Jugendhilfe der DDR nachgewiesen und anerkannt worden. So heißt es im Bericht zur „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“: „Insbesondere in den Spezialheimen der Jugendhilfe war der Alltag von Freiheitsbeschränkungen, Menschenrechtsverletzungen, Fremdbestimmung, entwürdigenden Strafen, Verweigerung von Bildungs- und Entwicklungschancen sowie erzwungener Arbeit geprägt.“ 130 Eine dezidierte Analyse der Zustände in den Heimen würde u.E. lediglich eine mehr oder weniger große Spannbreite unterschiedlicher Spielarten der Ausgestaltung der offiziellen strukturellen und pädagogischen Vorstellungen der DDR-Jugendhilfe zutage fördern. Eine kleine Nebenbemerkung noch zum Schluss: das Berliner Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 einem Häftling, welcher geklagt hat, rechtgegeben und eine gesamte Haftanstalt als menschunwürdig und damit verfassungswidrig befunden. Das Urteil wurde aus den folgenden Gründen gefällt: der Häftling war zwischen 15 und 20 Stunden in einer Zelle inhaftiert, die nicht größer als 6 Quadratmeter und mit einer räumlich nicht abgetrennten Toilette versehen war. Darüber hinaus wurde ebenso kritisiert, dass ihm nicht mitgeteilt wurde, wie lange er in dieser Zelle verbringen sollte. 131 Auch im letzten Jahr wurden zu kleine Zellen in Gefängnissen vom Bundesverfassungsgericht als menschenunwürdig und nicht rechtmäßig beurteilt. 132 Wir wissen - und das nicht erst seit dem Erscheinen der Expertisen - darum, das in der „Ordnung über die zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe vom 01. Dezember 1967“ eine Unterbringung wie in der Berliner Haftanstalt von offizieller Seite angeordnet wurde. Die Arrestzellen sollten ebenfalls eine Grundfläche von 6 Quadratmetern aufweisen und auch eine räumlich abgetrennte Toilette war nicht vorgesehen. Vielmehr mussten die Heimkinder ihre Notdurft in einen dafür vorgesehenen Eimer verrichten 133 und den arrestierten Heimkindern wurde oftmals auch nicht mitgeteilt, aus welchen Gründen sie eingesperrt wurden und wie lange sie in diesen Zellen verbleiben sollten. 134 In Anbetracht dessen, muss die Frage geklärt werden, von wel-

130

AGJ 2012: 4. Vgl. Hasselmann, J. (2009): Gefängnis Tegel verstößt gegen die Menschenwürde. in: http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/justiz-gefaengnis-tegel-verstoesst-gegen-diemenschenwuerde/1627304.html (letzter Aufruf am 09.11.2012). 132 Vgl. dpa (2011): Zu kleine Zellen verstoßen gegen die Menschenwürde. in: http://www.welt.de/politik/deutschland/article12749120/Zu-kleine-Zellen-verstossen-gegen-dieMenschenwuerde.html (letzter Aufruf 09.11.2012) 133 Vgl. Ordnung über die Zeitweilige Isolierung von Minderjährigen aus disziplinarischen Gründen in den Spezialheimen der Jugendhilfe vom 1. Dezember 1967. in: BArch DR 2/12203. 134 Vgl. hierzu Agnès Arp in diesem Bericht. 131

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chen Relationen wir hier sprechen wenn auf der einen Seite heutzutage Anstalten aus den genannten Gründen für menschenunwürdig und verfassungswidrig befunden werden und auf der anderen Seite noch immer der Nachweis über unwürdige Zustände erbracht werden muss. Es bedarf unbedingt einer kritischen und vor allem transdiziplinären Auseinandersetzung darüber, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit wir von menschunwürdigen und verfassungswidrigen Lebensbedingungen sprechen und woraus auch rehabilitierungsrechtliche Ansprüche für die Betroffenen abgeleitet werden können.

3. Alltagserinnerungen von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen der ehemaligen DDR. (Agnès Arp) 3.1

Einleitung ................................................................................................................... 75

3.2

Reden über die Jahre im Spezialheim, ein schmerzhafter Akt .................................. 77

3.3

Welche Themen werden in den Interviews am meisten angesprochen? .................... 81

3.3.1 Die Heimeinweisung und der erste Tag ............................................................... 86 3.3.2 Die Gewalt im Heim ............................................................................................ 90 3.3.3 Entlassung und Stigmatisierung........................................................................... 93 3.4

Die Jahre im Spezialheim der DDR: eine Vergangenheit, die nicht vergeht. ............ 94

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3.1 Einleitung Im Rahmen der Studie „Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen“, welche von November 2010 bis September 2011 am Jenaer Zentrum für empirische Sozial- und Kulturforschung e.V. durchgeführt und vom Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit beauftragt wurde, haben wir die soziale Lage, sowie die Lebensverläufe ehemaliger Heimkinder analysiert. Dabei berücksichtigten wir in besonderer Weise die institutionellen Einflüsse, fragten also, wie die stationäre Fremderziehung in den Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR auf die biographischen Handlungsmuster der betroffenen Akteure wirkte. Im Zentrum standen hierbei speziell die Fragen danach, ob und wie es dem System gelang, die Kinder und Jugendlichen in die Gesellschaft zu integrieren, also sie auf ein eigenständiges, selbstverantwortliches Leben vorzubereiten. Dabei konnte zum Einen gezeigt werden, dass die Betroffenen einen durch den Heimaufenthalt verminderten, teilweise bewusst verweigerten Zugang zu schulischen und beruflichen Ausbildungschancen hatten. Vor allem nach dem Systemumbruch 1989/1990 wiesen sie Brüche in den Erwerbsbiographien auf. Nicht nur, dass es ihnen an basalen Kenntnissen und Fähigkeiten der täglichen Lebensbewältigung mangelte, häufig waren sie auch nicht in der Lage, aufgrund ihrer geringen Bildungsvoraussetzungen, ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu finanzieren. Sie leben heute zum Teil am Rande der Prekarität. Zum Anderen wiesen die Heimkinder Verhaltensdispositionen auf, welche sich auf das Leben nach dem Heimaufenthalt negativ auswirkten. Es mangelte ihnen insbesondere an Fähigkeiten, eigene Beziehungsnetzwerke herzustellen, zu gestalten und aufrecht zu erhalten. Die Verhaltensmuster, welche sie im Heim erworben haben, konnten, wenn überhaupt, nur unter großen Anstrengungen modifiziert werden. Da die Probleme im Sozialverhalten in einem wechselseitigen Verhältnis zu den beruflichen Entwicklungen stehen, wiegen diese umso schwerer. Zusammenfassend ließ sich konstatieren, dass der Aufenthalt der Betroffenen in den Heimen der Jugendhilfe in der DDR eine unterschiedlich lange „Diskulturation“ 135 zur Folge hatte. Die Schwierigkeiten im Sozialverhalten sind aus einem weiteren Grund von besonderem Interesse. Wir haben festgestellt, dass die meisten ehemaligen Heimkinder, unabhängig davon, aus welchen Gründen sie in ein Heim eingewiesen wurden, in welchem Typ Heim sie untergebracht waren und auch unabhängig davon, wie die Betroffenen den Heimaufenthalt 135

Der Terminus „Diskulturation“ wurde von Erving Goffman in Anlehnung an Robert Sommer verwendet. Er bezeichnet damit einen, in totalen Institutionen eintretenden Prozess des Verlernens, welcher die betreffenden Akteure temporär unfähig macht, mit bestimmten Gegebenheiten der Außenwelt umzugehen. Vgl. Goffman, E. (1995): Asyle: über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10. Aufl., Frankfurt a.M., S. 24.

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bewerteten, ähnliche Verhaltensweisen bzw. Probleme im Sozialverhalten aufweisen konnten. Es ist zu vermuten, dass diese Einheitlichkeit, trotz der mannigfachen biographischen und lebensweltlichen Konfigurationen, auf ein gemeinsames, über die Grenzen einzelner Heime hinweg wirksames Generierungsprinzip verweist. Diese Vermutung erhärtet sich im Rekurs auf eine weitere Feststellung, nämlich, dass von den Betroffenen, trotz der disparaten persönlichen Wahrnehmungen und Deutungen, ähnliche Bedingungen und Erlebnisse im Heimalltag, im Umgang der Erzieher mit den Kindern, als auch der Kinder untereinander geäußert wurden. Somit hätten, so die Annahme, die Heime soziale Voraussetzungen hergestellt, welche das Denken der Kinder regulierte, unter deren Einfluss unbewusste Klassifikationen und Schemata ausgebildet werden konnten, welche eine „systematische Verkettung“ 136 in einem gemeinsamen Habitus erzeugten. Aufgrund dieser Annahme verschiebt sich nun der Problemfokus von den Auswirkungen der Heimsozialisation hin zu den konkreten Bedingungen und deren Bedeutungen in den Heimen selbst. Zum Leben im Heim, insbesondere im Spezialheim, erzählen die interviewten Heimkinder allerdings meistens nicht detailliert. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass ehemalige Heimkinder, unabhängig davon, aus welchen Gründen sie in ein Heim eingewiesen wurden und ob sie in einem Spezialheim waren oder nicht, ähnlich strukturierte Erinnerungen haben, ähnliche Geschichten erzählen und Situationen erinnern. 137 Wir möchten in dem Bericht „Strukturen und Alltag in den Spezialheimen der DDR“ darstellen, wie und über was unsere Interviewpartner, die in Spezialheime der DDR eingewiesen wurden, über ihre Erlebnisse in jenen Heimen reden. Unser Sample umfasst sechzehn Personen, die als gemeinsamen Nenner die vielseitigen Erfahrungen eines familialen Bruchs und der Fremderziehung in einer Institution teilen. Um den Text von Zitaten zu erleichtern, haben wir acht Tabellen entworfen, welche die Kernaussagen der ehemaligen Heimkinder thematisch einordnen und dabei einer gewissen Logik folgen. 138 Die Reihenfolge der Tabellen

136

Bourdieu, P. (1974): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M., S. 134. Angaben zu den speziellen Heimtypen, der die Aussagen unserer Interviewpartner zu dem Thema bestätigt: „In den Berichten der ehemaligen Heimkinder finden sich sehr viele ähnliche Schilderungen der Heimzustände. Eine deutliche Häufung negativer Heimbedingungen lässt sich bei den Darstellungen über die Durchgangsheime, über einige Jugendwerkhöfe und Spezialkinderheime feststellen.“, vgl. dazu Ebbinghaus, R / Sack, M (2012): Was hilft ehemaligen Heimkindern bei der Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung? in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, Expertisen, Berlin, S. 333. 138 Diese Tabellen befinden sich im Anhang. Tabelle 1: Übersicht über das Sample der ehemaligen Heimkinder in Spezialheimen. Tabelle 2: Erzählen, Erinnern und Verdrängen über die Jahre im Spezialheim. Tabelle 3: Der erste Tag im Spezialheim: Erinnerungen, Einweisungsalter, -beteiligten, -grund. Tabelle 4: Alltagserinnerungen: Heimpersonal, Freundschaft, körperliche Arbeit und Freizeitaktivitäten. Tabelle 5: Erinnerte Gewalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen oder wie wird die Kollektiverziehung beschrieben? Tabelle 6: Die Entlassung aus dem Spezialheim: Erinnerung, Anpassungsprobleme und 137

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soll auf die drei thematischen Schwerpunkte dieser Arbeit hindeuten: Erstens möchten wir anhand der lebensgeschichtlichen Interviews zeigen, welchen Platz das Thema „Spezialheim“ in der Narration, in der Erinnerung und im Leben der Interviewpartner heute einnimmt.139 Zweitens werden mit drei Tabellen 140 die Themen dargestellt, die in den Interviews am meistens ungefragt bzw. spontan vom Interviewpartner vorkamen. Diese sind von besonderem Interesse, weil sie sich ohne den sprachlichen Eingriff des Interviewers entfalteten. Sie wurden von den Interviewpartnern eigenständig angesprochen, und tauchen meistens in der ersten halben Stunde des Interviews auf. 141 Somit gelangen wir an die erinnerte Welt des Spezialheimes eines Interviewpartners während eines ersten lebensgeschichtlichen Interviews über das Thema. 142 Vermutlich würden weitere Interviews bestimmte Themen vertiefen oder neue Facetten der Heimerfahrungen eröffnen. Unsere Befürchtung ist dabei dennoch, dass Sozialhistoriker wenig geeignet sind bzw. mit Psychologen zusammen eng kooperieren sollten oder eine spezifische Weiterbildung bräuchten, um in diesem Fall mit eventuellen traumatisierenden Erinnerungen umgehen zu können. Das Risiko, verdrängende Erfahrungen durch ein Gespräch geweckt zu haben, ist vorhanden, und wie wir es beobachtet haben, sind ehemalige Heimkinder oftmals allein mit dieser Vergangenheit. Drittens soll ein Ausblick in die Zeit nach der Entlassung folgen und die Frage der Stigmatisierungserfahrung im Zusammenhang mit der Thematisierung der Heimerfahrungen im Gesamtleben der Betroffenen problematisieren. 143 Jene acht Tabellen sind somit entscheidend, um möglichst viele Facetten des Alltags in Spezialheimen zu erfassen. Dabei deuten sie aber auch zweifellos auf einen gemeinsamen Erfahrungshorizont der ehemaligen Heimkinder aus Spezialheimen hin. 144

3.2 Reden über die Jahre im Spezialheim, ein schmerzhafter Akt Wir haben im Bericht „Zur sozialen Lagen ehemaliger Heimkinder in Thüringen“ festgestellt, dass die Interviewten relativ wenig über den Alltag im Normal- und Spezialheim be-

Stigmatisierungserfahrung. Tabelle 7: Berufsausbildung und erste Berufsstelle nach dem Heimaufenthalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen. Tabelle 8: Bewertung und Thematisierung der Jahre im Spezialheim im Verhältnis zu heutigen Stigmatisierungsgefühlen und psychischer Stabilität. 139 Vgl. Tabelle 2: Erzählen, Erinnern und Verdrängen über die Jahre im Spezialheim. 140 Vgl. die Themen in den Tabellen 3, 4 und 5, Der erste Tag, Alltagserinnerungen und die erinnerte Gewalt. 141 Dazu eine methodische Anmerkung: das lebensgeschichtliche Interview nach der Methode von Lutz Niethammer beginnt mit der Bitte an die Interviewperson, über sein Leben zu reden. Es wird so wenig wie möglich auf Themen fokussiert. Dabei kann der Interviewpartner seine Narrationen frei entfalten, lässt sich von den Erinnerungen lenken und hört auf, wenn er einen neuen Input braucht. Diese erste Phase im Interview ist unterschiedlich lang, und kann 5 bis 45 oder noch mehr Minuten dauern. 142 Das Interview war auch für manche Personen eine erste Gelegenheit, sich darüber auszutauschen. 143 Vgl. Tabelle 6, Tabelle 7 und Tabelle 8. 144 Die Fußnoten in den Tabellen werden jeweils als Beleg und Illustration genutzt.

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richtet haben, bzw. nur wenn sie während der zweiten Phase des Interviews 145 ausdrücklich danach gefragt wurden. 146 Die Darstellungen über das Heim nehmen in der lebensgeschichtlichen Erzählung eine wesentliche, aber nicht immer umfassende Stellung ein. Dies wirkte umso erstaunlicher, weil sie wussten, dass wir sie im Rahmen eines öffentlichen Forschungsprojektes über ehemalige Heimkinder und DDR-Kinderheime befragen wollten. Gerade weil wir die Interviews lebensgeschichtlich angelegt haben, hätten sie ihre Narration auf den von uns offiziell angegebenen Hauptfokus richten können, und gleich mit der Erzählung der Jahre im Heim anfangen können. Im Gegensatz dazu fingen sie ihre Narration meistens mit der Beschreibung ihrer Herkunftsfamilie oder aber mit ihrem Leben als Erwachsener an. Retrospektiv haben wir oft festgestellt, dass sie in ihrem Leben kaum oder gar zum ersten Mal über diese Zeit redeten. Dabei fiel es ihnen schwer, uns lange und ausführlich ihr Leben als „Zögling“ im Heim zu vermitteln. Meist hatten wir 147 den Eindruck, dass sie nach Worten suchten, wenn sie eine Situation beschreiben wollten, als ob die Situation sie damals überfordert hätte und sie noch nie imstande waren, sie bewusst zu reflektieren. Manchmal schienen sie von unliebsamen Bildern plötzlich überflutet zu werden oder sie wussten nicht mehr genau, ob das Erinnerte wirklich erlebt worden war, weil sie es lange nicht erzählt hatten. An solchen Stellen rangen sie um Erinnerungen, die das damalige Leid und den damaligen Schmerz wieder vergegenwärtigten, und auch kaum ertragbar waren. Wir hatten sehr oft das Gefühl, dass sie zum ersten Mal als Erwachsene Phänomene beschreiben sollten, die sie noch nie, auch damals als Kind nicht, in Worte gefasst hatten. Es waren meist Situationen von Gewalt und darunter von Willkür und Kollektiverziehung. Dabei geschah immer der gleiche Vorgang: Am Ende jedes Interviews versuchte ich auch mit einer Nachfrage, ihr Verständnis von Gewalt zu erfassen. Ihre Antwort fiel auch erstmals für uns überraschend aus, weil fast alle betonten, keine Gewalt erlebt zu haben. Bevor ich eine Erklärung für dieses Phänomen vorschlage, möchte ich unsere Definition von Gewalt verdeutlichen: wir verstehen Gewalt als eine Handlung, der man körperlich und physisch ausgeliefert ist und die zu einer Skala von unterschiedlichen Arten von Schmerzen

145

Dazu sind u. a.: Niethammer, L. (1985): Fragen - Antworten - Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History. in: Niethammer, L. /von Plato, A. (Hrsg.): Wir kriegen jetzt andere Zeiten. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Bonn, S. 392-445; Wierling, D. (2003): Oral History. in: Aufriss der Historischen Wissenschaften Band 7, Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft Stuttgart, S. 81-151; von Plato, A. (1991): Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der ´mündlichen Geschichte´ in Deutschland. in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 1, S. 97-119; Brüggemeier, F./ Wierling, D. (1986): Einführung in die Oral History (Studienmaterial der Fernuniversität Hagen), Hagen. 146 Am meisten erzählten sie über ihre Eltern, ihre Familie und ihren Berufsweg. 147 Jan Kalies und Kathleen Butz begleiteten mich meistens, als ich zu den Interviewpartnern fuhr.

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führt. 148 Wir unterscheiden zwischen wiederholten Gewalterfahrungen von Menschenhand (»menschengemachte« Gewalt), die die Kinder durch Familienmitglieder oder andere Fürsorgepersonen erduldet haben. Diese Gewalt ruft sichtbare körperliche Verletzungen hervor und ist nicht von einer extremen Machtausübung zu trennen, da Erwachsene mit Drohungen auch ein Schweigegebot für die Betroffenen instituieren. 149 Dies bringt schwere psychische Folgen mit sich. Mit der körperlichen Gewalt geht demnach auch psychische Gewalt als eine zweite Gewaltform einher. 150 Schließlich gibt es noch die traumatisierende Dimension des »MitErlebens« von Gewalt, die beispielweise Karin Ast, die selber nicht angegriffen wurde, beschreibt. 151 Sie löst meistens Hilflosigkeit, Scham- und Schuldgefühle aus, weil der Beobachter nichts unternahm, bzw. unternehmen konnte, ohne selber Opfer zu werden. Wieso verneinen die ehemaligen Heimkinder aus Spezialheimen, die dann im Weiteren über erlebte Gewalt im Heim berichten können, jene Frage nach dem eigenen Verständnis einer Gewalterfahrung? Sicherlich war meine Frage zu abstrakt. Vermutlich auch haben die betroffenen ehemaligen Heimkinder sowohl bei ihren Eltern als auch in verschiedenen Heimen so viele Gewaltformen erlebt, dass sie die Bandbreite ihrer Erfahrungen mit diesem einen Begriff kaum miteinander verbinden konnten. 152 Auch muss es für die Kinder und Jugendlichen schwer gewesen sein, die Formen struktureller Gewalt zu deuten. Vermutlich war eine gewaltgeprägte Umgangsform für sie als Kind eher normal und wurde damals nicht als besonders gewalttätig eingestuft. Sie konnten als Kinder keine passenden Worte dafür finden, weil ihnen das Differenzierungsvermögen und eine Vergleichsebene fehlten. Dennoch sind die Szenen, die sie erzählt haben, durchaus von Gewalt geprägt, wenngleich ihnen selbst eine klare Definition und Eingrenzung dessen fehlen mag.

148

„Gewalt bezeichnet den Einsatz von physischem oder psychischem Zwang gegenüber Menschen, und insbesondere den Einsatz physischer oder psychischer Mittel, um einer anderen Person gegen ihren Willen a) Schaden zuzufügen, b) sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (sie zu beherrschen) oder c) der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegen-Gewalt zu begegnen“, vgl. Schubert, K./ Klein, M. (2011): Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn. 149 Vgl. dazu Gahleitner, S/ Oestreich, I. (2010), »Da bin ich heute krank von«. Was hilft ehemaligen Heimkindern bei der Bewältigung ihrer Traumatisierung? Berlin, S. 11ff. 150 „Das Schwierige an diesen psychischen Gewalthandlungen besteht vor allem darin, dass sie häufig weder für die Umwelt noch für die Opfer selbst präzise greifbar und beschreibbar sind.“, Gahleitner/Oestreich 2010: 12. 151 Vgl. dazu Tabelle 6. 152 Zu ähnlichen Erklärungen kommt auch Kuhlmann, C. (2008): „So erzieht man keinen Menschen!“ Lebensund Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Wiesbaden. Sie schreibt: „Eine mögliche Erklärung […] liegt m.E. ebenfalls darin, dass Kinder, die einer solchen Erziehung längerfristig ausgesetzt waren, diese negativen Gefühle verdrängen mussten, um psychisch zu überleben.“, ebd.: 155. Dieser Punkt führt uns zum Prozess der Verschwiegenheit und Verdrängungsmechanismen zurück.

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Weiterhin ist auffällig, dass die Interviewpartner wenig über ihre Erlebnisse und ihr Leben im Spezialheim mit Bekannten und Vertrauten heute reden. 153 Bei manchen werden Erinnerungsschwierigkeiten im Allgemeinen, jedoch im Besonderen bei Nachfragen zur Heimerfahrung festgestellt (u.a. auffallend bei Murau, Mistel, Hartriegel, Mirabelle, Hasel, Andersen). Die Thematisierung der Jahre im Heim findet eher mit professioneller Hilfe statt 154, oder unter sich, von Heimkind zu Heimkind. Der Redebedarf ist hoch, dennoch bleibt eine Tendenz zum Verschweigen, vermutlich um nicht stigmatisiert zu werden oder um sich den Erinnerungen an die damaligen Torturen nicht auszuliefern. Parallel dazu versuchen heute die Interviewpartner ihre Kindheit und die vielen offenen Fragen aufzuarbeiten (z.B. Mirabelle, Uhl, Caktus, Ast, Murau, Andersen, Blatt, Rüster). Sie suchen Antworten bei ihren Eltern, wenn diese noch leben, oder in ihren Jugendhilfeakten, wenn sie jene bekommen. Wenn sie dabei oft von bürokratischen Hürden überfordert werden, erweist sich die Akteneinsicht zudem als ein sehr schmerzhafter Prozess, in dem sie beispielweise die richtigen Einweisungsgründe erfahren (Mirabelle, Uhl, Caktus, Kastanie, Hasel, Blatt, Rüster). 155 Die Akte gibt zwar die institutionelle Perspektive der Jugendhilfe wieder, läßt dennoch auch die Sicht der Eltern, der Lehrer, der damaligen Jugendfürsorger und der Heimerzieher zur Kenntnis nehmen. Nicht selten erfahren somit ehemalige Heimkinder, wer die Einweisung angeordnet oder wie man über sie damals als Kind geurteilt hat. Diese Erkenntnisse können mitunter traumatische Wirkungen entfalten und müssen begleitet werden. Die Feststellung anhand der lebensgeschichtlichen Interviews, dass die ehemaligen Heimkinder aus Spezialheimen mit ihrer Heimvergangenheit überlastet sind, ist evident. Dieser Lebensabschnitt wird entweder tabuisiert oder verschwiegen. Bei manchen wird sie heute als Folge einer psychischen Dekompensation professionell behandelt. Somit sind die Maßnahmen, die der Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ im Juli 2012 vorgesehen hat, durchaus treffend. Anforderungen an die Mitarbeiter der Anlaufstellen angesichts der Tiefe jener Kindheitswunden sind ebenfalls beträchtlich. Ich kann hier nur bedingungslos unterstreichen, dass ehemalige Heimkinder jene Unterstützung und Mitarbeiter der Anlaufstellen Supervision brauchen.

153

Vgl. Tabelle 2 und Gebauer, R. (2012): Zur sozialen Lage ehemaliger Heimkinder in Thüringen. in: Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.), Zur sozialen Lage ehemaliger DDRHeimkinder in Thüringen, Erfurt, S. 95-100. 154 Vgl. Tabelle 8. 155 Dazu auch die Tabelle 3.

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Erfahrungen aus der Zeit in den Spezialheimen der DDR, gar Gewalterfahrungen, sind in den Erinnerungen ehemaliger Heimkinder oftmals verdrängt und verschüttet. Die Schweigespiralen der Erzieher, Eltern und Lehrer schaffen hierbei keine Abhilfe. Wenn viele ehemalige Heimkinder jene Erfahrungen aus ihrer Heimvergangenheit aufarbeiten wollen, steht der Wunsch nach der Aufarbeitung der Heimvergangenheit ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wunsch einer sozialen Anerkennung, die in Form einer Rehabilitierung eingehen kann.

3.3 Welche Themen werden in den Interviews am meisten angesprochen? Nach genauerer Untersuchung der sechzehn Interviews 156 kommt zum Vorschein, dass die Interviewpartner Episoden erzählen, die sich einerseits oft in deren Struktur ähneln und sich andererseits auf wenige Themen begrenzen. Die Begrenztheit der Themen wurde ebenfalls von den Autoren der Expertise „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“ festgestellt. Es ragen in unseren Interviews zwei Hauptthemen heraus: Die beobachte und oder erlebte Gewalt im Spezialheim (vor allem bei Mirabelle, Uhl, Caktus, Ast, Hasel, Murau, Andersen, Mistel, Blatt, Schneider, Rüster, Bäumelein) und der Wunsch nach Aufarbeitung der Heimerfahrungen, wie wir es im ersten Abschnitt gesehen haben. Das Thema „Gewalt“, das im nächsten Kapitel bearbeitet wird, habe ich in Szenen von Demütigungen (Mirabelle, Ast, Hasel, Rüster), Situationen von Strafen (vor allem bei Mirabelle, Ast, Kastanie, Murau, Rüster), in Schläge, Drohungen und öffentliche Bloßstellungen unterteilt. Meistens sind die Grenzen zwischen ihnen fließend. Generell erzählen die Interviewpartner ihre Geschichte über die Zeit im Heim relativ chronologisch und fangen immer mit Vermutungen um die Einweisungsgründe an, die sie zum Teil nicht kennen (Mirabelle, Uhl, Caktus, Kastanie, Hasel, Blatt, Rüster, Bäumelein) und mit der Erzählung des ersten Tages im Heim (Rüster, Mirabelle, Ast, Kastanie, Mistel, Blatt, Schneider, Bäumelein, Ilex). 157 Ferner werden die Erzieher (Mirabelle, Kastanie, Mistel, Blatt, Schneider, Bäumelein) erinnert und beschrieben. Es werden andere Kinder/Jugendliche (Ast, Kastanie, Andersen, Mistel, Blatt, Rüster, Bäumelein), die überwiegend im Kontext von Gewalt vorkommen, beschrieben. Das Heimklientel wird dabei als sehr heterogen charakterisiert: Es handelt sich

156

Die Auswertung erfolgte nach deren Voll- bzw. Teiltranskription durch thematisches Einordnen und Kodieren der Transkripte. 157 Vgl. die Tabelle 3.

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auch um Kinder/Jugendliche „ohne jede Auffälligkeit“ 158, um „Waisen“, „Kriminelle“, „Verhaltensauffällige“, „Schulschwänzer“ und Kinder mit „Erziehungsproblemen“. Die Gründe für eine Heimeinweisung sind meist auf „Erziehungsprobleme“ und „Überforderung der Eltern“, eine „Republikflucht“, „Konflikte gesellschaftlicher bzw. politischer Natur“ oder „deviantes“ Verhalten zurückzuführen. 159 Meistens war es ein Konglomerat von Gründen, die von der Jugendhilfe in aller Regel streng bewertet und schlecht begleitet wurden. Aber der Einweisungsgrund spielte wiederum für die Heimzuteilung keine Rolle, weshalb Jugendliche mit unterschiedlichen Problemkontexten Monate lang alles teilen, alles zusammen unternehmen, auf engen Raum schlafen, duschen und essen mussten. 160 Wenn wir an unsere Interviewpartner denken, dann mussten auf einmal Jugendliche, die „nur“ die DDR verlassen wollten, mit Jugendlichen, die nach jahrelangem Missbrauch aus Hass und Angst gewalttätig wurden, und jenen, deren adoleszente Rebellion nicht ins gesellschaftliche Bild passte, zusammen leben. Dies führte unter Umständen zu einer explosiven Mischung innerhalb der Gruppen. 161 Diese Heterogenität an Individuen, und das Ziel, die Zöglinge zu „funktionierenden Jugendlichen“ umzugestalten 162, führte einerseits zweifellos zu einer strengen Hierarchie innerhalb der Gruppen und zu opportunistischen Verhaltensmuster, die das Handeln der Zöglingen beherrschten. Andererseits hatte die willkürliche Mischung an Persönlichkeiten und Kindheitsschicksalen die schwerwiegende Folge einer sozialen Nivellierung nach unten, die wie158

Vgl. die Erinnerung von Robin Mistel, JWH Höngeda, 1988: „Ja, das wurde schon kommuniziert, also ((räuspert sich)) aber so ganz genau wusste man es auch nicht, also ich meine es waren so zwanzig Prozent Erziehungsprobleme. (5) Na gut Erziehungsprobleme war ja bei allen, also. Ich weiß von einem, der hatte keine. Da- (2) Ja ich weiß von einem Fall, der ist dahin gekommen, wo die Eltern das nicht wollten, also die whaben den hingebracht und haben es auch explizit gesagt. (2) Und die waren jed=jede Woche da und haben den besucht und Kuchen mitgebracht und haste nicht gesehen. So. Also da weiß ich‘ s. da weiß ich allerdings nicht, was da passiert ist. also ähm (2) wie gesagt, zwanzig Prozent waren nur Familienprobleme und der Rest war alles Mögliche: Motorräder geklaut, Schlägerei (2) beziehungsweise SchlägereiEN.“, Interview mit Robin Mistel von Agnès Arp am 27.05.2011, 01.24.09 D1. Zu den Transkriptionszeichen, siehe Legende unter Anhang V. 159 Ich verweise hier auf die Literatur zu den Heimkindern und auf veröffentliche Biographien von ehemaligen Heimkindern. Vgl. u. a. Behr, K. / Hartl, P. (2011): Entrissen: Der Tag, als die DDR mir meine Mutter nahm, München; Glocke, N. (2011): Erziehung hinter Gittern: Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR, Halle; Wawerzinek, P. (2010): Rabenliebe. Berlin; Poppe, G. (2009): Weggesperrt. Hamburg; Puls, H. (2009): Schattenkinder hinter Torgauer Mauern. Rostock; Reinboth, A. (2007): Wir Kinder aus dem JWH. Leipzig. Vgl. auch Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ (2012): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Bericht, Berlin. 160 Vgl. über zentrale Merkmale totaler Institutionen, Goffman 1995: 17. 161 Vgl. Wapler, F. (2012): Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR. in: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Expertisen, Berlin, S. 83-84 und Sack / Ebbinghaus 2012: 329-330 und Vgl. auch über „Solidarität“ und „Fraternisation“, Goffman 1995: 64. 162 Bezeichnenderweise dazu die Bemerkung einer ehemaligen Jugendwerkhofleiterin: „Wenn einer sich an das System gut angepasst hat, ist er umerzogen worden. (...). Das kann aber auch Anpassung sein. Möglichst.“, Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. Februar 2012, 00:25:27.

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derum an den schulischen Leistungen und Erwartungen ablesbar wurde. 163 Das Thema der lückenhaften und schwachen Berufsausbildung ist in den Interviews wiederkehrend (Uhl, Murau, Andersen, Mistel, Blatt, Schneider, Rüster, Bäumelein) und wird immer als der Grund für die versperrten Berufschancen thematisiert. Damit begründen die ehemaligen Heimkinder aus Spezialheimen auch ihre Erfahrung von Stigmatisierung als Heimkind (Uhl, Caktus, Ast, Hasel, Murau, Mistel, Blatt, Schneider, Ilex) in der Arbeitswelt, die wir unten noch ansprechen werden. 164 Ferner wird das Leben innerhalb des Heimes, oder der Alltag, unsystematisch erzählt und dargestellt, meist als Aufzählungen von kollektiven Handlungen, die den Tag in Aufgaben, Pflichten und Beschäftigungen zerstückelten und keinen Raum für Intimität erlaubten. 165 Die Erinnerungen der Interviewpersonen beschreiben unabhängig voneinander die gleichen Abläufe und nuancieren sich nur über deren skizzenhafteren oder detailreicheren Charakter. Jene Stereotypie unterstreicht die Vermutung, dass eigenständige Erfahrungen innerhalb totaler Institutionen schwierig sind, und dementsprechend begrenzt sind die persönlichen Anekdoten. 166 Über den Alltag in Spezialheimen der DDR ist in den Expertisen des Bundesministeriums allerdings ausführlich eingegangen worden, obwohl wir immer noch über keine richtige Monographie eines Normalheimes oder Spezialheimes der DDR verfügen. Unsere Interviewpartner betonen unterschiedliche Aspekte des Alltags, je nachdem wie sie persönlich

163

„Und das ist schon was ganz anderes, als wenn du jeden Tag mit fünfundzwanzig Verbrechern @(.)@ zusammensitzt ((räuspert sich)). Und dann vom Unterricht her... das hat äh immer ein Erzieher gemacht. (2) Und das war ja schon teilweise ganz schön nervig. Erst mal, weil man halt schon nen Haufen ziemlich dumme Kinder, Jugendliche dabei hat, wo man sich dann fragt, was haben die denn die letzten (2) acht Jahre überhaupt gelernt in der Schule. So. Und man hat da nichts gelernt, also in=in, in dieser, in dieser Privatschule quasi=man hat da nichts gelernt. Es gab Deutsch. Deutsch war, muss ich sagen war gut (4), weil wir da ein paar andere Sachen gemacht haben als normaler Weise im Deutschunterricht. Also der Erzieher, der Deutsch gemacht hat, der hat sich halt immer irgendwelche Sachen ausgedacht=hat- fing dann halt an mit Sütterlin und, und Frakturschreiben so solche Sachen. ..... Aber so einen normalen Schulstoff hatte man da halt nicht. So. Und das ist halt schon blöd, weil du wirst ja direkt aus der Schule rausgeholt, (2) und dann ist das futsch, haste halt keinen Abschluss.“, Interview mit Robin Mistel von Agnès Arp am 27.05.2011, 00.59.28 D1. 164 Vgl. dazu Tabelle 6 und 7. 165 Beispiele kann man aus der Tabelle 6 entnehmen. Bestätigend dazu äußert sich auch ehemaliger Jugendwerkhofleiter Schrade, Zweites Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 28 Februar 2012, 00:15:50. Zum Alltag ist in den Expertisen Heimerziehung Ost viel veröffentlicht worden. Unsere Interviews liefern dazu keine neuen Erkenntnisse. Diesbezüglich sollte man im Rahmen eines qualitativen Verfahrens, das mind. zwei Interviews beinhaltet, weitere Interviews führen mit jeweils dreißig ehemaligen Heimkindern aus Normalheimen und aus Spezialheimen, die Erzieher aus den gleichen Heimen parallel befragen und dadurch zu einem sicheren Bestand an Berichten gelangen, die Wahrnehmungen, Praxis und Folgen des Heimalltags analysieren und beschreiben helfen könnte. Dabei ließen sich eventuell Unterschiede zwischen den Heimen ausmachen oder die von uns vermutete These, dass der Alltag in dessen Hauptzügen überall gleich war, eventuell erhärten. 166 Vgl. zur der Problematik von Alltagserinnerungen über kollektive durch feste Regeln gezeichneten Institutionen Rosenthal, G. (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main. Carola Kuhlmann kommt in ihrer Studie über Heimkinder und Heimerzieher anhand von narrativen Interviews ebenfalls zu der gleichen Schlussfolgerung, vgl. Kuhlmann 2008: 124.

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dessen Zwang und Sinnlosigkeit erlebten und wahrnahmen. Dennoch ist die Ähnlichkeit der Tagesabläufe in verschiedenen Spezialheimen evident. 167 Ein individueller Rückzugsraum wurde sehr stark vermisst. Richtige Freundschaften aufzubauen erwies sich als beinahe unmöglich, weil es auch nicht die nötige Privatsphäre gegeben habe, um das zu tun. 168 Das Spezialheim wird unter anderem auch deshalb als belastend erlebt, weil es keine Möglichkeit für Intimität oder Beistand gab. Die Praxis der Kollektiverziehung kulminierte mit den öffentlichen Bloßstellungen, die täglich mit den öffentlichen Gruppengespräche, oder „Gruppenversammlungen“, geschahen. 169 Jene nahmen mehr oder weniger die Gestalt eines Volkstribunals 170 an, bei welchem Zöglinge bloßgestellt wurden. Darüber hinaus wurde die eingehende und ausgehende Post gelesen und zensiert, sodass keine vertrauliche Kommunikation mit Bezugspersonen stattfinden konnte. Auch Geschenke, wie Süßigkeiten und anderes, die man von zu Hause geschickt bekam, mussten geteilt werden. Oftmals wurden sie von den Erziehern ganz zurück gehalten, sodass auch über diese materiellen Zuwendungen kein Trost erfahren werden konnte. 171 Das Besuchsrecht der Eltern war eingeschränkt und dies ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass die Familienmitglieder in den Erzählungen über die Heimzeit nicht mehr erwähnt werden. Sie werden nur im Rahmen der Besuchsfrequenz und evtl. auch mit der

167

In Jugendhilfeakten finden sich meist keine Informationen über die Lebensbedingungen im Heim. Ehemalige Werkhofleiter betonen auch die Eintönigkeit des Alltags für die Zöglingen: „Sie: Aber durch diese straffe Strukturierung, durch diesen straffen Tagesablauf war kaum Platz für-für-für irgendwelche Spielchen. Der Wochenplan war durch-... von Morgens vom Aufstehen bis Sonntag Abends ins Bett gehen.“, Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. Februar 2012, 02:14:38. Er: „War ja auch alles zentral vorgegeben: zentrale Heimordnung für die Kinderheime und für die Jugendheime. Davon abgeleitet wieder die spezifischen [Ordnungen] für das jeweilige Objekt, al-les ausgeplant, ausgebucht, ausgefüllt bis dann ja kein Platz für irgendeinen schrägen Gedanken kommt. Dass da niemand auf einen schrägen Gedanken kam. Und dafür war der Direktor verantwortlich. Also bei der Partei und nachher beim Staatsapparat.“, Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade Agnès Arp und Jan Kalies am 27. Februar 2012, 02:15:45. 168 Simon Rüster, SKH Bad Langensalza, z.B. berichtet nur von einem Mädchen, die aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau zum Küchendienst in sein Spezialkinderheim abgestellt worden war und ihm größere Essensportionen ausgab. 169 Ehemaliger Jugendwerkhofleiter spricht deutlich von einer „ständigen Abrechnung, Tagesauswertung, Wochenauswertung, Monatsauswertung, das wurde alles ständig bewertet, beurteilt. Sie (die Jgld. AA) mussten Stellung nehmen, „wie siehst Du das, wie siehst Du das?“ herausgefordert, als eine regelrechte Konkurrenz und Machtkampf da organisiert wurde“, Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade von A.A und J.K. am 27 Februar 2012, 00:24:15. 170 Als Beispiel unter vielen: Zora Ilex, JWH Hummelshain: „vor der Auswertung „hatten alle Angst“ (00:34:32): es wurde von jedem die Arbeit des Tages ausgewertet, das Verhalten sowie die Sauberkeit: „da wurde alles auf den Tisch gelegt. Alles. Wenn de da ma ein Taschentuch uf`m Tisch liegen gelassen hast, das wurde auch of, mit zur Auswertung mitgebracht. Oder ma, ma was schlimmeres passiert, dass wurde alles mit zur Auswertung gebracht. Wie zum Beispiel, ich hatte Angst, is klar. Ich habe ja heute och mit meiner Inkontinenz zu tun, da ging och ma was ins Bett. Das wurde ausgewertet, da hab ich mich wieder geschämt wie so`n Bettsecher. Naja, was soll ich `n machen.“, Interview von Zora Ilex mit Ronald Gebauer am 28.03.2011, 00:34:49 – 00:35:12. 171 Tristan Murau, SKH Bad Blankenburg, erinnert zum Beispiel dazu: „Oder, meine Eltern haben mir ein Weihnachtspacket geschickt. Und da war ein Polizeiauto drinnen. …. Und das hat der aufn Fußboden gelegt und hat mit 'm Fuß drauf getreten. Ist Schlimm.”, Interview mit Tristan Murau von Agnès Arp am 16.03.2011, 00:28:40.

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Sehnsucht in Verbindung gebracht (Uhl, Caktus, Mirabelle). Zusammenfassend wird die von Erving Goffman als eine unter den direkten und elementaren Angriffen auf das Selbst herausgestellte Entblößung/Bloßstellung hier in jeder Hinsicht belegbar. 172 Er schreibt dazu: „In einer totalen Institution jedoch werden die Aktivitäten eines Menschen bis ins kleinste vom Personal reguliert und beurteilt; das Leben des Insassen wird dauernd durch sanktionierende Interaktionen von oben unterbrochen (...). Jede Bestimmung raubt dem Einzelnen eine Möglichkeit, seine Bedürfnisse und Ziele nach seinen persönlichen Gegebenheiten auszugleichen, und setzt sein Verhalten weiteren Sanktionen aus. Die Autonomie des Handels selbst wird verletzt.“ 173

Die Zöglinge wurden unter permanenter Kontrolle seitens der Erzieher oder der anderen Zöglingen in kollektive Maßnahmen hineingepresst, und die Hauptfolge dessen war der uneingeschränkte Verlust der Intimität. Weiterhin wird über die Arbeitserziehung im Heim oder in einem Betrieb erzählt (Uhl, Mistel, Bäumelein, Ast). Häufig wird mit den Erzählungen über die geleistete Arbeit klar, wie wenig medizinische Fürsorge vorhanden war, wenn beispielweise Unfälle geschahen oder ein Jugendlicher krank wurde. In manchen Fällen sind nachhaltige Folgen ihrer Einsätze in Volkseigenen Betrieben durchaus real und denkbar. 174 Diese sogenannte Arbeitserziehung scheint heute teilweise mit Zwangs- und Strafarbeit vergleichbar zu sein. Zu diesem Thema besteht noch eine große Wissenslücke, auch über die Rolle der Volkseigenen Betriebe und deren Entscheidungen, Heimkinder unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen arbeiten zu lassen. Schließlich werden Freizeitaktivitäten gern geschildert (Schneider, Kastanie, Rüster, Bäumelein). Jene „Inseln lebendiger, fesselnder Aktivitäten“ 175 sind nicht selten der Anlass, die Heimzeit als eine relativ schöne Zeit darstellen zu wollen (besonders bei Kastanie, Schneider und Bäumelein). Die Politisierung des Alltags mit Politunterricht und „Aktueller Kamera“ werden kaum erwähnt (Schneider, Bäumelein). In diesem Kontext werden auch Szenen, die an öffentliche Bloßstellungen erinnern, dargestellt. 176 Die Frage des Besitzes von

172

Vgl. Goffman 1995: 40-41, Verunreinigung des Äußeren durch: Informationskontrolle, sichtbare Abzeichen, körperliche Entblößung, Nötigung bestimmte Dinge von sich zu erzählen, die man außerhalb der Institution nicht jedem erzählen würde (potentiell diskreditierbares z.B. Geständnisse, Geheimnisse o.ä.), öffentliche Auswertungen von Verhaltensweisen, offen sichtbare Abzeichen o.a. z.B. nach Verstößen, kollektive Waschund Schlafgelegenheiten, gemischte Gruppen, Untersuchungen mitunter vor Personen beiderlei Geschlechts, türlose Toilette oder verrichten der Notdurft vor anderen, schlechte Hygienebedingungen. 173 Vgl. Goffman 1995: 45. 174 Vgl. dazu vor allem Ilex, Brückner, Ast. 175 Goffman vergleicht in seiner Studie die totale Institution mit „einem toten Meer“ […], „in dem es einige wenige Inseln lebendiger, fesselnder Aktivität gibt.“ Er betont dass, solche „Aktivitäten […] dem Individuum helfen [können], den psychischen Stress auszuhalten, der normalerweise durch Angriffe auf sein Selbst erzeugt wird.“ Vgl. Goffman 1995: 73. 176 Sie werden unter dem Kapitel Gewalt behandelt.

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Taschengeld (Ast, Mistel) oder von Medikamenteneinnahme 177 werden fast nie erzählt, auch über die Gebäude (Kastanie, Rüster) und die materiellen Zustände im Heim erfährt man eher wenig. Der spärlichen Beschreibung lässt sich entnehmen, dass sich die Gebäude teilweise in schlechtem Zustand befanden. 178 Mitunter war es dem Leiter eines jeden Spezialheimes überlassen, selber mit seinen Zöglingen Teile seines Heimes auszubauen. Nicht selten wurden uns in den Interviews von intensiven Bauarbeiten auf dem Heimgelände berichtet. Dabei wurden beispielsweise berichtet, dass ein Sportplatz, 179 eine Ausbildungsstätte für die Jugendlichen oder auch neue Räume errichtet wurden.

3.3.1 Die Heimeinweisung und der erste Tag Die Erinnerung an den ersten Tag im Spezialheim ist ein auffallendes und wiederkehrendes Motiv in den Interviews. Die Einweisung in ein Kinderheim wird von den Interviewpartnern als ein einschneidendes Erlebnis beschrieben, das sich entscheidend auf ihr weiteres Leben auswirkte. 180 Generell wird dazu die deutlich fehlende Kommunikation und Verständigung erinnert. Jugendfürsorger teilten den betroffenen Kindern und Jugendlichen anscheinend nie mit, was die Entscheidung der Jugendhilfe für Folgen in ihrem Leben haben würde. Frappierend ist die Tatsache, dass viele Interviewpartner den Tag der Einweisung mit einer ähnlichen Chronologie und Handlung beschreiben 181: es ist immer früh am Morgen. Jemand, der fremd ist, 177

Vgl. Goffman 1995. Nur Karin Ast, JWH Crimmitschau, erwähnte spontan dieses Thema: Ihrem „auffälligen“ Verhalten wurde mit starker Medikamentengabe begegnet. Ihren traumatisierenden Erlebnissen zu Hause wird keine Beachtung geschenkt. Es geht nur darum, dass sie ruhig ist und funktioniert: „Ja, es ist eben – also grad mit dem Ritzen und so, das mach ich ja schon seitdem im 18 bin nicht mehr. Das ist auch so ne Sache, das hab ich gemacht im Jugendwerkhof. Damals. Und da ham die mich zum Arzt geschickt und ham mir Tabletten verschrieben und die warn aber so schlimm, dass ich gar nichts mehr gepeilt hab. Also ich hab dann wirklich nur noch an der Maschine gesessen und wie so n Roboter und da hab ich dann damals gesagt „Also wenn, dann schaff ichs ohne Tabletten, aber so nicht.“, Interview mit Karin Ast von Agnès Arp am 15.03.2011, 01:33:58 D1. Weiterhin berichtet das Ehepaar Schrade von regelmäßigen Gebrauch von dem Beruhigungsmittel Faustan: „Sie wurden ruhig gestellt. Das war in der Regel Faustan. Der Arzt hat Faustan verordnet, die Heimschwester hat es dem Erzieher verabreicht“, Zweites Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 28. Februar 2012, 00:30:59. 178 Zora Ilex, JWH Hummelshain berichtet über die Unterkunft der Krankenstation, dass diese lediglich eine Holzbaracke mit einem klapprigen Fenster auf dem Heimgelände war: „Also das ((stotternd)) mit dem, mit den, mit den, (2) mit dem medizinischen Punkt, wie wir so gesagt haben. Also hier da wo das Krankenzimmer war Med-Punkt. Ja. Also, das, das war ja eine Baracke. Das war ja kein, das war ja ((stotternd)) ich hab, ich hab immer gedacht, wenn ich oben aus dem Schloss raus geguckt habe, ich guck immer wie Buchenwald. Das war so eine, so eine, so eine Holzbaracke und vorne, und vorne war so ein klappriges Fenster und darunter lagen die Kranken eben. Und wenn du da alleine da=hinten lagst und der Wind hat gepfiffen, huhuhu @hoffentlich kommt keiner@. Ja, da hast du Ängste ausgestanden, da bist du noch kränker geworden, wie alles andere.“, Interview mit Zora Ilex von Ronald Gebauer am 28.03.2011, 00:48:02. 179 Vgl. Tabelle 6, u.a. Bäumelein, Kastanie, Caktus. 180 Vgl. Tabelle 3. Und ausdrücklich dafür die Analyse über die „Aufnahmeprozedur“ von Goffman 1995: 27-42. Vgl. auch die Erzählung und Beschreibungen von Wawerzinek 2010: 12-24. 181 Ich fasse hiermit viele Erzählungen von Heimkindern zusammen, behaupte aber nicht, dass eine Heimeinweisung nur auf diese einzige Art und Weise geschah. Es kam auch vor, dass manche Kinder in der Schule von

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kommt nach Hause: es ist ein Jugendhilfemitarbeiter. Er holt das Kind ab, die Eltern wissen wohl Bescheid, haben dennoch nicht darüber mit dem Kind gesprochen. Dem Kind wird vorgetäuscht, dass es auf Reisen bzw. in den Urlaub geht. Eltern, womöglich Geschwister, oder nur die Mutter und der Jugendhilfemitarbeiter fahren anschließend los, und sie kamen dann an einem für das Kind unbekannten Ort an. Dort steht ein altes Gebäude, sie gehen über die Schwelle, grüßen einen Hausmeister, und trennen sich: das Kind muss erst mal in einem Warteraum allein warten. Es weiß aber nicht, worauf es wartet. Dann beschleunigen sich die Geschehnisse: Es wird unverzüglich von der Familie verabschiedet, nachdem es vom Heimleiter begrüßt wurde. 182 Ihm wird die Heimregelung und mehreren Anweisungen klar gemacht. Ein Heimerzieher übernimmt das Kind, und behandelt es mehr oder weniger wie ein Wesen, das still, folgsam und artig bleiben muss. Heimleiter und Heimerzieher beschränkten dabei ihre Tätigkeiten auf ihre Aufgabe: die Umerziehung jedes Neulings, ohne sich in die Vergangenheit dieses zu vertiefen. Heute betonen viele Erzieher auch, dass sie eine begrenzte Einsicht in jeden „Fall“ hatten und sich damit auch begnügten bzw. zufrieden gaben. 183 Einer Tortur ähnlich erinnern sich die Betroffenen an das vollkommene Unwissen über sich selbst. Die Schweigsamkeit der Erwachsenen bezüglich der Entscheidungen, die das Leben der Kinder radikal veränderte, führte zu extremen Verunsicherungen und grundsätzlicher Verzweiflung. Es wurde somit gleich gelernt, mit Tabus umzugehen, Unerwünschtes zu verschweigen und selber keine Fragen zu stellen. Dabei wurde deutlich gezeigt, dass man nicht Herr seines Schicksals war, sondern nur dem folgen musste, was einem aufoktroyiert wurde. Die Kinder wurden regelrecht in unaufgeklärten Verhältnissen belassen, solange sie sich unter der Obhut der Jugendhilfe befanden. Darüber hinaus durfte nach der Entlassung die Heimzeit nicht öffentlich thematisiert werden. 184 Die oben dargestellten Sprachhemmungen und Schwierigkeiten, über die Heimzeit zu reden, sind unter anderem als eine mögliche Konsequenz von diesem Prozess zu verstehen. Die ehemaligen Heimkinder sahen sich mit einer

Mitarbeitern der Jugendhilfe abgeholt wurden, weil die Eltern verhaftet - wie bei Georg Platane - oder geflüchtet waren. Es kam auch vor, dass dem Kind lange vorher schon mit einer Heimeinweisung gedroht wurde. Was ich aber hier hervorheben will, ist der Charakter eines plötzlichen und unvorbereiteten Vorganges, dass das Kind schon von Anfang auf ein passives Objekt reduziert und verständlicherweise in einen Schockzustand versetzen konnte. 182 Manchmal wurde das Kind ohne Eltern hingebracht, manchmal musste es in einem Durchgangsheim Zwischenstation machen. 183 Vgl. Ehepaar Schrade: Sie bestätigen, dass sie als Jugendwerkhofleiter keinen Einblick in die Vergangenheit des Neulings erhielten bzw. erhalten wollten, die Akte kam aus Eilenburg und der Jugendwerkhofleiter erhielt ein Erziehungsprogramm dazu, in welchem über das Kind eher negativ geurteilt wurde. Information über Herkunftsfamilie der Kinder hatten sie nicht, Zweites Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 28. Februar 2012, 00.09.15 bis 00:25:20. 184 Vgl. dazu die Beschreibung über eventuelle „Ressentiments“ der Insassen, die entlassen werden von Goffman 1973: 76.

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neuen Realität konfrontiert, für welche sie weder Erklärungen noch Möglichkeiten, sich darüber auszutauschen, bekamen. Simon Rüster beschreibt die Heimeinweisung als eine materielle und soziale Enteignung, die auf die Goffmanschen Kriterien totaler Institutionen hinweisen 185: Konstituierung als Objekt, Ehrerbietungspflicht, Gehorsamkeitstests, Initiationsriten, Reduzierung der Person auf Attribute, Statuszuweisung aufgrund des Verhaltens als Neulinge, die mit Strafen rechnen müssen, wenn sie nicht alles über sich ergehen lassen oder „aufsässig“ sind. 186 Die Zuweisung von Anstaltssachen 187 und Gebrauchsgegenständen und der Verlust des Namens durch Zuweisung einer Nummer wird von Simon Rüster ausführlich beschrieben. 188 Er erzählt, wie private Kleidung und Gebrauchsgegenstände nicht verwendet werden durften. 189 Ein ehemaliger Jugendwerkhofleiter bestätigte uns ebenfalls diese Vorgehensweise, die die ritualisierte Abnahme von der Individualität beim Eintritt in die Jugendwerkhof-Gemeinschaft notwendig machte. 190 Somit wurden die Zöglinge sofort gleichgestellt, durch einheitliche Anstaltskleidung uniformiert und dadurch ent-individualisiert.

185

Vgl. Goffman 1995: 24-77. Die Konstruktion von sogenannten „Problemfällen“ sollte insbesondere untersucht werden und dabei die Elaborierung der „devianten“, „schwererziehbaren“ und “straffälligen“ Kinder und Jugendlichen in der DDR. 187 Dazu Karin Ast: „Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ichs gemacht hab. Also ich bin heut – heut bin ich n sehr ungeduldiger Mensch. Damals war ich noch etwas geduldiger. Ich glaub, das hat mir auch geholfen, weil heute würde ich verrückt werden. Heut würd ich durchdrehen. Damals bin ich zwar auch fast durchgedreht, aber irgendwie habe ichs geschafft. Ich weiß nicht, wie. Keine Ahnung. Weil es sind ja nun Stunden, die man da sitzt und man hat nichts. Und man darf auch nicht – man hat nen blauen Joggingsanzug gekriegt, da waren die Gummis raus, die blauweißen Turnschuh ohne Schnürsenkel und – ja, man hat halt nichts gehabt. Das ist-. Man konnte sich ja nicht beschäftigen. Beim Essen, das wurde kontrolliert, das Besteck, ob man das wieder mitgegeben hat oder nicht.“, Interview mit Karin Ast von Agnès Arp am 15.03.2011, 01.33.58 D1. 188 „Du warst 'ne verwahrende Ware. Ich hat auch mal 'ne Nummer gehabt, also -. Das is ja immer alles nach Nummern (...). So, deine Bettwäsche, deine Handtücher, dein Seifenbeutel. Manchmal hast de schon gar kein Namen mehr gehabt. Ham die einfach nur vorne ausgerufen, hier hundertsechzehn. Musstes da vor tuckeln, hier! Manchmal hast dein Namen gehabt, manchmal hast nur deine Nummer gehabt.“, Interview mit Simon Rüster von Agnès Arp am 14.04.2011, 00.58.30 D1. 189 Charakteristisch für seinen Erzählstil ist die genaue Beschreibung dieser Kleidung und der restlichen Ausstattung. „Wir hatten vom Heim her hatten wir halt Sachen. Ich musste ja meine Privatklamotten abgeben. Die ich mit hatte. Die ich jetzt mit meiner, ich sag immer schön Inhaftierung na?, dort abgeben musste. Da hatten die halt extra so 'ne Wäschekammer, da kam die Klamotten hin. Da hast de halt so Erstausstattung hieß das haste bekommen so. Erstmal Trainingsanzug und so 'n Waschbeutel. Da waren Zahnbürste, halt Zahncreme, 'ne Handwaschbürste, 'ne Seifenbüchse, was ham mer noch da? Das wars glaub ich schon. Und der Beutel, der Seifenbeutel, wo die Seife rein kam. Und dann haste Trainingsanzüge gehabt. Das wusst ich noch, das warn so braun mit so rot-gelben Streifen warn die. Also da hast de hier so Streifen auf der Seite gehabt, hier so.“, Interview mit Simon Rüster von A.A am 14.04.2011, 00.59.00 D1. Und: „da haste dann halt so blaue Trainingsanzüge gekriegt, so dunkelblau mit hellblauen Streifen dran. Und ja Pittiplatsch-Turnschuhe hießen die, hier so komische blaue Turnschuhe mit so nem weißen Gummikappe vorne dran“, Interview mit Simon Rüster von Agnès Arp am 14.04.2011, 01.10.13 D1. 190 Rituale im JWH: es wurden Privatkleider abgenommen, Haare geschnitten, vgl. Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. Februar 2012, 00:32:45 bis 00:38:55. Hierzu auch Sachse, C. (2010): Der letzte Schliff. Jugendhilfe/Heimerziehung in der DDR als Instrument der Disziplinierung, Schwerin, S. 181. 186

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Frappierend innerhalb der Erzählungen über die eigene Heimeinweisung, über diese kurze Zeit, die damals von den Kindern kaum einzuordnen war, ist die Schweigsamkeit der Jugendhilfemitarbeiter, die sich in den Erzählungen aufspüren lässt. Ihre Rolle wird auch heute in der Forschung zu wenig thematisiert. Ihre Arbeit endete allerdings nicht mit der Heimeinweisung, sie hielten Kontakt zu den Heimleitern, informierten sich über die Zöglinge. So erinnert sich Simon Rüster an die regelmäßigen Besuche der Jugendhilfemitarbeiter im Spezialkinderheim Bad Blankenburg allerdings aber als einer Farce, da das Ergebnis ohnehin von ihm nicht zu beeinflussen gewesen sei. 191 Ein Neuling wurde erst einmal direkt nach der Ankunft im Heim mit seinen Fragen, seinen Unsicherheiten und Befürchtungen allein gelassen. 192 Allein die Tatsache, in ein Spezialheim eingewiesen worden zu sein, stellte eine Machtausübung und dementsprechend eine Gewaltausübung dar. Das Kind oder der Jugendliche verlor das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf Privatheit und Familie. 193 Er wurde enteignet und in eine Fremdstruktur hineingepresst. Die Ent-Menschlichung der Umerziehungsprozedur fing an dieser Stelle an. 194 Dabei stellt sich die Frage, was DDR-Heimerzieher mit ihren von Makarenkos Werk hergeleiteten pädagogischen Vorsätzen, „sozialistische Persönlichkeiten“ und „optimistische Kämpfer“ zu schaffen, wirklich erreicht haben? 191

„Da hat ich immer so was wie wie so Anhörungen, also jetzt kann ich sagen, dass es Anhörungen waren, weil ich bin halt im Gefängnis, ich hab sowas halt auch wenn ich Zwei-Drittel hab oder Halbstrafe.(3) Da kam in regelmäßigen Abständen bei mir war 's R. und Frau S. vom Jugendamt Arnstadt. Und die kam in regelmäßigen Abständen, da wurdest 'e halt geholt un da hieß es Jugendamt ist da. Alles klar. Da ham se dich dann in so 'n Raum gesteckt, wie hier, und da hat se gefragt, wie 's is so. Da haste erklärt, dass de bitte wieder nach Hause möchtest, so, gern wieder zu deinen Eltern willst und so. Und da wurde kategorisch schon die Ablehnung, also definitiv: Nee, gibt's nich. So die hat da-, fünf Minuten ging das, da hat die irgendwas geschrieben. Ihre Ablehnungsgründe, weil de halt noch nicht so weit bist oder weiß der Teufel, ge? (Weil) die Beurteilung vom Heim wieder nicht so war oder so. Und dann sin die wieder abgehauen. Und das geht- gab's dann nach einer Zeit regelmäßig, so ja. Es wurde gar nichts dafür getan, dass du wieder nach Hause kommst. War das wirklich-, du bist da und du bleibst da un fertich. Und da gibt's kein Theater. Und da hab ich auch, ich weiß nich, hab ich literweise bestimmt Tränen verloren.“, Interview mit Simon Rüster von Agnès Arp am 14.04.2011, 00.32.00 D1. 192 Oder aber im schlimmsten und nicht so seltenen Fall in eine Arrestzelle gesperrt: diese Praxis der Arrestierung ist vor allem in Durchgangsheime zu beobachten. 193 An dieser Stelle möchte ich darauf verweisen, dass die Forderung nach gewaltfreier Erziehung und einem achtvollem Umgang mit Kindern zwar eine kurze Geschichte hat, die erst im November 2000 mit einem Gesetz „zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ verankert wurde. Richtungsweisend hierfür war aber der 1942 verstorbene Pädagoge Janusz Korczak, der schon 1911 eine „Magna Charta“ der Kinderrechte verfasste. Janusz Korczak, ein polnischer Arzt, Pädagoge und Kinderbuchautor war somit ein Zeitgenosse von Anton Semjonowitsch Makarenko. Er wurde vor allem durch seinen Einsatz für Kinder bekannt, und schrieb Aufsätze sowohl für Erzieher als auch für Eltern. Zwei seiner Hauptwerke sind: Korczak, J. (2007): Das Recht des Kindes auf Achtung / Fröhliche Pädagogik. 4. Aufl., Güthersloh und Korczak, J. (2012): Wie man ein Kind lieben soll. 15. Aufl., Göttingen. Janusz Korczak war auch jahrelang Leiter eines Waisenhauses und konnte seine Prinzipen und Gedanken in die Realität und den Alltag umsetzen. Anton Makarenko, März 1888-April 1939, war ein sowjetischer Pädagoge und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste Pädagoge der Sowjetunion und war die unbestrittene Referenz für die Heimpädagogik in der DDR. 194 Ehepaar Schrade spricht deutlich von Menschenrechtsverletzungen. Auch sprechen sie davon, dass der Mensch „zur Null“ gemacht wurde, also gezielt gebrochen werden sollte. Ganz offen reden sie über Arrestzellen, von Gittern vor den Fenstern und von missbräuchlichem Verhalten der Erzieher.

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3.3.2 Die Gewalt im Heim Der erste Tag im Heim wird darüber hinaus in den Interviews fast ausnahmslos mit Gewalt verbunden. Das Thema der Gewalt bzw. Episoden und Anekdoten von Gewalt werden oft erinnert und erzählt, ohne dass wir ausdrücklich danach gefragt hätten, wie wir es oben schon erläutert haben. Am ersten Tag wurden die Neulinge geprüft und der zugewiesenen Gruppe wortlos überlassen. Entweder konnte sich der Neuling durchsetzen und sich Respekt erkämpfen oder er wurde geschlagen und Stärkeren untergeordnet. Die Szenen von Gewalt werden von allen geschildert, wobei sie unterschiedlich detailliert wiedergegen werden können (Mirabelle, Uhl, Caktus, Ast, Hasel Murau, Andersen, Mistel, Blatt, Schneider, Rüster, Bäumelein). Dabei werden Demütigungen erinnert (Mirabelle, Ast, Hasel, Rüster), Strafen (Mirabelle, Uhl, Ast, Kastanie, Murau, Rüster) und Drohungen mit einer Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau (Mirabelle, Kastanie, Blatt, Schneider) oder der Arrestzelle. Dabei stechen oft spezifische Situationen hervor, wie Rituale am Einweisungstag (Rüster, Mirabelle, Ast, Kastanie, Mistel, Blatt, Schneider, Bäumelein), Reaktionen auf Abwehr- bzw. Ablehnungsreaktionen und willkürliche Machtdarstellung. 195 Im Rahmen dieser Erinnerungen tauchen meist die Figuren der Heimerzieher auf, die oft als grobe und lieblose Personen beschrieben werden, und unfähig sind, Trost und Zuwendung zu schenken (Mirabelle, Kastanie, Mistel, Blatt, Schneider, Bäumelein). 196 Deren wiederkehrendes materielles Erkennungsmerkmal ist der Schlüsselbund, der als Waffe gegen die Kinder und Jugendliche gern benutzt wurde. Die Erwähnung von lieben oder „guten“ Erzieher taucht selten auf. 197 Die Erzieher tauchen eher als Beispiele für die Kollektiverziehung auf und in dem Zusammenhang wird auch für uns Zuhörer und Außenstehenden klar, warum das System der Kollektivbestrafung den Zusammenhalt in der Gruppe verhinderte. Die Kollektiverziehung 198 (manche reden von „Selbsterziehung“) formierte Opportunisten, die nur daran interessiert waren, ihre Vorteile zu sichern und sich nicht zu schade waren, jedes Mittel dafür anzuwenden. Die Ausübung der Gewalt innerhalb einer Gruppe nahm unterschiedliche Formen an, je nachdem, was die „Gruppenchefs“, die es immer gab und als „Lieblinge“ der Erzieher beschrieben wurden, als notwendig betrachteten. 199 Solche Gewalt195

Vgl. Tabelle 7. Vgl. Tabelle 6. 197 Vgl. Tabelle 6, Säule „Heimpersonal“. 198 Zu der Art und Weise wie Kollektiverziehung von ehemaligen Heimkindern erinnert und erklärt wird, vgl. Tabelle 7. 199 Ehemaliger Jugendwerkhofleiter Schrade bemerkt aus seiner langjährigen Erfahrung dazu, dass Heimkinder für Symbolik sehr empfänglich gewesen waren: Der Gruppenchef trug eine Armbinde, „Das war wie eine Waffe für ihn.“, vgl. Zweites Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 28. Februar 2012, 00.23.11. 196

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aktion wie eine kollektive Schlägerei bspw. nach einer Einweisung, nach einer Entweichung oder nach einem Diebstahl wurden von den Erziehern geduldet oder gar subtil angestiftet. 200 Schläge und Drohungen von den „Lieblingen“ fanden wiederum laut den Aussagen der Interviewpartner auch regelmäßig statt. Somit waren die Kinder und Jugendlichen Opfer und Täter zugleich, wodurch der Kontakt untereinander belastet war. Eine Solidarisierung (oder Gemeinschaftsbildung) wurde deshalb nicht ermöglicht. Die anderen Zöglinge, Kinder und Jugendliche werden weiterhin nicht in Verbindung zu Freundschaften, sondern zu Gewalt und Kollektiverziehung erwähnt (Ast, Kastanie, Andersen, Mistel, Blatt, Rüster, Bäumelein). Auffällig ist die Tatsache, dass sie fast nie namentlich oder anhand von persönlichen Charakterzügen erinnert und dargestellt werden, sondern sie bleiben für uns Zuhörer gesichtslos und anonym, als ob die Haupttätigkeiten dieser Leidgenossen darin bestünden, geschlagen, gedrängt und gedroht zu haben. 201 Die Formen der Gewalt gehen von öffentlichen physischen oder psychischen Bloßstellungen und Demütigungen wie etwa beim Duschen, Putzen vor der Gruppe bis hin zu einzelnen Einschüchterungen. 202 Der permanente erzieherische Druck, dem sie Tag für Tag ausgesetzt waren, bildete auch eine Gewalt, der sie sich keineswegs entziehen konnten bzw. nur über das Flüchten oder Entweichen, was wiederum härtere Maßnahmen zur Folge hatte. Nach einer „Entweichung“ wurde oft das Kind/der Jugendliche mit dem Arrest bestraft, oder muss-

200

Dies zeigt große Ähnlichkeiten mit dem Kapo-System in den Konzentrationslagern, in welchem Funktionäre, dadurch dass sie manche unangenehme Aufgabe erledigten, in den Genuss gewisser Privilegien kamen. Vgl. auch zum „Privilegienssystem“ in totalen Institutionen Goffman 1995: 56-57. 201 Vgl. dazu auch die ehemalige Jugendwerkhofleiterin Frau Schrade: „Und vielleicht auch noch mal zu diesen Situationen, die […] so zugespitzt haben, dass wir dass-dass die Kollegen gemeint haben, keine andere Möglichkeit mehr zu haben: diese Kollektiverziehung. Das bestand ja auch aus einem Funktionärssystem, also Selbstverwaltung sollte das ja sein. So und da darf man nicht vergessen: die Jugendlichen haben mit sich selbst genügend zu tun, die sollten erst mal selbst ihre Lage erkennen, jetzt wurden die in die Lage versetzt, in gewissen Tagesbereichen die Gruppe zu führen. Die kamen ja über kurz oder lang in die gleiche Situation, dass sie mit ihrem Latein am Ende waren. Die haben die haben ja auch nicht untereinander ja-ja wie soll ich mal sagen akzeptiert, dort hat-ist natürlich auch ein Sumpf gewuchert von Präfektentum von-von-von-von Drangsalierungen, die dann Nachts bilde ich mir ein auch oft in den Schlafsälen, wenn zwölf Jugendliche in einem Saal, wie das teilweise in Crimmitschau noch war, wo ich angefangen habe, dass es da zu solchen Übergriffen kam, wo dann auch Jugendliche weggelaufen sind, weil sie dem Gruppen dem Druck der Gruppe gar nicht mehr Stand halten konnten. Ist mir völlig nachvollziehbar. Es ist auch ein Wahnsinn, die Jugendlichen, die selbst zu ihrer Erziehung dort sind, praktisch anstatt von Erziehern den Tageslauf regulieren zu lassen. Das würde ja bedeuten, sie können das alles dann […] können wir sie entlassen und die haben dann natürlich alles, was so an Kränkungen untereinander war, haben die dann ausgespielt, wenn die als Hygieneverantwortliche die Schränke kontrolliert haben oder wenn da noch ein Fussel am Besen war oder noch Wasser im Eimer. Da gibt’s ja so feine Dinge, wo man den Menschen zur Null machen kann auch untereinander.“, Erstes Interview mit dem Ehepaar Schrade von Agnès Arp und Jan Kalies am 27. Februar 2012, 01:28:5. 202 Dazu ausführlich Goffman 1995. Insbesondere das erste Kapitel, das sich den Demütigungsprozessen der Insassen widmet.

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te sich einer öffentlichen Bestrafung unterziehen, die ihn stigmatisierte und erniedrigte. 203 Dies erklärt auch, warum sich Erzählungen über Entweichungen wiederholen, ähnliche Abläufe über Polizei, Durchgangsheime, Transfer, Drohung mit dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau und Empfang im Spezialheim mit Arrest und Kerker (Mirabelle, Uhl, Ast, Hasel, Andersen, Mistel, Schneider). Die Erzählungen über die Spezialheime, in denen unsere Interviewpartner eingewiesen wurden, vermitteln eindeutig den Eindruck, dass jene Heime als eine Art „rechtsfreier Raum“ funktionierten, 204 da viele der Misshandlungen auch nach dem DDR-Recht unzulässig waren aber geduldet wurden. 205 Die Kinder waren Tag für Tag mit potentiellen Gewaltausbrüchen von Heimpersonal 206 oder Zöglingen und -entgleisungen konfrontiert bzw. diesen ausgeliefert. Sie wurden Zeuge oder gar Mittäter bei physischen Angriffen auf eine andere Person 207, sollten andere Kinder und Jugendliche denunzieren, bei Bestrafung von Heimkindern mithelfen (bspw. durch Festhalten, vgl. Bert Schneider) oder zusehen (Karin Ast), Bestrafungen von Heimkindern durch Heimkinder organisieren oder sie mussten einfach miterleben, wie jemand bei den wöchentlichen Auswertungen oder bei Inspektionen gedemütigt wurde.

203

Im JWH Hummelshain mussten die Zöglinge in solchen Fälle durch das Gelände einen Tag lang mit einem bestimmten Uniform in den 1980er Jahren laufen. Ähnlich in den 1960er Jahren im Westen mit sog. Strafkleindung bei Entweichungen vgl. Kuhlmann 2008: 144. 204 Die Tatsache, dass sie meist auf dem Lande und isoliert standen, hat diese Realität sicherlich verstärkt. 205 Vgl. zu diesem Punkt die eindeutigen Ausführungen von Wapler: „Zeitzeugen berichten immer wieder von drakonischen Strafregimen in Heimen der DDR, von Prügelstrafen, Arrest und entwürdigender Behandlung, Gruppenbestrafungen, Essensentzug und sinnlosen Putz- oder Schreibarbeiten. Auch Prüfberichte aus internen Heiminspektionen zeichnen teilweise ein verheerendes Bild von der Behandlung der Zöglinge durch die Erzieher und durch andere Heimkinder. So listet ein Schreiben des Generalstaatsanwalts an das Ministerium für Volksbildung vom 14. Juni 1966 für den Zeitraum 1.1.1964 bis 30.6.1965 eine ganze Reihe gravierender Misshandlungen, fahrlässiger Körperverletzungen und sogar neun Fälle fahrlässiger Tötungen in Kinderheimen und Kinderkrippen auf, darunter massive Körperverletzungen („Kinder wurden mit dem Kopf auf den Fußboden gestoßen“), Demütigungen („Kinder wurden mit dem Gesicht in den eigenen Kot gedrückt“), Essensverweigerung und Zwangsernährung (in einem Fall mit Todesfolge), kalte Duschen, erschöpfende Strafmaßnahmen und „Eckenstehen“ („Kinder wurden stundenlang – teils in Nachtbekleidung – aus den Zimmern verwiesen. Sie mussten sich in Ecken, Fluren, Kellertreppen, dunklen Räumen, Schweineställen bzw. Bodenkammern aufhalten“), Wapler 2012: 80 ff. 206 Als ein Beispiel unter unzähligen Beispielen, vgl. auch der Bericht eines IMs, der in den Sechzigern Jahre Heimerzieher im Spezialkinderheim Bad Blankenburg war. Er spricht von dem Nachtwächter (eine oft mit Gewalt verbundene Figur in Heimkinder-Interviews): „Nachtwächter wird ins Heim eingestellt, handelt sich um XX, 65 Jahre, vorbestraft 1957 wegen Unz. M. Kindern, z.Z. wohnhaft Potsdam, ehem Rudolstadt.“, VPKA Rudolstadt, OG II, Reg.-Nr. 194/64, 1964-1978, 5.10.1965, BStU, MfS, BV Gera/KD Stadtroda, Bl.S. 102, 207 Zora Ilex: Die Erzieher forderten auch die Kinder auf: „wenn jetzt jemand unordentlich war, also unsauber am Körper, das hat mir so leid getan, die war in ner andern Brigade. Da ham die den nunner gejacht, hier, in, in, in, in Duschraum. Ham die naksch gemacht und ham die mit`m Schrubber geschrubbt. Die konnte aber nix dafür. Die hat Defizite gehabt.“, Interview mit Zora Ilex von Ronald Gebauer am 28.03.2011, 00:42:15 – 00:43: 32.

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3.3.3 Exkurs: Entlassung und Stigmatisierung Im Gegensatz zum Heimeinweisungstag wird die Entlassung aus dem Spezialheim von den Interviewpartnern selten erzählt. 208 Nach den Interviews scheint das Ende des Heimaufenthaltes im Stillen und nach funktionalen Gesichtspunkten verlaufen zu sein (Andersen, Blatt, Bäumelein). Vermutlich werden die Erinnerungen überschattet von den damit verbundenen befreienden Gefühlen und den anschließenden negativen Erfahrungen in der „freien Welt“. Erving Goffman hat diesen Prozess sehr treffend geschildert: „Wenn der einzelne dadurch, dass er ein Insasse geworden ist, einen niedrigen proaktiven Status gewonnen hat, dann wird man ihm draußen in der Welt mit Vorbehalt begegnen, und er wird diese Erfahrung meist in einem auch für Leute ohne Stigma schwierigen Augenblick machen, nämlich wenn er sich um eine Arbeit oder um eine Wohnung bewirbt. Auch findet die Entlassung meist gerade dann statt, wenn der Insasse es schließlich gelernt hat, sich in der Anstalt zurechtzufinden, und wenn er die Privilegien gewonnen hat, die, wie er schmerzlich lernen mußte, sehr wichtig sind. Kurz, er wird feststellen, dass die Entlassung dem Sturz von der obersten Stufe einer kleinen (...). Hinzu kommt, dass der Insasse, wenn er in die freie Gesellschaft zurückkehrt, manchmal nur über eine beschränkte Freiheit verfügt.“ 209

Das Leben nach dem Heim war tatsächlich mit etlichen Schwierigkeiten verbunden. Die Jugendlichen wurden im Spezialheim kaum auf ein selbständiges Leben vorbereitet, weshalb manche so schnell wie möglich wieder in festen Strukturen leben wollten. 210 Die Jugendhilfemitarbeiter sind obendrein abwesend in den heutigen Erinnerungen, obwohl sie eigentlich die ersten Schritte der Jugendlichen hätten begleiten müssen. 211 Aus dem Heim entlassen zu werden, hieß vor allem, sich in der Gesellschaft neu zu Recht finden zu müssen. Dabei entfaltete sich das Gefühl von Scham und die Angst vor Stigmatisierungen (Uhl, Caktus, Ast, Hasel, Murau, Mistel, Blatt, Schneider, Ilex 212). Eine der Haupthürden dieser jungen Erwachsenen bestand darin, eine Arbeitsstelle zu finden und weiterbildende Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Mit einem Teilfacharbeiterzeugnis verfügten sie über sehr schlechte berufliche

208

Vgl. Tabelle 4 und Tabelle 5. Vgl. Goffman 1995: 76. 210 Feste Strukturen, wurden von den Heimkindern selber hergestellt. Simon Rüster und Bert Schneider sind ihrerseits im Gefängnis wieder in ein System von Fremdzwängen geraten, und konnten sich damit relativ gut arrangieren. Dass sie sich damit arrangieren konnten, lag an ihren Erfahrungen im Heim. 211 „Meine Entlassung war grausam. Es war schon grausam der Werkhof, aber es dann och grausam draußen. Ich bin in so ein tiefes Loch gefallen, du hattest ja kein Ansprechpartner gar nüscht. Du bist plötzlich aus irgend nen Rahmen raus gefallen. Ich konnte nicht mehr zum Jugendamt gehen, ich war ja achtzehn und ich hatte nicht, ich hat-, ich bin irgendwo bin ich umgestürzt.“, Interview von Zora Ilex mit Ronald Gebauer, am 28.03.2011, 01:05:55 – 01:06:18. 212 Vgl. Zora Ilex, Tabelle 6: Nach ihrer Entlassung war sie stigmatisiert: „Aber dann gings ja los nach der Entlassung. Da warste abgestempelt. Das war genauso wie vorbestraft. ‚Was ham se denn jetz bis jetze gemacht?‘ wenn du irgendwo ne Arbeit gesucht hast. Wenn du gesagt hast du kommst aus dem Jugendwerkhof, das war ja schlimm als wenn du im Gefängnis warst. Ich sache ‚Es tut mir leid, aber ich hab nichts gemacht, ich sollte eigentlich ins Kinderheim kommen.‘ Das wollten die gar nicht hören.“ Interview von Zora Ilex mit Ronald Gebauer, am 28.03.2011, 00:43:03–00:43:22. 209

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Voraussetzungen. Die Bezeichnung „Heimkind“ fungiert bis heute als Stigma, von dem sich viele ehemalige Heimkinder befreien wollen. 213 Es sind zusammenfassend zwei Erfahrungen, die ehemalige Spezialheimkinder in ihren Erzählungen über den Alltag in Spezialheim immer wieder hervorheben und welche die biographischen Hauptbelastungen ausmachen: Alle ehemaligen Heimkinder aus Spezialheimen erlebten Gewalt in den Spezialheimen und widmen einen großen Teil ihrer Erzählungen diesen Erinnerungen. Die Gewalt vollzog sich überwiegend als strukturelle Gewalt, zum Beispiel als das Ausgeliefertsein den herzlosen und formalen Routinen der Heimeinweisung oder als delegierte Gewalt, die die Mitinsassen in der Kollektiverziehung ausübten. Die Verarbeitung dieser Gewalterfahrungen bleibt ein Lebensproblem für die meisten ehemaligen Heimkinder von Spezialheimen. Die Jugendlichen dieser Heime korrelieren den Aufenthalt in einem Spezialheim mit einer ungerechten Benachteiligung, die jene Grundlage weiterwirkender Stigmatisierungen und für den unterdurchschnittlichen sozialen und gesundheitlichen Status ehemaliger Heimkinder legten. Deshalb versuchen sie auch, diese Zeit aufzuarbeiten.

3.4 Die Jahre im Spezialheim der DDR: eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Wir hatten im Bericht zur aktuellen sozialen Lage ehemaliger Heimkinder festgestellt, dass unsere Interviewpartner aus Normal- und Spezialheimen versuchen, rückblickend ihrer Heimvergangenheit im Interview einen Sinn zu geben und in einem biographischen Zusammenhang zu stellen. Es ließen sich zwei entgegengesetzte Erinnerungskonstruktionen ausmachen, zwischen denen die jeweiligen Bewertungen der Interviewpartner über die Heimvergangenheit pendeln. Dabei spielte die Tatsache, ob man in ein Normalheim eingewiesen wurde oder in ein Spezialheim eine bedeutende Rolle. Denn das Normalheim wurde eher als ein Ort der Zuflucht bezeichnet und bedeutete dabei vornehmlich ein Ende der Vernachlässigung und Gewalt in den Herkunftsfamilien. Manche Bewertungen schwanken auch von Heim zu Heim. Daher konnte sich in einer „Heimkarriere“ das eine Spezialheim sowohl als Zuflucht und zu Hause oder als auch Schreckenshaus und Gefängnis entpuppen. 214 Karin Ast fühlte

213

Zu diesem Thema vgl. Arp, A. / Butz, K. / Kalies, J. (2012): Leben nach dem Kinderheim: Folgen der Heimerziehung in der DDR. in: Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.), Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen, Erfurt, S. 18-72. 214 Vgl. Mistel, Blatt, Ast.

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sich ihrerseits sogar sicherer im Jugendwerkhof als zu Hause, 215 und sie erinnert sich wiederum sehr gerne an die paar Monate in dem Jugendheim zurück. Im Falle von positiven Erinnerungen an die Jahre im Heim ist zum Einen entscheidend, ob manche Heimerzieher imstande gewesen waren, Kinder angemessen zu behandeln und mitunter Talente erkannt und gefördert zu haben. Zum Anderen ist das Heimkind-Dasein für ehemalige Heimkinder konstitutiv ihrer Biographien und Entwicklungen: die eigene Identität beruht bei früher und langer Heimunterbringung auf Erinnerungen an die Kindheit im Heim. Sie stellt die Normalität dar und wird daher auch wenig in Frage gestellt. Das Heim ist das Zuhause, nachdem man sich auch heute noch sehnt. Erzieher waren die Vertrauenspersonen, die Trost spendeten und Leistung anerkannten. Selbstbewusst schauen diese Heimkinder auf ihr Leben und wehren sich gegen die Verunglimpfung ihrer Kindheit, die sie ohne ein Heim nicht überlebt hätten. 216 Dennoch färben sich die Erzählungen von traurigen und belastenden Erinnerungen, sobald ehemalige Heimkinder ihre Erfahrungen in Spezialheimen thematisieren. Wenn auch einige Erzählungen von der Gleichzeitigkeit negativer und positiver Erinnerungen geprägt sind, wirken die Erinnerungen hier wesentlich instabiler. Gewalt, Willkür und Drill entfalten einen bitteren „Beigeschmack“. Spezialheime werden eher als ein Ort, der ihr Leben nachhaltig negativ beeinflusst und geprägt hat, dargestellt. Hier wird eine Kindheit gezeichnet, abgeschnitten von der Welt, geprägt durch einen durchstrukturierten Alltag, aus dem es kein Entkommen gab, wo das Individuum keinen Wert hatte und das Gesetz des Stärkeren zählte. Einige Interviewpartner werden bis heute von ihren Ängsten, Schuldgefühlen und Scham verfolgt. Das Heim habe sie „zerbrochen“, sie fühlen sich unverstanden und ausgegrenzt. Ihr Selbstwertgefühl hat unter der fehlenden Anerkennung und Zuneigung in der Kindheit und Jugend gelitten. Viele Interviewpartner sehen sich heute auch nicht in der Lage, erfüllte soziale und familiäre Beziehung zu führen. Das Heim ist hier oft Ausgangspunkt einer „verkorksten“ Biographie, deren Wegesende in die Illegalität, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Einsam215

In ihrer Bilanz über ihre Erlebnisse im Jugendwerkhof betont sie, dass es zwar im JWH viel Druck gab, aber gegenüber den Verhältnissen zu Hause waren die Zustände im JWH ertragbar, da sie in gewisser Weise berechenbar waren. Für sie sind die strengen Anforderungen an Disziplin und Ordnung sogar positive Werte, die sie zuhause nicht vermittelt bekam. Daher kann man auch bei ihr, wie bei vielen Heimkindern, beobachten, dass paradoxerweise Drill und Strafen als legitimes Erziehungsmittel angesehen wird, obgleich sie selbst sehr darunter gelitten hat: „War zwar damals auch noch nicht so selbstbewusst und – na, im Jugendwerkhof – also eigentlich muss ich sagen, dass ich – (5) also es war schon schlimm, die Zeit. Auch in der Psychiatrie. Aber für mich war – ich hab deswegen wahrscheinlich so gut überlebt, weil für mich es nur Zuhause schlimmer war. (3) Durch die ständige Prügel und die Ängste, wenn er kommt und wann kommt er nur und man nie wusste, wann er kommt. Ob er nun um vier kommt, besoffen, oder um sechs Abends. Und wenn ich noch ne Tracht Prügel abkriege und – das war eben – also, mir war alles lieber, nur nicht das. Das war auch Stress dort. Da hab ich auch gedacht „Och, haust wieder ab.“ Und bin ja auch mal abgehauen in Crimmitschau und daraufhin ja nach Torgau gekommen, die drei Wochen, aber s is eben: (3) Schlimm wars (2), aber Zuhause wars schlimmer. Für mich.“, Interview mit Karin Ast von Agnès Arp am 15.03.2011, 00:48:17 D2. 216 So stellt bspw. Emil Andersen die Jahre im Kinderheim und Spezialheim dar.

Kapitel 3: Alltagserinnerungen von ehemaligen Heimkindern

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keit mitunter führte. Diese Interviewpartner bewerten die Heimzeit schlechter und schlimmer als die Situation in der Herkunftsfamilie (so bei Caktus, Platane, Schneider, Hasel, Uhl, Mirabelle, Ilex, Mistel, Hartriegel). An diesem extremen Pol wird die Heimzeit als das am meisten Zerstörende und Traumatisierende wahrgenommen (Uhl, Platane, Caktus, Mirabelle, Ilex, Mistel). Was lehren uns die Interviews mit ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen, dessen individuelle Ausführungen und persönliche Erinnerungen in den Tabellen zu lesen sind? Wenn man also nur die Interviews mit ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen betrachtet, fällt das Gesamtbild in den Erinnerungen der Betroffenen eindeutig aus. Sie erinnern die Zeit im Spezialkinderheim bzw. Jugendwerkhof als wenig stabilisierend, belastend oder gar traumatisierend. Die Erinnerungen an die Zeit im Spezialheim 217 werden durchweg mit Gewalt verbunden und sind ein zusätzlicher Indiz für die menschunwürdigen Lebensbedingungen dieser Kinder in den Spezialheimen der DDR. 218 Anhand der Tabelle 8, deren Kategorien sich nur im Miteinander verstehen lassen, kann man folgendes feststellen: Die Art, wie ein ehemaliges Heimkind seine Heimvergangenheit thematisiert und bewertet, lässt sich oft mit dem aufgedrängten Stigma des „Heimkindes“ und der heutigen psychischen Stabilität rückkoppeln. Der Rückblick auf die Zeit nach dem Spezialheim und darauf, was man „geworden ist“, wird überwiegend mit Erfahrungen von Stigmatisierung, sei es auf der Arbeit, im Dorf oder in der Familie, verknüpft. Ein Gefühl von Scham begleitet auch manche ehemaligen Heimkinder, die auch nicht wissen, wie sie sich davon befreien könnten. 219 Es wundert daher auch nicht, dass sie sich meistens in psychologischer Behandlung befinden oder eine solche wünschen. Die Existenz der Anlaufstellen ist daher ein lebensnotwendiger Schritt für die Stabilisierung jener Biographien.

217

Vgl. Tabelle 8. Vgl. dazu auch Kuhlmann 2008: 179-187. Sie kommt zur gleichen Ergebnissen. 219 Vgl. dazu auch Kuhlmann 2008: 165-171. 218

4. Lehrer und Erzieher in Spezialheimen der DDR im heutigen Thüringen. Ein Problemaufriss. (Michael Hofmann) 4.1

Zur Rekrutierung von Erziehern und Lehrern für Spezialheime ............................... 98

4.2

Einschätzung der Verhältnisse in Spezialheimen und ihr Unterschied zu den Normalkinderheimen aus der Sicht der Erzieher ..................................................... 102

4.3

Forschungsbedarf ..................................................................................................... 104

Kapitel 4: Lehrer und Erzieher in Spezialheimen der DDR

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Über Lehrer und Erzieher in Spezialheimen wurde bisher wenig geforscht. Aufbauend auf einem bescheidenen Sample von sieben ehemaligen Lehrern und Erziehern der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl (dem heutigen Kernthüringen), gibt der folgende Abschnitt eine explorative Zusammenfassung der speziellen Problemlagen für Erzieher und Lehrer in Spezialheimen. Diesem Problemüberblick liegen die Arbeiten der Vorgängerstudie „Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen“ (Kapitel 5), Materialien des Instituts für Jugendhilfe der DDR in Falkensee, die Arbeiten von Christian Sachse, insbesondere sein Vortrag „Erziehungsmethoden in den Spezialheimen der DDR“ auf der Heimkinder-Tagung am 21. April 2012 in Schwerin sowie sieben Interviews mit ehemaligen Lehrern und Erziehern in Spezialheimen (siehe Dossiers zu diesen Interviews im Anhang) und der Vergleich mit den Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder zugrunde.

4.1 Zur Rekrutierung von Erziehern und Lehrern für Spezialheime Während ihres gesamten Bestehens gab es in der DDR einen Mangel an Fachpersonal in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen. Besonders in den Anfangsjahren der DDR herrschte Personalnotstand an den Schulen und Heimen. Die DDR unternahm große Anstrengungen, um Lehrer und Heimerzieher zu qualifizieren und ab Mitte der 1960er Jahre strömt eine junge, in der DDR ausgebildete Generation von Lehrern und Erziehern in die Schulen und Heime, wobei die Spezialheime zunächst eher am Ende dieses Zustroms standen, weil sich Absolventen hierhin am schwersten vermitteln ließen. Deshalb gab es auch eine Absolventenlenkung, in der Pädagogen nach ihrer Ausbildung in Einrichtungen gelenkt werden konnten, ob sie wollten oder nicht. Sie wurden also zugewiesen. Aber selbst dies konnte die Personalprobleme nicht wirklich lösen. Wie Herr Ihle erzählt, war die Kaderpolitik das Hauptproblem für ihn als Leiter eines Spezialheims: „Es war schwer, gute Lehrer zu bekommen.“ (Dossier Ihle). Die intensiven, politischen Werbekampagnen für den Lehrer- und Erzieherberuf und zugleich die Bildungsblockade traditionell pädagogisch affiner Milieus wie etwa kirchennaher und selbständiger Familien, führte jedoch auch dazu, dass sich die pädagogischen und ethischen Orientierungen des Pädagogenstandes in der DDR veränderten. Der pädagogische Beruf zog als Aufstiegs- und Etablierungskanal ganz neue Bewerber aus ganz unterschiedlichen Milieus an. So legte man in der Lehrer- und Erzieherausbildung in der DDR sehr starken Wert auf eine polytechnische Bildung und rekrutierte in technikaffinen Kreisen. Der Lehrer- und

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Erzieherberuf stellte aber auch eine rasche politische Integration in das sozialistische System und auch eine schnelle Aufstiegs- und Etablierungsmöglichkeit dar und zog aufstiegsorientierte Kreise an. Dafür wurden die Pädagogen als die Erzieher künftiger „sozialistischer Persönlichkeiten“ in der DDR aber auch an die kurze politische Leine genommen. Der pädagogische Alltag in den Schulen oder Heimen der DDR sollte nach sozialistischen Grundsätzen immer stärker geplant, kontrolliert und vereinheitlicht werden. Die neuen, in der DDR ausgebildeten Pädagogen, selbst die hoch motivierten und den Kindern zugewandten, erhielten wenig Freiraum für eine Entwicklung autonomer, subjektbezogener Erziehungsstile. Technokratische, die systemischen Anforderungen an Planung und Kontrolle erfüllenden Einstellungen, nahmen im gesamten pädagogischen Bereich zu. Unsere These lautet nun, dass sich technokratisch und sozialtechnologisch anmutende, auf geregelte Abläufe und funktionierende Systeme abstellende pädagogische Orientierungen in besonderer Weise in den Spezialheimen nachweisen lassen. In unserem Sample werden zum Beispiel zwei unserer Interviewten Anfang der 1970er Jahre als junge Männer zu Leitern von Spezialkinderheimen berufen und zwar explizit mit der Aufforderung, in diesen Heimen für mehr Ordnung und Erfolg zu sorgen. Eines der entscheidendsten Erfolgskriterien der Einschätzung von Spezialheimen war bezeichnenderweise die Zahl der Entweichungen. (Dossier Ihle: „Die Entweichungen wurden sehr kritisch gesehen … Wenn es keine Entweichungen gibt, dann gibt’s Farbfernseher“). Entweichungen galt es zu reduzieren. Und sie wurden reduziert. Bei der rekonstruierenden Analyse der Heimbedingungen für Kinder und Jugendliche kann also eine niedrige Zahl der Entweichungen nicht als Qualitätskriterium für ein Spezialheim herangezogen werden. Denn wie wurde die Reduzierung der Entweichungen bewerkstelligt? Gelang es zum Beispiel mit der neuen Qualität der Ausbildung der Erzieher und dem Reformschwung der beginnenden 1970er Jahre, die Spezialheime zu Heil- und Heimatorten für zum Teil angeschlagene Kinderbiographien zu machen, aus denen man gar nicht ausbrechen wollte? Der Autor Christian Sachse spricht in seinem Beitrag auf der Heimkinderkonferenz am 21.April 2012 in Schwerin davon, dass die Spezialheime kein Ort besonderer Förderung, Zuwendung und Heilung waren, keinen Lebensort, keine Heimat und keinen Familienersatz boten. Stattdessen waren Spezialheime konzipiert als Orte der Umerziehung, dem methodisch gestützten, planmäßigen „Umbau der Persönlichkeit“. 220 Was hier vielleicht ein wenig als eine allgemeine und pauschal getroffene

220

Siehe Sachse, C. (2012): Erziehungsmethoden in Spezialheimen der DDR. in: http://www.christian-sachse.de/heimerziehung/20120421_Methoden.pdf (letzter Aufruf 18.11.2012).

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Einschätzung anmutet, trifft den Kern der Sache und soll nun anhand unseres Materials ein wenig spezifiziert werden. Von unseren beiden jungen Leitern, die in den 1970er Jahren Spezialheime übernahmen, scheiterte nach zwei Jahren einer, nach einer, wie er sagt, „sehr schönen, katastrophal anstrengenden Zeit“ (Dossier Ihle). Er fühlte sich dieser Verantwortung vor allem psychisch nicht gewachsen und wurde zunächst als einfacher Lehrer an eine Hilfsschule zurückversetzt. Der Leiter des Spezialkinderheims Hohenleuben hingegen führte das Heim erfolgreich bis zum Ende der DDR. Es gelang ihm, über wöchentliche Schulungen für alle Erzieher und einem von ihm in bester Absicht verfassten Maßnahmenkatalog (einen 250 Seiten umfassenden Aktenordner), in dem festgelegt wurde, wie die Erzieher mit allen möglichen Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen (Schminken, modische Bekleidung, Haartracht usw.) umzugehen hatten, den erhöhten Disziplinanforderungen der Spezialheime gerecht zu werden und die Zahl der Entweichungen drastisch zu reduzieren. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich offenbar im Spezialkinderheim Bad Blankenburg beobachten (siehe Dossier Bohlung). Unter einer technokratisch orientierten Leitung verwandelte sich offenbar in den 1970er Jahren, mit einer neuen Generation von Erziehern, das Erziehungsklima in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen. Die vormals oft noch persönlich ausgeübte und verantwortete Sanktionsgewalt der Erzieher (siehe Dossier Altdorf) geriet immer mehr zu einer systemischen Gewalt von Ordnung und sozialistischem Grundsatz. Christian Sachse spricht hier von einem Überwältigungsgebot, das in den Spezialheimen gilt und das gewaltförmig ist.221 Diese installierte strukturelle Gewalt bedarf, um ihre Gewaltwirkung zu entfalten, keiner aktiven „Täter“ mehr, im Gegenteil, sie verschafft auch schwächeren Erziehern und Lehrern einen Schutzraum. Und wirklich: die Spezialheime bieten erstaunlicherweise auch pädagogisch unerfahrenen oder in anderen Erziehungssituationen gescheiterten Erziehern eine berufliche Nische. Hierfür sind die Erzählungen von Herrn Gitter (siehe Dossier Gitter) ein sehr beredtes Beispiel: ein Lehrer, der sich an einer allgemeinbildenden Schule nicht durchsetzen kann und im pädagogischen Prozess scheitert, übt unter den strengen Regeln des Spezialheims (aus seiner Sicht) den Lehrerberuf ohne Probleme aus und zwar solange, bis nach einem Leiterwechsel die strengen Disziplinregeln dieses Heims gelockert werden und Herr Gitter wieder scheitert.

221

Vgl. ebd.

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Aus der Sicht der Lehrer und Erzieher gab es – exemplarisch vollzieht sich diese Entwicklung im Spezialkinderheim Hohenleuben - entlastenderweise zunehmend klare Regeln, ganze Kataloge, denen Kinder und Erzieher unterworfen waren und die aufwändige Einzelfallbetrachtungen überflüssig machten. Die Überschreitung dieser Regeln und Grenzen musste dann selbstverständlich Konsequenzen haben. Die Mittel der strukturellen Gewalt verwandeln oder verwandelten sich unter dieser Orientierung in objektive Handlungsrahmen. Die Isolierzelle, in die Kinder und Jugendliche nach ministerialer Anweisung gesteckt wurden, heißt dann „Besinnungsstübchen“, und wird als ein unbedeutendes, aber legitimes Mittel des Erziehungssystems angesehen (siehe Dossier Altdorf). 222 In den Spezialheimen bewährten sich die immer dichter werdenden und vom Grundsatz der Kollektiverziehung gedeckten technokratischen Abläufe wegen der Abschottung nach außen in besonderem Maße. Denn hier bestanden besondere Disziplinanforderungen und über die engmaschigen Tages- und Freizeitpläne sollte und konnte die kollektive Kontrolle und das Funktionieren im Erziehungssystem hergestellt werden. Im pädagogischen System der DDR wurden diese Entwicklungen als Erfolg gewertet und führten dazu, dass „der Bekanntheitsgrad und das Ansehen“ des Spezialkinderheims Hohenleuben zum Beispiel gewachsen ist (siehe Dossier Schmied). Der Leiter dieses Spezialkinderheims wird in verschiedene Kommissionen und als Dozent und Autor an das Institut für Heimerziehung der DDR berufen. Er wird Mitverfasser der Lehrhefte für die Erziehung in Spezialkinderheimen der DDR. In den Spezialheimen, so lassen sich diese Einsichten zusammenfassen, sorgten engmaschige und technokratisch geplante Abläufe dafür, dass die Kinder und Jugendlichen beschäftigt waren und kontrolliert werden konnten. Dieses Klima formaler Disziplin und struktureller Gewalt wurde besonders gestützt durch eine aufsteigende Generation von DDRHeimerziehern mit technokratischer Orientierung, die hier ihre Etablierungsmöglichkeit fand. Es wurde aber auch gestützt durch eine auf sich gestellte, zu wenig speziell ausgebildete, man kann vielleicht sagen überforderte Generation von Erziehern und Lehrern, die sich selbst in diesem System kontrolliert und eingebunden sah.

222

Zur Anweisung der Ministerin Margot Honecker siehe auch die Vorgängerstudie, Hofmann, M. (2012): Erfahrungen und Orientierungen von Heimerziehern in der DDR. in: Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (Hrsg.), Zur sozialen Lage ehemaliger DDR-Heimkinder in Thüringen, Erfurt, S. 109f.

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4.2 Einschätzung der Verhältnisse in Spezialheimen und ihr Unterschied zu den Normalkinderheimen aus der Sicht der Erzieher Gibt es nun einen – was ja bei der Analyse von Strukturen und Prozessen in Spezialheimen durchaus relevant ist - graduellen oder einen prinzipiellen Unterschied zwischen Normal- und Spezialheimen? Aus den Erzieherinterviews konnten wir in der Regel nur sehr wenig über die Unterschiede, zum Beispiel hinsichtlich konkreter Missstände oder gar Gewalt in Spezialheimen, erfahren. Über auf der Tagesordnung stehende Arbeit und Zwangsarbeit in den Spezialheimen erfuhren wir in den Erzieherinterviews so gut wie gar nichts. Aber auch in Normalkinderheimen wurde über Arbeitsverpflichtungen kaum gesprochen. Zunächst einmal war es offenbar für die Erzieher und Lehrer der pure Zufall, ob sie in einem Normalkinderheim oder in einem Spezialheim zum Einsatz kamen. Welchen ausgebildeten Erzieher oder Lehrer man auch immer für die Tätigkeit in einem Spezialheim gewinnen konnte, den hat man genommen. Es gibt kaum Qualifikationsunterschiede zwischen dem Personal von Normal- und Spezialheimen. Eine spezielle Ausbildung wurde in den Spezialheimen nur in Ausnahmefällen absolviert, obwohl sie ab Ende der 1970er Jahre in Berlin angeboten wurde. In unserem Sample gibt es bei den Erziehern und Lehrern keine einzige Spezialausbildung oder Weiterqualifizierung für die Tätigkeit in Spezialheimen. Erzieher in Spezialheimen sprechen durchgängig davon, und das war auch die offizielle Bezeichnung, dass sie es mit „schwererziehbaren Schülern“ bzw. „schwererziehbaren Hilfsschülern“ zu tun hatten. Die daraus abzuleitenden pädagogischen Aufgaben waren für sie allerdings keine spezifischen oder hochqualifizierten. Aus der Sicht der Erzieher waren diese Aufgaben vor allem schwieriger (Dossier Wolle, Schmied). Ein Lehrer, der in den 1950er Jahren von einem Normalkinderheim in ein Spezialkinderheim wechselte, berichtet: „Da ging es schon ein bissel rigider zu. Da musste man auch ein bissel aufpassen, dass man nicht in Konflikte mit den Heimkindern kam, nicht wahr (schmunzelt)? Waren eben Schwererziehbare, nicht wahr?“ (Dossier Wolle). Spezialheime waren die strengeren Heime, wo es ein bissel rigider zuging. Zunächst einmal ging es darum, durch mehr Disziplin eine Grundlage für den pädagogischen Prozess zu schaffen. In der Sprache der sozialistischen Pädagogik hieß das, eine „stabile Erziehungssituation“ herzustellen. Im Jahr 1984 erscheint als Nummer 59 der „Beiträge zur Weiterbildung“ das Heft „Umerziehung in den Spezialheimen der Jugendhilfe“ von Hubert Steinig, Franz Kunert und Horst Thiem. Darin schreiben die Autoren, dass die Grundlage der Umer-

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ziehung eine „stabile Erziehungssituation“ ist. Und stabil werden die Situationen erst, wenn eine „positive Einstellung der Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen zu den Anforderungen des kollektiven Lebens“ erreicht ist. 223 Das wichtigste Mittel, eine „stabile Erziehungssituation“ zu erreichen, ist das exakte Durchplanen der Tagesabläufe. Alles wurde im Kollektiv und unter Aufsicht gemacht. Die Hausaufgaben allein anfertigen zu dürfen, war zum Beispiel schon eine besondere Vergünstigung. Auch, „daß die Freizeit im Heim straff organisiert und konkret geplant ist“ 224 versteht sich als ein notwendiger Bestandteil der Herstellung stabiler Erziehungssituationen. In den Spezialheimen muss, und das ist ihre spezielle Aufgabe und macht sie zu Spezialheimen, über Disziplinierung zunächst eine stabile Erziehungssituation hergestellt werden. Der pädagogische Prozess selbst, die Erziehung „Schwererziehbarer“, das heißt besonders hilfsbedürftiger Kinder und Jugendlicher, weist dann keine speziellen Merkmale wie etwa eine Einzelfallbetreuung o.Ä. auf. Folgt man diesem von der sozialistischen Pädagogik selbst gesetzten Konzept, so lässt sich hier nur ein gradueller Unterschied im einheitlichen Erziehungsprozess zwischen Normal- und Spezialheimen feststellen. Und das entspricht auch den empirischen Erfahrungen der Lehrer und Erzieher. Natürlich werden Spezialheime als strenger, rigider als Normalkinderheime beschrieben. Auffällig ist hier, dass Erzieher auch heute noch in ihren retrospektiven Erzählungen über ihre Arbeit in den Spezialheimen Begrifflichkeiten verwenden, die für Gefängnisse bzw. Lageraufenthalte typisch sind. Die Kinder und Jugendlichen der Spezialheime werden als „Insassen“ bezeichnet, als „Kriminelle“ bzw. auch als „Menschenmaterial“. Einerseits blinkt hier wieder eine technokratische Sprache durch, andererseits zeigen diese Begriffe aber auch, dass die Spezialheime immer noch als relativ geschlossene Lager gesehen werden. Herr Altdorf erzählt, dass das Spezialkinderheim Bad Blankenburg „relativ abgeschlossen war. Das heißt nicht abgeschlossen im Sinne von zugeschlossen, sondern die waren unter sich (…) die hatten keine Gelegenheit mit Stadtkindern in Kontakt zu kommen. (…) Sie blieben fast immer im Heim, weil man Angst hatte, die kommen in die alte Clique wieder rein und die bisherige Erziehung, die ja im Heim stattgefunden hat, wird wieder in Frage gestellt. Die sollen mal hier bleiben, in der gewohnten Umgebung.“ (Dossier Altdorf). Aber dies sind Charakteristiken, die die Situation aller ehemaligen DDRHeimkinder wiederspiegeln und keine qualitativen Charakteristika der Spezialheime.

223

Steinig, H. / Kunert, F. / Thiem, H. (1984): Umerziehung in den Spezialheimen der Jugendhilfe. Institut für Jugendhilfe, Beiträge zur Weiterbildung, Heft 59, Falkensee, S. 6 224 Ebd. S. 46

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Lehrer und Erzieher in Spezialheimen, so lassen sich diese Einsichten vielleicht zusammenfassen, waren keine ausgesuchten Spezialisten, hatten keine bessere Qualifikation oder Bezahlung (sie bekamen allerdings manchmal tatsächlich „Erschwerniszuschläge“ für ihre Arbeit). Sie hatten allerdings zu den üblichen Aufgaben im einheitlichen pädagogischen System der DDR noch „stabile Erziehungssituationen“ herzustellen. So empfanden sie ihre Arbeit in den Heimen tatsächlich als schwerer, auch wenn sie sich nicht grundsätzlich von den Erziehungsanforderungen in Normalkinderheimen unterschied.

4.3 Forschungsbedarf Über Erzieher und Lehrer in Normalheimen oder gar in Spezialheimen der DDR wurde bisher nur wenig geforscht. Die Erzählungen der Erzieher und Lehrer in den Heimen können nicht nur Ergänzungen zu den Heimkinderzählungen bieten. Die Analyse der Erfahrungen von Erziehern, Lehrern und anderem Heimpersonal öffnet auch den Blick für die konkrete Erziehungspraxis im DDR-Heimsystem. Die Erzieher und Lehrer verkörperten dieses System ebenso wie sie ihm auch ausgeliefert waren. Eine kritische Distanz zu den DDRSpezialheimen führte unweigerlich zum Verlassen des Systems (siehe Dossier Bohlung), aber viele blieben und versuchten zurechtzukommen und sich einzubringen. Sie sind für die Aufarbeitung der Geschichte der Spezialheime wichtig. Sie unterliegen nicht der traumatischen Erinnerungs- und Sprechblockade der ehemaligen Heimkinder von denen Agnès Arp in diesem Bericht erzählt. Die DDR-Spezialheime wurden 1990 geschlossen. Aber viele Erzieher und Lehrer arbeiten heute noch in Heimen oder Ämtern der Jugendhilfe. Für sie gilt gewissermaßen, genauso wie für die Träger, die die ehemaligen Heime übernommen haben, ein demokratisches Aufarbeitungsgebot. Bei unseren Interviews mit Erziehern und Lehrern aus Heimen der DDR stießen wir auch auf Themen- und Fragestellungen, die weiterer Forschung bedürfen. Sie beziehen sich in erster Linie auf die „Lehren“ aus dem abgeschlossenen Kapitel der Spezialheime. Wir wissen viel zu wenig über die Kontinuitäten und Brüche, die sich bei der Verwandlung der Referate der Jugendhilfe der DDR in Jugendämter Thüringens ergeben haben. Wir wissen zu wenig über die baulichen und personellen Veränderungen, die mit den Übernahmen verschiedener Heime durch verschiedene Träger entstanden sind. Und wir wissen auch zu wenig über die Praxen dieser Übernahmen (z.B. wie wurde mit den Heimakten verfahren?). Auch konkrete Hinweise aus den Interviews bedürfen weitere Aufklärung und Forschung. Ein Lehrer unseres Samples berichtet von einem Thüringer Spezialkinderheim, in das

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Jugendliche aus politisch verfolgten Berliner subkulturellen Szenen und Gruppen eingeliefert worden waren. Ab der Mitte der 1970er Jahre bildeten sich in der DDR (besonders in den Großstädten) Punks, Skinheads, Gruftis und andere Szenen heraus. In ihnen sammelten sich Jugendliche, die in der DDR wenige Integrationschancen fanden und die ihren musikorientierten Lebensstil autonom leben wollten. Dadurch gerieten sie als unsozialistische, nämlich an internationalen Musik- und Stilentwicklungen partizipierende Abweichler in den Fokus der DDR-Sicherheitsbehörden. Dieser Lehrer berichtet nun, wie wichtige Akteure („Anführer“, Dossier Gitter) dieser Szenen offenbar direkt von der Straße weg ins Thüringer Spezialkinderheim Uhlstädt (weit weg von der Großstadt Berlin) verbracht und dort der Umerziehung übergeben wurden. Diese Vorgänge bedürfen, das konnte im Rahmen des vorliegenden Berichtes nicht geleistet werden, dringend weiterer Untersuchungen. Hier liegen klare politische Einweisungsgründe vor, die rehabilitiert werden müssen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie wichtig die Einbeziehung und die Mithilfe von Erziehern und Lehrern bei der Erforschung und Rehabilitierung ehemaliger Heimkinderschicksale in der DDR ist.

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STRUKTUREN UND PROZESSE IN DEN SPEZIALHEIMEN DER DDR IN THÜRINGEN

FORSCHUNGSBERICHT FÜR DAS MINISTERIUM FÜR SOZIALES, FAMILIE UND GESUNDHEIT DES FREISTAATES THÜRINGEN

ANHANG

Jenaer Zentrum für empirische Sozial- & Kulturforschung e.V.

Inhalt

I.

Viten der Mitarbeiter dieser Studie .......................................................................... 119

II.

Übersicht SKH und JWH in den ehemaligen Bezirken Erfurt, Gera, Suhl ............. 120

III.

Übersicht der Jugendämter Thüringens ................................................................... 123

IV.

Gefundene Akten/Dokumente zu einzelnen Heimen ............................................... 126

V.

Acht Tabellen zu Alltagserzählungen und Erinnerungen an die Zeit im Spezialheim von sechzehn ehemaligen Heimkindern in Thüringen (und Sachsen)

VI.

131

Kurzbiographien von sechzehn ehemaligen Heimkindern in Spezialheimen in Thüringen (und Sachsen) ......................................................................................... 197

VII. Erzieherdossiers ....................................................................................................... 214

Anhang

I.

119

Viten der Mitarbeiter dieser Studie

Agnès Arp Geboren 1973 in Paris; Studium der Philosophie, deutsche Studien und Neuere und Neueste Geschichte. Sie legte ihre Dissertation über den industriellen Mittelstand in der DDR 2006 bei Professor Niethammer an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und an der Universität Sorbonne-Nouvelle in Paris ab. Sie lebt seit neun Jahren in Jena und hat an mehreren Forschungsprojekten über Alltagsgeschichte und Machtstrukturen in der DDR gearbeitet; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind neuere und neueste Geschichte Deutschland - DDR – Historiographie - Oral History. Kontakt: [email protected] Diana Kotte Geboren 1984 in Naumburg/ Saale; Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik und Angewandten Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit den Schwerpunkten in Netzwerktheorien, Sozialmanagement, Qualitative Netzwerk- und Beziehungsforschung, Genderforschung, Ethik der Sozial- und Verhaltenswissenschaften und neuere und neueste deutsche Literaturwissenschaft. Kontakt: [email protected] Michael Hofmann Geboren 1952 in Leipzig; Prof. Dr., studierte von 1972-75 Kulturwissenschaften an der KarlMarx-Universität Leipzig, Promotion und Habilitation in Leipzig, Umhabilitation 2006 an der TU Dresden, seit 2007 außerplanmäßiger Professor für Soziologie an der TU Dresden. Forschungsfelder sind Transformations- und Milieuforschung, Alltagsgeschichte und Genderforschung. Seit 2012 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Forschungskollegs „Postwachstumsgesellschaften“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kontakt: [email protected] Jan Kalies Geboren 1982 in Erfurt; Studium der Soziologie, Biologie (Ernährungswissenschaft) und Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Sozialisationstheorie, Subjekt- und Identitätstheorien sowie Methodologie und Methoden hermeneutischer Sozialforschung. Zurzeit Mitarbeiter am Jenaer Zentrum für empirische Sozial- und Kulturforschung e.V. Kontakt: [email protected] Karolin Kalies Geboren 1983 in Jena; Studium der Soziologie, Psychologie und Osteuropäischen Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studienschwerpunkte: Sozialisationstheorie, Medizinische Soziologie, Professionstheorie, Pädagogische Psychologie und Methoden qualitativer Sozialforschung. Kontakt: [email protected]

Anhang

120

II. Übersicht SKH und JWH in den ehemaligen Bezirken Erfurt, Gera, Suhl Bezirk Erfurt (zuständiges Staatsarchiv: Weimar) Landkreis/kreisfreie Stadt Erfurt Weimar Weimarer-Land Ilm-Kreis Eisenach/ Wartburgkreis Gotha Eichsfeld Unstrut-Hainich-Kreis

Nordhausen Sömmerda Kyffhäuserkreis

Ehemaliger Kreis in DDR Erfurt Erfurt-Land Weimar Weimarer Land Apolda Arnstadt Eisenach Eisenach-Umgebung Gotha Heiligenstadt Worbis Langensalza Mühlhausen

Zuständige Kreisarchive Stadtarchiv Erfurt Sömmerda (für Erfurter Land) Stadtarchiv Weimar Apolda

Einrichtungen D-Heim „Martin Andersen Nexö“ Erfurt

K u. SA Arnstadt (Am Plan) Bad Salzungen

JWH Ichtershausen (von `53-`73) SKH „Nikolai Ostrowski“ Wenigenlupnitz JWH „Philipp Müller“ Friedrichswerth -

Nordhausen Sömmerda Sondershausen

Nordhausen Sömmerda Sondershausen

Gotha Heilbad Heiligenstadt Mühlhausen

-

JWH „Philipp Müller“ Höngeda (Außenstelle Friedrichswerth) JWH „Phillip Müller“ Hörselgau (Außenstelle Friedrichswerth) SKH Altengottern SKH „Werner Seelenbinder“ Bad Langensalza JWH Gebesee -

Anhang

121

Bezirk Gera (zuständiges Staatsarchiv: Rudolstadt) Landkreis/kreisfreie Stadt

Ehemaliger Kreis in DDR Jena Gera Teilweise Gera-Land Eisenberg Jena-Land Stadtroda

Zuständige Kreisarchive Stadtarchiv Jena Stadtarchiv Gera Zeulenroda Camburg

Greiz

Greiz Teilweise Gera-Land Zeulenroda

Zeulenroda

Saalfeld-Rudolstadt

Rudolstadt Saalfeld

Rudolstadt Saalfeld

Saale-Orla-Kreis

Lobenstein Pößneck Schleiz

Schleiz

Jena Gera Saale-Holzland-Kreis

Einrichtungen JWH „Junge Garde“ Cretzschwitz Jugendwohn-und D-Heim Gera JWH „Neues Leben“ Bad Klosterlausnitz (geschl. 1955) JWH „Neues Leben“ Wolfersdorf JWH „Ehre der Arbeit“ Hummelshain SKH „Fritz Große“ Rausdorf JWH Triebes ? SKH u. JWH „Geschwister Scholl“ Bad Köstritz SKH „Erich-Weinert“ Hohenleuben (JWH „Maxhütte“ Bergfried-Saalfeld ? SKH „Otto Langguth“ Paulinzella ?) SKH „Georg-Schwarz“ Uhlstädt SKH „Werner-John“ Bad Blankenburg SKH „Steigerhaus“ Saalfeld -

Anhang

122

Bezirk Suhl (zuständiges Staatsarchiv: Meiningen) Landkreis/ kreisfreie Stadt Suhl Wartburgkreis Hildburghausen

Ilm-Kreis Schmalkalden-Meiningen Sonneberg Saalfeld-Rudolstadt

Ehemaliger Kreis in DDR Suhl Kreis Suhl Bad Salzungen Hildburghausen

Zuständige Kreisarchive Stadtarchiv Suhl

Ilmenau Schmalkalden Meiningen Sonneberg Südl. Teil von Neuhaus Nördl. Teil von Neuhaus

Arnstadt (Ritterstr. 14) Meiningen K u. SA Schmalkalden Sonneberg

Bad Salzungen Hildburghausen

Neuhaus am Rennweg

Einrichtungen JWH „Krayenburg“ Tiefenort JWH „Rudolf Harbig“ Röhmhild (geschlossen `61) (SKH „Karl Liebknecht“ Marisfeld?) D-Heim Schmiedefeld (Lichtetal)

Anhang

123

III. Übersicht der Jugendämter Thüringens Heutiger Landkreis

Ehemaliger DDR Bezirk und Kreis

Altenburger Land

Bezirk Leipzig, Kreise Altenburg und Schmölln

Eichsfeld

Bezirk Erfurt, Kreis Heiligenstadt und Kreis Worbis

Eisenach (kreisfreie Stadt)

Bezirk Erfurt, kreisfreie Stadt Eisenach

Erfurt (kreisfreie Stadt)

Bezirk Erfurt, kreisfreie Stadt Erfurt

Gera (kreisfreie Stadt)

Bezirk Gera, kreisfreie Stadt Gera

Gotha

Bezirk Erfurt, Kreis Gotha

Greiz

Bezirk Gera, Kreise Gera-Land, Greiz und Zeulenroda

Hildburghausen

Bezirk Suhl, Kreis Hildburghausen

Ilm-Kreis

Setzt sich zusammen aus Teilen des ehem. Bezirk

Zuständiges Jugendamt Lindenaustr. 9 04600 Altenburg Tel.: 03447 / 586759 Friedensplatz 8 37301 Heilbad Heiligenstadt Tel.: 03606 / 6505100 Markt 2 99817 Eisenach Tel.: 03691 / 670772 Steinplatz 1 99085 Erfurt Tel.: 0361 / 6554701 Gagarinstr. 99/101 07545 Gera Tel.: 0365 / 8383401 18.-März-Str. 50 99867 Gotha Tel.: 03621 / 214301 Dr.-Rathenau-Platz 11 07973 Greiz Tel.: 03661 / 876367 Wiesenstr. 18 98646 Hildburghausen Tel.: 03685 / 4450 Schönbrunnstr. 8

Zuständiges Kreisarchiv

Altenburg

Heilbad Heiligenstadt

Stadt- und Kreisarchiv Eisenach

Stadt- und Kreisarchiv Erfurt

Stadt- und Kreisarchiv Gera

Gotha

Zeulenroda

Hildburghausen Arnstadt (zu beachten: für den Altkreis

Anhang

124 Suhl, Kreis Ilmenau, sowie Bezirk Erfurt, Kreis Arnstadt

Jena (kreisfreie Stadt)

Bezirk Gera, kreisfreie Stadt Jena

Kyffhäuserkreis

Bezirk Erfurt, Kreis Sondershausen

Nordhausen

Bezirk Erfurt, Kreis Nordhausen

Saale-Holzland-Kreis Bezirk Gera, Kreise Jena-Land, Stadtroda, Eisenberg

Saale-Orla-Kreis

Bezirk Gera, Kreise Lobenstein, Pößneck, Schleiz

Saalfeld Rudolstadt

Setzt sich zusammen aus Teilen Bezirk Gera, Kreise Saalfeld, Rudolstadt sowie Bezirk Suhl, nördlicher Teil des Kreises Neuhaus

SchmalkaldenMeiningen

Bezirk Suhl, Kreise Schmalkalden und Meiningen

Sonneberg

Bezirk Suhl, Kreis Sonneberg und südlicher Teil des Kreises Neuhaus

Suhl (kreisfreie Stadt)

Bezirk Suhl, kreisfreie Stadt Suhl

Sömmerda

Bezirk Erfurt, Kreise Sömmerda und Erfurt-Land

99310 Arnstadt Tel.: 03628 / 738421 Saalbahnhofstr. 9 07703 Jena Tel.: 03641 / 492706 Johann-Karl-Wezel-Str. 7 99706 Sondershausen Tel.: 03632 / 741618 Behringstr. 3 99726 Nordhausen Tel.: 03631 / 911510 Im Schloss 07607 Eisenberg Tel.: 036691 / 700 Oschitzer Str. 4 07907 Schleiz Tel.: 03663 / 488945 Rainweg 81 07308 Saalfeld Tel.: 03671 / 823641 Obertshäuser Platz 1 98617 Meiningen Tel.: 03693 / 485614 Bahnhofstr. 66 96515 Sonneberg Tel.: 03675 / 871212 Marktplatz 1 98527 Suhl Tel.: 03681 / 7420 Wielandstr. 4

Ilmenau gibt es ein separates Kreisarchiv in Arnstadt!!!) Stadt- und Kreisarchiv Jena

Sondershausen

Nordhausen

Camburg

Schleiz Kreisarchiv Saalfeld, Kreisarchiv Rudolstadt, sowie Kreisarchiv Neuhaus am Rennweg Stadt- und Kreisarchiv Schmalkalden, Kreisarchiv Meiningen

Sonneberg

Stadt- und Kreisarchiv Suhl Sömmerda

Anhang

125

Unstrut-HainichKreis

Bezirk Erfurt, Kreise Langensalza und Mühlhausen

Wartburgkreis

Setzt sich zusammen aus Teilen des Bezirkes Erfurt, Kreis Eisenacher Land, sowie des Bezirkes Suhl, Kreis Bad Salzungen

Weimar (kreisfreie Stadt)

Bezirk Erfurt, kreisfreie Stadt Weimar

Weimarer Land

Bezirk Erfurt, Kreise Weimarer-Land und Apolda

99610 Sömmerda Tel.: 03634 / 354133 Lindenbühl 28 99974 Mühlhausen Tel.: 03601 / 802285 Erzberger Allee 14 36433 Bad Salzungen Tel.: 03695 / 617101 Schwanseestr. 17 99423 Weimar Tel.: 03643 / 7620 Bahnhofstr. 28 99503 Apolda Tel.: 03644 / 540541

Mühlhausen

Bad Salzungen

Stadtarchiv Weimar

Apolda

Anhang

126

IV. Gefundene Akten/Dokumente zu einzelnen Heimen Heim JWH Hummelshain

JWH Wolfersdorf

Akten/ Unterlagen

Zeit

Archiv

* Überprüfungsberichte * Auswertung der Ludwigsfelder Tagung mit den Kreisschulräten und den Jugendwerkhofleitern * Überprüfung der Jugendwerkhöfe * Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Haushaltspläne * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten) * Findbuch Archiv (Chronik, Biographien von Heimleitern, Tagebuch des Erzieher vom Dienstes, Zeitungsartikel, personenbezogene Daten, Vorträge, Korrespondenz mit Heim in Bulgarien, Kooperationsvereinbarungen mit Betrieben und Unternehmen usw.)

* ohne Datum, ???, 5.5.1961 * 24.4. 1961

*Staatsarchiv Rudolstadt

* von ca. 1948 - 1990

* Kreisarchiv SaaleHolzland-Kreis (Camburg)

* Bericht über die Lage am JWH * Baupläne, Bauvorhaben * Überprüfungsberichte * Auswertung der Ludwigsfelder Tagung mit den Kreisschulräten und den Jugendwerkhofleitern * Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Findbuch: allgemeine Verwaltung (Statistiken, Nachtwachenorganisation, Baumaßnahmen, etc.), Personalangelegenheiten (Heimkinder: Personenunterlagen, Entlassungen, Isolierungsübersicht/ Arrestbuch, Ausbrüche, Entwicklungsbögen, Übersicht über tägliche Kontrollen, etc.; Erzieher/ Heimpersonal: Bewerbungen, Arbeitszeugnisse, Führungsberichte etc.), Kooperationsvereinbarungen mit Betrieben und Unternehmen,

* 21.10.2968 * ??? * ohne Datum, ???, 5.5.1961 * 24.4.1961

*Staatsarchiv Rudolstadt

* 5.5.1961 * von 1973, 1975 sowie 1985 * 1971, 1972, 1977, 1978 * 1972 - 1974, 1977

* von 1973, 1975 sowie 1985 * von 1948 bis 1990

Anhang

127 Bildung und Freizeitgestaltung (Schule: Ausbildungsmappen, Lernaufträge, Arbeitsberichte, Klassenbücher etc.; Freizeit: Organisation von Aktivitäten, Informationen, Belehrungen etc.), Gruppenaktivitäten (Gestaltungspläne/ Tages-, u. Wochenpläne, Belobigungen usw.) * Kontrollmitteilung nach Finanzrevision * Haushaltskontrolle * Haushaltspläne * Einschätzung über Vorkommnisse im JWH („staatsfeindliche“ Handlungen Jugendlicher, körperliche Züchtigung) * Überprüfung des JWH durch Mitglieder des Aktivs „sozialistische Rechtspflege * Kurzbericht über die Tätigkeit des Aktivs „sozial. Rechtspflege“ am 19.09.1963 (u.a. Untersuchung des JWH) * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten)

* 06.06.1984 * 02.04.1986 * 1971, 1972, 1977, 1978 * 12.03.1963

JWH Bad Klosterlausnitz

* Überprüfungsbericht

* ???

SKH Bad Köstritz

* Informationsbericht über Anwendung körperlicher Züchtigungen * Bericht über Entlassung von Erziehern und Ersetzung des Heimleiters wegen Sittlichkeitsvergehen * Anschreiben betr. Gesetzesverletzung durch leitende Funktionäre (Unterschlagung und Veruntreuung von Geldern) * Überprüfungsbericht * Auswertung der Ludwigsfelder Tagung mit den Kreisschulräten und den Jugendwerkhofleitern *Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Revisionsprotokolle * Stellenplan * Haushaltspläne * Projektierung Baureparaturmaßnahmen Heizung/ Sanitär (beinhaltet u.a. räumliche Gliederung des Geländes)

* 25.9.1963

* 03.09.1963 * 30.09.1963 * 1972 - 1974, 1977

* 3.10.1963 * ??? * ??? * 24.4.1961 * von 1973, 1975 sowie 1985 * 15.07.1982, 05.05.1986 * 1981 * 1971, 1977, 1978 * 28.10.1982

* Staatsarchiv Rudolstadt * Staatsarchiv Rudolstadt

Anhang

SKH Bad Blankenburg

128 * Antrag auf Stellenplankommission (problematisches Verhältnis Meister - Lehrling, deshalb suchen Meister, aus dem Heimbetrieb raus zu kommen = Planstellen nicht besetzt) * Kurzbericht über die Tätigkeit des Aktivs „sozial. Rechtspflege“ am 19.09.1963 (u.a. Untersuchung des SKH) * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten) * Antrag auf Planstellenerweiterung und Stellungnahme * Antrag auf Lohngruppeneinstufung * Findbuch (u.a. Heimkinderakten, Tagebücher des Erziehers vom Dienst usw.)

* 04.09.1985

* Informationsbericht über Anwendung körperlicher Züchtigungen * Bericht über Besuch des Heimes * Bericht über Mängel im Heim * Schriftverkehr unterschiedlicher Institutionen und Organisationen über die Zuständigkeit (Gemeinde, Jugendhilfe * Organisation und Durchführung einer Volksbefragung in Räumlichkeiten des Heimes * Tagesplan * Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Manuskript/ Analyse: Die Erziehung im Kinderheim Blankenburg (inkl. Tagesplan) * Aktionsprogramm anlässlich der 2. Parteikonferenz * Kampfprogramm 52/53 * Abschlussbericht über die Erfüllung des Kampfprogrammes * Stellenplan * Haushaltspläne * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten) * Neubauplanung Unterkünfte für SKH (beinhaltet Begründung, wie bauliche Mängel, schlechte Hygiene und sanitäre Anlagen)

* 25.9.1963

* 30.09.1963 *1972 - 1974, 1977 * 27.10. und 08.11.1971 * 15.12.1971 * ???

* 26.1.1949 * 19.6.1950 * 1948 – 1952

* ??? (irgendwann zwischen `48 und `52) * ??? (irgendwann zwischen `48 und `52) * von 1973, 1975 sowie 1985 * ohne Datum * 1952 * 1952 * 1953 * 1981 * 1977, 1978 * 1972 - 1974, 1977 * ???

* Staatsarchiv Rudolstadt

Anhang

129 * Informationen (Bericht über die Beschädigung des Isolierraumes im Heim durch einen Jgdl.)

SKH Rausdorf

Jugendwohn- und Durchgangsheim Gera

* 19.06.1965

* Untersuchungen über die Zustände im Heim (Heim gehörte anfänglich noch zu Berlin = viele Konflikte wegen Zustände und Zuständigkeitsgeplänkel) * Antrag Volkspolizei auf Überprüfung des Heimes * Inspektionsbericht über die Kontrolle im Kinderheim * Sammelbeschwerde von Eltern nach Jugendweihefeier über die Zustände, insbesondere der schlechten Hygienebedingungen und der Gewalttaten der Erzieher * Berichte über die Zustände * Informationsbericht über die Angliederung einer Durchgangsstation * Jahresplan für das Schuljahr 54/55, sowie für das Schuljahr 60/61 (Erziehung, Vereinbarungen, Vorhaben, Tages-, Wochen-, Jahrespläne) * Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Stellenplan * Haushaltspläne * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten)

* 1948 bis in die `50er

* Niederschrift über Besprechung im Jugendwohn- und Durchgangsheim Gera (Kripo-Vernehmung von Erziehern) * Jahresarbeitsplan 60/61 (inklusive Tagespläne) *Bericht über Aufgreifen entwichener Jugendlicher * Stellungnahme des Heimleiters zu der Entweichung der Jugendlichen * Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. *Kampfprogramm 52/53 * Bericht über die Realisierung des Kampfprogrammes von 52/53

* 1957

* Staatsarchiv Rudolstadt

* 1957 * 4.3.1957 * Mai 1957

* u.a. Feb. 1958 und 1959 * 1959 * 54/55; 60/61

* von 1973, 1975 sowie 1985 * 1981 * 1977, 1978 * 1972 - 1974, 1977

* 10.1.1961 * ??? * ??? * von 1973, 1975 sowie 1985 * 1952 * ???

* Staatsarchiv Rudolstadt

Anhang

SKH Hohenleuben

SKH Saalfeld

130 * Stellenplan * Haushaltspläne * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten) * Probleme Stellenplan Küche * Antrag auf Umzug in neues Gebäude, sowie Antwort * Diskussionsbeitrag zu Tagung der Stadtverordneten * Beschluss über Hauptinstandsetzung Hygieneanlage * Beschlussvorlag Bereitstellung von Mitteln und Baukapazität für Trennung Jugendwohn- und Durchgangsheimes *Eingabe gegen die Form der Bebauung des Stadtbezirkes

* 1981 * 1971, 1972, 1977, 1978 * 1972 - 1974, 1977

* Statistiken über Kapazitäten, Qualifikation der Erzieher, Ausbildung der Jgdl. * Revisionsprotokolle * Jahresarbeitsplan 53/54 * Protokoll der BGL-Sitzung (Beratung über Disziplinarverfahren gegen Erzieher aus SKH wegen körperlicher Züchtigung) * Stellenplan * Haushaltspläne * Personalzahlen und Stellenpläne (beinhaltet u.a. Gehaltsangaben und Stundenarbeitszeiten) * Veränderung des Stellenplanes für 1972 * Geschichte des Heimes in einem Jahrbuch mit Text von Kunert: „Vom Rettungshaus zur sozialistischen Bildungs- und Erziehungsstätte“ 1950 - 1982

* von 1973, 1975 sowie 1985

* Klassenbücher verschiedener Jahrgänge *Gruppenbücher verschiedener Jahrgänge * diverse Schülerakten (alphabetisch gelistet) * Dienstantrittsmeldungen, Namensliste päd. Mitarbeiter, deren Qualifikation, Prämierungen, Entlohnungen, Funktionspläne für techn. Personal * Sammelakten (Korrespondenzen, Unfallmeldungen, Finanzhaushalt, Schriftverkehr mit anderen Einrichtungen und Be-

* 1983 - 1990 * 1983 - 1990 * 1984, 1986 - 1989 * bis 1990

* 03.11.1978 * 07.01.1955; 17.01.1955 * 30.05.1961 * 06.11.1961 * 10.10.1963

* Stadtarchiv Gera

* 30.08.1971 * Staatsarchiv Rudolstadt

* 14.04.1982, 27.03.1986 * 15.09.1953 * 23.06.1964

* 1981 * 1977, 1978 * 1972 - 1974, 1977, 1978 * 17.08.1971 * 1984

* 1983 - 1990

* Kreisarchiv Greiz (Zeulenroda) * Kreisarchiv Saalfeld/Rudolstadt

Anhang

131 trieben u.a.) *Korrespondenz mit Rat des Kreises und Rat des Bezirkes (Anträge, Belegmeldungen, Stellungnahmen, Haushaltspläne, Eingabebearbeitungen, Beschwerden der Heimleitung, Objektbegehungen, Personalangelegenheiten Arbeitszeitregelungen u.a.) * Jahresarbeitspläne, Analysen, Dienstberatungsprotokolle, Wochenarbeitspläne, Belehrungen * Statistiken (Belegmeldungen, -zahlen, Personalpläne usw.)

* 1984 - 1990

* bis 1990

Anhang

V.

132

Acht Tabellen zu Alltagserzählungen und Erinnerungen an die Zeit im Spezialheim von sechzehn ehemaligen Heimkindern in Thüringen (und Sachsen).

Tabelle 1: Übersicht über das Sample der ehemaligen Heimkinder in Spezialheimen.

136

Tabelle 2: Erzählen, Erinnern und Verdrängen über die Jahre im Spezialheim

139

Tabelle 3: Der erste Tag im Spezialheim: Erinnerungen, Einweisungsalter, -beteiligten, -grund.

149

Tabelle 4: Alltagserinnerungen: Heimpersonal, Freundschaft, körperliche Arbeit und Freizeitaktivitäten.

158

Tabelle 5: Erinnerte Gewalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen oder wie wird die Kollektiverziehung beschrieben?

166

Tabelle 6: Die Entlassung aus dem Spezialheim: Erinnerung, Anpassungsprobleme und Stigmatisierungserfahrung.

179

Tabelle 7: Berufsausbildung und erste Berufsstelle nach dem Heimaufenthalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen.

188

Tabelle 8: Bewertung und Thematisierung der Jahre im Spezialheim im Verhältnis zu heutigen Stigmatisierungsgefühlen und psychischer Stabilität.

189

Anhang

133 Legende für die Abkürzungen in den Tabellen: ALG: Arbeitslosengeld Bz: Bezirk EU: Erwerbsunfähig DH: Durchgangsheim FA: Facharbeiter GJWH: Geschlossener Jugendwerkhof Torgau GST: Gesellschaft für Sport und Technik JHaus: Jugendhaus oder Gefängnis für Jugendliche JHeim: Jugendheim JF: Jugendfürsorger JWH: Jugendwerkhof KH: Kinderheim KMS: Karl-Marx-Stadt MA: Mitarbeiter PB: Privatbetrieb PTBS: Posttraumatische Belastungsstörung SKH: Spezialkinderheim TFA: Teilfacharbeiter VEB: Volkseigener Betrieb Legende für die Transkriptionszeichen in den Zitaten der Interviews: I: Agnès Arp oder Ronald Gebauer XX: Interviewpartner: seine Initialen NEIN Laut in Relation zur üblichen Sprecherlautstärke, bei wirklich deutlichem Lauterwerden nein leise, geflüstert nein Betonung, bei wirklich deutlicher Betonung Ja=ja schneller Anschluss BrauAbbruch eines Wortes Abgebrochen, unterbrochen, Satz unvollständig. (3) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert, ab 2 Sekunden (...) Auslassungen wegen Unverständlichkeit @nein@ lachend gesprochene Äußerung

Anhang

134 @(.)@

Auflachen ((lachend)) Handlungen des Interviewten, alles was man aus der Tonaufnahme nicht erkennt: Lachen, weinen, seufzen, sehr laut, sehr leise, betont, Pause, stöhnen, husten – mindestens diese Angaben sollten gemacht werden, evtl. eigene Kommentare hinzusetzen, wie Kaffeepause, Enkel kommt hinzu u. Ä. m. Anmerkungen des Interviewers im Redefluss

//…//

Legende für die Zitierweise der Interviews in den Fußnoten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Interview mit KB (Kristin Bäumelein) von AA (Agnès Arp) am 24.02.2011 Interview mit SH (Silvia Hasel) von AA am 15.02.2011 Interview mit GK (Gregor Kastanie) von AA am 02.03.2011 Interview mit GP (Georg Platane) von AA am 18.02.2011 Interview mit TM (Tristan Murau) von AA am 16.03.2011 Interview mit EA (Emil Andersen) von AA am 28.04.2011 Interview mit ZI (Zora Ilex) von RG (Ronald Gebauer) am 28.03.2011 Interview mit SC (Siegfried Caktus) von AA am 26.11.2010 Interview mit SU (Sebastian Uhl) von AA am 18.03.2011 Interview mit SB (Sophie Blatt) von AA am 14.12.2010 Interview mit SH (Sascha Hartriegel) von RG am 01.04.2011 Interview mit SM (Sabine Mirabelle) von RG am 10.03.2011 Interview mit BS (Bert Schneider) von AA am 27.12.2010 Interview mit KA (Karin Ast) von AA am 15.03.2011 Interview mit RM (Robin Mistel) von AA am 27.05.2011 Interview mit SR (Simon Rüster) von AA am 14.04.2012

Anhang

135

Index: Interviewpartner, alphabetisch geordnet: Andersen ................................................................................................................................................... 136, 142, 150, 159, 168, 180, 188, 190 Ast .................................................................................................................................................................. 137, 145, 153, 160, 170, 182, 188, 192

Bäumelein ................................................................................................................................................. 136, 139, 149, 158, 166, 179, 188, 189 Blatt .............................................................................................................................................................. 137, 144, 151, 160, 169, 181, 188, 191 Caktus .......................................................................................................................................................... 137, 143, 151, 159, 168, 180, 188, 191

Hartriegel .................................................................................................................................................. 137, 144, 152, 160, 169, 181, 188, 192 Hasel............................................................................................................................................................. 136, 139, 149, 158, 166, 179, 188, 189

Ilex................................................................................................................................................................. 136, 142, 150, 159, 168, 180, 188, 191

Kastanie ..................................................................................................................................................... 136, 140, 149, 158, 166, 179, 188, 189

Mirabelle ................................................................................................................................................... 137, 145, 152, 160, 169, 182, 188, 192 Mistel ........................................................................................................................................................... 138, 146, 153, 160, 171, 183, 188, 193 Murau .......................................................................................................................................................... 136, 141, 150, 159, 167, 179, 188, 190

Platane ........................................................................................................................................................ 136, 140, 150, 159, 167, 179, 188, 189

Rüster .......................................................................................................................................................... 138, 147, 153, 161, 171, 183, 188, 193

Schneider .................................................................................................................................................. 137, 145, 152, 160, 170, 182, 188, 192

Uhl ................................................................................................................................................................. 137, 143, 151, 159, 169, 181, 188, 191

Anhang

136

Tabelle 1: Übersicht über das Sample der ehemaligen Heimkinder in Spezialheimen. Pseudonym und Geburtsjahr

Alter im Heim

Dauer des Heimaufenthaltes in Jahren

Eingewiesen in

Orte

Getrennt bzw. Geschieden

Kristin Bäumelein 1937

13 -17

4

KH JWH

Greiz-Obergrochlitz, Hummelshain, Bz Gera

Nein

Silvia Hasel 1943

16 - 17

8 Monate

JWH

Crimmitschau, Bz KMS

Nein

Selbsteinschätzung der Gesundheit im Fragebogen 1 und im Interview Zufriedenstellend. Depressionen, Suizidversuche 1994 und 2008. In psychologischer Behandlung. Eher gut, altersbedingt. Zufriedenstellend.

Gregor Kastanie 1943

11 - 15

4

SKH

Bad Blankenburg, Bz Gera

Nein

Georg Platane 1943

15 - 16

1

DH

Kraftsdorf, Bz Gera

Nein

Tristan Murau 1958

11 - 18

7

SKH SKH Internat

Emil Andersen 1958

Zora Ilex 1959

6 - 12

0-3 u. 15-18

6

6

KH SKH DH KH KH Dauerheim DH JWH

Altengottern, Bz Erfurt Bad Blankenburg, Bz Gera Apolda, Bz Erfurt; Moritzburg, DH, Bz Dresden; Holzdorf, Mühlhausen, Bz Erfurt Weida, Gera, Hummelshain, Bz Gera

2001 musste er sich wegen eines Herzinfarktes einer Bypass-Operation unterziehen. Bis heute ist er diesbezüglich körperlich eingeschränkt. Gut. Altersbedingt. 1969 hatte er einen Burn-Out und wechselte die Arbeitsstelle, die ihm nach dem Heim angeordnet worden war. Nicht gut.

Ja Depression, Dissoziationen. 2

Nicht gut. Nein 2004 Unfall. Sprunggelenk gebrochen, 20 OP's

Nein, verwitwet

ZI wurde nach dem Unfalltod ihres Ehemannes sehr krank, erlebte mehrere schwerwiegende Zusammenbrüche. Heute hat sie die Pflegestufe II und ist gehbehindert. Aber mental ist sie im Besitz ihrer vollen Fähigkeiten.

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

137

Alter im Heim

Siegfried Caktus 1960

7 - 10 u. 12 - 15

Sebastian Uhl 1964

10 - 13 u. 14 - 16

Dauer des Heimaufenthaltes in Jahren

Eingewiesen in

Orte

Getrennt bzw. Geschieden

6

SKH DH SKH

Blankenburg, Bz Magdeburg Schweizer Höhe in Jena Bad Blankenburg, Bz Gera

Nein

Gera, Annaberg-Buchholz, Bz KMS; Wolfersdorf, Torgau, Wolfersdorf, Bz Gera

Nein

4,5

Sophie Blatt 1965

9-10 u. 14 -18

5 Jahre und 5 Monate

Sascha Hartriegel 1967

12 – 14 u. 16 - 18

5

Sabine Mirabelle 1967

Bert Schneider 1970

Karin Ast 1971

16 - 17

11 - 18

14 - 18

1 Jahr und 10 Monate

7

4

DH SKH JWH GJW JWH KH DH JWH DH JWH GJWH JWH

SC sieht aber schlecht. An einer Stelle spricht er offen über seine Probleme: Psychisch zerstört, demoralisiert, gesundheitliche Schäden und sozial schikaniert.

Zufriedenstellend.

Schlecht, Depression und PTBS. Heldburg, Schmiedefeld; Bz Suhl; Gebesee, Torgau, Gebesee, Bz Erfurt

Ja

KH JWH

Tröbnitz, Bz. Gera Crimmitschau, Bz KMS

Nein

DH JWH

Schmiedefeld, Bz Suhl Wittenberg, Bz Magdeburg

Nein

Rausdorf, Jena Friedensberg, Bz Gera; Halle, Freital, Torgau, Bz Dresden

Ja

SKH KH JHaus JWH GJWH KH Psy JWH GJWH JWH JHeim

Selbsteinschätzung der Gesundheit im Fragebogen 1 und im Interview Zufriedenstellend.

Erfurt, Reiboldsgrün, Bz Erfurt; Crimmitschau, Torgau, Crimmitschau, Wittgensdorf, Bz KMS

Sie ist bis heute suizidal und depressiv. Insgesamt sind die psychischen Folgeschäden von Kindheit und Heimzeit massiv. In psychologischer Behandlung. ?

Sie gibt ihr Befinden mit "nicht gut" an. Sie ist nicht in der Lage, voll zu arbeiten. In psychiatrischer Behandlung, körperliche Beschwerden, v. a. mit der Schilddrüse. Nicht gut wegen Knieproblemen, eine Folge von dem Aufenthalt in Torgau. Im Fragebogen „Gut.“ Ja

Borderline, Suizidversuch 2003. In psychologischer Behandlung.

Anhang

138

Pseudonym und Geburtsjahr

Alter im Heim

Dauer des Heimaufenthaltes in Jahren

Eingewiesen in

Orte

Getrennt bzw. Geschieden

Robin Mistel 1972

16 - 17

1

JWH

Höngeda, Bz Erfurt

Ja

4

SKH DH KH

Bad Langensalza, Bz Erfurt; Hessen

Simon Rüster 1976

10 - 16

Selbsteinschätzung der Gesundheit im Fragebogen 1 und im Interview Zufriedenstellend. Probleme mit der Wirbelsäule und emotionale Wunden, die nicht heilen. Zufriedenstellend.

Ja

Im Interview bemerkt er diesbezüglich nichts. Erfahrungen mit Gefängnistherapeuten seien niederschmetternd gewesen.

1

Antwort auf die Frage: „Wie würden Sie ihren Gesundheitszustand beschreiben (dauerhaft, nicht momentan?)“: sehr gut; gut, zufriedenstellend; nicht gut, schlecht.

2

„Ich hab ja Ihnen vorhin hier versucht zu erklären. Ich bin ja aus Grund dieser ähm Dissoziation werde ich Depression äh depressiv, weil ich mich isoliere, zurückziehe, weil ich kein Vertrauen habe, unsicher bin, ja und da dann komm ich in diese Depression rein. Aber ich finde auch irgendwann wieder raus. Es sei denn, ich hab 'ne Kurzschlussreaktion, wenn ich dann gar nicht mehr will. (4) Und das leider sehr oft.“, Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 01:10:58.

Anhang

139

Tabelle 2: Erzählen, Erinnern und Verdrängen über die Jahre im Spezialheim. Pseudonym und Geburtsjahr

Kristin Bäumelein 1937

Heimtypen

KH, JWH

Alter im Heim

13-18

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Ja, häufig.

Spontan und enthusiastisch, wenn auch zwischendurch konfus und widersprüchlich.

Ca. 80 Min. von 170 Min oder 2 St. 50 Min.

Keine Erwähnung

Ca. 36 Min. von 3 St. 34 Min.

Keine Erwähnung

Auf Nachfrage und sehr konfus.

Silvia Hasel 1943

JWH

16-17

Sehr selten. Sie hat kein Bedürfnis dazu.

Heute wolle sie sich gar nicht mehr daran erinnern. Sie habe den JWH auch gerne aus ihren Lebenslauf streichen wollen. Sie verbindet mit dem JWH v.a. das Stigma Kriminelle: „Du kommst dann immer in die Strecke klauen.“ Zum Beispiel habe man in der Kfz-Werkstatt vermutet sie bereichere sich, dabei habe ihr Mann ihr Kleidung geschenkt und ein Haus geerbt. 1

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Rückblickend ist die Zeit im JWH das Beste in ihrem Leben. Im Interview meidet sie das Thema Gewalt und relativiert ihre Wahrnehmung dadurch, dass der JHW für sie ein Riesensprung nach vorne bedeutete. Sie kritisiert auch die aktuelle vernichtende Berichterstattung über DDRHeimerziehung. Feststellung von verbalen Defiziten im Interview. Ihre Sprechweise ist durchgängig ausdrucksschwach. Ist es konstitutiv ihrer Persönlichkeit, oder zum Teil auf schlechte Förderung im Heim bzw. auf traumatische Erlebnisse zurückzuführen? Die Frage stellt sich, ob Sprachlosigkeit darüber herrscht, oder ob sie generell Probleme hat, eine strukturierte Narration zu liefern. U.U. lässt sich zeigen, dass sie psychologisch so nachhaltig geschädigt ist, dass sich das auf eine umfassende gestörte biographische Narration auswirkt.

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

Gregor Kastanie 1943

Georg Platane 1943

140

Heimtypen

SKH

DH

Alter im Heim

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

11-15

Kein Redebedürfnis. Familie weiß es, aber die Nachbarschaft nicht.

15-16

Das Thema wird häufig in seiner Familie angesprochen, und nie außerhalb. Er hat Redebedürfnis. Kontakt mit Manfred May

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Er erzählt sehr gern und deutlich über ausgewählte Episode, lässt aber sehr viele Aspekte unausgesprochen.

Seine Narration ist sehr deutlich, wenn er z. B. um Gewalt geht, die er im Heim beobachtet oder erlebt hat. Die Heimaussagen konzentrieren sich um seine Rolle als beschützender „großer Bruder“ für die kleineren Heimkinder. Tagesabläufe werden nur auf Nachfrage geliefert und insgesamt nimmt das Heim in seiner Narration keinen großen Raum ein, obgleich seine Motivation in der Hilfe zur Aufklärungsarbeit lag. Dieser Interviewpartner hat von sich sehr emotional und zusammenhängend seinen Lebenslauf geschildert, ohne dass Fragen gestellt werden mussten.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Ca. 20 Min. von 2St.12 Min.

Keine Erwähnung

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Kastanie beschreibt seine Zeit im Heim als die schönste Zeit seines Lebens. Seine Narration zielt aber nur auf ausgewählte Episoden wie Freizeiterlebnisse. Er beantragt keine Rehabilitation.

Das schlimmste im Leben sei die Zeit im Heim.

Ca. 26 Min von 3St. 14 Min

Keine.

„Das wünsch ich keim Kind. (3) Das is für mich schon sehr hart gewesen und das wird och mei Gedanke immer bleiben. Und sonst hätte ich mich bei ihnen nich gemeldet, hätte beim Herr May nich gemeldet, wenn ich kein Intresse an der Sache hätte.“

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

141

Heimtypen

Alter im Heim

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen

Nein, die Akte ist vernichtet worden. Dies hemmte lange sein Rehabilitierungsprozess

Ja, er hat vieles vergessen. Andere Gefühle wie Wut und Trauer überlappen die Erinnerungen. Erst durch den bürokratischen Akt der Rehabilitation sieht er sich imstande, seine Schuldgefühle abzulegen.

Kaum, sei es aus Scham mit Bekannten oder aus Missverständnisse mit Familie, die seine Aufklärungsbedürfnisse nicht teilt.

Tristan Murau 1958

SKH SKH Internat

11-16

Mit der Partnerin kann er nicht über seine Heimerlebnisse sprechen. Er schämt sich dafür und sieht die Schuld bei sich, weil er nicht gesellschaftskonform gewesen ist. Mit Therapeuten hat er schlechte Erfahrungen gemacht, dort wurde er nicht verstanden und der Therapeut ging davon aus, dass das Heim gegenüber der familiären Situation eine Verbesserung für ihn gewesen sein muss. Kontakt mit Manfred May

Auf Nachfrage, eher konfus. Erinnerungsschwierigkeiten im Allgemeinen, jedoch im Besonderen bei Nachfragen zur Heimerfahrung. Er weicht konkreten Fragen (bewusst/unbewusst??) aus. Der sexuelle Missbrauch im Heim und die Art seiner erzählten Darstellung (kühl, abrupt, kurz) deuten auf die Verdrängung der Zeit im Heim hin.

Ca. 32 Min. von 72 Min., weniger als die Hälfte

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

Emil Andersen 1958

Zora Ilex 1959

142

Heimtypen

KH SKH KH KH

Dauerheim DH JWH

Alter im Heim

6-12

0-3 und 15-18

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

E.A. hat das Bedürfnis, über seine Erfahrungen im Heim zu sprechen, dennoch wird es in seiner Familie und unter seinen Verwandten kaum thematisiert.

Damals mit ihrem Mann und heute im Rahmen ihres sozialen Engagements erzählt sie auch, dass sie ein Heimkind gewesen ist.

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich) Insgesamt sind seine Heimerzählungen wenig illustrativ, er berichtet keine Abläufe oder alltägliche Situationen. In Anekdoten kommen lediglich Highlights seiner Heimaufenthalte zum Ausdruck, wie Ausflüge oder besondere Unternehmungen. Diese werden meist ins Feld geführt, um die zuvor angeschnittenen negativen Themen zu relativieren. Generell betont er, dass negative Erinnerungen irgendwann verdrängt werden.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Ca. 52 Min. von 2 St. 29 Min.

Die Jugendhilfe Akte ist laut den Jugendämter Weimar und Mühlhausen verschwunden.

Ca. 52 Min. von 113 Min, weniger als die Hälfte

Nein

Seine Erzählweise wird unstrukturiert und stockend, als er sich zum Thema der Aufarbeitung positionieren soll, insbesondere auch, als er von seinen eigenen Missbrauchserfahrungen erzählt oder vielmehr nur Andeutungen macht. Selbst hier nimmt er das Heim in Schutz.

Auf Nachfrage, deutlich, sie zögert wenig, ist dabei weinerlich.

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Für ihn ist eine wichtige und erstrebenswerte Strategie, sich das Positive zu erhalten, indem er beispielsweise in Internetforen mit Ehemaligen Kontakt hält oder in Holzdorf spazieren geht, um das Negative zu vergessen. Diese Strategie stößt allerdings an ihre Grenzen, wie er selbst einräumt, wenn die negativen Erinnerungen durch äußere Einflüsse wieder hochkommen, also insbesondere durch die mediale Aufmerksamkeit auf das Thema der DDR-Kinderheime. Vermutlich spricht er deshalb auch so abwertend über Betroffene, die an die Öffentlichkeit gehen. Er ist bemüht, das Heim als Institution oder System nicht negativ darzustellen, sondern negative Erfahrungen in Form von Gewalt oder Demütigungen auf den Aspekt menschlicher Verhaltensweisen zu beziehen. Nein. Sie betont aber, dass es noch vieles in ihrem Leben aufzuklären gibt.

Anhang

143

Pseudonym und Geburtsjahr

Heimtypen

Alter im Heim

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Siegfried Caktus 1960

SKH KH SKH

7-10 und 12-15

SC empfindet eine starke Stigmatisierung und möchte nicht öffentlich über die Jahre im Heim reden.

Sebastian Uhl 1964

DH, SKH, JWH, GJWH, JWH

11-13 und 14-16

Ja, er braucht, darüber zu reden. In seiner Familie reden sie gelegentlich darüber, mit Verwandten selten. Kontakt mit Manfred May

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Sehr zögernd, undeutlich und schmerzhaft.

Ca. 46 Min von 3St. 46 Min

Ja, Teile eingesehen, wartet auf die Stasiakte, sucht lange nach seinen Akten, um die Rehabilitierung zu beantragen.

SU erzählt sehr leise, er hatte sich die Anwesenheit von Manfred May gewünscht.

Ca. 62 Min. von 210 Min. oder 3h30

Er kennt nur die TorgauAkte. Die JugendhilfeAkte wurde vernichtet.

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Viele Aspekte des Heimalltags werden nicht angesprochen, nur angedeutet. Gewalt von Seiten der EZ und von anderen Heimkindern hat er erlebt, sagt aber, dass er darüber nicht sprechen will Im Unterschied zu anderen Interviewten macht er das explizit und umgeht die Frage nicht. Generell ist das Interview geprägt von einem cholerisch, aggressiven Ton seitens des Interviewten, der sich bis heute aufgrund seiner Heimvergangenheit benachteiligt sieht und auch seine Familie dadurch gefährdet glaubt. Insgesamt sind seine Heimaussagen fokussiert auf sein Ausbalancieren von Anpassung, um Sanktionen zu vermeiden und sein Bedürfnis, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Personen werden nicht benannt. Er scheint, wenig über das Leben im Heim kommunizieren zu wollen/können.

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

Sophie Blatt 1965

144

Heimtypen

KH, DH, JWH, DH, JWH, GJWH, JWH

Alter im Heim

9-10 u. 14 -18

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Ja sie braucht es, macht auch eine Therapie, redet sonst nie mit Familie oder Verwandten über ihre Jahre im Heim. Kontakt mit Manfred May

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Alles muss erfragt werden und auch dann ist oft keine Erinnerung da. Blatts Heimaussagen sind von vielen negativen Erlebnissen geprägt. SB erzählt sehr leise, sie hatte sich ebenfalls die Anwesenheit von Manfred May gewünscht.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Ca. 60 Min. von 3St. 34 Min.

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Ja aber nur in Begleitung mit einem Therapeut. Sie bezweifelt sehr die Wahrhaftigkeit der Jugendhilfeakte, in der sie Aussagen gelesen hat, die ihrer Meinung nach nicht zutreffen. Zum Beispiel über ihre angebliche „Verwahrlosung“ als Kind: dazu betont sie, sie hätte immer auf Sauberkeit geachtet. Die Sprache der Jugendhilfe ist für sie heute kaum erträglich.

Sascha Hartriegel 1967

KH JWH

12 -14 und 16 - 18

Nein, nie. Er verschweigt diese Zeit. 2

Undeutlich und nur auf Nachfrage. Man spürt, dass er kaum darüber hat. SH spricht im Grundton durchgängig sehr leise, nuschelt. Ebenso ist die im Allgemeinen leise Aussprache von H. S. nicht durchgängig vom Flüstern zu unterscheiden. Seine Frau vollendet vor allem zu Beginn des Interviews seine Gedankengänge.

Ca. 20 Min. von 77 Min.

Keine Erwähnung

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Ja. Viele Informationen über den Heimalltag liefert sie nicht. Vielmehr weint sie häufig, bezieht ihre psychische Verfassung sowohl auf die Eltern, die gewalttätig, gleichgültig und autoritär waren, als auch auf die Zeit im Heim/JWH, wo sie ebenfalls unter Fremdbestimmung zu leiden hatte. Auch im Heim und in den JWHs ist sie mit Gewalt, sexueller Belästigung, Strenge und Leistungsdruck konfrontiert, was ihre psychische Integrität nachhaltig beschädigt hat. Sie hat mehrfache Suizidversuche hinter sich, war oft in psychiatrischer Behandlung und leidet bis heute an Minderwertigkeitskomplexen, Depressionen und Verlustängsten.

Ja. SH will bewusst nicht an diese Zeit nachdenken. 3

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

Sabine Mirabelle 1967

Bert Schneider 1970

145

Heimtypen

DH, JWH

SKH, KH, JH, JWH, GJWH

Alter im Heim

16 - 17

11 - 18

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert Ja, sie versucht, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Kontakt mit Manfred May Ja, er braucht es nicht mehr, darüber zu reden. Mit seiner Mutter kann er über die Heimzeit nicht sprechen, sie verweigert sich. Sein Vater sei zugänglicher gewesen, er ist aber inzwischen tot.

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Auf Nachfrage, undeutlich: „Mir fehlt da allerhand.“

Heimchronologie spontan, über das Leben im Heim nur auf Nachfrage, meidet Fragen aus, erinnert am meisten Torgau.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen

Ca. 58 Min. von 140 Min. oder 2h12

Ja Sie kämpft um ihre Jugendhilfeakte und widmet sich der Aufarbeitung ihrer Jugend in den DDRJugendhilfeinstitutionen mit Mühe und Schmerz

Ja, die Akte hat neue Erinnerung hervorgebracht aber auch starke Vermutungen herausgelöst, die sie nicht bestätigen kann. Dies verwirrt sie sehr.

Ja, Enttäuschung, weil seine Vermutung, dass seine Eltern ihn einweisen ließen, bestätigt wurden.

Das Leben im Rausdorf wird kaum erzählt, der Fokus liegt eher auf die Monate im KH Friedensberg, als er ein Moped klaute und die Gewalt in Torgau und Halle, das Jugendgefängnis.

Ca. 25 Min. von 3 St. 30 Min

Kontakt mit Manfred May

Karin Ast 1971

KH, Psy, JWH, GJWH, JWH, JH

10 und 16 - 18

KA hat kein Bedürfnis, über das Heim mit ihrer Familie zu reden, und mit Verwandten verschweigt sie das Thema. Sie ist in psychologischer Behandlung und redet mit ihrem Therapeut darüber. Sie sucht Kontakt zu ehemaligen Heimkindern.

Nach über zwei Stunden hat Ast eigentlich kaum über das Heim erzählt, wir wissen nichts über den Alltag. Sie erzählt über Erlebnisse im Heim deutlich, eher auf Nachfrage, wechselt schnell das Thema von sich allein und springt oft. Ihre Sprache ist emotionsbetont und die Erinnerung zum Teil sehr lückenhaft, besonders was Zeitangaben betrifft. 4

Ca. 50 Min. von 4 St.

Ast möchte gerne ihre Jugendamtsakte einsehen, hat sie jedoch nicht angefordert, weil sie nicht weiß, wie sie jene erhalten kann. Die Erfahrungen anderer ehemaligen Heimkinder sei bei der Beschaffung der Jugendamtsakte ernüchternd. 5

Ihre Therapie hilft ihr, darüber zu reden. Die Heimerfahrungen sind zweigeteilt. Die Gewalt unter den Jugendlichen und auch die auf ihre Anpassungsschwierigkeiten folgende Kollektivbestrafung werden immer wieder erwähnt. Sie musste sich häufig gegen andere Heimkinder zur Wehr setzten, vermutlich hat sie einige Demütigungen, u.U. sogar Missbrauch erlebt, was sie aber nicht zugeben kann.

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

146

Heimtypen

Alter im Heim

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Nein.

Robin Mistel 1972

JWH

16-17

Die Aufarbeitung seiner Heimerlebnisse ist mit seiner Familie nicht möglich und auch von ihm nicht offensiv gewünscht. Redet mit niemandem darüber. Gelegentlich nimmt er an Betroffenenforen im Internet teil, integriert sich hier aber auch nicht wirklich, indem er beispielsweise ins anonyme Gespräch einsteigt.

Nur auf Nachfrage und sehr antastend, zweifelnd, als ob er zum Ersten Mal darüber reden und mit den Erinnerungen und Bildern kämpfen würde.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit Über die Hälfte der Zeit, aber er erinnert sich wenig und viele Themen werden nicht von selbst angesprochen, sondern vom Interviewer nachgefragt und auch dann nicht eindeutig beantwortet. Trotz des großen zeitlichen Rahmens, den die Heimaussagen im Gesamtinterview einnehmen, werden viele Punkte nicht angesprochen und keine Narration entfaltet sich.

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen

Nein. Er hat Angst vor der Akteneinsicht, davor eine andere Sichtweise präsentiert zu bekommen, als er sich inzwischen zurecht gelegt hat. 6

Nein. Die Erlebnissen wurden noch nie erzählt und werden angeschnitten

Anhang

Pseudonym und Geburtsjahr

147

Heimtypen

Alter im Heim

Heimerfahrung werden mit Bekannten/Familie thematisiert

Nein. Hat nie darüber gesprochen.

Simon Rüster 1976

SKH, DH, KH

10 – 14 und 16

Heute versucht er, mit einem Gefängnispsychologen darüber zu sprechen. Kontakt mit Manfred May.

Erzählen über die Heimzeit im Interview (spontan, auf Nachfrage und deutlich, undeutlich)

Spontan und sehr deutlich, SR hat genaue Erinnerungen, auch besonders an die EZinnen. SR erzählt ungefragt ausführlich über brutalen Episoden im Heim. Wenn er über die EZ spricht, nimmt seine Stimme einen extrem aggressiven, verbitterten Ton an und er äußert den Wunsch nach brutaler Vergeltung.

Gesamtlänge des Themas „Heim“ im Interview, relativ zur Gesamtzeit

Etwa mehr als ein Drittel. 60 Min. von 160 Min.

Jugendhilfeakte wurden teilweise eingesehen (allein oder in Begleitung)

Ja, mit Manfred May zusammen. SR erwartet viel von der JH-Akte über die Aufklärung seiner Einweisungsgründe und über den damaligen Standpunkt seiner Eltern

Stellenwert der Zeit im Heim in den Bilanzfragen. Feststellung von frappierenden Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen Nein, eher im Gegenteil. Seine Heimerinnerungen sind durchweg negativ. Seine Sprache ist aggressiv, hasserfüllt und verbittert. Er hat das Gefühl nicht über sein eigenes Leben bestimmen zu können, was insofern auch stimmt, da er sich fast ausschließlich in institutionellen Rahmenbedingungen bewegt, die keine Freiheit erlauben. Seine Lebensbilanz bis heute fällt so aus, dass kein negativer Höhepunkt bestimmt werden kann, sondern dass alles was im passiert ist, die Gewalt durch seine Mutter, der Heimaufenthalt als eine Kette von Grausamkeiten betrachtet werden, die dazu geführt hat, dass er jetzt so schlecht dasteht.

Anhang

148

1

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 02.17.00 D1.

2

„Seine Frau: Was=was dort direkt abgelaufen ist oder so, das hast du mir //H. S.: Habe ich dir eigentlich noch nie groß was erzählt// Seine Frau: hat er mir nicht erzählt. Ich weiß zwar, dass er dort war und=und auch Jugendwerkhof, das weiß ich alles, also das hat er mir schon, aber was da nun direkt alles, das darüber spricht er nicht. (3) Ich könnte noch nicht mal sagen, ob das überhaupt auch seine Mutter weiß, ob er das seiner Mutter- (3)“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:13:09.

3

„Da tut man sich immer mal erinnern, aber, wie es früher mal war, wo ich kleiner war, im Heim war... (2) Aber das tu ich verdrängen irgendwie weg=weg=weg (3). Ich will eigentlich von der Zeit nichts mehr wissen und gut (3).“ Oder : „Ansonsten hast du halt nicht viel zu lachen (11). Ich sag, ich erzähle nicht gerne darüber über das Thema. Ich hab auch viel- ist schon bei mir weg, aus 'm Kopf gelöscht (4). Das war halt 'ne Scheißzeit und bin froh, dass wir jetzt hier alles soweit in Ordnung haben (5). Da denke ich (...), da mache ich mir keine Gedanken mehr über das Thema. (2) Zeit zurückdrehen kann man eh nicht und- (8).“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:11:39

4

„ Jetzt so, das habe ich alles so erfahren mit der Psychologin mit der ich in Kontakt stehe die hat das eben so- Weil ich auch so keine Probleme weiter hatte. Ich hab das alles verdrängt und hab das 2003 durch nen Ereignis dann kam das alles hoch und dann bin ich zusammengebrochen und dann hab das erste mal drüber gesprochen“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00.11.06 D1.

5

Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 01:46:26 D1.

6

„Ja und Jugendamt-Akte, mhmh. es ist auch ein bisschen so- Ich hab auch vor bestimmten Sachen jetzt nicht direkt Angst, aber ist schon sowas in die Richtung so, dass man halt sagt ((atmet tief ein)) naja, wenn das jetzt liegen bleibt, dann bleibt‘ s halt liegen. (...) ((räuspert sich)) Ähm man hat halt äh Angst, man könnte irgendwelche Sachen da finden, die man eigentlich gar nicht wissen will so. (4,5) ... Wer jetzt das initiiert hat, dass ich in Jugendwerkhof komme, das sin-=muss ich nicht unbedingt (2) d=d=das will ich nicht unbedingt wissen, so, was da so geht. (5) Ich will auch nicht wissen wie die äh ostdeutsche Bürokratie über (2) über diese Fälle äh kommuniziert hat. So. Wie das da einfach durch gewunken wird. So. Da gibt‘ s irgendwelche Probleme, da klaut jemand ein Moped und da schaltet sich die Jugendhilfe ein und je nach Laune ((räuspert sich)) kommt ihr dann in Jugendwerkhof oder ins Heim. So das will ich auch nicht wirklich wissen.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 01.28.45 D1.

Anhang

149

Tabelle 3: Der erste Tag im Spezialheim: Erinnerungen, Einweisungsalter, -beteiligten, -grund. Pseudonym und Geburtsjahr

Kristin Bäumelein 1937

Silvia Hasel 1943

Gregor Kastanie 1943

Einweisung in Jahre und Alter 1950, KH und 1951, JWH mit 13 und 14.

1959, JWH mit 16

1954, SKH mit 11

Erster Tag der Heimeinweisung

Erinnerung an MA der Jugendhilfe bei der Heimeinweisung

Wenig konkrete Schilderung, im Grunde sei sie „gut“ aufgenommen worden, detailliert ist der Eindruck dieses großen, geheimnisvollen und lauten Tores, und dessen nachwirkenden Folgen in ihrem Leben, sobald sie knallende Türen hört. 1

Bei der ersten Heimeinweisung nicht erwähnt, die zweite Heimeinweisung hat der Vormund organisiert. 2

Sie wird in der Früh von Polizei und Jugendamt festgenommen. Fürsorgerin bringt sie in den JWH Crimmitschau. 4

Gefühle bei der Einweisung

Einweisungsgrund

Die erste Heimeinweisung bleibt kaum erwähnt.

Waisenkind.

Bei der zweiten: Eine Mischung an Ehrfurcht, Angst und Erleichterung, Zuversicht. 3

Ja

Verzweiflung, Angst und Wut. 5

Nein.

Nicht erwähnt.

Am ersten Tag wird ihr gesagt, dass sie sich an die Ordnung gewöhnen soll.

Er hat es vergessen, „Im Prinzip nicht mehr so richtig. Nicht mehr so richtig.“ 7

Unklar bleibt die Frage, warum sie nicht in ein Jugendheim eingewiesen wurde.

Fluchtversuch aus der DDR. Es steht im engen Zusammenhang mit der Abneigung zum Stiefvater. Die Freundin, mit der sie flüchten wollte, lebt heute im Westen und möchte ihr bei der Aufklärung der Flucht nicht helfen. SH vermutet diese Freundin habe sie damals verraten, sie musste auch nicht in den JWH. 6 Eingewiesen wird er vermutlich wegen „Schwererziehbarkeit“, er stellt es jedoch so dar, als habe sein Vater während der Krankheit seiner Mutter keine Zeit gehabt. Seine Mutter war an Gelbsucht erkrankt und sein Vater war ein hoher SED-Funktionär, der keine Zeit für ihn hatte. Er selbst hatte sich aber auch oft in der Schule geprügelt und war auffällig, da er von den anderen Kindern ausgegrenzt wurde, weil sein Vater SEDFunktionär war.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Georg Platane 1943

Tristan Murau 1958

Emil Andersen 1958

Zora Ilex 1959

150 Einweisung in Jahre und Alter

1959, DH mit 15

1969, SKH und 1974, SKH mit 11 und 15 1964 und 1970 5 KH, SKH, DH, KH SKH mit 6 und 12 1959, Dauerheim und 1974, DH und JWH mit 0 und 15

Erster Tag der Heimeinweisung

Die Einweisung wird von der Polizei vorgenommen, ohne dass ihm gesagt wird, wohin er kommt und warum, ebenso wenig wird ihm von der Inhaftierung seiner Mutter berichtet.

Zweite Einweisung komplett vergessen

EA wurde mind. vier Mal in ein Heim eingewiesen, dennoch erwähnt er den ersten Tag nie.

Erinnerung an MA der Jugendhilfe bei der Heimeinweisung

Nicht erwähnt.

Keine

Verzweiflung, Angst, Unwissen über Verbleib der Mutter und Erklärung über die Situation.

Unverständnis und Wut gegenüber den Eltern

Er hat während des ganzen Interviews nichts darüber geäußert. Nicht erwähnt.

Im DH, wo er nur drei Tage eingewiesen wurde, war es besonders hart. 10

Schweigen, Zelle, Haarschneiden, Ganzkörperuntersuchung. 12

Gefühle bei der Einweisung

Die Jugendhilfe wird als eine Bedrohung erlebt. Willkür und Gefahr, der die 80jährige Uroma, ihre Erziehungsberechtigte, völlig ausgeliefert war. 13

Zu den drei Tagen im DH betont er, dass es „extrem“ war. Siehe nächste spalte.

Unverständnis, Schock, Angst

Einweisungsgrund Platane kommt in das DH in Kraftsdorf, weil beide Eltern politisch Inhaftierte sind. Trotz ständiger Nachfragen wird er im Dunkeln über den Verbleib seiner Mutter gelassen, bis er schließlich nach zwei Monaten im Heim einen Brief der Mutter erhält und nun weiß, dass sie im Gefängnis sitzt. Seine Antwort wird vom Heimleiter zensiert und er wird mit Gewalt gezwungen, eine diktierte Antwort zu verfassen. 8 Unbekannt. Später erfuhr er, welche entscheidende Rolle die Schule/Lehrer dabei hatten. Angriffe auf die Ehrbarkeit der Familie durch Gerüchte „asoziale Familie“-, Sippenhaft, weil der Vater 1953 zu 4,5 Jahre Zuchthaus verurteilt wurde. 9 Wie er selber sagt, hatte er aufgrund der stiefväterlichen Misshandlungen psychische Probleme, was sich unter anderem auf seine Leistungen in der Schule auswirkte und er diese oft schwänzte. Daraufhin wurde er aus der Obhut der Großeltern wieder zurück zu seiner Mutter gebracht, die ihn dann in das Kinderheim in Apolda einweisen ließ. EA wurde von seiner Mutter abgeschoben. 11

Unbekannt bis ins Erwachsenalter; Vermutungen um ihre Vergewaltigung, ihren schlechten Stand im Dorf als „Bastard“, ihre zu alte unpolitische Uroma.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Siegfried Caktus 1960

151 Einweisung in Jahre und Alter 1967, SKH+DH und 1972, SKH mit 7 und 12 1974 und 1979

Sebastian Uhl 1964

5 DH, SKH, JWH, GJWH, JWH

Erster Tag der Heimeinweisung

SC beschreibt den ersten Tag gar nicht, sondern schildert die knappe Chronologie seiner Heimkarriere und die darin enthaltenen plötzliche Einweisungen bzw. Transfer. 14

Er beschreibt nicht den ersten Tag der Heimeinweisung, bemerkt folgendes nur: „Ja da ich wurde ja damals äh von der Schule weg geholt und sie wurden benachrichtigt.“ 15

Erinnerung an MA der Jugendhilfe bei der Heimeinweisung

Nicht erwähnt.

Nicht erwähnt, obwohl er schon zum Jugendamt mit seinen Eltern bestellt wurde. Bei der der zweiten Heimeinweisung in ein JWH wurde er von der Polizei geholt.

Gefühle bei der Einweisung

Einweisungsgrund

Unverständnis, Schock, Angst

Er kann oder will zu seinen Einweisungsgründen nichts sagen. Die offizielle Begründung lautete auf „Schwererziehbarkeit“. Seine Familie, insbesondere die Mutter schweigen sich darüber aus und verstecken sich offenbar auch hinter diesem Urteil. Er fühlt sich nicht gewollt von der Mutter und wurde offensichtlich auch in Kindertagen zwischen verschiedenen Verwandten, Freunden hin und her geschoben. Auch seine Geschwister haben Heimaufenthalte gehabt.

Angst, Schock. Die Trennung von den Eltern ist schmerzhaft und sie versuchen sich so oft zu sehen, wie möglich.

mit 10 und 14 1974 und 1979

Sophie Blatt 1965

7 KH, DH, JWH, DH, JWH,GJW H, JWH mit 9 und 14

Nicht explizit gesagt. Vermutlich Verlassen sein, Verlassenheit, Angst auf die neue Situation und Schock.

Kaum Erinnerungen an das KH Heldburg. 17 DH Schmiedefeld : Bunker 18 JWH Gebesee: Einweihung-Gewalt. 19

Nicht erwähnt.

Sie merkt generell an, dass die Gewalt im JWH noch höher wurde. „Es wurde immer schlimmer“ (gemeint ist: „als zu Hause“)

Weil SU politisches Desinteresse und Unangepasstheit zeigt und der Schule fernbleibt, wird er mit 10 Jahren in das SKH in AnnabergBuchholz eingewiesen. Nach drei Jahren wird er entlassen, wird aber wegen anhaltender Unangepasstheit in den JWH Wolfersdorf gebracht, zwischendurch kommt er für vier Monate nach Torgau. 16 Aufgrund von häuslicher Gewalt werden SB und ihre Schwestern in unterschiedliche KH eingewiesen. Der Prozess der Familienentnahme dauert lang. Sie kommt 1979 nach Schmiedefeld ins DH, weil sie ihre Ausbildung abbricht. Die häuslichen Probleme sind gleich geblieben. Dann kommt sie in den JWH Gebesee, entweicht, wird in die Psychiatrie eingewiesen und kommt wieder nach Schmiedefeld, wo ein Schwangerschaftsabbruch gegen ihren Willen vorgenommen wird.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Sascha Hartriegel 1967

Sabine Mirabelle 1967

152 Einweisung in Jahre und Alter

1979, KH und 1983, JWH mit 12 und 16

1983, DH und JWH

Erster Tag der Heimeinweisung

Anfängliche schwierige Akkommodation im KH. 20

5 SKH, KH, JH, JWH, GJWH mit 11

Nicht erwähnt bzw. vergessen

Gefühle bei der Einweisung

Einweisungsgrund

Hass, Unverständnis. 22

Plötzlich. Erste: Mutter war nach der Scheidung überfordert, seine schulischen Leistungen ließen nach, weshalb sich die Jugendhilfe vermutlich einschaltete. Zweite: wg. Abbruch der unerwünschten Lehre. SH hat die Lehre 1 ½ Jahre lang gemacht, allerdings völlig motivationslos. Er war auch öfters aber vergeblich bei der Jugendhilfe und hat mit seinem Meister gesprochen, um die Lehre zu wechseln. SH ist dann nicht mehr zur Lehrstelle gegangen. Darauf wurde er mit 16 Jahren in den JWH eingewiesen.

Er hat es vergessen. 21

Nein. Völlig überraschend wurde sie zu Hause abgeholt, im DH körperlich untersucht und eingesperrt. 23

mit 16 1981 und 1984 Bert Schneider 1970

Erinnerung an MA der Jugendhilfe bei der Heimeinweisung

Diese Narration wird sehr kurz gehalten. 26

Wegen „Schulbummelei“ Vom DH bis ins JWH, ohne Vorbereitung transferiert. 24

Nicht erwähnt

Angst, Unverständnis, Schrecken. Ihr Vater legte einen Widerspruch ein. 25

Unverständnis, Verzweiflung, Angst. 27

Erste Heimeiweisung wg. sogen. „Schwererziehbarkeit“, seine Mutter hat die Einw. beantragt, wie er es Jahre später in der Jugendhilfeakte erfuhr. Zweite Heimeiweisung wurde von ihm gewünscht, weil er die Strenge und Lieblosigkeit der Eltern nicht mehr ertrug.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Karin Ast 1971

153 Einweisung in Jahre und Alter 1985 4 KH, Psychiatrie, JWH, GJWH, JWH, JH

Erster Tag der Heimeinweisung

Erinnerung an MA der Jugendhilfe bei der Heimeinweisung

Gefühle bei der Einweisung

Druck, Gewalt und Strafe. Sie rebelliert zunächst gegen die Regeln und die Gruppe, wird hart bestraft und fügt sich später ein. 28

Keine

Nicht explizit gesagt. Die Trennung von ihrer Familie hat sie aber gewünscht.

mit 14

Robin Mistel 1972

1988, JWH mit 16

Seine Einweisung wird wenig spektakulär erinnert, von selbst hätte er dieses Thema vermutlich nicht erwähnt. Sein Vater hat ihn zum JWH gefahren und die Sonne hat geschienen. Der Interviewer bemüht sich, ihn zu einer Narration zu bewegen, aber er geht nicht darauf ein.

Keine

Verraten und ausgeliefert. 29

Einweisungsgrund Sie fühlt sich als Prellbock der Aggressionen ihres Stiefvaters. Sie ist lange Bettnässerin und muss in ständiger Angst vor Übergriffen leben. Deshalb reißt sie von zu Hause aus. Auch der von ihr geäußerte Wunsch im KH Erfurt bleiben zu dürfen alarmiert niemanden und sie muss zurück nach Hause. Nach einem Angriff auf ihre Mutter kommt sie in die Psychiatrie und dann in den JWH Crimmitschau. Die Gründe seiner Einweisung sind ihm nicht klar. Mit sechzehn kommt er in den JWH, vermutlich, weil er im Zuge der Pubertät einige Grenzen überschritten hat. Er selbst sagt nichts dazu, geht auch kaum auf Nachfragen ein. 30

Überrumpelung, Verzweiflung und Angst. 1986, SKH + DH Simon Rüster 1976

und 1992, KH mit 10 und 16

Deutliche Erinnerungen vom ersten Tag geprägt von psychischer Gewalt und deutlichen Zeichen von harter Disziplin. 31 „Mir war der Mund verboten worden“, „gleich im militärischen Drill“, „wurde ertsmal einer unterstellt“, „ich hätte da alle Gefühle abstellen müssen.“ Wurde von den Zöglingen in die „Frischlingsstation“ gebracht.

Damals unbekannt. Ja sehr deutliche Erinnerung an den Leiter, dem er zuhören musste und eine EZin, die ihm alles zeigte und ihm auch klar machte, dass er nur zu funktionieren hatte.

SR kommt mit 10 Jahren plötzlich in das SKH Bad Langensalza und erlebt den Bruch als Trauma. Ohne die Möglichkeit sich zu verabschieden, kommt er in eine Umgebung, die für ihn kein Mitgefühl übrig hat. „Für mich ist da alles zusammengebrochen.“ „Ich hab da bitterlich geweint.“ 1988 im DH, wurde nicht erzählt.

Als er als Erwachsener Nachforschungen bei seinen Eltern anstellt, erfährt er von seinem Vater, dass die Eltern beide im Gefängnis saßen und wegen Spionage verurteilt worden waren. Er vermutet die Gründe für seine Heiminsassenschaft liegen in dieser politischen Vergangenheit seiner Eltern. Allerdings stellen die Akten auch eine Überforderung der Eltern mit ihrem Sohn heraus und es ist auch zu vermuten, dass die Eltern in unpolitischer Hinsicht kriminell waren.

Anhang

154

1

„Ich war erschrocken. Ich kleener Knopp und so ein riesen Tor. Und ich hab heute noch Angst...wenn Türen knallen, das ist für mich – Weil ich das so oft erlebt hab im m Heim. Dann höre ich immer noch das Eisentor.“, Interview mit KB von AA, am 24.02.2011, 00:49:14.

2

„Die haben mich aufgenommen. Da war ein Büro. Und haben gleich mein Zimmer gezeigt und Schule und so, also ich bin dann gleich gut aufgenommen worden, eigentlich, ja.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 00:51:15.

3

„Aber wenn Sie erstmal da hinkommen, Sie wissen ja gar nicht, was ihnen blüht. Und und //jaja// da war eine Fürsorgerin mit da- die hat mich naufgeschafft und (4) naja, da war eben das große Tor. Und das war erst mal zu und ich war drinne und ich wusste nicht, was auf mich zukommt.“, Interview mit KB von AA, am 24.02.2011, 00:50:39.

4

Interview mit Silvia H geführt von AA am 15.02. 2011, 00.04.00 D1.

5

„Dass ich in den Jugendwerkhof gekommen bin, war natürlich ein mächtiger Schlag.“, Interview mit Silvia H geführt von AA am 15.02.2011, 00:14:35 D1.

6

Interview mit Silvia H geführt von AA am 15.02. 2011, 01.47.00 D1.

7

Interview mit GK von AA am 02.03.2011, 00.52.30.

8

„Und dort haben se mir nichts gesacht über meine Mutter. Ich hab immer gefracht "wo is meine Mutter?" und alles, ich hab nichts erfahr`n. Ich durfte nich in die Schule geh`n, die erschte Zeit- (2) Ich hab immer gefracht und immer gefracht, keiner hat mir Antwort- "Du wirst schon noch erfahr`n! Du wirst schon nocherfahr`n!" Hat dann der Heimleiter gesacht, zu mir. Und dieser Heimleiter hatte natürlich so`n großes SED-Zeichen am liebsten dran, gä? Wenns noch größer gegang wäre- (2) Und nach zwei Monaten, wo ich nichts gewusst habe von meiner Mutter, hab ich dann einen Brief gekriecht, aus`m Gefängnis. In Gera aus der Untersuchungshaft. Den hab ich gekricht in das Heim. Da waren drinne, durfte man ja nur zehn, äh, zwanzig, zwanzig Zeilen schreiben, und da stand eben drinne das meine Mutter da im Gefängnis is und ich nich mir Kopp machen soll ebend. Hat se mich eben getröstet mit allem drum und dran, es wird schon wieder alles gut und ich komm wieder Heim. Naja, na, ich durfte dann auch ein Brief schreiben an meine Mutter, zwanzig Zeilen, mehr durfte nich sein (2) und musste jedesma den Brief den ich geschrieben habe diesen Heimleiter geben. Der kontrollierte den Brief nämlich erschte mal. Und wenn da was drinne stand, als Kind machste dir da gar nich so nen Kopf, was de alles schreiben sollst, gä? Oder was de schreiben sollst. Du hast doch mehr Sehnsucht nach der Mutter und alles drum und dran. Das wurde gestrichen und dann musst ich den Brief wieder schreiben, so wie der das wollte. Und dann hab ich nicht mehr gemacht. Und dann hat der mich vorn an der Binde genommen und dann hat der mich mit dem Kopp of den Tisch solange mit dem Kopp gekloppt ((klopft zweimal auf den Tisch)) bis ich gesagt habe "ja, ich schreib das so.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 00.12.30-00.15.00.

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„Also die Einweisungsgründe fürs Heim sind mir schleierhaft. Zumal ich zwei Tage vor Weihnachten eingeliefert worden bin.“, Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 00:07:11.

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„Ich weiß es nicht mehr. Ich, das, es waren bloß drei Tage. Ich weiß nur, es war ein Turm- Es war ein Turm, es war in der Stadt, also nicht außerhalb, es war so stadtnah. Und Gitter vor`n Fenstern. Und wer früh zu langsam war, gab`s ken Frühstück mehr. Es wurde also irgendwie hingestellt und wer rechtzeitig da war, krichte was zu Essen und wer zu spät kam krichte auch noch was, aber eben bloß die Reste. Ja? Und das wir eben nachts, wurden die Zimmer zu geschlossen und wenn man auf`s Klo musste, musste man klingeln das man raus durfte. ((klopft sich auf das Bein)) Es hat sich eingeprägt. Es waren bloß drei Tage, die ich da war, aber es war extrem.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 00:59:03 D1.

11

„Aber das wurde vorher schon, wo mein Stiefvater noch gelebt hat, war das schon geplant, dass ich -, ich musste weg! So und das Jugendamt hat mich dann ins Kinderheim gesteckt, nach Apolda. Das war die erste Station. Dort war ich ein Jahr. Und dort hatte ich das Problem gehabt, dass meine Großeltern wohnten in Weimar, also keine Entfernung, ich den Drang verspürte jedesmal den Weg zu suchen, nach Weimar. Und das ziemlich häufig. Ergebnis davon war gewesen, dass ich dann nach dem ersten Jahr verlegt wurde nach Moritzburg. Das ist ein spezielles Kinderheim für, wie sagt man?, für schwererziehbare Kinder. So, dort durft ich ein Jahr zubringen. Mit Höhen und Tie-

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fen. Von da aus hat's dann mein Großvater geschafft mich wieder rauszuholen und hat mich nach Holzdorf gebracht ins Kinderheim. Und dort war ich drei Jahre. Und musste dann nach der fünften Klasse aus Gründen, die ich bis heut nicht weiß, das Heim verlassen und wurde verlegt nach Mühlhausen. (...) Kinderheim. Dort war ich nochmal zwei Jahre. Und in der Neunte Klasse musste ich dann wieder nach Hause.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 00:01:19 D1. 12

„So ein Barkas, ja. Und auf einmal hieß es: "Hier der und der und der und die" und was weiß ich, "steigen jetzt hier ein. Es geht ab nach Transport." So, und ich habe ja nun getraut mich zu fragen. Ich sage: "Na wann komme ich denn nun ins Kinderheim?" Da haben die ganz hämisch gelacht. "Was willst denn du im Kinderheim? Du gehörst in den Jugendwerkhof, nicht in ein Kinderheim." Ich weiß doch gar nicht, ich sag: "Ich habe doch gar nichts gemacht." Na=ja, und jedenfalls "Das ist so beschlossen vom Referat Jugendhilfe. Du kommst jetzt mit nach Hummelshain." Och, na, ich wusste ja nicht wo Hummelshain ist. (3)“, Interview mit ZI von RG, am 28.03.2011, 00:14:50

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„Da kam ich nach Hause und da sagt, zu meiner Oma - ich hab das schon gemerkt - da sagt sie: "Zora, die waren von Gera da." Und ich wusste gar nicht was los war. Und da habe ich gesagt: " Na was ist denn?" "Na (2) die wollen dich hier weg nehmen. ..... Ja und dann kam auf einmal irgendwann die Gemeindeschwester. Und da hat sie geklopft. Und die Oma, die muss das geahnt haben. Und da sagt sie: " Was willst du denn?" "Na, ich will die Zora mitnehmen. Wir haben jetzt entschieden, dass sie ins Kinderheim kommt."(2) Und da hat die Oma gesagt:" Wieso jetzt ins Kinderheim?" "Na die kommt jetzt ins Kinderheim. Du kannst die jetzt sowies o nicht mehr hier erziehen, so wie wir das gerne möchten und ich nehme die jetzt mit nach Gera. Die kommt ins Kinderheim.“, Interview mit ZI von RG, am 28.03.2011, 00:11:45.

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„Man hat sich erdreistet und hat im Jugendamt Gerichtsverhandlung gemacht, obwohl man keine juristische Person ist oder war, ne? So. Und aus dieser Verhandlung ist als Beschluss hervorgegangen eine Heimunterbringung. Die wurde auch, fast sofort vollzogen, den übernächsten Tag bin ich ((hustet)) hier oben in Jena auf die Schweizerhöhe hoch gekomm, da dacht ich kann dort bleiben, weil, das eigentlich da oben relativ ruhig war. Wir mussten sogar nen Swimmingpool bauen und als Kinder. Also erstmal ausheben mit Schaufel, Spaten und Hacke und dann mauern und und Zeuch und Kram da und ich bin dann aber relativ nach kurzer Zeit von dort bei ner Nacht- und Nebelaktion weg geholt worden und nach Bad Blankenburg geschafft worden.“ ((atmet tief und hustet)), Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00:08:06.

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Interview mit SU von AA am, 18.03.2011, 00:38:15.

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„Und nach meiner Einschulung dann, so in der zwoten, dritten Klasse, na bin ich einfach mit den ganzen Sachen, was so (3) die (3) Pioniere und das was da so alles damals gab, so weiter, bin ich eben absolut nicht klargekommen damit und deswegen konnt ich mich auch nie so richtich in die Klasse einfügen und war eigentlich immer 'n bissel der Außenseiter, weil ich hab da absolut absolut kein Interesse dafür gehabt. Und naja durch 'n Außenseiter is es dann auch zu Schulbummeleien gekommen. Und da wurd ich ja dann mit (3) zzz-zehn ((langezogen)) mit neun oder zehn Jahren, genau kann ich mich jetzt nicht mehr entsinnen, äh wurd’ ich dann über 's Jugendamt in das Spezialkinderheim Geschwister-Scholl nach Annaberg-Buchholz eingewiesen und dort wurd’ ich -dort war ich bis dreizehn Jahre ((hustet)).“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 01:33:05.

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„Na, es war frühs. Ich hatte, ich weiß noch genau, ich, es war im Winter. Und ich hatte auch keine Winterschuhe. Ich hatte noch Halbschuhe an. Na, ich war sehr, eigentlich sehr spärlich bekleidet. Da war, das weiß ich noch, weil damals lag sehr viel Schnee, ne. Und wo ich dort ankam, in Heldburg, waren die Kinder, die dort waren, die haben im Schnee gespielt. Ja“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00:07:12.

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„Wenn, wenn, wenn man dorthin kommt, muss man sowieso erst in den Bunker. Da kommt man nicht drumherum. Dann kriegt man die Haare kurz geschoren.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00:34:11.

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„Die erst Nacht, wenn man dort hin kommt, da kriegt man erst mal die Einweihung. ((Schniefen)) Ja, die sammeln sich dann, die Kinder dort. Ja. Entweder man wehrt sich und wird gleich an Ort und Stelle- Dann hat man seine Ruhe, ne. Oder man lässt's halt über sich ergehen. Und dann ist man halt immer dieser Bonjep, ne. Man muss dann halt immer für die- Na halt immer rennen und Sachen machen und so, ne. ((Schniefen)) Aber ich kannte ja die Gewalt schon. Ich war ja damit schon konfrontiert. Ich hab's mir natürlich nicht gefallen lassen. Ich hab mir natürlich die erstbeste, die ich, die sich runtergebeugt hat, die hab ich gleich an den Haaren geschnappt dann. Hab gleich ge-

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sagt, wenn se nicht, wenn se nicht verschwinden, reiß ich die Haare raus. ((Schniefen)) Dann, ab dann hatt ich dann ja auch meine Ruhe. Von da an, an hab sie's nicht mehr gewagt.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00.36.09. 20

„Naja, am Anfang, das war halt schwierig da rein zu kommen, sich da rein zu finden mit den anderen Kindern. War ja ne neue Situation eigentlich für mich sowas. Den ganzen Tag in so nem Heim zu sein.“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:28:55 – 00:29:07. Oder: „Schlimm. Wenn man denn so, sage mal so eingesperrt ist, halbwegs (2). Darfst dies nicht, darfst das nicht. Na, dass du da drinne bist überhaupt. (3) Das waren halt dann auch Kunden dabei, die hatten 's dann auch faustdick hinter den Ohren, weißte. (4) Gab es schon mal die eine oder andere Drescherei oder so ging das dann rasch los, im Jugendwerkhof. (3)“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:38:55 – 00:38:58.

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„Ich weiß gar nicht mehr. (...) Musste meine Mutter mitfahren oder noch irgendeiner, die mich dahin gebracht haben. (6) ((brummelt vor sich hin; das Gesagte ist akustisch schwer verständlich)) oder ob da mich einer vom Jugendamt- (7) Da müsste ich jetzt meine Mutter mal fragen, ob die da sowas macht ...?“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:37:05.

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„Denn die haben zwar auch schon vorher mal, waren wir schon auf dem Jugendamt, ging schon das Thema Heim und so, aber das kommt dann halt wahrscheinlich erst, wenn's soweit ist (2), dass man sich da mal ein paar Gedanken macht. Man hat da schon ein bissel Hass, also auf alles, familienmäßig und so, weil du bist ja dann der einzige, der da weg muss im Prinzip.“, interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:32:16.

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„Soweit ich mich erinnere ham die mich dann abgeholt hier. .... Die haben das dann halt beschlossen und und dann haben sie mich da nach Schmiedefeld – gefahren, in das Durchgangsheim. Da wurde man auch erst mal so untersucht. Ob man irgendwelche – Haustiere, sag ich mal, also – „Sackratten“ hieß das früher – guckten die da. Dann unter die Dusche mit – Läusezeugs – (einatmen) und eine Woche im Bunker im Keller. (ausatmen) (3) Wo man sich dann erst mal als - knapp 15-jährige fragt: „Äh, was isn jetzt hier los?“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 00:31:47.

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„Die sind da gekommen mit dem Auto, haben da mich eingeladen. Also Sachen zusammen packen, eingeladen. Dann auf der Fahrt erst haben sie gesagt, dass ich in den Jugendwerkhof komme. Und ich konnte mir dadrunter nichts vorstellen.“, Interview mit SM von RG am 01.04.2011, 00:51:35.

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„Also es war mehr von der Jugendhilfe aus, weil, im Nachhinein habe ich halt erfahren, dass mein Vater dann auch Widerspruch eingelegt hat. Das wusste ich ja nicht.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 00:29:59.

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„Und auf einmal stand ich dann davor und sah`s Auto wegfahren und dann (2) war`s das halt. War Ruhe erstma. Ne? Da fühlt man sich, glaub ich, dann och nicht so wohl als Elfjähriger. Also, ich hab da bestimmt lange zu tun gehabt damit. Aber, wie`s halt is, man muss sich dann irgendwo ins Kollektiv eingewöhnen. Man muss, ob man will oder nicht.“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00.04.04 D1.

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„Wie gesagt, ich bin da stehen gelassen worden, hab die Eltern wegfahren seh`n, ich hab da geheult wie ein Schlosshund. Wusste nicht was mir passiert. Also, da wusst ich dann wirklich, das is jetz Ernst, also, ne?“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 01.16.00 D2.

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„Von dort aus bin ich dann nach Crimmitschau gekommen, ein anderthalb Jahr und in Crimmitschau bin ich gleich den ersten Tag in die Zelle gekommen, weil ich nicht das gemacht hab, was die von mir verlangt haben. Und (2) ja die gabs im Erdgeschoss neben Zimmer von der Direktorin.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00.10.08 D1.

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„Das war überraschend. Das kam aus' m nichts. So. Vielleicht habe ich mir auch nie Gedanken gemacht drum, aber da wurde vorher nie drüber gesprochen. (2) ((räuspert sich)). “, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 00:30:12.

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30

„Und (4) daraufhin bin ich dann achtundachtzig in Jugendwerkhof gekommen. (3) Des ähm (2) kann ich jetzt nicht genau sagen, wer das jetzt veranlasst hat, ob das mein Vater oder meine Mutter oder das Jugendamt veranlasst hat. Ähm, prinzipiell (2) war‘s ja schon so, dass ähm (2,5) die Jugendämter selbst ähm über den Willen der Eltern hinweg entschieden haben.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2012, 00:04:02.

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„mit zehn Jahren bin ich dann ins Kinderheim gekommen. Nach Bad Langensalza. Also ohne Vorankündigung. Ohne Alles. Direkt aus der Schule abgeholt. Meine Mutter hat mich damals aus der Schule abgeholt, mich dann nach Hause gebracht. Da hieß es dann halt: Sachen packen. Wir fahren in Urlaub. Und ich bin nach Hause gegangen und da war halt schon 'ne Frau da, die da gar nicht hingehört. Ich kannte die auch nich aus meim persönlichen Umfeld. Die Frau stand die ganze Zeit in der Stube. Und mein Vater war da. Der saß damals mit auf der Couch. Meine kleine Schwester war auch da. Naja un meine kleine Schwester hat so im Schein halt Sachen gepackt, so, wie se halt war. War halt klein, viel kleiner als ich. Die hat da noch ihren Spaß dran gehabt. Ja dann ging's halt los, dass ich dann nach Bad Langensalza verbracht wurde. Und da bin ich dann halt angekommen, war so 'n Raum wie hier. Da wurden meine Sachen rein gestellt und ich sollte halt - meine Mutter oder mein Vater hatten damals gesagt, ich soll halt auf die Sachen aufpassen. Und die gehen das nur alles abklären so. Ja. Und seitdem hab ich dann meine Eltern für Jahre erstmal nich mehr wiedergesehen. Die einzichsten, die ich dann (dort) infolge wiedergesehen hab da als ich in dem Raum saß, war dann halt na 'ne Erzieherin aus dem Heim. Und die hat mir dann halt glasklar gesagt: Na hier is Endstation! Ich brauch gar nich rumheulen ich seh meine Eltern jetzt erstmal nich mehr wieder. Dass ich jetzt im Kinderheim bin un-. Naja für mich is da alles zusammen gebrochen. Da wurd ich halt erstmal diesen Leiter von dem Kinderheim in Bad Langensalza vorgestellt. Herrn B. oder B. oder ich-, so in der Richtung war das. Der hat och kein Mitgefühl gehabt, der hat mir halt gleich gesagt: Ja hier is Kinderheim, Spezialkinderheim. Un-, ja dann hat meine Tortur halt angefangen. Bin ich halt von eim Drama ins nächste rein geschleudert oder reingeschoben worden. Da fängt halt meine Heimzeit an.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2011, 00.04.09 D1.

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Tabelle 4: Alltagserinnerungen: Heimpersonal, Freundschaft, körperliche Arbeit und Freizeitaktivitäten. Pseudonym

Heimpersonal

Freundschaft

Körperliche Arbeit

Freizeitaktivitäten

Eine einzige Freundin.

Kristin Bäumelein 1937

Sie erinnert sich meistens sehr gern an die EZ. Bis heute hält sie die Verbindung zu manchen EZ. Mit 18 Jahren wird sie in die SED aufgenommen, und ein Heimerzieher ist auch ihr Pate. 1 Vertrauen mit einer Erzieherin. 2

Ihre Rolle als FDJSekretärin und hilfsbereite Vermittlerin im Falle von renitenten Jugendlichen machte sie laut ihren Angaben sehr populär.

Ja. Sportplatz gebaut. 3

KB listet viele Möglichkeiten, für die Heimkinder Freizeit zu haben, Tanzgruppen waren auch ein fester Bestandteil. 5

Umbau des Parkes. 4

Spazieren und Wandern. 6

Bis heute hält sie die Verbindung zu ehemaligen Heimkinder vom JWH Hummelshain.

Silvia Hasel 1943

Ja, den Direktor, wobei sie nichts Konkretes über das Heimpersonal erzählt. 7

Wenig.

Ja. In den 1950er Jahren sei die Versorgung allgemein schlecht gewesen. Im Sommer mussten sie auf dem Feld und im Winter in der hauseigenen Schneiderei arbeiten. SH musste als Linkshändlerin rechts nähen. Sie wurden mit wenig Geld entlohnt.

Gregor Kastanie 1943

Ja. Die Beziehung zu den EZ wird als freundschaftlich und familiär beschrieben, sie waren Vertrauenspersonen. Die vielen Campingausflüge, die gemacht wurden, sind sehr einprägsam für ihn und werden oft thematisiert. Die Aufgaben eines EZs werden funktional beschrieben, d.h. der EZ muss für die Abwicklung eines strukturierten Tagesablaufes sorgen (waschen, Haushalt, Schule). Offensichtlich ist das auch sein Familienbild, der die Aufgaben von Eltern genauso verortet.

Spielkameraden werden flüchtig erwähnt. Er erinnert sich vor allem zwei Waisen, die zu ihm am Wochenende nach Hause immer mal mit kamen.

Gärtnerei zwecks eigener Versorgung unterhalten und Gemüse angebaut. 9

JWH befand sich im Industriegebiet mit Werkstatt, ohne Ausgänge. Freizeitmöglichkeiten waren sehr begrenzt, lediglich Kinobesuche. 8

Die Zeltausflüge und Naturerlebnisse in der Freizeit werden oft betont, um den positiven Einfluss des Heims zu unterstreichen. 10

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Pseudonym

Heimpersonal

Freundschaft

Georg Platane 1943

Ja. Es gab Küchen- und Waschpersonal, zu denen aber kein Kontakt erlaubt war. Es gab den Heimleiter und seine Frau, die dort auch ihre Wohnung hatten und es gab noch zwei weitere EZ. Eine Frau, die nicht ständig da war und ein junger Mann.

Von gleichaltrigen Freunden ist nicht die Rede. Er gibt den kleineren Kinder von sich aus emotionale und körperliche Zuwendung.

Tristan Murau 1958 Emil Andersen 1958

Zora Ilex 1959

Heimpersonal verbindet er mit Willkür. Ungleichbehandlung der Heimkinder. Negativerlebnis: musste bei der Einweisung bei einem EZ über Weihnachten übernachten. Ja, er erinnert sich an viele EZ aus Holzdorf. Auch die Förderung durch die Lehrer im KH Holzdorf wird positiv erinnert. 11 Kein Wort über die SKH. Ja, sehr negativ an den Leiter des JWH, an einen EZ. Die Lehrer werden als gleichgültig erinnert. 13

Keine erwähnt. Ja, im KH Holzdorf. Kein Wort über die SKH.

Siegfried Caktus 1960

Sebastian Uhl 1964

Ja, er erinnert sich positiv an die Lehrer, die freundlich waren. 23

Keine Erzählung. Er ist der Älteste unter den Kindern. Ihm wird die Pflicht auferlegt, sich um die jüngeren Kinder zu kümmern. Das ist zum Teil eine Belastung für ihn, da er willkürlich vom Heimleiter kontrolliert und für Verfehlungen bestraft wird. Altengottern: schwere, körperliche Arbeit, Drill. Bad Blankenburg: keine körperliche Arbeit erinnert Nicht viel erzählt, erinnert eine Gärtnerei im KH Holzdorf. Kein Wort über die SKH. Ja, sehr viel in Betrieben, Sonntag war Putzen im Schloss ein Pflichtprogramm. 16

Waren unmöglich. 15 Sie ist nicht mehr schulpflichtig.

Schlechte Krankenversorgung im Jugendwerkhof. 14

Ja Details zu den einzelnen Heimen kann er nicht benennen, er sagt, sie wären alle gleich gewesen. Er ist auf die Heimschule gegangen, wo auch Strenge und Disziplin geherrscht hätten, allerdings wären einige Lehrer besser gewesen als die EZ.

Freizeitaktivitäten

Körperliche Arbeit

Nicht erzählt. Zu den Ehemaligen aus Bad Blankenburg hat er inzwischen Kontakt aufgenommen.

Nicht erzählt.

17

Keine Erzählung.

Keine Erzählung. Kein Wort über die SKH. Ausflüge, Ferienlager im KH Holzdorf. 12

Nur Fernsehen. Freizeitkleidung, Zeltlager. 19

Über die Arbeitsbedingungen. 18 Ja, viel Ernte, Fließbandarbeit, Schwimmbad für einen EZ. 20 Von 1972 bis 1975 ist er im SKH Bad Blankenburg, wo viel gearbeitet wird, auch auf den Privatgrundstücken der EZ. 21 Die Jugendlichen mussten im JWH Wolfersdorf Eigentumshäuser bauen, auch das des JWH-Leiters. Als SU entlassen wurde, erhielt er ein Sparbuch. Viel Geld war da allerdings nicht mehr vorhanden. Seine Eltern mussten für seine Heimaufenthalte relativ viel Geld bezahlen. 24 Jungs aus dem JWH als billige Arbeitskraft im Dorf. 25

Die Teilnahme an Sportveranstaltungen und an die Weltfestspielen in Berlin wird als das einzige Gute erinnert. 22

In der Freizeit wurden Ausflüge gemacht, aber es gab insgesamt wenig Gestaltung.

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Pseudonym

Heimpersonal

Sophie Blatt 1965

Ja Zu einer Lehrerin hat sie ein besseres Verhältnis, was aber nicht weiter thematisiert wird. Die EZ werden mit dem Vater verglichen. Es gibt keine Bezugspersonen. Sie wird mitunter nicht ärztlich versorgt, obwohl sie verletzt ist.

Sascha Hartriegel 1967

Ja nur an manche EZ, die im KH oder im JWH geschlagen haben.

Freundschaft

Sie weiß es nicht mehr.

Schwierig, eine Freundschaft als Heimkind mit Kindern aufzubauen. Im JWH auch. 28 Erinnert drei Freundinnen, die mehr zusammenhielten. 31

Wird nicht beschrieben, dennoch als willkürlich und ungerecht erinnert.

Bert Schneider 1970

Keine konkrete erwähnt. Im SKH Rausdorf waren die EZ streng und wenig liebevoll und prügelten bei Entweichungen brutal, weshalb er sich auch dort nie getraut hat, weg zu laufen.

Keine

Karin Ast 1971

Sie erinnert vor allem, dass das Heimpersonal ständig wegschaute.

Eine einzige Freundin im JWH, die sie auch nach der Entlassung aus den Augen verlor.

Robin Mistel 1972

Freizeitaktivitäten

KH: Ja, Herstellung von Plastesäcken. 26

Sabine Mirabelle 1967

Ja. Er klassifiziert die EZ in Typen, nennt aber keine Namen. Es gab den „Strengen, aber fairen“, den „Wegseher“ bzw. „die Nachtwache“, dem alles egal war und den „Ungerechten“. Außerdem gab es die Gruppenführer, die im Sinne der EZ handelten, auch andere Jugendliche instrumentalisierten, um Gewalt auszuüben. Diese genossen Privilegien. Liebe EZ gab es nicht. 36

Körperliche Arbeit

Keine. Mistel hält sich bewusst von den anderen Jugendlichen fern, da er nicht in die Hierarchiekämpfe und Gängeleien hineingezogen werden will. Dieses Verhalten wird offenbar von Erzieherseite und auch von Seiten der Jugendlichen geduldet, obwohl man eigentlich annehmen müsste, dass gerade Außenseiter Zielscheiben darstellen und ein gewisser Zwang zur Kollektivität besteht. 37

Im JWH wird viel gearbeitet, aber eine Ausbildung bekommt sie dadurch nicht. 27

Nicht erwähnt.

Erwähnt nur die Schichtdienste im Betrieb. 29

Nicht erwähnt. 30

Ernte und tägliche Arbeit als Aushilfe in einem VEB.

Insgesamt hat sie viel vergessen, Teilnahme an einen Fanfarenzug, beim Fernsehen. 32

Nicht viel erwähnt, nur dass er die Gruppe im SKH im Forst gearbeitet hat und dafür einen Ausflug mit einem Bus spendiert bekam. Sie muss viel arbeiten und militärische Disziplin im Alltag ertragen. Im JWH jeden Tag im Schichtdienst in der Textilfabrik. 34

Nicht im JWH. Die Arbeitsstelle, die er außerhalb des JWH hatte, ist sehr wichtig gewesen. Hier hat er sich nicht von den Anderen abgesondert, vielmehr war das die Möglichkeit vom JWH fern zu bleiben. Im JWH selbst wird die Arbeit nicht thematisiert, schweres körperliches Arbeiten und Ausbeutung, wie wir es aus anderen Einrichtungen kennen, war hier offenbar nicht der Fall.

Ausflüge in der DDR, die einzige schöne Erinnerung an diese Zeit. 33 Die Freizeitgestaltung hängt von den EZ ab, die jüngeren waren nicht so streng. Verbote 35

Kaum. Als einzige freie Zeit beschreibt er die Zeit, die er zum Lesen allein in seinem Zimmer nutzen konnte oder die Stunde, die er hatte, weil er nach der Arbeit absichtlich den Bus verpasste. Ansonsten war alles eine kollektive Pflicht-veranstaltung.

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Pseudonym

Simon Rüster 1976

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Heimpersonal

Freundschaft

Ja, u.a. sehr detaillierte Beschreibungen von manchen Erzieherinnen und dem Nachtwächter, die er als sadistische Personen erinnert. 38

Ein einziger Kumpel und Vertrauter ist sein Freund J. mit dem er sich selten privat austauschen kann. Wegen der opportunistischen Mentalität unmöglich. Richtige Freundschaften baut SR nicht auf, es hätte nach seiner Ansicht auch nicht die nötige Privatsphäre gegeben, um das zu tun. Er berichtet von einem Mädchen, die aus Torgau zum Küchendienst im KH abgestellt wurde. Sie gibt ihm größere Essensportionen aus.

Körperliche Arbeit

Freizeitaktivitäten

Keine. Fernsehen war von der Laune des EZ abhängig, und ins Dorf gehen war verboten. Ja, Strafarbeiten wie Flur putzen, Schuhe reinigen für die ganze Gruppe.

Die Freizeitbeschäftigungen empfindet er als oktroyiert und lehnt sie ab. Auch gab es keine große Auswahl, nur Sportschießen und Spielmannzüge. Die GST-Übungen waren eher eine Last als ein Spaß.

1

„Und ich wusste, dass die Erzieher- die waren eben für mich ein Vorbild. Das war für mich der kleine Gott die Erzieher, so wirklich wahr. //I: alle?// Ja. Und da hab ich gedacht, das willst de- darin willste auch wo die sind.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:44:51.

2

„I: Und konnten Sie sich an Ihren - an Ihre Erzieherin immer anvertrauen? K.B:: Ja. Naja ((lachen)) Es klingt vielleicht jetzt- Als ich meine Tage gekriegt habe, ich wusst nicht, was das ist. Und die anderen haben immer gesagt: „Mensch, ich hab schon wieder Besuch.“ Und ich hab gedacht: „Mensch, die ham keen Besuch.“ Ich wusste nicht, was das ist. //lachen//– Und ich hatte meine Tage ziemlich spät und – naja, das hab ich schon – und die ham sich auch, ham auch nicht viel gefragt und die ham sich sehr um mich bemüht, weil ich eben auch überall führend war, ge?“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:02:11.

3

„Naja und wir waren ja so – waren wir eingesperrt in –und wir haben damals den Sportplatz gebaut, also (2) da hab auch ich angefangen, mit Hacke und Spaten und Schubkarre haben wir riesen Bäume gefällt, da ist ja ein großer Park hintendran. Und dann haben wir eben den Park dann – .... Wir haben wirklich geschuftet, ne? Also, Zuckerlecken war das auch nicht.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 00:12:43.

4

„Ach, die hatten ja n Bassin vorn, da hat unser Heimleiter, der war n bisschen – naja, das musste eben alles weg, was an früher erinnerte, da waren schöne große Holzfiguren, musste eben alles weg, ge? An dem Schloss. (2)“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:02:14.

5

„Nee. Fernsehen hatten wir gar nicht. Gabs damals gar nicht. Hatten wir nicht. Wir hatten ne große Bücherei, wir konnten Bücher lesen. Dann hatten wir n’ Musikzimmer, da konnten wir Musik machen, dann hatten wir die Nähstube da, da konnten wir Nähen lernen und in der Küche waren Mädels, die hatten Kochen unten gelernt und konnten dann auch so wie Beruf, so n Abschluss. Die hatten zwar nicht so n Facharbeiterzeugnis, aber die haben viel gelernt unten.“ , Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:14:05.

6

„Wir sind mal Baden gegangen, nach Langendembach gelaufen, nach Wolfersdorf gelaufen, wir haben alles zusammen gemacht. Und ins Kino gelaufen nach Kahla. Mussten halt überall laufen. Und da sind wir durch den Leubengrund mal. So. Die Leuchtenburg. War schon schön.“ , Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:02:46.

Anhang

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7

„Über den Heimleiter möchte ich mich gar nicht beschweren. Schlimmer ist eher die Jugendlichen untereinander. […] Das ist wieder ein wenig peinlich.“, Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 00.16.35 D1.

8

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 00.15.09 D1.

9

„Da war hier ne Gärtnerei, als Beispiel. Die ham die ganzen Heimkinder unterhalten, die Gärtnerei. Also, Pflanzen ziehen, umgraben, was weß ich nich alles, um unser, um unsere Versorgung auszubessern.“, Interview mit GK von AA am 02.03.2011, 00:59:16.

10

„Dann hatte das Heim, steht alles mit da drinne was es och mit hatte. Ne Musikkapelle, nen Fanfarenzug, dann wurde ständig irgendwelcher Sport gemacht. Also wenn man`s so bezeichnen will, Volleyball gespielt, Fußball gespielt, ja? Wir war`n dauernd auf Achse.“, Interview mit GK von AA am 02.03.2011, 01.02.00-01.02.40.

11

„Es gab och da Erzieher die manchmal über die Strenge geschlagen haben, aber das is mir weniger in Erinnerung, weil ich hatte ja.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 01:03:59 D1.

12

„Also Holzdorf war spitze. Es gab dort auch alles. Wir hatten Fahrräder, wir hatten, wir hatten, äh, Musikchor gehabt, wir hatten, Spielsachen ohne Ende, wir hatten- Wir hatten alles. Das war für, für Kinder, so gesehen ein Paradies. Können sie`s vielleicht nachvollziehen. .... Wir hatten nen Erzieher, der Herr Glorius, werd ich nicht, nie vergessen. Wir hatten dann in unserer Gruppe gesammelt, Flaschen, Papier und so ein Scheiß. Was früher so üblich war. Gab ja och richtig Kohle dafür. Wir war`n die erste Gruppe im Kinderheim die sich nen eignen Fernseher gekauft hat. Das war ja schon mal ein Ding, nicht? Also, da gab`s zwar Gruppenräume wo wir fernsehen, aber wir hatten dann in der Gruppe Geld gesammelt und hatten uns so ne alte Röhrenkiste hingestellt und konnten als Gruppen dann ebend alleine Fernseh gucken. Wir war`n nicht mehr abhängig. Das war schon, schon ne dufte Sache. Und das hat der mit uns gemacht alles.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 01:04:39 D1.

13

„Die Lehrer? Na =ja, das waren ja nicht direkt Angestellte vom Werkhof, das waren ja, eh, wie soll ich denn sagen, Außenstehende. Die sind dann blo-, die haben auch bloß ihre Arbeit gemacht.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:45:12.

14

„Also hier da wo das Krankenzimmer war ... das war ja eine Baracke. Das war ja kein, das war ja ((stotternd)) ich hab, ich hab immer gedacht, wenn ich oben aus dem Schloss raus geguckt habe, ich guck immer wie Buchenwald. Das war so eine, so eine, so eine Holzbaracke und vorne, und vorne war so ein klappriges Fenster und darunter lagen die Kranken eben. Und wenn du da alleine da=hinten lagst und der Wind hat gepfiffen, huhuhu @hoffentlich kommt keiner@. Ja, da hast du Ängste ausgestanden, da bist du noch kränker geworden, wie alles andere.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:48:05.

15

„Man hat ständig gekämpft, um in der Gruppe nicht aufzufallen. Es waren zwei, drei, das waren so die Gang eben. Die, die war auch die Obrigkeit. .... Vor denen haben wir wirklich gekuscht. Wenn=es, ich war ja nicht bloß alleine, die wirklich. Ich hatte ja auch noch eine, die war in der, in der anderen Gruppe. Der ging es auch so. Die sollte auch in, ins Kinderheim kommen und plötzlich ist sie auch dort nun gelandet. DIE HATTE AUCH NICHT NACHZUWEISEN, WAS SIE AUFGEFRESSEN HATTE. ((Frau Z.I stottert und spricht das folgende mit weinerlicher Stimme)) Genau wie mir, ich kann auch nichts sagen.(7)“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 01:12:45.

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„..dann die harte Arbeit rund um die Uhr (3) Wir haben ja Sonntag, also die ganze Woche über gearbeitet und das Wochenende ((weinerlich)) mussten wir das Schloss sauber halten, also unser Zeug. Wir mussten unser eigenes Zeug waschen, ((schnieft)) das Zimmer sauber halten=und jeder hatte noch so ein Projekt gehabt, was er extra noch sauber zu halten hatte. Oder „Von sieben bis sechzehn. Und, und dann war eine Frühstückspause. Ja. Und, und war Mittagspause und ja. (2) Nachmittag musstest du aber durcharbeiten. Bis sechzehn Uhr. (2) UND WENN DU AUSSENDIENST GEMACHT HAST, HATTEST, und, und, und die haben dich geholt, da hast du auch Spätdienst gehabt. Da bist du dann (2) Wann war ich denn drinnen? Um halb zwölf lag ich im Bett. Betrudelt warst du, wenn du dann früh gleich wieder Frühschicht hattest. Aber da, oh. (2)“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:29:56.

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„Bloß für mich ist halt die Schule weg gefallen. Und darum haben die mich dann immer weg gekarrt und haben mich dann irgendwelche Arbeitsstellen gefahren. (2)“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:32:56.

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„Dass ich da hohen Blutdruck bekommen habe. Ich habe, ich konnte zwar nicht mehr und habe mich da überanstrengt. Durch das Arbeiten und auch jetzt durch die ganzen psychischen Druck. " Du musst jetzt. Du musst das jetzt so machen." Egal ob dir jetzt der Rücken weh tut, ob du Zahnschmerzen hast, ob du dir den Finger verstaucht hattest oder irgendetwas. Oder ob du sonst wo eine Wun-, du musstest das machen, egal was es ist. Sonst kriegst du, sonst hast du wieder Ärger mit deinem Mit-, Mitkameraden, hier, weil das ja Selbsterziehung war. Sonst leidet ja die ganze Gruppe darunter.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:49:10.

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„Ich war ein Mal im Urlaub. Die ganzen drei Jahre. Wir hatten dann oben in, (3) wie hieß das? In Eisenberg, oben bei der Knochenmühle.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:40:08

20

„Die wurde auch, fast sofort vollzogen, den übernächsten Tag bin ich ((hustet)) hier oben in Jena auf die Schweizerhöhe hoch gekomm, ... Wir mussten sogar nen Swimmingpool bauen und als Kinder. Also erstmal ausheben mit Schaufel, Spaten und Hacke und dann mauern und und Zeuch und Kram“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00.09.34.

21

„Ich bin dann aber relativ nach kurzer Zeit von dort bei ner Nacht- und Nebelaktion weg geholt worden und nach Bad Blankenburg geschafft worden. ((atmet tief und hustet))... dort in Bad Blankenburg mussten wir mehrere Arbeiten erledigen, Ernteeinsätze, Erdbeeren, Kirschen, Äpfel, Pflaumen, Kartoffeln, dann im (Paten)betrieb am Fließband mit arbeiten, Föhne und Heizkissen herstellen, im (UTP)betrieb mussten wir auch hin und wieder ans Fließband, das war Transportgummi. Die haben für die, großen Fabriken die Förderbänder die Gummis hergestellt. ((hustet)) Dann hat mer im Heim noch so ne technische Werkstatt, da musste mer Haltebügel für die Puppenkopf(form) für die Puppenfabrik Königssee herstellen. Naja, und wenn das alles rum war, dann haben wir noch für Erzieher arbeiten müssen aufm Grundstück, aufm Privatgrundstück“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00.11.03.

22

„Hatte aber ein Glück, durch das Heim, und das sagen wir alle, die uns wieder gefunden haben, dass wir so vielleicht gar nicht zu den zehnten Weltfestspielen gekommen wären nach Berlin. Ja. das war aber das einzigst Gute da dran.“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00:11:49.

23

„Dort is es ebend auch manchmal zu Tätigkeiten der Erzieher gekommen, aber das is eigentlich fast an der Tagesordnung gewesen. Die Lehrer warn eigentlich 'n bissel anders. Na das war-, warn zwar auch zwei, drei dabei, die auch nicht so, ne? Aber, also die Lehrerin, die ich hatte, das war, das war, das war Pilz, da kann ich mich noch gut entsinnen an den Namen. Also hat ich eigentlich 'n gutes Verhältnis mit der. Die hat ein auch mal zur Seite genommen: Mensch, wenn de nicht so und so machst, dann -. Jetzt biste doch-. Naja. 's kann natürlich auch bloß Psychologie gewesen sein, (...) irgendwie, ne? Die liebe Frau spielen. Aber heute könnt ich eigentlich sagen, se sese hat's eigentlich ernst gemeint.“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00:39:32.

24

Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00.29.09 D1

25

„Wenn irgendwelche Arbeiten gewesen warn, war 'n Kabelschacht zu schachten: Na da hol mer uns die Jungs aus 'm Jugendwerkhof. Die kosten uns doch nüscht! Naja, der Werkhofleiter, naja, wenn er mal zur Jagd geblasen hat, gab's pro Nase fünf fünf Mark, 'ne Schachtel Karo und Mittagessen durfte man dort vom Rost. Aber hat man auf deutsch gesagt (sein Leben eingesetzt) als Treiber, ne? Wenn die halb besoffen da drin rumgeschossen ham.“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 01:57:38 D1.

26

„Und, na ja, die Arbeit selber war ja leicht. War mit Plaste. Aber die Säcke. Das wurde in solche großen Säcke, Jutesäcke immer abgefüllt, diese Teile. Und die waren dann schon ganz schön schwer, wenn man die auf die, aufs Auto tun musste.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00.32.15.

27

„Für Betriebe haben wir gearbeitet. Wir haben Teile genäht für Betriebe. (4) Aber hat, hat mir nichts genützt. Gar nichts. Ich hab dann nochmal neu anfangen müssen mit achtzehn. Aber war halt ungelernt, ne.“ (3) , Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 01:52:54.

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28

„Also die Freunde hast du da drinne dann auch nicht unbedingt gehabt (3). Ich meine du erkennst- du kannst zwar mit eins, zwei Mann kann man sich gut halt bissel unterhalten und so...“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:52.16.

29

„Ne=ja halb sechs, kurz nach sechs ging das los (2). Eigentlich haben wir ja Schichten gearbeitet, also hier ist eine Frühschicht und eine Spätschicht gemacht und sogar Nachtschichten damals teilweise (3) in dem Veredelungswerk in Crimmitschau (2) Ne wir sind dann sowieso früh aufgestanden bei der Frühschicht, ne=ja die haben ja auch um sechs angefangen, bis um zwei, bis die Spätschicht ankam.“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:44:00.

30

„Urlaub ? (2), da gab's keinen Urlaub. (5)“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:48:44.

31

„Na wir waren halt so – auch so nicht nicht drei vier Mädels, die dann halt so sich näher – (2) mit denen ich dann auch mal so – (2) die Flucht ergriffen habe. Wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hat.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:07:35.

32

„Das weiß ich jetzt gar nicht mehr, ob die da alle zusammen saßen oder ob das getrennt war – wie gesagt, abends beim Fernsehen, im Fernsehraum, da war man schon – dass – so ne ältere Erzieherin war häufig noch mal da. Die hat mir – das Häkeln beigebracht. Das war (…) //Hm// Das ist mir dann noch eingefallen. Ja, da hab ich dann immer gehäkelt wie ein Weltmeister. Aber ansonsten – wie gesagt, mir fehlt da – weiß ich nicht, wos hin ist.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 00:45:12.

33

„Wir waren ja eingesperrt in dem Sinne. Aber was ich schön fande, auch nachher hab ich das erst so kapiert ein bisschen, ähm, of Grund das, ich weiß nich wo das Geld her kam, ob das vom Ministerium kam oder weiß ich nicht genau- Wir sind zum Beispiel in den Winterferien weg gefahr`n eine Woche, durch die Republik, oder so was hier. Äh, oder in den Sommerferien war`n wir zwei Wochen in ner Jugendherberge. Also wir haben in dem Kinderheim sehr viel unternommen. Also, das hätten sich meine Eltern wahrscheinlich gar nicht leisten können, denk ich ma. Ähm, teilweise warn`s auch Belobigungen, weil wir ham ja damals, ähm, mit elf Jahren, wo ich in`s Kinderheim gekommen sind, ham wir im Forst gearbeitet. Wir mussten in Forst, mussten mer arbeiten dort und als Belobigung, nach `m Jahr sag ich jetz ma, ham die Verkehrsbetriebe gesacht, oder der Forst: "Wir spendier`n euch nen Bus, nen Reisebus und da fahrt ihr eben ma durch Thüringen" oder irgend sowas. Also so, so, solche Sachen war`n immer ma da, ne? Und das war eben für uns war das schon was.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00.28.00 D2.

34

„Arbeit halt, zwei Schichten haben wir gearbeitet. Ham wir früh um sechs, bis Nachmittag um drei wars, glaub ich, - und einmal – naja, um zwei – von Nachmittags um zwei bis Abends um zehn. ...Na, das hab ich schon mit Vierzehn. Wo ich die Lehre angefangen hab. Das war in Ostzeiten gar nicht erlaubt. Da hab ich in der Textilfabrik schon in Schichten gearbeitet. In drei Schichten teilweise. Samstag noch, weils – ja da – äh, Plan erfüllt werden musste. (2)“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00:39:13.

35

„Allgemein. Das Verhalten – gabs immer nen Katalog. Verhalten, wies Bett gemacht war die ganze Woche, welche Gruppe die Beste überhaupt ist, von dem Flur. Da waren zwei, drei Gruppen meistens a zwei drei Zimmer (2) und die Gruppe, die am besten war, hats meiste Taschengeld bekommen und durfte auch dann länger auf bleiben am Wochenende. //Hmhmhm// Und da wurde eben alles bewertet. Und wenn da einer eben dabei war, der eben quer geschlagen hat, dann hat die Gruppe leiden müssen.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00:40:39.

36

„Die haben ihren Job gemacht und haben auch zugesehen, dass der Laden funktioniert so. Streng nach Schema.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 01.40.00 D1.

37

„Naja, also jein. Ich hab mich immer selber außen vorgelassen. So bin ich da die achtzehn Monate durchgekommen. Ich hab mich nach Möglichkeit nicht an irgendwelchen Sachen beteiligt, so Fernsehgucken oder so, habe ich mich entzogen soweit es ging. Hab mir ein Buch genommen, hab mich in meinem Zimmer, es war ein Vier-MannZimmer immer, gelegt und hab ein Buch gelesen und hab mir das Ganze- (2), hab mich von den Leuten ferngehalten. So. (3) Von daher gab‘ s da wenig ähm wenig Reibung. So.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 00:32:36.

38

„Also Strafen warn-, das ging -, war 'ne Tortur über die ganze Heimzeit. Also das die Erzieherinnen-, also diese Frau E. war-, die is mir so in Erinnerung geblieben. Also ich könnt die auch heute noch beschreiben, wie's damals aussah, was se für 'n Moped gefahren hat. Ihre Lieblingssänger, also ich ich weiß alles noch von der Frau, ich hab die

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nie vergessen, die is halt eingebrannt. Ihre Lieblingsbeschäftigung war halt immer so erstmal frühs so, Bettennoten und so halt. Wenn man dann von der Schule kam dann so nach 'm Mittag, wenn das einigermaßen geklappt hat un man hatte halt wieder 'n Eintrag im Tagebuch, also da gab's so, die hatten so 'n großes Buch gehabt, das ge- is auch immer mit in die Schule gegangen, dann so Tadel und so 'n Zeug kam da rein oder die Mitarbeit nich entsprechend war, war halt so ihre Lieblingsbestrafung halt so, so dieses Kneifen. Die hat so in die Haut rein und so rumdrehen un mit diesen diesen Fingern, das war halt auch in der Schule 'ne beliebte Strafe, so mit diesen Knöcheln hinten so über 'n Hinterkopf, so an diesen Knochen hier hinten. Das dann so drüber ziehen, so mit Vollgas so Zack! Also Rubbeln ham die das halt genannt. Das war halt immer so Lieblingsbeschäftigung. Oder Strafen aussprechen wie Flurblocker oder Schuhe putzen für die ganze Gruppe. So das man wirklich schön als Arschloch da stand so.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00:12:06. Oder: „Ja. Nachtwache. Ist auch so 'ne Sache. Ganz schlimme Sache. (3) Also wir hatten 'ne Nachtwache, der hieß Herr D. Und da is halt 'n Mensch gewesen, der hat soweit ich in Erfahrung-, später dann nach der Wende in Erfahrung gebracht hab, hat der schon hier in Gräfentonna im Gefängnis gearbeitet. So. Und der war halt Nachtwache dort in dem Kinderheim. Und das war halt 'n Mensch, klein, dick, Brille, und der hatte so Fingernägel, die gingen so rum, der hat irgendwie ganz komische Fingernägel, sah aus wie so Krallen. (3) Und (4) ah das war 'n Sadist. Einfach nur 'n Sadistenschwein. Was andres war das gar nich. 'N absolutes Arschloch, also ich -,.....Er hat die Leute rausgeholt, ich weiß noch-, die Leute hatten, Kinder halt, so aus Socken Fußball gemacht, so groß. Und abends wurde die Station abgeschlossen. Da wurde alles zugeschlossen und so und da durfte keiner mehr raus aus den Räumen. Hieß es dann Nachtverschluss. Da wurde abgeschlossen. Und dann durfte keiner mehr raus, also auf Toilette, so, dass musste alles vorher erledicht werden. Und dann durfte keiner mehr aus dem Zimmer raus. Un die Leute ham halt so kleine Fußbälle aus Socken gebaut. Und sie ham halt draußen auf dem Flur ham die 'n bisschen Fußball noch gespielt, das war im Sommer so. Un die sin immer gekommen un ham vorne an der Tür gelauscht. So. Ah Tür vorne ganz leise aufgemacht, so, und dann rein, die die se erwischt ham, die hams so un so gleich gekriegt. Da is der gleich hin und gleich drauf geprügelt. Un dann ham die die ganze Station noch rausgeholt, egal wie spät das war. Un wenn der nur nachts jemanden erwischt hat, der mal auf Toilette musste. Da ham die die ganze Station rausgeholt, alle vor die-, vor ihre Zimmer stellen mussten, also da mussten mer uns alles so vor die Zimmer stellen, an die Wand. Un da ham die sich immer so kleine Spiele einfallen lassen. So wie Kniebeuge nach Zahlen. Mit Büchern, also mit vorgestreckten Händen. Da hat der Bücher draufgelegt.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00:24:12.

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Tabelle 5: Erinnerte Gewalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen oder wie wird die Kollektiverziehung beschrieben? Pseudonym

Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim

Machtverhältnisse unter den Kindern

Kristin Bäumelein 1937

Über die Gewalt direkt wird nichts erzählt, nur erwähnt, dass der Direktor cholerisch war, z.B. als beim Esstisch geredet wurde. 1

Nicht direkt erwähnt, eher die positiven Seiten der Kollektiverziehung. 2

Nein. Silvia Hasel 1943

„Wehgetan hat mir keiner.“

6

Ja. SH beschreibt Gruppenhierarchien, denen man sich unterzuordnen hätte. 8

Sie sagt, sie habe keine Gewalt im JWH erlebt, aber „Es kam auf deine Stellung an“. 7

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals Ja, es hing von den EZ ab. 3 Streit mit einem EZ, der brutal ist: sie übernimmt die Verteidigung eines HK und wird dafür einen Tag lang eingesperrt. 4

Nicht direkt erwähnt. Sie betont nur, wie peinlich es ihr war, dass sie sich vor den EZ ausziehen musste, sagt aber nichts zu dem Verhalten des EZ dabei.

Nur als Reaktion auf Disziplinlosigkeit. Gregor Kastanie 1943

Ja, präsent, aber er schildert es nicht.

Die Gruppendynamik wird nicht erwähnt.

Ein EZ habe an den Ohren gezogen, aber Gewalt ist das für Kastanie nicht. Erziehung wird als funktional gedeutet. Die EZ müssen die Kinder in den täglichen Aufgaben anleiten.

Strafe als pädagogisches Mittel

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung

Karzer, unterschiedliche Strafen.

Als Strafe ja. Stigmatisierung mit Holzschuhen und Fahnenmast. 5

Sie erwähnt eine Strafe, als sie entwichen war. Siehe unter öffentlicher Bloßstellung. „Da hatte ich eben Pech…da war ich ja schmutzig.“ 9 Hat sie den Hygienefanatismus der EZ verinnerlicht oder wiederholt sie deren Sprache und Forderungen? > unsauber wg. Vergewaltigung < 10

Bei ihrer Entweichung wird sie in einem Dorf vergewaltigt. Da sie wieder aufgegriffen wird, wird sie für ihre Entweichung bestraft und muss sich einer entwürdigenden Prozedur unterziehen: sie wird vor allen anderen Zöglingen nackt ausgezogen und abgeduscht. 11

Strafen in Form von Arrest werden als legitim und sinnvoll beschrieben. 12 Andere Strafen hätte es nicht gegeben. 13

Nicht erzählt.

Anhang

Pseudonym

Georg Platane 1943

Tristan Murau 1958

167 Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim Ja, er beschreibt ausführlich die Gewalttätigkeit des Heimleiters. Platane wird mit einem dicken Stock verprügelt und die Treppe runter gestoßen, als im Schlafraum einmal getobt wurde und er als Ältester dafür verantwortlich gemacht wird. Der Heimleiter befiehlt ihm Stillschweigen, aber er erzählt es trotzdem dem Küchenpersonal und auch seinen Freunden in der Schule, die natürlich nach dem Grund für seine Verletzungen fragen. Als seine Freunde daraufhin den Sohn des Heimleiters verprügeln, schlägt ihn der Heimleiter erneut. Ja. Massiv. Altengottern wird gegenüber Bad Blankenburg als schlimmer eingestuft. Hier wurde schwerer körperlich gearbeitet, es gab Strafen wie Schlaf- und Essensentzug, auch Schläge. Die EZ wendeten Kollektiverziehung an, unter der er als Kleinerer zu leiden hatte. Er fand keine Vertrauensperson, die ihm Schutz vor den Übergriffen durch andere Heimkinder geboten hätte.

Machtverhältnisse unter den Kindern

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals

Strafe als pädagogisches Mittel

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung

Willkür. 18

Auch tägliche Einschüchterungen muss er erleiden, so boxt ihn der Heimleiter öfter im Vorübergehen auf dem Kopf.

Schlafentzug, Essensentzug, Schläge und Kaltduschen im Gedächtnis geblieben.

u. a. kalt duschen

Der Heimleiter wird als brutaler und willkürlicher Mann erinnert. Andere EZ werden nicht thematisiert. 15

Nein. Erwähnt nur ein Kind, das schnell beim Hauen war. 14

Er muss auch erleben, wie die kleineren Kinder als Strafe für Entweichung geschlagen werden. Da er bei dieser Erinnerung fast in Tränen ausbricht, wird deutlich, wie sehr er sich für die kleinen Kinder verantwortlich gefühlt hat und mit welcher Empathie er ihnen begegnet ist. 16 Schikane.

Erinnerungen an privilegierte und nicht privilegierte Heimkinder (nicht speziell benannt), Gewalterfahrungen. 19 Er wurde von einem älteren Heimkind sexuell missbraucht.

17

Ja, massiv in Altengottern.

Anhang

Pseudonym

Emil Andersen 1958

168 Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim Ja, in jedem Heim, das er gekannt hat. SKH Moritzburg: er schildert militärische Zustände, Marschieren und Kollektivstrafen, wie Essensentzug. Auch hier ist die Erzählweise davon geprägt, sofort einen Ausgleich zu negativen Darstellungen herzustellen. Es wird betont, dass Ausflüge und Ferienlager gemacht wurden, was er zu Hause nie gehabt hätte. Die negativen Erinnerungen werden schließlich wieder bagatellisiert und als „Geschichte“ abgetan. DH: drei Tage, die er nicht schildert aber als „extrem“ einstuft.

Zora Ilex 1959

Siegfried Caktus 1960

Ja, permanent, vor allem der Leiter, die Gruppe der Zöglingen.

Machtverhältnisse unter den Kindern KH Apolda: Die Brutalität unter den Kindern war hoch und wurde von Seiten der EZ nicht unterbunden. Emil gehörte zu den kleineren, hierarchieniederen Kindern, die Misshandlungen erdulden mussten. 20 Auch die nicht näher ausgeführte Brutalität unter den Kindern wird zu einem selbstverständlichen Bestandteil gruppendynamischer Prozesse erklärt.

Ja 22

Gewalt von Seiten der EZ und von anderen Heimkindern hat er erlebt, sagt aber, dass er darüber nicht sprechen will und weist es bewusst von sich ab.

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals

Strafe als pädagogisches Mittel

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung

KH Holzdorf. Er deutet auch an, dass „manche Erzieher über die Strenge geschlagen hätten“, vermutlich in Form von aggressiven Erziehungsmethoden, allerdings sei ihm dies nicht so präsent in seiner Erinnerung. 21

Ja, er beschreibt Kollektivstrafen wie Essensentzug, Entzug von Paketen, Marschieren.

Nicht beschrieben.

Ja, auch in Form von Willkür und von permanenter Verboten: Urlaubs-, Ausgangsverbot, Kontakt mit der Außenwelt extrem reduziert, da sie keine Familie hatte. 23 Ja. Brutalität. Dazu siehe auch Erinnerung von Silvia Hasel, als sie dort gearbeitet hat. 26

Ja. Im Unterschied zu anderen Interviewten macht er das explizit und umgeht die Frage nicht. Er berichtet auch von sexuellem Missbrauch an einem Mädchen.

KH Schweizer Höhe, physische Gewalt und psychischer Druck im KH Schweizer Höhe wird entschuldigt, Völlige Überforderung der Erzieher.

Sie erzählt, dass sie einmal drei Stunden Verspätung bei ihrer Urlaubsrückkehr hatte, und dafür überproportional und streng bestraft wurde: Haareschneiden und strenge Rüge. 24 Bestrafungen vorgekommen, bei denen die EZ weg gesehen hätten, auch durfte man als Strafe nicht nach Hause fahren. Er berichtet von drei Stufen der Bestrafung: Einzelzimmer, Keller und Ziegenstall bei Gewitter. 27

Ja, große Angst vor täglichen Auswertungen im Gruppenraum. 25 Scham und Schande. Haare geschoren vor der Gruppe.

Nicht erzählt.

Anhang

Pseudonym

Sebastian Uhl 1964

Sophie Blatt 1965

Sascha Hartriegel 1967

169 Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim

Ja, massiv.

Ja, „es war nicht besser als zu Hause“, Im JWH erlebt sie ihre Verlassenheit noch schlimmer. Die Hierarchie und Gewalt unter den Mädchen ist massiv, die EZ schauen weg. Da sie sich wehrt, bleibt ihr die Rolle als Prügelknabe erspart. 32

Ja, er erinnert von physischer Gewalt seitens der EZ und der Jugendlichen, vor allem im JWH. Spricht von einer „brutalen“ Art.

Machtverhältnisse unter den Kindern

Die Brutalität untereinander war groß, Knochenbrüche waren nicht selten. Einschmeicheln bei den EZ war verpönt und wurde gewalttätig vergolten. 28

Ja, extrem. Die erste Nacht: Gewalt unter Jugendlichen, Kollektivprügeln für die Neue. 33

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals Ja. Tagesordnung, Strafen, nachts Quälereien. Im SKH muss er sich einfügen und auch der politischen Doktrin unterordnen. Es gibt öfter Entweichungen. Eine Arrestzelle ist vorhanden und die brutale Behandlung durch die Erzieher ist ein tägliches Leid. 29

Ja, psychologischer Terror, Schikanen Ignoranz Belästigung des Hausmeisters, Verbote, an Freizeitveranstaltungen teilzunehmen Ja im JWH, z.B. durch Gleichgültigkeit. 34

Strenge. 37 Ja, am ersten Tag beim Essen. 36

Strafe als pädagogisches Mittel

Sprechen Urlaubsverbote aus.

Wenn man sich nicht anpasste, gab es verschiedene Sanktionen: Arrest, Taschengeldentzug, Urlaubssperre. 30

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung Fernsehverbot ist eine Strafe, wenn beispielsweise schlechte Noten gebracht werden. Allerdings muss man dann mit dem Gesicht zur Wand stehen, anstatt ganz den Raum zu verlassen, was eine zusätzliche Demütigung darstellt. Beim Essen durfte nicht gesprochen werden. 31

KH: „Och, die haben andere Strafen gekannt. (3) Die haben einen auch zu Dingen gezwungen, was man nicht wollte. Ich war immer schon so n ängstlicher Mensch eigentlich, als Kind schon. Und dann ist man immer zu Dingen gezwungen wurden, die man gar nicht möchte. Oder haben einen als Strafe die ganze Nacht im Flur stehen lassen.“

Nicht beschrieben.

Dunkelkammer und zwei Tage Arrest im Jugendwerkhof

Nicht erzählt

Karzer.

Duschen. 39

EZ drücken die Augen zu. 35 Sabine Mirabelle 1967

Ja, massiv.

Ja, sehr stark.

Verbot, am Esstisch zu reden.

Am ersten Tag von Zöglingen gehauen.

Und Verbot, mit anderen Jugendlichen zu reden. 38

Anhang

Pseudonym

Bert Schneider 1970

Karin Ast 1971

170 Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim Ja, Arrestzellen, Schläge unter Kindern.

Machtverhältnisse unter den Kindern

SKH Rausdorf: Es wurde viel Sport gemacht, was ihm aufgrund seiner Leibesfülle am Anfang schwer fiel. Es gab eine intensive politische Umerziehung, die er angenommen hat, um durch die Anpassung eventuellen Sanktionen zu entgehen. 40 Ja, unter Jugendlichen, von den EZ.

Ja, permanent, er beschreibt im Interview das Gesetz des Stärkeren. 41

Im JWH wurde lang gearbeitet und es herrschte eine strenge Gruppenstruktur. Die Gewalt unter den Jugendlichen und auch die auf ihre Anpassungsschwierigkeiten folgende Kollektivbestrafung werden immer wieder erwähnt. Sie musste sich häufig gegen andere Heimkinder zur Wehr setzten, vermutlich hat sie einige Demütigungen, u.U. sogar Missbrauch erlebt, was sie aber nicht zugeben kann. Sie selbst war auch gewalttätig, so hat sie eine andere Jugendliche mit einem Messer angegriffen, weil sie sie nicht sympathisch fand. Zwar gab es im JWH viel Druck, aber gegenüber den Verhältnissen zu Hause erscheinen die Zustände im JWH ertragbar, da sie in gewisser Weise berechenbar sind. Für sie sind die strengen Anforderungen an Disziplin und Ordnung sogar positive Werte, die sie zuhause nicht vermittelt bekam. Daher kann man auch bei ihr, wie bei vielen Heimkindern, beobachten, dass paradoxerweise Drill und Strafen als ein legitimes Erziehungsmittel angesehen wird, obgleich sie selbst sehr darunter gelitten hat.

Die Gewalt unter den Jugendlichen ist stattdessen immer präsent und nimmt einen großen Stellenwert in ihren Heimerzählungen ein. Die Kollektivbestrafung ist ihr egal, gegen die anderen Jugendlichen kann sie sich zur Wehr setzten. Sie geht äußerst gewalttätig gegen sie vor und verschafft sich ihrer Meinung nach dadurch auch Respekt. Sie kommt in eine andere Gruppe, wo sie sich mit der Zeit besser einfügt. Sie hatte eine einzige Freundin, über sie wird aber nur im Zusammenhang mit einem nicht eingelösten Versprechen erinnert. 44

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals

Strafe als pädagogisches Mittel

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung

Einzelzelle, Arrest. 43

Nicht erwähnt

Trimm, Schläge, harte Strafen. Bspw. nach einer Entweichung, wenn die Kinder geschlagen werden: „Die sind in ihr Zimmer geschickt worden und dann hast es nur noch gehört. Die Schreie haste gehört alles. Also das war, war schon...“ 42

Ja, Sie muss mit ansehen, wie ein Jugendlicher aus der Arrestzelle mit dem Krankenwagen abgeholt wurde. Die Kinder spekulieren darüber, ob er von den EZ zu Tode geprügelt wurde. Körperliche Gewalt von Erzieherseite wird aber im Weiteren nicht thematisiert. 45 Die Kollektivbestrafung ist ihr egal, gegen die anderen Jugendlichen kann sie sich zur Wehr setzten. Sie geht äußerst gewalttätig gegen sie vor und verschafft sich ihrer Meinung nach dadurch auch Respekt. Sie kommt in eine andere Gruppe, wo sie sich mit der Zeit besser einfügt.

Die Jugendlichen werden im Kollektiv bestraft. 46 Frühstücksverbot. Weil sie eigenmächtig ihre Tabletten absetzt, kommt sie für eine Woche in die Arrestzelle, wo sie an der Eintönigkeit und Isolation stark zu leiden hat. Insgesamt muss sie mehrfach in die Arrestzelle, weil sie sich oft widersetzt.

Demütigung eines Mädchens unter der Dusche. 47

Anhang

171

Pseudonym

Präsenz gewalttätiger physischer oder psychischer Eingriffe im Heim

Robin Mistel 1972

Ja. Gewalt gab es. Vermutlich wurde er oft von anderen schikaniert, worüber er aber nicht sprechen will. Gewalt wird definiert in ihren unterschiedlichen Fassetten, d.h. körperlich und psychisch. 48

Machtverhältnisse unter den Kindern Ja. Vor allem als Folge der Kollektiverziehung beschrieben, wobei er auf andere Aspekte nicht eingeht. Ja, erwähnt das Privilegiensystem der Lieblinge und Gruppenführer

Gewaltdemonstration seitens des Heimpersonals

Strafe als pädagogisches Mittel

Öffentliche Bloßstellungen -Demütigung

Ja, er geht aber nicht darauf ein.

Strafe, wenn man sich nicht „benommen hat“, aber er beschreibt keine Strafen.

Nicht erwähnt.

Ja. Er beschreibt mehrere Situationen, die eine willkürliche Gewalt ausdrücken.

Ja. Täglich und extrem. Gefühl der Machtlosigkeit, Sinnlosigkeit, Willkür, Doppelbestrafungen. Kein Gefühl der Sicherheit innerhalb des Spezialkinderheimes. 49 Simon Rüster 1976

Simon wurde geschlagen, als er sich regimekritisch geäußert hatte. Es gab Arreststrafen. Zum Teil erprobte Simon den Widerstand gegen aufgegebene Arbeiten, weil er sich bewusst war, ohnehin eine Bestrafung zu erhalten, da die Beurteilungen willkürlich waren und er keine Chance hatte, das Ziel seiner Vorgabe zu erreichen.

Ja, es wird als direkte Folge der Kollektiverziehung beschrieben. SR berichtet ausführlich über die strenge Hierarchie, die unter den Kindern herrschte, an deren Spitze diejenigen standen, die bei den EZ angesehen waren. Sie genossen Privilegien, waren aber nicht vor Bestrafung gefeit. 50

Im Gegenteil, der Ärger über Bestrafungen wurde nach unten weitergegeben.

Die Kinder wurden gekniffen oder vor den Kopf geschlagen, sie mussten schwere Strafarbeiten, wie Flur putzen erledigen. Er erwähnt viele Beispiele von Drohungen, Schikanen und Schlägen. Ja, willkürliche Beurteilung; Eintrag von Nachtwächter führte zum Spießrutenlauf für den ganzen Tag; Sprechverbot, „Absonderung“, Arreststrafen. Entpersonalisierung durch Anreden der Kinder mit Nummern. 51 Willkür der Nachtwache, einen Mann, an den er sich genau erinnert und der sich unterschiedliche Spielchen ausdachte, um die Kinder nachts zu schikanieren und zu foltern. Sie wurden z.B. nachts wachgehalten und mussten bis zur Erschöpfung durch das Haus marschieren.

Mehrere Strafen werden ausgedacht. Flur putzen, Schuhe reinigen für die ganze Gruppe. 52 Strafen als Tortur erinnert. 53 Sprechverbot beim Essen. 54

Beim Waschen wurden Geschlechtsteile auf Sauberkeit geprüft und bei Nichtgefallen wurde auf den Penis geschlagen. 55 Schuhe putzen vor der ganzen Gruppe. Flur einwachsen und polieren.

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1

„Ich sag: Die ham mir nichts getan. Es gab keine Übergriffe irgendwelche, körperlicher Art oder was, gar nicht. Bloß, unser Heimleiter war eben jähzornig. Der hat dann gleich mal – wenn Jugendliche gesprochen haben, wir waren 180 Mann im Speiseraum, ne? Wenn da mal jemand gesprochen hat, dann ist der aufgestanden und - Stuhl ran, Teller übern Tisch und: „Erzieher ins Erzieherzimmer!“ Naja, Gott. I: „Stuhl ran!“ Was heißt das jetzt? B.K.: Er hat den Stuhl weg, wo er drauf saß und wieder an den Tisch rangeklatscht und – Na, wie man das so macht, wenn man wütend ist. //ja// Aber wir haben das nicht so empfunden. I 2: Wie, durfte da nicht gesprochen werden beim Essen, oder? B.K.: Nee, nee. Wir mussten sofort aufstehen und – da hat man dann auch ne Strafe gekriegt, da musste man draußen stehen auf dem Appellplatz oder irgendwas.“ , Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 00:12:13.

2

„I: Kollektive Erziehung – Was ist das eigentlich? Was soll ich darunter verstehen? „KB: Na dass man alles gemeinsam macht. Und dass Einer für den Anderen auf- äh einsteht. Und nicht jeder seinen Mist für sich mach. Der macht das und der andere macht das und arbeitet vielleicht gegen der Anderen. Das war ein Zusammenhalt – ne richtige große Gruppe. Und und da stand einer für den anderen ein und wenn wir was gemacht haben, da ham wirs zusammen gemacht. //Hm// (2) Und wenn – Ich sag ja, wenn jemand ungerecht behandelt worden ist, dann hat sich auch das Kollektiv mal eingeschaltet und hat gesagt „So geht das nicht.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:25:09.

3

„ Nein. Und wenn wirklich Schlägereien waren, das ist sofort geklärt worden, dann sind die eben mal getrennt worden, der eine musste dann mal – und dann kammst du auch mal nunter in den Karzer. //Hm. Und wie war das ?// Also, das ist nicht geduldet worden. Ich war nicht selber unten.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:12:06.

4

„Ich sag ja, der Sportplatz, das – ich hab gesagt „Mensch, wir baun n Sportplatz“ und ruckzuck, waren die Jugendlichen da. Und abends mussten wir Steine lesen, das war natürlich anstrengend. Das ist ja n großer Sportplatz, Originalgröße und da – also manchmal denkt man, die Steine wachsen. Immer wieder lagen Steine. Und da mussten wir immer in Reihen laufen, so – naja, dass das ganze Feld bedeckt war. Immer schön hinternander, genau in Reihen, die Steine auflesen. Und da war auch mal einer, der konnte eben nicht mehr. Von der Sonne und und da hat ein Erzieher den geschnappt „Du sollst Dich bücken!“ Wer hat sich neingehangen? Ich. Ich hab gesagt: „Oy, Ihre Nazimethoden können Sie zuhause lassen. Die sind nicht mehr angebracht.“ Der war nämlich beim Militär so n bisschen n Oberster. Man kriegt das ja alles mit. ((lachen)) Und da hat er mich nen ganzen Tag eingesperrt, naja und da war ich halt mal eingesperrt.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:04:16.

5

„Und, dann muss- haben wir Holzschuh angekriegt, mussten wir 14 Tage in Holzschuhen laufen. Ja, solche Sohlen dran und mussten auch mal zwei Stunden am Fahnenmast stehen. Da war ein großer Appellplatz. Das ist ja ein sehr schöner Jugendwerkhof gewesen, in Hummelshain, ge? Naja, und das sind so Sachen. Wir hatten – Es gab auch nen Karzer und da hab – das hat mir eben nicht gefallen, dass da Jugendliche, die gar nicht gespurt haben, die sind eben dann mal zwei, drei Tage in dem Karzer gewesen. Der war im Turm unten drinne. Aber so, wir hatten ne Schneiderei, wir konnten das Nähen lernen, ich hab Gitarre spielen gelernt in Hummelshain.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 00:06:05.

6

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 01.46.04 D1.

7

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011,

8

„Dann kann es eben schnell passieren, dass sie dir ein paar knallen.“, Interview mit SH von AA am 15.02.2011, 00.17.27 D1.

9

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 01:17:08.

10

Diese Episode sei eine „ungünstige Situation“ gewesen, sie sei ja „ansonsten unscheinbar gewesen.“, Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 01.19.00, D1.

11

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 00.10.34 D1.

12

„Ener, en Erzieher war da, das war die Respektperson. Der musste och immer los, wenn welche abgehaun war`n und wieder was angestellt hatten und bei der Polizei eingesperrt war`n, dann musste der los und die alle holen. Und das war ener, naja, ich habs nich erlebt, dass er ma nen Kind geschlagen hätte, oder was. Aber der hat se ma ge-

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nommen hier die Ohren gedreht und was weß ich nicht, gä? Also der hat, vor dem hatten se alle ein bissel Dampf. Naja, es gehört doch och dazu! Das gehört doch mit dazu. Sie brauchen doch ne Respektperson. Aber sonst muss ich sagen, in dem Heim selber, könnten se sagen ne große Familie. Ob Lehrer, oder die Erzieher die wir hatten“, Interview mit GK von AA am 02.03.2011, 00:54:19. 13

„Überhaupt nicht. Sowas gab`s dort überhaupt nicht. Das einzche war, was dort passiert ist, wenn eben welche so abgehaun war`n und richtige Dummheiten gemacht haben, da ham wir immer gesagt, die Telefonzelle. Ein bisschen größer als ne normale Telefonzelle, so`n, so`n, Kapüffderle war da in dem Heim. Was da mal drinne war, weß ich nich. Da war ken Licht drinne, ne dicke gepanzerte Türe und so`n Fenster hier, so vierzschmavierzsch, oder dreißschmadreißsch, kann ich nicht mehr genau sagen.“, Interview mit GK von AA am 02.03.2011, 01:11:55.

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„Der eine war och, äh, kaum das de was gesagt hast, da ging der dir schon an die Gurgel. Ohne, ohne irgendwie, gä? Der war gleich aggressiv. Und der andere och. =Nicht ganz so, aber, der war och. Aber sonst im Allgemeinen, die ham alle zusamm gehalten. So brutal war`n se unternander nich ganz so. Gä? Denn, äh, mir sin ja alle unternander für jeden da gewesen. Es is- Du bist den ganzen Tag zusammen. Da war das vielleicht nich ganz so, aber wenn die draußen war`n dann- Ah, wie se reagiert ham, das wiss man ja nich, kann ja kener wissen, gä? Aber bloß die Kinder untereinander, die ham sich alle vertragen. So, so, böse, oder irgendwie war`n se nich. Kann man nich sagen.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 01:44:49 – 01:45:58.

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„Na, die a- Die durftens ja nich. Die, die drei Frauen, die da, die gewaschen ham und alles gemacht haben, gebügelt ham da drinne, die durften kein Kontakt mit uns aufnehmen. Also reden, unterhalten ja, aber nich irgendwie e ma nehmen, am Kopp, oder ma drücken, sowas das gab`s gar nich. Also so was durfte nich gemacht werden. Das wussten die Frauen ja och und deswegen ham die das auch nich gemacht.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 01.29.08.

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„Aber, da hat der den verdroschen da oben. Können sie sich gar nichvorstell`n. Der hat geblutet wie ein Schwein, der kleene Kerl. Der war vielleicht (2) zehne, elfe. War er. ((gedrückte Stimme, kämpft mit den Tränen)) "Dir werd ich helfen, noch ma abzuhau`n" hat der gesacht.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 00.26.00.

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„Auch andere. Andere auch, nich bloß mich alleine. Er hat auch andere schikaniert. Vielleicht nochma, da hat er den Löffel genommen von dem der dort gegessen hat und hat den Löffel den auf`m Kopp ausgekippt. Da war ein bissel Essen noch drinne, hat der da- "So isst ma", hat er gemacht. (...) Stock steh`n. Das is doch ne Schikane. Das is doch ne Katastrophe für a Kind.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 01.31.23.

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„Ich muss sagen, äh, ich bin immer bestraft worden, nur weil ich für die andern da war. Für die andern Kinder. Wenn ich da was gesagt habe, wenn, wenn e Kind nich essen wollte, zum Beispiel, is doch och passiert. So. Dann "du musst essen!" hat der die angeblägt, gä? Da hab ich mich mit hingesetzt und, und hab dem Kind gesagt, äh, "komm, du", gä? "Klaus", oder wie se alle hießen, "komm, jetz iss", gä? Da hat der mich wieder zusammengeschissen, weil ich das gemacht habe. Der hatte immer was an mir auszusetzen, hatte der immer. Bloß weil ich immer für andere da war.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 01:24:26 -01:27:18.

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„Wenn wir Streit hatten, dann mussten wir uns Boxhandschuhe anziehen und konnten also nicht uns also ..... dass da ein Außenstehender, ein Dritter, schlichtet, sondern nee, hier habt ihr Boxhandschuhe und druff, egal ob der kleiner war oder nicht (2) ((langes Ausatmen/Schniefen)) (7), Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 00:31:08.

20

„In Apolda hab ich nich sehr viele Erinnerungen, wo`s och sehr brutal zuging. I: Wieso? Inwiefern? E.A.: Ach naja, wie soll ich das sagen? Da wurden die, die Kinder, also die kleineren Kinder wie wir am Wochenende immer misshandelt von den großen Kindern und die, die Erzieher wussten das aber. Hat aber keiner was gemacht. I: Also sexuell jetz, oder? E.A.: Nee! Nicht sexuell. Nee, sexuell gar nicht. Nur, nur Gewalt. Sinnlos Gewalt. Das war eben so. Sag ich jetz so ganz locker, aber es war schon nicht schön, aber es ist eben passiert. So vieles ist (...) passiert sowas. Die Erzieher wussten das, haben aber nichts dagegen unternommen. Dann weiß ich aber noch, da gab`s damals- Das hab ich och wieder- Das hat sich eingeprägt- (Ah naja da) drei Geschwister die wohn in Weimar. Die kenn ich och noch. Die ham immer geholfen. Praktisch die große Schwester von denen. Die seh ich auch heut noch. Die große Schwester. Die hab ich nie vergessen, ich sprech sie aber nicht an. Das is nur für mich im Endeffekt. Die hat mir immer geholfen damals, ich weiß nicht warum. Aber das hat sich eingeprägt. Das war`n praktisch zwei Brüder und sie als große Schwester, das is-“ Und: „In Apolda

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war`s eben so, dass de eben Sonntag Frühs, na da haben die Großen eben Langeweile, da musste man sich da an die Wand stellen und da wurde halt mit den Kissen immer volle Pulle drof, bis man halt zusammen gesackt is.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 00.05.00 D2. 21

„Pfff. In Holzdorf gab`s eine Erzieherin die hat immer gerne, wenn was nicht klappte, da hat die nen Schlüsselbund gehabt, so nen ziemlich großen, die hat nicht gefragt, die hat einfach geschmissen. [I: So?] Ja, ja. Die hat den einfach geschmissen. Egal. Einfach geschmissen. Ja, ja. Der ene kricht ihn an Bauch, der andere am Kopf, da hat es mal geblutet und so. Die war eben so. Die hieß G. Ne kleine Blonde, aber mächtigen Wurf hat sie gehabt. Ja, das is so. Aber so in der Regel war nicht das Personal in Holzdorf.“, Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 00:07:13.

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“und, und vor allen Dingen die Selbsterziehung. .... Also, wer, wer da bei der Meinung ganz unter dem Pantoffel stand, also der hat nichts zu lachen gehabt. Gar nichts. Der mu- der konnte nichts. Und die sind dann ja von den Erziehern nun ganz schön angestachelt worden. Nun macht doch mal .... Wenn, wenn die, wenn zu Beispiel, wenn jetzt einer unordentlich war, also unsauber am Körper, das hat mir so leid getan. Da war in der anderen Brigade, da haben die die nur noch, nur noch gejagt, hier in, in, in, in, in den Duschraum, haben die nackig gemacht und haben die mit dem Schrubber geschrubbt. Die konnte aber nichts dafür. Die hat Defizite gehabt. .... Das hat mir in der Seele leid=aber ich war ja in einer anderen Brigade. Ich konnte ja nichts sagen. (2) Also, der haben sie schon ganz schön manche zermürbt. Die Selbsterziehung war schlimm. (4)“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:42:15 – 00:43: 32.

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„Wenn, wenn wir wenigstens; der Werkhof, wenn wir wenigstens dann, wenn wir fertig waren mit Arbeiten, wenn man da wenigstens raus gehen konnte, die Freizeit selber genießen. Oder sagen kann: "Ich, ich geh jetzt mal in den Konsum und hol mir, hol mir jetzt mal eine Tafel Schokolade." Ey das wäre, ey das wäre ein Geschenk für uns gewesen. Aber es war ja nicht. Wir waren ja wie Gefängnis. (2) Das war zwar kein geschlossener, das war eine Einladung zum Ausreißen, sag ich gleich mal so wie es ist. Die das jetzt genutzt haben, die haben, die haben sich selber ins Fleisch geschnitten. Die sind dann nach Torgau gekommen. Die hat es noch schlimmer dann erwischt. (2) Das war richtig Psycho, war das da oben. (2) Wenn du da nicht hier oben wirklich geschaltet hast oder hast=dor- oder hast abgeschaltet. Hast einfach mechanisch dann mitgemacht, so wie die das wollten.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 01:13:38.

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„Da bin ich zu meiner Urgroßmutter gefahren. Und da musste ich ja auch wieder von Weida nach Crimla. Und das mus- und das war ja auch wieder ein Stück, beinah zwölf Kilometer, bis ich nach Weida gekommen bin. Der Urlaub war um, na=ja, so kurz wie immer. War wieder zu kurz der Urlaub. Bin natürlich zu spät von Crimla da hi- da los gelaufen, dass ich nach Weida komm. Mit dem, mit dem Zug dann nach, ((Klopfgeräusch)) nach Kahla, drüben hält der Zug dann. Ja. Und von Kahla musste ich dann mit dem Bus hier ja dann wieder nach, nach Dings. Hä, habe ich nie geschafft. Habe ich nie geschafft. Da habe ich dann einen Kumpel getroffen von, von Weida. Ich habe gesagt: "Weißt du was? ich habe die Befürchtung, ich schaffe es nicht. Kannst du mich mit dem Motorrad hoch fahren?" Da sagt er: "Ja. Aber das nächste Mal wenn du kommst, gibst du mir ein bisschen Spritgeld." Ich sage: "Ich vergesse das dir nie." Haben wir natürlich auch nicht geschafft, gä? Ich war so froh, dass ich überhaupt da oben angekommen bin. Am Ende waren die gerade ((stotternd)) in den Garten drinnen, hier in den Schulgarten, wie wir heutzutage sagen würden. War froh, dass, dass ich dort nun angekommen bin, da haben die mich alle so böse angeguckt: "Wie kannst denn du so spät von deinem Urlaub kommen?" Da waren es so drei Stunden oder zwei Stunden zu spät aus dem Urlaub, oder so. Und da habe ich gedacht: "na=ja." Die Haare waren ja gerade wieder gewachsen. Aber ich bin durch den ganzen Saal geflogen vom Springer. ((Stimme imitierend)) "DA GEBEN WIR DIR MAL DAS VERTRAUEN, DASS MAN DICH MAL IN DEN URLAUB SCHICKT, DA KOMMST DU DREI STUNDEN ZU SPÄT. DU SPINNST WOHL." Ja und dann hat sie, dann haben sie hier von der Hygienebeauftragte von, von, von der Gruppe; saß ich wieder auf dem Stuhl. Haare abgeschnitten. Das war die Strafe und durfte dann die ganze Zeit, wo ich da oben war, nicht mehr in den Urlaub fahren.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:38:06.

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„Ja, und dann abends um fünf ging es dann Richtung Speisesaal. Da haben wir Abendbrot gegessen und dann war Auswertung. Da hatten wir alle Angst. Ach, hatten wir da alle Angst, vor der Auswertung. Weil da stand der Herr Springer schon vorn an der Tür, mit seiner Puddingpfeife, @werde ich nie vergessen@. Der Heimleiter. @(.)@ Ja, da wurde ausgewertet. Wie du gearbeitet hast, wie du dich verhalten hast, die Sauberkeit, da wurde ALLES auf den Tisch gelegt. Alles. Wenn du da mal ein Taschentuch auf dem Tisch liegen lassen hattest, das wurde auch auf zur Auswertung mitgebracht. ...Wie zum Beispiel, ich hatte Angst, ist klar, ich habe ja heute auch mit meiner Enkelin

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immens zu tun, da ging mir mal was ins Bett und das wurde ((klatscht sich mit der Hand auf ihren Oberschenkel)) ausgewertet. Da habe ich mich wieder geschämt, wie so ein Bettseicher. Na=ja, was will ich machen? Aber haben ja nichts dagegen gemacht. Das waren ja bloß so einfache Holzbetten (2) und eine einfache Matratze. Und unten waren nun die kleinen Gucklöcher, die mussten ja, wenn wir zu viert da drin geschlafen haben, die mussten nachts auf und nun ist die Kälte da mit rein gezogen; ist klar. Das konnt-, das konnte sich ja au-, auch nie erholen. Na=ja. Na da hat keiner darauf geachtet.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:35:46. 26

S.H. kannte die Wirtschaftsleiterin des KH Am Friedensberg und hatte Kontakt zu dem KH „Schweizerhöhe“. Dort gab es gewalttätige Übergriffe vom Erzieher, der später Heimleiter in der Wildstraße wurde. „Er hatte gemeint, was soll ich nun machen? Die hatten natürlich auch ganz schöne Probleme.“ Der Umgang mit den Hilfsschülern sei schwierig gewesen. „Die waren auch bekloppt. …Die mussten sie eben tricksen… Die mussten ja mit denen fertig werden.“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 01:09:30.

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„In Blankenburg-Harz, das hab ich vergessen, siehste, die drei Bestrafungsaktion- Stufen die warn ((hustet)) Erst in Einzelzimmer mit Gitter am Fenster, dann die zweite war, im Keller unten einsperren und die dritte war der Ziegenstall bei Gewitter. Da haste als acht bis zehnjähriger ganz schön Schiss. //I: Oh ja.// Wenn de da drinne bist und das Gewitter draußen. I: Und mit Ziegen oder ohne Ziegen? S.C.: Ja, nebenan waren die Ziegen. Der hatte nur zwe oder drei, weiß ich jetzt gar nicht mehr genau, aber die waren- War so`n hoher Zaun dazwischen.“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00.13.00.

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„I: Und hatten sie da Kumpels? US: Ja, durch 'n -, wir ham auch viel Fußball gespielt und so. Na 's ging eigentlich so. Wie ebend überall, ne? Mal so mal so. Ja gab auch mal 'ne Keile oder so, das-. I: Wie zum Beispiel? US: Das wurde, das wurde nachts im Schlaf erledigt. //I: Wie?// Na ja, sagen mer so, es gab ja damals auch schon Leute, die sich eben 'n bisschen einschmeicheln wollten, die da immer verpetzt hatten, na und da wurde das eben so geklärt....Ja es gab eben schon welche, die sich ebend dann versucht ham irgendwelche Vorteile dadurch na? Na, es hat aber dann hat viel Sinn hat's nicht gehabt. (...) die ham wieder gepetzt, und das war war's doppelt so, ne? Na, wie gesagt, 's sprechen in Schlafräumen, das war ja untersagt. Und wenn der Erzieher nachts durchgegangen is und er hat gesehen das de hier quatschst, naja durftest du eben mit raus gehen, da biste eben noch nicht müde. Durfteste dich in den Flur stellen. Haste manchmal bis dreie, viere früh noch im Flur gestanden, dann durftest du wieder zwei Stunden ins Bett gehen, aber dann in die Schule gehen.“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00.40.00-00.41.00 D1

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„Na und wie gesagt, in dem Kinderheim ging's ja dann genauso. Na. Entweder man hat mitgezogen, auch mit den ganzen politischen Sachen. Ne! Oder da gab's ja auch den besonderen Raum, war zwar jetzt nicht ganz so krass wie in den Jugendwerkhöfen, na, aber trotzdem. Da war ebend auch bloß 'n ganz normales Bett drinne, 'n Stuhl, 'n Tisch. Ja und da hat man eben dort das Wochenende auch verbracht. Hm. Dort sin ja auch einige abgehauen. Schon als Kind schon. Warn warn mer ja damals, wie alt war mern? Pff so zehne, elfe? Neune? So in der Drehe. Hmhm. Kam eben immer drauf an äh sin ja viele dort hin gekommen, die die Klasse zwei-, dreimal gemacht ham und dann war eben der Altersunterschied in den Gruppen auch etwas größer.“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00:38:12.

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„Sonst hattest du, wie soll ich sagen? Nichts Schönes. Wenn du nicht gespurt hast dort, das de so wie die wollten, durftest du in den Ferien nicht nach Hause, ich durfte sogar einmal Weihnachten nicht nach Hause, das war, ja das war `72. Da durfte ich Weihnachten nicht nach Hause. Da warn wir, im ganzen Heim 4 Kinder die über Weihnachten dort bleiben mussten. Da mit den 4 Kindern. Da sind ja kene Kosten rein gekommen nix, gä. Hat man aber den vollen Erzieherbetrieb laufen lassen. Bescheuert. Steuerverschwendung in der DDR hoch drei, ne. Und, ja, Bestrafungsaktionen gab`s dort auch, (3) mit weg gucken vorm Erzieher und ja wie gesagt, keine Heimfahrt, lauter so , dumme, blöde Sagen“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00.12.08.

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„I: Hm. Und wenn einer das gemacht hat? SU: War's Essen beendet. Duft er aufstehen, sich daneben stellen und zugucken, wie die anderen essen.“ , Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00:43:12.

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„Oder man wird von den Erziehern noch drangsaliert, ne. Die, noch die Geschichten von den Kindern weiter erzählen, ne. Unter, unter den Kindern wieder, ne. Ne. Und- Und die, die, ja diese Gehässigkeit, die ist grenzenlos. Und Kinder können manchmal wirklich sehr grausam sein. Ich hab das selber erlebt. Für die Schwächeren, geh. Oder, ja. Es- Ja, in, in so ner Gemeinschaft, ja. Da zählt wirklich nur eins, irgendwie fressen oder gefressen werden, ne. ((Schniefen)) Ich bin manchmal selber dem Druck irgendwie-

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Ja. Ich hab's manchmal selber nicht ausgehalten. ((Schniefen)) Und bin immer mal weggelaufen. (4) Aber wenn man vier Mal weggelaufen ist, dann- Ja. Dann kommt, dann kommt dann die richtige Strafe.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00:36:15. 33

„Also die Gewaltbereitschaft unter den Mädchen, die war ja riesig, ne. Das glaubt man kaum, dass es so was gibt. Das hab ich so bei den Jungs-Gr- Gruppen nicht so wahrgenommen, ne (...) Puh, nee. Nee, das ist mir alles, nee, dafür bin ich nicht zu haben. Nee, ich hab mir zwar das von mir gehalten, aber ich hab mich denen nicht angeschlossen. Ich wollt einfach nur meine Ruhe haben. Und das haben die auch respektiert.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 03:15:06.

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„Weil die Erzieher ja selber weggeguckt haben. Also wie kann das sein, dass eine Nacht die Nachtwache da ist und wenn ein Neuling da ist, die Nachtwache nicht da ist. Das ist doch komisch, oder? Wenn man mal so drüber nachdenkt.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 03.15.30.

35

„Es gab schon mal blaue Flecke (9) ansonsten (3), die Erzieher oder was das waren, das hat die eigentlich auch nicht so richtig interessiert, wer sich da schlägt und wer nicht (2). Richtig eingeschritten sind sie am Ende dann nicht, am Ende.“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:43:16.

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„Na, dass du da drinne bist überhaupt. (3) Das waren halt dann auch Kunden dabei, die hatten 's dann auch faustdick hinter den Ohren, weißte. (4) Gab es schon mal die eine oder andere Drescherei oder so ging das dann rasch los, im Jugendwerkhof. (3)…manche wollten sich halt behaupten, … die Größten sein, bissel was zu sagen haben…“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:39:35 – 00:39:41; die, die sich alles gefallen lassen haben, den ging es schlecht: „Anscheinend so`n Gesetz, wahrscheinlich. Wenn man sich nicht wehrt und macht was die andern wollen-„ Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 01:16:48 – 01:16:59.

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„Ich meine da gab's schon zwei, drei Erzieher, die da ein bissel über die Strenge manchmal geschlagen haben, […] da haste schon mal 'ne Ohrfeige gekriegt oder so, wenn du nicht das gemacht hast, was sie wollten (4).“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:30:12.

38

„Also wie gesagt, wir durften ja auch jetzt zum Beispiel nicht draußen mit den anderen Jugendlichen oder so – quatschen. Das war ja alles eigentlich untersagt. Die jetzt so in der Nachbarschaft gewohnt haben oder so zu reden.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:21:13.

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„Also, erstmal Handgreiflichkeiten auch, dann weiß ich noch, - da hatten wir eine dabei, die war halt nicht ganz so – hygienisch, sag ich mal. Ja, die haben sie dann halt unter die Dusche gestellt und mit dem Schrubber und mit Ata und kaltes Wasser (3) abgeschrubbt. und die anderen mussten dann halt zugucken. (3) Oder mitmachen, sonst hätten sie vielleicht auch noch n paar drauf gekriegt. (2).“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:03:47.

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„Und dadurch das mer- aber das war wohl allgemein im Kinderheim früher so, wir sind ja politisch, äh, umorientiert worden, ne? Das wir ein ordentlicher sozialistischer Bürger werden sollen. Äh, dementsprechend ham wir auch, ähm, politische Agitation gehabt jeden Tag. Wir mussten jeden Tag die aktuelle Kamera gucken, haben politische Gespräche führen müssen, sind geschult worden vom SED-Kreisleiter von Stadtroda, also wenn da jemand in die Partei eintreten wollte und der hat die geschult, genau dasselbe mussten wir als Kinder, mussten wir das lernen. Alles, das, das is- Also Ideologie wurde da ein- eingebläut, die ... Womit kener was anfangen wusste eigentlich in dem Alter, ne? Da geht man raus spielen oder sonst irgendwas. Und macht nicht sowas.“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00:03:49.

41

„Richtig. Es sei denn, man is kräftig und die lassen`s dann sein. Das Glück hat ich, ne? Also mich hat dann kener angefasst dort. ((holt Luft)) Aber, ähm, wie gesagt, ich bin dann immer wieder weg dort. Auch nach Torgau. Ich bin entlassen worden aus Torgau, bin zurück gekommen, bin den nächsten Tag sofort wieder w-, weg. Weil ich hab das nich eingesehen.“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00.48.00-00.52.00 D2.

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Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00:32:45.

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„Also es is so, wenn die Polizei mich manchmal verhaftet hat, dann war ich ja auch in Einzelzelle. Also ich kannte das schon, das Gefühl. Ähm, allerdings nicht die Länge. Wie gesagt, hier warn`s zehn Tage oder so, ne? /Ja, das is natürlich, da geht drei Mal am Tag geht die Klappe auf, dann kriegst de dein Essen rein, oder, äh, du musst eine

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Stunde Sport machen, ne? Das, dazu ham se dich raus geholt, aber ansonsten gar nich. Und weil man eben sich nich ins Kollektiv eingegliedert hat, sag ich jetzma, gab`s dann immer noch en oben druf von, von der ganzen Gruppe, sag ich jetzma, ne?“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00:51:43. 44

„I: Sind Sie auch in diesen – in dieser Zeit verprügelt worden, von anderen? Also im Hof, im Jugendwerkhof, im Heim, in der Psychiatrie? K.A.: Wenns jemand versucht hat, dann hab ich sofort zurück geschlagen. Also ich war immer der Sieger. Ich war immer sehr kräftig. – Der Wille wahrscheinlich.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00:52:12.

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„Also wenns – Prügeleien gabs eigentlich nicht. Wenn mal jemand ähm, Prügelei anfangen wollte oder eben – die gingen ja meistens nicht gegen die Gruppenmitglieder, sondern gegen die Erzieher oder gegen die Gruppenmitglieder, die gedacht haben – die halt (2) die rechte Hand vom Erzieher waren, sozusagen. Das merkt man ja. So ne Arschkriecher. Wenn man da versucht hat, dann ist man in die Zelle gekommen. Also ich war mehrmals in der Zelle.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00:29:13.

46

„Weil früher ist immer die Gruppe vom Heim- wenn man im Heim oder Jugendwerkhof war, ist immer wenn einer Mist gemacht hat, und meistens war ich das, die Gruppe dafür bestraft worden. Und, das hat halt lange gedauert ehe ich das begriffen hatte (4) …“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00.10.00 D1.

47

„Also da ist es zum Beispiel so gewesen, auch einmal, ähm, da wußt ich zum Beispiel nicht, was ich mache. Das war, da war ich überfordert mit der Situation. Ich wollte dem Mädchen helfen – und zwar ham se der die Klobürste hinten rein gerammt. (2) und (2) die ham alle angefeuert, und ich bin dann dazu gekommen und konnt gar nicht glauben, was ich da sehe. //Hm// (3) Und hab dann was dazu gesagt und dann ham se gesagt „Du bist auch gleich dran.“ Und normalerweise hab ich ja immer dann (2) gedacht „Nee, du bist die Stärkere.“ Aber da konnt ichs dann nicht. Da – das war zu viel für mich. Und da warn ja auch mehrere. Das warn ja von zwei Gruppen – und das waren so viele dann und ältere ..... Also da hab ich lange zu knabbern gehabt auch. Das hab ich dann eigentlich gut vertragn – verdrängen können. Aber das war schon krass. Also da ham se – und es muss wohl nicht das erste Mal gewesen sein. Also die müssen Wa- im Waschraum immer mal Aktionen gemacht haben. Da weiß ich Gott sei Dank nichts von. Das will ich auch gar nicht wissen. (2) Also mich ham se nicht dran genommen. (3) Wahrscheinlich weil eben schon bekannt war, dass ich aus der Gruppe unten, wo ich in der Zelle war, - na eben das (3) Gott sei Dank.“, Interview mit KA von AA am 15.03.2011, 00:56:12.

48

„I: Hm. Aber also würden Sie sagen, dass es innerhalb der, der Jugendlichen dann damals Gewalt gab? R. M.: Ja. (2) I: Und also wie oft so...?, jeden Tag oder musste man irgendwie ständig damit- oder daran denken oder? (2) R. M.: Naja, man war schon ständig damit konfrontiert also Gewalt ist auch ein Wort, das ist dehnbar. Es gibt körperliche=physische Gewalt und es gibt auch psychische Gewalt, also psychische Gewalt ist für mich, wenn der Gruppenführer (2) also ganz absurd (2) im Nachhinein, wenn=wenn der mich nach ‚ner Zigarette fragt. So. Ich hab keine Zigaretten. Ich hab genauso viel Zigaretten wie der auch ((räuspert sich)), so und da kannst du, du nicht NEIN sagen. Also das, das ist schon psychische Gewalt.“ Gibst du dem keine Kippe, dann äh endet das in körperlicher Gewalt beziehungsweise hat der dich aufm Kieker und dann biste halt morgen dran. So. (2) Oder halt, das halt beim Fernsehgucken, was weiß ich, da (2) (4) na das man halt irgendwelche Leute rumschickt, irgendwelche Dienste zu erledigen, halt frag mich nicht ((lautes Ausatmen)) (9) ja geh mal in mein Zimmer und hol mir mal mein, mein, meine Kekse irgendwie sowas. Das ist keine Gewalt im herkömmlichen Sinne, aber letztendlich ist es- //I: Druck ja.// Ich hab keine Lust dem seine Kekse zu holen und ich muss die aber holen. Das ist Gewalt.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 00.47.30-00.48.00 D1.

49

„Wie gesagt, ich, wir ham Torturen erlebt, die ganze Zeit erlebt in dem Heim. Das war jeden Tag, also jeden Tag war irgendwas-, gar keine Ruhe.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.20.10 D1.

50

„Der der oben stand hat den Druck nach unten weiter gegeben. Kann man so sagen. Das kam dann so an einem vorbei geflattert. Da gab's mal auf die Fresse oder äh viel wurde so auch äh, wie wurd es genannt? (3) Sozialistische äh Selbsterziehung.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.51.00 D1.

51

„Du warst 'ne verwahrende Ware. Ich hat auch mal 'ne Nummer gehabt, also -Das is ja immer alles nach Nummern (...). So, deine Bettwäsche, deine Handtücher, dein Seifenbeutel. Manchmal hast de schon gar kein Namen mehr gehabt. Ham die einfach nur vorne ausgerufen, hier hundertsechzehn. Musstes da vor tuckeln, hier! Manchmal hast dein Namen gehabt, manchmal hast nur deine Nummer gehabt.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.58.30 D1.

Anhang

178

52

„Also da musste man so mit so 'nem Wachs musste man erst den Flur einwachsen un dann gab's so 'n großen Blocker, der war nach meiner Auffassung wol- der war schon so 'n großer schwerer (Hocker), das is so aus Guss, mit so-, was is 'n da unten drunter? Bürsten oder Filz? Oder sowas. Un da is so 'n langer Holzstab dran un vorne halt dieses große eiserne Ding. Un (dieses) biste dann halt immer schön wieder drüber gegangen, bis der Flur geglänzt hat. Also spiegelglatt. Und das haste stundenlang gemacht da geblockert, also. Ja.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00:16:10.

53

„Also Strafen warn-, das ging -, war 'ne Tortur über die ganze Heimzeit. Also das die Erzieherinnen-, also diese Frau E. war-, die is mir so in Erinnerung geblieben. Also ich könnt die auch heute noch beschreiben, wie's damals aussah, was se für 'n Moped gefahren hat. Ihre Lieblingssänger, also ich ich weiß alles noch von der Frau, ich hab die nie vergessen, die is halt eingebrannt. Ihre Lieblingsbeschäftigung war halt immer so erstmal frühs so, Bettennoten und so halt. Wenn man dann von der Schule kam dann so nach 'm Mittag, wenn das einigermaßen geklappt hat un man hatte halt wieder 'n Eintrag im Tagebuch, also da gab's so, die hatten so 'n großes Buch gehabt, das ge- is auch immer mit in die Schule gegangen, dann so Tadel und so 'n Zeug kam da rein oder die Mitarbeit nich entsprechend war, war halt so ihre Lieblingsbestrafung halt so, so dieses Kneifen. Die hat so in die Haut rein und so rumdrehen un mit diesen diesen Fingern, das war halt auch in der Schule 'ne beliebte Strafe, so mit diesen Knöcheln hinten so über 'n Hinterkopf, so an diesen Knochen hier hinten. Das dann so drüber ziehen, so mit Vollgas so Zack! Also Rubbeln ham die das halt genannt. Das war halt immer so Lieblingsbeschäftigung. Oder Strafen aussprechen wie Flurblocker oder Schuhe putzen für die ganze Gruppe. So das man wirklich schön als Arschloch da stand so.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.14.00 D1.

54

„Ah dann ging's halt zum Frühstück. Das war auch so 'ne Tortur halt für mich. Dieses in Reih und Glied. Also alle antreten so in Reih und Glied. Un so ging's halt in Speisesaal. Das war hier in Bad Langensalza war das so ein langgezogener Komplex. Da standen die Tische in Reihe, halt so, jede Wohngruppe hatte ihren Tisch. Un (3) dieses lautlose Setzen. Das war das-, man durfte nich reden, kein Wort sagen. Also auch aufm Weg dorthin. Hat jemand gesprochen ging's wieder zurück. Da fing das halt wieder von vorne an. Wieder dorthin zu laufen und keiner durfte ein Wort sagen, also überhaupt nich. Ja! Da war Sprechverbot. So hieß das halt. Sprechverbot. (3) Ja und dann halt dieses lautlose Setzen. Dann mussten wer uns halt alle vor unsre Stühle stellen und dann gab's so 'ne Technik den Stuhl halt mit einer Hand anzuheben, an der Seite an sich vorbei zu führen, dann z- n- diesen, dis warn so Metallstühle mit so 'n Metallrohr und so 'n Lederding, so, das andre Teil dort zu greifen, das so hinter sich zu stellen und dann so lautlos zu setzten. Un erst wenn das geklappt hat, das wurde so oft wiederholt, frühs auch, also da hat gar keiner drauf geachtet, die Erzieherin saß vorne und wenn der das nich gepasst hat un die hat 'n Geräusch gehört, dass jemand da mit 'm Stuhl auf-, das war so, wie draußen so Steinfußboden. Und hat die gehört, dass da wirklich bei jemanden das nur einmal richtig geklackert hat, egal wer schon gesessen hat, alle wieder aufstehen, also definitiv alle wieder hoch und dann mussten das alle halt wiederholen. Oder derjenige, der das nich gemacht hat durfte sich hinter seinen Stuhl stellen, musste den Stuhl halt ran machen, hintern Stuhl stellen un dann war das Essen gestrichen. Also dann gab's halt kein Frühstück, ja!“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.08.00 D1.

55

„Und sie is halt auch diejenige gewesen, die halt auch - ja, heute kann ich ja 'n bisschen schon drüber sprechen so. Beim Duschen halt es is- (4), so -, ich hab das damals nich so aufgefasst, aber heute is halt 'ne Demütigung eigentlich so. Ah das se halt nach 'm Duschen so sich's Geschlechtsteil zeigen lassen so. Ma musste halt seine Vorhaut zurückziehen un wenn se halt der Meinung war, 's war halt nich so, dann-, die hat immer so 'n (...) in ihrem Dings. Und hat's de halt mal 'n Geschlecht geschlagen, wenn 'se der Meinung war 's war nich-. Pamm, da gab`s einen drauf, wieder ab, mit Seifenbeutel-. Ach der ganze Scheiß. (3) Schlechte Frau gewesen, böse Frau. (3) Ja, un dann halt nachmittags warn wer dann halt regelmäßig Hausaufgaben angesagt. Ausgänge in die Stadt gab's nich. Also, ich weß nich, ich war drei fast vier Jahre dort, ich war zwei oder dreimal nur in der Stadt. Also in Bad Langensalza. Ansonsten nur aufm Heimgelände.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.16.10 D1.

Anhang

179

Tabelle 6: Die Entlassung aus dem Spezialheim: Erinnerung, Anpassungsprobleme und Stigmatisierungserfahrung. Pseudonym und Geburtsjahr Kristin Bäumelein 1937

Silvia Hasel 1943

Gregor Kastanie 1943

Entlassung im Jahr

1954

1960

1958, SKH

Alter

Erinnerung an den Entlassungstag

17, JWH

Rausschmiss, weil sie zwei EZ beim Knutschen ertappte und den Vorfall dem Heimleiter meldete. 1

17, JWH

15

Georg Platane 1943

1959, DH

16

Tristan Murau 1958

1972, SKH und 1974, SKH

12 und 16

Der Stiefvater holte sie vom Bahnhof ab, aber sie verbrachte die Zeit bei einem Friseur, während der Stiefvater wartete, erst am Abend ging sie nach Hause. 4

Er geht nicht darauf ein. Wird nicht erzählt. MA der JH unerwähnt im Interview.

Er geht nicht darauf ein. Wird nicht erzählt. MA der JH unerwähnt im Interview.

Keine Erinnerung. 9 MA der JH unerwähnt im Interview.

Anpassungsprobleme Ja, die Narration wird darüber unklar, ein Studiumsplatz bekommt sie nicht, leidet unter Einsamkeit. Problemen mit ihrem „Vormund“, der ihre Hilflosigkeit ausnützt und ihrem Lehrer, die sie verführen will. 2 Ja, wohnt bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, die in bescheidenen Verhältnissen leben. Dem Stiefvater war es sehr peinlich, dass sie im JWH war. Sie sucht eine Arbeit und findet bei einem Autoschlosser eine Stelle als Bürohilfe. Nebenbei absolviert sie den Facharbeiter Handelskaufmann. Als Folge der Einweisung in den JWH, konnte sie nicht den Abschluss der 10. Klasse machen. Ein solcher Abschluss wäre sehr wichtig für sie gewesen und beeinträchtigt noch heute ihre Selbstbestätigung und ihr Selbstvertrauen. Nein, wohnt bei den Eltern. Im gleichen Jahr nahm er eine Lehrstelle zum Werkzeugmaschinenschlosser an, die er 1961 beendete. Danach meldete er sich freiwillig zur Armee aus welcher er im August 1963 entlassen wurde.

Nein. Nach dem Heim beginnt er sofort eine zugewiesene Lehre bei der Bahn, muss noch eine Weile bei seiner Tante leben, da seine Mutter ein paar Wochen später aus dem Gefängnis entlassen wird. Danach zieht er mit ihr wieder in die alte Wohnung. 7

Erste Entlassung aus Altengottern: Mutter irritiert, muss ein Zimmer für ihn frei räumen. 10 Kaum Erinnerungen an die zweite Heimentlassung aus Bad Blankenburg, will einfach nur noch die DDR verlassen.

Stigmatisierung wegen der Heimzeit damals erlebt/empfunden Nein. 3 Ja, Berufschancen versperrt. Sie stört sich daran, dass ihr Kolleginnen getragene Sachen mitbringen. 5 Sie fühlt das Misstrauen ihrer Kollegen, und wenn Geld aus der Kasse fehlte, wurde sie zuerst verdächtigt. Sie berichtet sehr aufgeregt „Und was war’s? Ich wieder.“ Sie suchte sich daher eine andere Arbeit. Wird immer wieder wg. Diebstahl verdächtigt. 6 Nein Nein. Er erlebt sogar Solidarität als Heimkind in der Schule. Stigmatisierung erlebt er insofern, als dass er keine freie Berufswahl hatte und sich in seinem Lebensweg eingeengt fühlt. Direkte Ablehnung von anderen Menschen schildert er aber nicht. Heimzeit und Inhaftierung der Mutter wurden weiterhin in der Gesellschaft tabuisiert. 8 Scham über seine Erfahrungen im Heim führen zu einer Tabuisierung seinerseits. 11

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Emil Andersen 1958

180

Entlassung im Jahr

1965, KH 1966, DH 1966, SKH 1969, KH 1970, SKH

Zora Ilex 1959

1977, JWH

Siegfried Caktus 1960

1970, SKH und 1975, SKH

Alter

7, 8, 10, 11

18

15

Erinnerung an den Entlassungstag

MA der JH unerwähnt im Interview. Die Erinnerung an seine Odyssee durch die Heime überlappt die Erinnerung der jeweiligen Entlassungen.

MA der JH unerwähnt im Interview.

SC hatte einen guten Kontakt zu seinem Betreuer von der Jugendhilfe.

Anpassungsprobleme

Stigmatisierung wegen der Heimzeit damals erlebt/empfunden

Ja, EA beschreibt die Zeit der letzten Entlassung als Absturz, weil er zu seiner Mutter zurückmusste. Dies funktionierte nicht. Er verbrachte daraufhin viel Zeit zusammen mit Freunden, mit denen er oft „rumlungerte“ und Alkohol konsumierte. Mit 14 Jahren lernte er eine Schaustellerfamilie kennen, bei denen er arbeitete und eine Unterkunft fand. Jene gab ihm das Gefühl, geliebt zu werden und war ihm immer eine Stütze. Nach eigenen Angaben hat er nur deshalb 1975 die 10. Klasse abschließen können. Nach seinem Abschluss zog er nach Weimar zu seinen Großeltern und begann eine dreijährige Ausbildung zum Maschinenbauführer.

Nein. Er erzählt von keiner solchen Erfahrung. 12

Die Zeit nach der Entlassung war „grausam“, sie wohnt bei der Patentante, die bald wegzieht, worauf sie keine feste Wohnung mehr hatte, keine Arbeit, wird wg. § 249 verhaftet. 13

Er muss zu seinen Eltern zurück, wohnt bei seinen Eltern, und versteht sich mit seiner Mutter gar nicht. 15

Ja, im Dorf: sie hat für ältere Leute im Dorf eingekauft, aber deren Verwandtschaft war mit der Hilfe meist nicht einverstanden und hat Frau Z.I davon gejagt und als Bastard beschimpft. Es kam ihr kein Mitleid sondern Missachtung entgegen. Dann auf der Lehrstelle, sie kann nicht Krankenschwester werden, die fühlte sich „abgestempelt“ „wie vorbestraft“. 14 Später wollten ihre Schwiegereltern mit einem ehemaligen Heimkind nichts zu tun haben und haben den Kontakt zu ihr abgebrochen. Ja, es ist sein Lebensthema. 16 Er bekommt die gewünschte Lehre als Bäcker nicht, er verliert beinahe das Sorgerecht, usw.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

181

Entlassung im Jahr

Alter

Erinnerung an den Entlassungstag

Anpassungsprobleme

Stigmatisierung wegen der Heimzeit damals erlebt/empfunden

Ja, mit 13 kehrt zurück zu seiner Familie, aber er passt sich weiterhin nicht an. Vielmehr ärgert er zusammen mit einem Freund die Pioniere, indem er Altstoff, der für die Pioniere von den Menschen herausgestellt wurde, abholt. 17 Sebastian Uhl 1964

1977, SKH und 1980, JWH und 1981, JH

13 und 16 und 17

Sophie Blatt 1965

1976, KH 1979, DH 1981, Psychiatrie + DH 1983, JWH

11, 14, 16, 18

Wird nicht erzählt.

Nicht erwähnt.

MA der JH unerwähnt im Interview. Sascha Hartriegel 1967

1981 und 1986

14 und 18

Weder der erste noch der zweite Entlassungstag werden erzählt.

Entlassung aus dem JWH (nachdem er vier Monate in Torgau gewesen war), Unterstützung der Eltern, LPG, Konflikt. 18 Er beleidigt unter dem Einfluss des Alkohols eine pol. Delegation und wird verhaftet. Sein Sohn wird geboren, als er im JH sitzt. Nach der Entlassung heiratet er die Mutter seines Sohnes und zieht mit ihr in eine Wohnung in Gera. Er arbeitet im Werkzeug- Maschinenwerk in Gera und macht dort auch seinen Kranführerschein. Später arbeitet er als Beifahrer und am Wochenende als Maurer. Nach der ersten Entlassung mit 10 kehrt sie Heim, wo es immer brutaler wird. 20 Nach der zweiten Entlassung mit 18 ist sie voller Hass, Verzweiflung und Orientierungslosigkeit. Sie will nicht nach Hause und findet bei einem Bekannten ein Zuhause. 21 Erste Entlassung nach dem KH. Er bekam Geld für die Fahrkarte und ist mit dem Bus nach Stadtroda gefahren und von dort mit dem Zug nach Hause, wo ihn die Mutter vom Bahnhof abholte. Er wohnt bei ihr Ihm wurde eine drei jährige Lehre als Ausbaumaurer zugewiesen. 22 Zweite Entlassung: Kehrt zu seiner Mutter zurück. Es gelingt ihm, seinen Alltag über die Arbeit zu strukturieren, bald lernt er dort seine spätere Ehefrau kennen.

Misstrauen ihm gegenüber. 19 Gefühl, ständig unter Kontrolle zu stehen.

Stigmatisierung erlebt sie auf unterschiedliche Art und Weise. Sie verschweigt ihre Jahre in den Heimen, hat das Gefühl, dass niemand ihre Erlebnisse glauben wird.

Ja, seine Schulkameraden haben sich abgewandt und Misstrauen bekam er in der Wäscherei zu spüren. 23

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Sabine Mirabelle 1967

182

Entlassung im Jahr

1984

Alter

17

Erinnerung an den Entlassungstag

Sie erzählt kaum über jenen Tag. Mit dem Zug fährt sie allein nach Hause zurück. 24

Bert Schneider 1970

1988

18

Wird nicht erzählt, nur dass er gleich zu seiner Freundin zog, die mit ihm schon ein Kind hatte. 27

Karin Ast 1971

Kinder- und Jugendpsychiatrie, 1986 JWH, 1988, Torgau, 1988, JH, 1989

15, 17, 17, 18

Es wird nicht erzählt, sie wurde aber aus einem JH entlassen, in welchem sie die besten Monaten ihres Lebens verbrachte, war also traurig, diesen Ort zu verlassen.

Anpassungsprobleme

Arbeit in der Wäscherei bei der Stadtwirtschaft, wo ihre Eltern tätig waren. Sie heiratet schnell, mit ihrem Mann kann sie über die Jugendwerkshofzeit - keine Einzelheiten- reden. Er war auch schon vorher im Gefängnis („lange Haare – wieder in der Richtung, die nicht ins Bild passt“), nach der Hochzeit entpuppt er sich als Schläger; sie kann sich nicht erklären, wie es dann so umgeschlagen ist; knapp über ein halbes Jahr verheiratet, dann Scheidung eingereicht, weil es auf Arbeit und mit ihm eskaliert ist – das ist dann zusammen gekommen. 25

Schwierige Zeit, weil er entlassen und gleichzeitig Vater wird, aber keine Lehre hat. Dennoch eine Wohnung und eine neue Familie. Die Beziehung kriselt bald, die Wende kommt, und damit auch der Westen, das Gefängnis. Ja, sehr schwierig, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, sie lässt sich treiben, wird Alkoholikerin und spielsüchtig. Nach der Entlassung aus dem JH arbeitet sie zunächst, sie fühlt sich aber allein. Sie hat aber auch Freunde, die allerdings kriminell sind. Sie geht nach Hessen und arbeitet wieder, wird aber dort entlassen, weil sie sich den sexuellen Bedrängungen des Chefs widersetzt. Sie arbeitet ohne Arbeitsvertrag in einer anderen Kneipe und rutscht anschließend in eine Drückerkolonne. Nun lebt sie über Jahre in illegalen Strukturen, ist zeitweilig obdachlos. Sie bekommt eine Tochter vom Chef der Drückerkolonne mit dem sie auch verheiratet ist. Die Ehe scheitert. Und sie schafft den Ausstieg im zweiten Anlauf.

Stigmatisierung wegen der Heimzeit damals erlebt/empfunden Sie gerät in eine Gruppe mit schlechtem Einfluss – Diebstähle, die ihr in die Schuhe geschoben werden sollen, obwohl sie nichts damit zu tun hat – kommt mit blauem Auge davon; das war etwa 1986; - hat in der Zeit ihren Mann kennen gelernt, der sie davor bewahrt, da wieder abzusteigen, 1988 geheiratet. Bemühungen, den Arbeitsplatz zu wechseln; keine Probleme mehr im neuen Betrieb; Kontrolle der Jugendhilfe in der Schwangerschaft bis 1988. 26 In der Schule nach der ersten Heimeinweisung wird er als „Aussässiger“ behandelt. 28

Stigmatisierungserfahrungen werden gemacht, nehmen aber keine zentrale Stellung in der Narration ein.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Robin Mistel 1972

Simon Rüster 1976

183

Entlassung im Jahr

1989, JWH

1990, SKH

Alter

Erinnerung an den Entlassungstag

17

Die Entlassung verläuft ziemlich ungeordnet. Er bekommt nicht mit, dass die Mauer gefallen ist, bemerkt aber wohl die Verwirrung innerhalb der Belegschaft. Da er die Situation nicht einschätzen kann, sieht er davon ab zu fliehen und sich dadurch keinen erneuten Ärger einzuhandeln, sondern sitzt seine Zeit bis zum Schluss ab. Er hat ohnehin nur noch wenige Wochen bis zur offiziellen Entlassung. Sein Vater verschafft ihm im Anschluss daran eine Arbeit in der LPG. 29

14

MA der JH werden nicht erwähnt. Er ist überrumpelt damit, chaotische Zustände im Heim, EZ verschwinden nach dem Mauerfall. 31

Anpassungsprobleme

Stigmatisierung wegen der Heimzeit damals erlebt/empfunden

Keine Angaben. Er betont seine Aversion gegen Zwang und Fremdbestimmung nach seinen Erfahrungen im JWH und die damit einhergehenden beruflichen Problemen.

Ja, wohnt bei seinem depressiven Vater, es geht bergab, SR rutscht in die Kleinkriminalität ab.

Im Dorf haben die Bewohner distanziert reagiert. 30

Ja, 1990, in der Schule, die er nach der Heimentlassung besuchen soll, fühlt er sich ausgegrenzt. Diese Erfahrung ist so massiv, dass er daraufhin der Schule fern bleibt und auch von zu Hause wegläuft. 32

1

„Na der hat gesagt: „Du hast hier nichts mehr zu suchen, du gehst nach Hause.“ Na, die Erzieherin hat das dem Heimleiter gesagt, ich hätte mich verweigert, den Anordnungen nicht gefolgt und da hat er eben mich raus geschmissen.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011,

2

„Mein Vormund hat sich da reingehangen und auch der Lehrer. Ja und der Lehrer hat mich da immer besucht in Neustadt, ich war ja nu ganz allein. Ich hat ja gar niemand. Und da hat er dann mal geschrieben, er könnt sich nicht mehr zurückhalten und er hatte vier Kinder und er war 17 Jahre älter und da hab ich - (2) Für mich wars schlimm. Ich hatte dann gar niemand mehr“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 01:21:50.

3

„Nee. Aber ich hab nie n Geheimnis draus gemacht. //Hm// (5) Weil ich – ich wusste, ich hatte meine Fehler und meine Schwächen und ich bin dort – aus mir ist was geworden dort. Die haben mich erstmal richtig wieder auf die Beine gebracht und auch, geistig und moralisch und so, und – Ich hab da nie n Geheimnis draus gemacht.“, Interview mit KB von AA am 24.02.2011, 00:55:23.

4

„Ich war dann gewöhnlich“. „Das färbt ja ab…man ist ja dann auch nicht mehr vornehm.“, Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 00.08.45 D1.

5

Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 01.34.14 D1.

6

„In deinem Lebenslauf hast du dann immer den Jugendwerkhof drin, und das bleibt.“, Interview mit Silvia H von AA am 15.02.2011, 00.12.07 D1.

Anhang

184

7

„Also bin ich dann ins Heim gekommen, und wo das die Zeit des Heimes rum war, ham die gesacht "du musst ne Lehre, du fängst bei der Eisenbahn an mit lern". Ich hatte gar ken Intresse dran gehabt in, an der Eisenbahn zu lern. Und von meim Vater die Schwester, Gott hab sie selig, hundert und vier Jahre is sie geworden, die hat mich aufgenommen nachher. Ich bin dann ausm Heim entlassen worden, am dreißigsten August und am ersten September hab ich die Lehre angefangen.“ Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 00.43.30.

8

„Wenn de dann in die Schule gekommen bist und die ham von ihrern Eltern erzählt und alles drum und dran, du hast auf en mal keine mehr. Weil sese dir weg genommen ham. Das is dann hart. Da hab ich manchma geschluckt. (2) Und die ham, und dann, dann sag ich immer wieder, die Kinder die mit mir in die Schule gegangen sind, alle Achtung vor denen. Die ham sich immer fair mir gegenüber verhalten. Und das hab ich den, vergess ich den heute noch nich.“, Interview mit GP von AA am 18.02.2011, 01:42:26 – 1:43:35.

9

„Dunkel. (3) Dunkel. Ich weiß nur eins, dass es von heute auf morgen hieß, du wirst entlassen und meine Eltern wussten da auch von=von gar nichts. Das=das weiß ich noch. (2) Die waren gar nicht darauf vorbereitet. (3). I: Haben Sie sich gefreut? M.: ((langes Ausatmen-Nachdenken)) (6) Ich hab das nicht mehr so in Erinnerung (5) Ich hab das nicht mehr so in Erinnerung.“, Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 00:22:56.

10

„Ich weiß nur, dass meine Mutter ziemlich äh=äh (2) erbost war (2), dass=dass niemand Bescheid gesagt hat, ja? (2) Weil es musste ja wieder ein Zimmer her- Mein Zimmer musste ja wieder hergerichtet werden, ja. (6,5)“, Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 00:21:15.

11

„Ich habe mich geschämt, weil ich habe mich verantwortlich gefühlt dafür, (2) weil die Schuld lag bei mir. Du warst nicht angepasst gewesen. (4). I: Ist das auch Ihnen gesagt worden im Heim? T. M.: Nee, das hat man uns nicht direkt gesagt, aber das war schon- also (2) von der ganzen Kommunikation her, vom ganzen Handeln her (3) Also das war Haft für mich, also richtige Haft. ... Oder ich war mal bei 'nem Therapeuten gewesen, der hat zu mir gesagt, seien Sie doch froh, dass Sie im Kinderheim waren, (2) OHNE mich anzuhören (3) ich meine, ich bin der Überzeugung, dass ... da einige Kinder dran waren, die Probleme hatten mit dem Elternhaus. Aber denen ist ja nicht geholfen worden, im Gegen=im Gegenteil. (11)“, Interview mit TM von AA am 16.03.2011, 00:48:04.

12

„Aber die Polizei war schon da, hat mich wieder mitgenommen und ham mir dann auf`m Revier ihr Essen gegeben, damit ich was zu essen bekommen habe. Und das Kuriose war, als ich 1980 zur Polizei gegangen bin, saßen die noch da. Die alten Herren und wussten genau wer ich war: "Du bist doch der aus der Friedensgasse. ((lacht)) Mit dem wir unser Brot geteilt haben." Ich sag: "Ja, der bin ich.", Interview mit EA von AA am 28.04.2011, 01:07:35.

13

„Meine Entlassung war grausam. Es war schon grausam der Werkhof, aber es war dann auch grausam draußen. Ich bin in so ein tiefes Loch gefallen. Du hattest ja keine Ansprechpartner, gar nichts. Du bist plötzlich aus irgendeinem Rahmen herausgefallen. Ich konnte nicht mehr aus, zum Jugend- Jugendamt gehen. Ich war ja achtzehn. Und ich hatte auch nicht, ich habe, ich bin irgendwo bin ich wohin gestürzt. Und meine Tante hatte dann wahrscheinlich auch nicht mehr so. Da war der Alkohol, wie=hat wieder eine ganz große Rolle gespielt. Ich hätte, normalerweise ((Papier knistert)) hätte ich ganz schnell in die psychische, psychische Behandlung gehen müssen. Aber, als Jugendliche habe ich da nicht daran gedacht. Ich wollte mein Leben genießen. (2) Ja, meine Tante war fort. Ich zu dem Freund ((rattern)). Und die=die haben auch gut dem Alkohol zugesprochen. Bis ich mich dann aus eigen-, schweren Herzens von der Familie getrennt habe. Ja, und dann bin ich dann von einer Wohnung zur anderen. Ich hatte ja keine Wohnung.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 01:06:53.

14

„Ich habe die Tage gezählt, bis ich achtzehn wurde, @ (.)@ dass ich dann endlich sagen konnte: "Ich bin raus." Aber dann ging es ja los, nach der Entlassung. Da warst du abgestempelt. Das war, war genauso wie vorbestraft. "Was haben Sie denn jetzt, bis jetzt gemacht?“, wenn du irgendwo eine Arbeit gesucht hast. Wenn du sagst, du kommst vom Jugendwerkhof, das war ja schlimmer, als wenn du im Gefängnis warst. Ich sage: "Es tut mir leid, aber ich habe nichts gemacht. Ich sollte eigentlich ins Kinderheim kommen." Das wollten die gar nicht hören. Na=ja, und so; ich wollte ja eigentlich Krankenschwester lernen, also ich wollte auch direkt examinierte Krankenschwester machen. "Um Gottes Willen!" Ging nicht. Ich durfte nur immer Aushilfsschwester machen. Und das habe ich die ganze Zeit.“, Interview mit ZI von RG am 28.03.2011, 00:43:35.

Anhang

185

15

„JA, dann wurde ich ins eiskalte Wasser geschmissen. ... Da war ja meine Mutter drauf erpicht, ich ,wollte ja eigentlich ne Lehrstelle haben wo ich weit weg bin, aber nein, eiskalt gedacht, der kriegt doch Geld, der verdient doch jetzt Geld.“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 01.36.30.

16

„Und hab eigentlich ne gute Lehre hingekriegt. Aber als ich kurz nach der Entlassung aus`m Heim, gingen die ersten Repressalien los.“, 00.21.00. Oder: „Aber das war nicht`s einzige. Wenn auf Arbeit, weil ich dann ja bei Schott war, wenn was geklaut wurde, oder wenn was kaputt gemacht wurde, oder sonst irgendwas war, was nicht passte, man hat immer erst mich, immer erst das Heimkind. Haben sie einen angeblich fünfzig Mark geklaut, den Lehrling sein Lehrlingsgeld, da wurde mein Spint durchsucht, ja? Und das sie mich durchsuchen können haben sie die Polizei gerufen von Stadtroda. Die kamen, haben mich durchsucht, haben nichts gefunden. Ja?“, Interview mit SC von AA am 26.11.2010, 00.27.00.

17

„Dann äh zwischenzeitlich sin meine Eltern dann äh außerhalb gezogen, auf die ländliche Gegend. Dort bin ich dann wieder zurück gekommen und äh anfänglich, anfänglich gab's da eigentlich dann keine größeren Probleme und naja dann ging das ganze dann weiter. Naja wieder die politischen Sachen, wo ich dann nicht so mich dafür interessiert hab und wo ich andre Meinung war. Und hab dann eben wieder, bin dann eben wieder der Schule fern geblieben, weil ich das alles nicht mitmachen wollte und da wurd ich dann Hals über Kopf irgendwann mal aus der Schule von der Polizei vom Jugendamt abgeholt und wurde dann in Jugendwerkhof eingewiesen.“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00:03:13 D1.

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„Und bin dann dort entlassen worden. Zurück nach Hause. Dort hab ich 'ne zeitlang bei den Eltern mit auf der LPG gearbeitet. Aber das war auch nicht so mein Ding, weil ich ebend den Berufswunsch nicht so hatte und hab dann ebend dort naja danach öfters mal de Arbeitsstellen gewechselt. Und bin eben dann auch öfters mal ((husten)) in Konflikt mit den Behörden gehabt, wegen naja wegen meiner ber- politischen Einstellung und so weiter und so fort. Aber ich konnt es eigentlich immer so drehen, dass se mir nicht weiter was konnten. Na? //I: Hm.// Also ich bin zwar mal diesbezüglich inhaftiert worden, aber das war in Zusammenhang mit ner anderen Sache noch“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 00:08:03 D1.

19

„Na gut, also sach mer mal so, auf der LPG bei den Eltern hier dass ich in Wolfersdorf im Jugendwerkhof war, das war natürlich bekannt. Naja gut. Also, persönlich ins Gesicht hat's mir keiner gesagt, aber naja man hat schon gemerkt, wenn man dort angefangen hat, dann wo ich aus dem Werkhof gekommen bin, naja-. Also alleine irgendwas machen, irgendwie war immer jemand dabei, also einer von den älteren Kollegen -. Ja und naja. Man hat sich doch schon die erste Zeit in bissel beobachtet gefühlt. Also man hat keinem vertraut, das Vertrauen war kein da, ne?“, Interview mit SU von AA am 18.03.2011, 01.54.00 D1.

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„Mein Vater fing dann an, ein Haus zu bauen. (4) Und wir mussten ständig alle Unterlagen auf die Baustoffversorgung bringen und ständig die Wege für ihn erledigen. Und dann, die komischen Arbeiter auf der Baustelle mussten wir auch versorgen. Wenn wir da das Essen nicht fertig hatten. Was wir alleine machen mussten. Mir, mir, mir sind mal die Hähnchen aus der Röhre gefallen, hab meine Hände drauf. Das heiße Fett und ich konnt gar nicht kühlen, weil ich nur damit beschäftigt war, die Hähnchen fertig zu bringen und auf die Baustelle hoch zu schaffen. (3) Ansonsten hätt's ja wieder Eine gesessen, ne. (3) Aber meinen Geschwistern ging das genauso. (3) ((Räuspern)) (9) Und dann mussten wir ihn ständig von irgendwelchen Feierlichkeiten abholen besoffen, ne. Das war auch nicht gerade schön, ne. Ja, wie er uns da behandelt hat, ne. Das, das-. Ich fand das nicht schön, ehrlich, nö.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00.13.00-00.16.00.

21

„Ja, das war normal. Dass man nach, also auf Urlaub durfte man nach Hause. Aber ich habe das gehasst. Aber ich hatte auch keine Wahl. Ich hab, ich hab- Ich weiß, ich war ein Mal auf Urlaub zu Hause. Und da hat er meine Schwester genommen und hat meine Schwester mit dem Schädel immer an die Wand geschlagen. Ne, an die Betonwand. Ich hab das innerlich nicht ausgehalten. Ich hab gesagt, lass sie doch in Ruhe. ((weinend)) Du sollst sie in Ruhe lassen. Da hat er gesagt, wenn ich mich nicht raus halte, dann überleb ich das nicht. Ich bin nicht gerne heim gefahren, aber wir hatten auch nie das- Wie ich sagte, wir sind auch mit achtzehn wieder zu, in die, zu, zu den Eltern zurück gekommen. Ne, wir haben keine Wohnung gekriegt oder nicht, wie, wie meine Tochter. Und- Nix. Gar nichts. Wir sind ins Leben raus gestoßen und waren uns selber überlassen. Da war niemand da, der sich für uns interessiert hat. Nix. Wir mussten selber schauen, dass wir mit uns klar kamen, ne. Ich bin nicht gerne nach Hause gefahren.“ Und: „Ich konnte da nicht mehr zurück (nach Hause). Ich, ich hab alles gehasst, ((weinend)) alles, was sie mir angetan haben. ((weinend)) Ich hab sie nur noch gehasst. (3) (...) ((Schniefen)) Ich wusst auch gar nicht wohin. Ich hatt, ich hatt ja niemanden. ((weinend)) Aber ich konnte da nicht zurück, es war- Das, das ginge nicht. Das- Das.

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((Schniefen)) Ich war dann, ich hab dann mal bei dem, mal bei dem- Und man hat sich halt so durchgeschlagen irgendwie. Bis ich den Georg halt dann kennen gelernt hab.“, Interview mit SB von AA am 14.12.2010, 00:48:03. 22

, „Keine Ahnung wer das gemacht hat. Entweder kam das vom Jugendamt, ich weiß doch auch nicht. (2) es hieß dann, wo ich aus dem Kinderheim, haben die mir das gesagt, fängst' dort und dort an (2).“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:26:17.

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„Mh, wie gesagt, da gibt's auch einzelne, die kannst aufn Mond schießen, die lassen dich das dann spüren, dass ... (2) Bist dann halt ein kleiner Knasti sozusagen schon für die (2). Wenn die Jugendwerkhof hören...“, Interview mit SH von RG am 01.04.2011, 00:57:56.

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„Also, das war dann eigentlich schon wieder so einigermaßen in geregelten Bahnen, da. Mit den Eltern und so. Und, die Oma hat sich dann meistens auch gefreut. Ja. (5) Man hatte ja dann halt auch wieder seine Vorschriften halt hier so. Die und die Uhrzeit zu Hause und so, aber meistens hat man sich auch dran gehalten.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:26:51.

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Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:28:06.

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„Die Jugendhilfe Also wie gesagt, die ham eigentlich bis zu dieser Zeit noch – also ich bin da äh 84 rausgekommen, die ham mich die ganze Zeit da noch überwacht. Ich hab dann halt, also mein Mann hat sich dann eingesetzt, dass ich den Betrieb wechseln kann.“, Interview mit SM von RG am 10.03.2011, 01:40:34.

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„Ich bin mit achtzehn rausgekommen. Ich hab damals ne Freundin gehabt, ne Verlobte, die hab ich kennen gelernt bei ner Flucht und äh, die natürlich gleich schwanger geworden bei der ersten Begegnung und äh- Ich mene, ich hab mich druf gefreut. Kommst raus, hast gleich Verpflichtungen, Kind und alles drum und dran und das war derselbe Monat alles. April entlassen worden und April wurde ich dann auch Vater. Und äh, hat ich natürlich gleich @volles Programm, ne@? Kind, Arbeit, alles drum und dran. Eigene Wohnung.“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00:08:11.

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„Also ich bin mit elf Jahren aus der Klasse raus, bin in`s Spezialkinderheim und bin mit vierzehn in meine alte Klasse wieder reingedrückt worden. Also die wussten das. Dass ich wieder im Kinderheim war et cetera, alles. Und ham das auch mitgemacht, das ganze Theater mit meinen Eltern, oder so. Die wussten das alle. Ähm, und die wussten dann auch, dass ich hier dann wieder im Friedensberg bin. I: Aber wie war dann die Reaktion? Also? B.S.: Also, ich war, wie gesagt, sowieso ein Aussässiger dort. Sowieso.“, Interview mit BS von AA am 27.12.2010, 00.40.05 D2.

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„Im November 1989 bin ich rausgekommen (2) und also direkt in den ganzen Wirren- (4) Viele Leute sind vorher schon abgehauen also im=ähm (2) ich weiß gar nicht genau- Also ich bin am 25. November entlassen worden und bis zum 25 November waren schon zehn Leute in den Westen abgehauen, .... Da ich nicht wusste wie es weitergeht, wollte ich auf die letzten paar Tage dann nicht noch mal abhauen. Und dann habe ich meine zwei Wochen noch abgesessen (2) und danach hab ich, hat mir mein Vater ‚nen Job organisiert in der LPG, wo er gearbeitet hat.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 00:08:11.

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„I: Die Leute im Dorf, haben sie, waren sie freundlich oder... R. M.: Distanziert. Also gab‘ s keinen Kontakt.“, Interview mit RM von AA am 27.05.2011, 01.07.30 D1.

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Also mein Vater durfte mich dann abholen. Ich glaub mein Vater durfte mich abholen. Die vom Jugendamt war auch mit dabei. Da wurden dann so Entlassungsdinger gemacht. Hier so 'n Entlassungsschreiben aus dem Heim. Und da hat mich 's Jugendamt dann glaube mit heim genommen. Wieder nach Hause gebracht. Und (...) total zerrütteten Familie. Keiner wollt mich haben. Keiner wusst mehr was mit mir anzufangen. Die ham ja diese Entwicklung von mir gar nicht mit -. Und ich stand auch auf einmal mitten im Kapitalismus, ja. (So, angehenden) Kapitalismus. Jeder war dann auf einmal nur noch auf sich bedacht. Also-. Und ich hatte, war halt noch 'n Halstuchträger. Ja! (...) Meine Familie wollte mich nich mehr. Also meine Mutter gar nich. Mit meiner Schwester hat ich kein Kontakt mehr. Die war völlich fremd für mich, dann. Ja. Und da war ich halt bei meim Vater.“ --„Und das ging aber alles so ganz schnell, hat sich alles überrumpelt so. Ja und dann bin ja nach Hause. (3) Wie gesagt und hab ich dann auch gemacht, was ich wollte. Mein Vater hat mich nicht unter Kontrolle gehabt. So, meine Mutter, die is halt nach (Dillingsarg) gezogen, hier. Und da ham se mich dann auch wie-

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der hin abgeschoben. Zu meiner Mutter. (3) Da bin ich dann auch wieder weg. Also bei meiner Mutter ging gar nich. Die hat mal probiert, mich da noch zu schlagen und so. Da hab ich ihr halt gezeigt, dass das nich geht. Dass se ihre Hände bei sich lassen muss. Ja. Und da bin ich halt das erste Mal ins Gefängnis gekommen. Hab da meine Zeit durch gemacht so. Bin wieder entlassen worden, bin dann wieder eingefahren. Wieder entlassen worden, jetzt sitz ich halt wieder. Ss- dann seit 'm Heim rapide bergab gegangen eigentlich nur noch. Also voll die Fahrt in Keller, statt das das nach oben ging und so.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.36.00 D1. 32

„Und dort war ich halt der Heimkechel. Asozial, 'n Heimkind. Versager auf ganzer Linie. Von vorn herein. So die ganzen Kinder dort in der Klasse, die wussten das alle schon. Der Lehrer hat 'se natürlich alle schon schön vorher informiert so. Da kommt jetzt jemand aus 'm Kinderheim, so.“, Interview mit SR von AA am 14.04.2012, 00.39.13 D1.

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Tabelle 7: Berufsausbildung und erste Berufsstelle nach dem Heimaufenthalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen. Pseudonym und Geburtsjahr Kristin Bäumelein 1937 Silvia Hasel 1943 Gregor Kastanie 1943 Georg Platane 1943 Tristan Murau 1958 Emil Andersen 1958 Zora Ilex 1959 Siegfried Caktus 1960 Sebastian Uhl 1964 Sophie Blatt 1965 Sascha Hartriegel 1967 Sabine Mirabelle 1967 Bert Schneider 1970 Karin Ast 1971 Robin Mistel 1972 Simon Rüster 1976

Berufsausbildung

Erste Stelle nach dem Heim

FA Tischler mit 17 im JWH

Horterzieherin, Pionierleiterin, 1956-1992 < SED 1955 >

Rentner

Buchhalterin in Kfz-Werkstatt, 1961, relativ kurze Zeit

Rentner

Schlosser in einem VEB, 1963-1970 < Armee 1961-1963 – SED-Austritt 1975 >

Rentner

FA im Rangierdienst bei der Bahn 1961-1969

Rentner

TFA Fleischer im Internat

Tätigkeit in einem Milchhof und in einem Plattenwerk, 1976-1978

EU-Rentner seit 1995

FA Maschinenführer beim Bau, lebt bei seinen Großeltern Qualifikationsnachweis Textiltechnik im JWH

Maschinenführer beim Bau, 1978-1980 < Armee nach dem FA - SED 1989 >

EU-Rentner wegen Gartenunfall

Aushilfe in einer Textilfabrik, 1977, kurze Zeit

EU-Rentnerin, Pflegestufe II

Gärtnerei, lebt zu Hause

Kraftwerk, 1975, relativ kurze Zeit

Arbeitssuchend mit ALG II Anspruch

TFA Um- und Ausbaumaurer im JWH

LPG bei seinen Eltern, Knast, Kranführer, 1980-1982

EU-Rentner

TFA Fräser und Hobler im JWH

Fräser und Hobler, 1983-1989

EU-Rentnerin

TFA Textilveredler im JWH

Aushilfe in einer Wäscherei, wo seine Mutter arbeitet, 1986-1989

Elektriker

?

Aushilfe in der Abteilung Wäscherei, Stadtwirtschaft, 1984-1985

ALG II + Nebenbeschäftigung im 100 Euro-Bereich

Teilnahmezertifikat zum TFA im JWH

Aushilfe in VEB, Fensterputzer, mehrere Nebenjobs, 1988-1989

Arbeitssuchend mit ALG II Anspruch

TFA Textilfacharbeiterin im JWH

Kellnerin, Küchenhilfe in einer kleinen Stadt, 1989

Arbeitssuchend mit ALG II Anspruch

LPG, bei seinem Vater, 1989-1990

Arbeitssuchend mit ALG II Anspruch, Webdesigner

Illegale und kriminelle Tätigkeiten

Im Gefängnis

Qualifikationsnachweis Industrienäherin im JWH FA Werkzeugmaschinenschlosser, lebt zu Hause „Erzwungene“ FA im Rangierdienst bei der Bahn, lebt zu Hause

TFA Landschafts- und Grünanlagegestalter im JWH Facharbeiter Teilezurichter im Gefängnis, 2009

Beruf heute

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Tabelle 8: Bewertung und Thematisierung der Jahre im Spezialheim im Verhältnis zu heutigen Stigmatisierungsgefühlen und psychischer Stabilität. Pseudonym und Geburtsjahr

Bewertung des Heimaufenthaltes

Thematisierung des Themas „Heim“ im Leben

Kristin Bäumelein 1937

Stabilisierend und fördernd. Leben vor dem Heimaufenthalt bestimmt die Bewertung des Heimes: KB war Waisenkind, musste als Kind nach dem Freitod der Mutter nach dem Krieg ums Überleben kämpfen und wurde von den unterschiedlichsten Verwandten durchgereicht. Sie erlebte, dass sie unwillkommen war und lediglich als Arbeitskraft gesehen wurde, teilweise wurde sie misshandelt und sexuell genötigt. Der JWH war „ihre Rettung“.

Im JWH findet sie Geborgenheit, Fürsorge und Sicherheit. Dort war sie das „Vorzeige-Objekt“ und ist nun mit anderen Kindern zusammen, denen es auch nicht gut ergangen war. Hier erhält sie durch Leistung und musikalisches Talent, sowie politisches Engagement in der FDJ, Verantwortung und Anerkennung und steigt bald zu einer herausragenden Position unter den Heimkindern auf : „Ich konnte das ja auch“; „Ich war ein bisschen wie ein Erzieher“; „Ich hab den ganzen Jugendwerkhof geschmissen“. Der Jugendwerkhof Hummelshain war Bäumeleins Zuhause: „Im Heim haben sie was aus mir gemacht.“ Die negative Berichterstattung über die Jugendwerkhöfe in der Presse empören sie und machen sie traurig, sie wolle sich ihr Kindheit nicht nehmen und kaputt machen lassen.

Nein, im Gegenteil.

Silvia Hasel 1943

Belastend. Scham, Hemmung für ihre Biographie, Grund, weshalb sie nicht studieren durfte.

Nein. Sie habe den JWH auch gerne aus ihren Lebenslauf streichen wollen. Sie verbindet mit dem JWH v.a. das Stigma „Kriminelle“.

Ja, sehr stark. HS schämt sich für ihren abgebrochenen Ausbildungsweg, vor allem vor ihrer Enkelin. 1

Nicht thematisiert.

Nein, gar nicht.

Nicht thematisiert.

Gregor Kastanie 1943

Stabilisierend, eher fördernd.

Belastend. Georg Platane 1943

Überwältigende Sehnsucht nach der Mutter. 3

Kastanie genoss im SKH eine Sonderstellung, weil er Sohn eines hohen Funktionärs war. Dies könnte auch erklären, warum er den Alltag anders erlebte; z. B. kehrte er oft nach Hause oder er hatte häufig Besuch von seiner Familie. Die schönste Zeit in seinem Leben war die Jahre im Heim. 2 Auch dass sich diese Kinder jetzt als Opfer darstellen und Entschädigung erhalten, ist für ihn nicht richtig. Die Monate im Heim und der Kontext der Verhaftung seiner Mutter haben ihm seine Kindheit gestohlen. Seine Eltern wurden bereits 1992 rehabilitiert, was für Georg eine Genugtuung war. Er selber hatte erst nach einem Gespräch mit Herrn May 2010 von seinen Rehabilitierungsmöglichkeiten erfahren, welche er (mit der weiteren Unterstützung durch Herrn May) wahrnahm und im Januar 2011 auch offiziell rehabilitiert wurde. Die Aufarbeitung der Heimvergangenheit ist für ihn lebenswichtig.

Stigmatisierung/Scham Heute

Psychische Stabilität

Gefährdet.

Nicht betont im Interview.

In psychologischer Behandlung.

Nicht thematisiert.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

190

Bewertung des Heimaufenthaltes

Belastend bzw. traumatisierend. Tristan Murau 1958

Das Schlimmste in seinem Leben war für Tristan Murau die Erfahrung unterdrückt zu werden, die er im Heim gemacht hat.

Thematisierung des Themas „Heim“ im Leben Erinnerungsschwierigkeiten im Allgemeinen, jedoch im Besonderen bei Nachfragen zur Heimerfahrung. Er weicht konkreten Fragen (bewusst/unbewusst?) aus. Der sexuelle Missbrauch im Heim wird kühl, abrupt, kurz dargestellt. T. M. sucht nach sozialer Anerkennung und Akzeptanz; Schwierigkeiten beim Aufrechterhalten bzw. gar Erlangen eines sozialen Netzwerkes/sozialer Beziehungen

Stigmatisierung/Scham Heute

Scham bis heute darüber. Gefühl, aufgrund der DDRVergangenheit von anderen Personen als minderwertig wahrgenommen zu werden.

Psychische Stabilität

Nicht gut. Depression, Dissoziationen. 4

Er spricht selbst von Isolierung aufgrund seines psychischen Zustandes. Nach Jahren der Verarbeitung sieht er nicht mehr die Schuld beim ihm.

Emil Andersen 1958

Ambivalent, weil er zu Hause unerwünscht war und weil er mitunter im Heim Gewalterfahrungen gesammelt hat. Er differenziert die Heime unter sich. Das Heim in Apolda ist nach Angaben von EA geprägt durch Brutalität unter den Kindern, wobei die EZ diese geduldet hätten. Deshalb ist er mehrmals aus dem Heim entwichen und mit Zug nach Weimar zu seinen Großeltern geflüchtet, wo er von der Polizei immer wieder aufgegriffen und nach Apolda zurückgeführt wurde. In Folge der permanenten Entweichungen wurde er 1965 in das SKH Moritzburg überführt. Ein Jahr später wurde er auf Initiative des Großvaters nach Holzdorf verlegt, wo er drei Jahre verbrachte. Diese drei Jahre in Holzdorf schilderte er als seine schönste Zeit. 1969 wurde er ohne ersichtlichen Grund in das KH in Mühlhausen überführt und nach einem Jahr 1970 nach Hause zu seiner Mutter entlassen. Die Entlassung war für ihn dramatisch, da er sie nicht nachvollziehen konnte und sich von seiner Mutter nicht gewollt fühlte.

EA hat die im Heim verbrachten Jahre nicht viel thematisiert, seine Frau wusste bis 2010 auch nichts von seinem sexuellen Missbrauch als Kind, als er im KH Holzdorf lebte. Heute sieht es als Folge seiner zerrütteten Kindheit ein persönliches Defizit: keine Emotionen zeigen zu können. Verdrängte Erinnerungen, er macht diese mit sich selber aus, bis er ständig mit dem Thema in den Nachrichten konfrontiert wurde. Er empfindet Unverständnis für öffentliche Darlegung erlebten Unrechts/ Missbrauch vielleicht gerade deshalb, weil das Heim seine Rettung war, und er seine ganze Kindheit nicht noch einmal zertrampelt sehen will. 5

Nein.

Nicht thematisiert.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

Zora Ilex 1959

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Bewertung des Heimaufenthaltes

Thematisierung des Themas „Heim“ im Leben

Stigmatisierung/Scham Heute

Traumatisierend. 6

Die Jahre im JWH sind mit ihrer Vergewaltigung, mit dem Tod ihrer Uroma und mit Willkür, Gewalt und Hilflosigkeit verbunden. Sie hat sich auch dafür geschämt, und versucht, dieses Kapitel zu vergessen. Erst heute kann sie darüber reden, vor allem im Rahmen ihrem sozialen Engagement mit Behinderten.

Nicht mehr.

Siegfried Caktus 1960

Belastend bzw. traumatisierend. Er schildert drastisch und aufgebracht die Spätfolgen des Heimaufenthaltes.

Sebastian Uhl 1964

Belastend bzw. traumatisierend. Er bedauert sein Verhalten in der Schule, wo er den politischen Druck nicht aushalten konnte. Er hat von den Heimen nur die härtesten Erfahrungen gesammelt, Spezialheime, Torgau und Jugendhaus. 10

Caktus gibt wenig harte Fakten über sein Leben preis. Spekulationen, Vermutungen und Anschuldigungen bestimmen das Interview. Insgesamt berichtet er wenig über die persönlichen und emotionalen Momente in seinem Leben (z.B. die Zeit im KH, Geburt des Kindes) sondern konzentriert sich darauf, zu beweisen, dass er als Heimkind stigmatisiert und zu unrecht verschiedener Verbrechen beschuldigt wurde und wird.

Erst seitdem er sich mit der Rehabilitierung der Zeit in Torgau und Jugendhaus beschäftigt.

Sie hat massive Gewalt und Vernachlässigung in der Familie erlebt, was aber ihre Reflektion über das Heim keineswegs relativiert, wie es bei einigen anderen Heimkindern der Fall ist.

Nicht betont. Eher die Erfahrung, nicht ernst genommen worden zu sein.

Nicht thematisiert.

Die Jahre im Heim gekoppelt mit der willkürlichen Trennung von seinen Eltern bleiben schmerzhaft. 11

Belastend bzw. traumatisierend. Sophie Blatt 1965

Wird immer als „roter Faden“ 8 bezeichnet, dabei mehrere Episode in seiner Biographie: Verdächtigungen bei Verbrechen wie Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Gewalt, Kindesmisshandlung, Betrug. 9

Psychische Stabilität Nach dem Unfalltod ihres Ehemannes erlebte sie mehrere Nervenzusammenbrüche. 7 Psychisch zerstört, demoralisiert, gesundheitliche Schäden, Schwierigkeiten im Sexualleben und sozial schikaniert.

Ja, aber nur mit Manfred May und Therapeuten. 12 Sie denkt aber immer wieder ungewollt an Episoden aus ihrem Leben in den Heimen, was sie sehr belastet. 13

Einerseits bedauert sie, dass Therapeuten und Mitmenschen ihr keinen Glauben schenken, andererseits führt genau das dazu, dass sie mit niemandem darüber spricht. Auch ihre Kinder will sie damit nicht belasten.

Sie ist bis heute suizidal und depressiv. Insgesamt sind die psychischen Folgeschäden von Kindheit und Heimzeit massiv. In psychologischer Behandlung.

Anhang

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Pseudonym und Geburtsjahr

Bewertung des Heimaufenthaltes

Thematisierung des Themas „Heim“ im Leben

Stigmatisierung/Scham Heute

Psychische Stabilität

Sascha Hartriegel 1967

Belastend bzw. traumatisierend. Rückblickend sieht er sich als Kind als „das schwarze Schaf“ seiner Familie. Die Jahre im Heim haben ihn tiefst verletzt, er kann darüber nicht reden. 14

Existiert nicht, er verschweigt es.

Nicht thematisiert.

Nicht thematisiert.

Nicht explizit erzählt.

In psychiatrischer Behandlung, körperliche Beschwerden, v. a. mit der Schilddrüse.

Später bewegt er sich im kriminellen Milieu, in welchem Heim vermutlich kein Stigma bedeutet. Heute nicht thematisiert.

Nicht thematisiert.

Sabine Mirabelle 1967

Traumatisierend. Zutiefst willkürlich und gewalttätig.

Erst seit ein paar Jahren.

15

Verdrängung. 16

Ambivalent.

Bert Schneider 1970

Karin Ast 1971

Das Leben im SKH, im JWH und im GJWH war sehr hart, und dazu das Gefühl, nach dem Jugendhaus ungerecht behandelt zu werden. Er sieht seine Zeit im Heim als harte Schule an, die ihn selbstständig gemacht hat und die er in diesem Sinne nicht missen wollen würde, weil er zu Hause Prinzipien, Disziplin und Selbständigkeit nicht gelernt hätte. Die Zeit im Heim hat ihn auch von der väterlichen Gewalt entfernt. 17 Ambivalent, weil sie durch die Heimunterbringung von ihrem brutalen Stiefvater entfernt wurde, dennoch konnte sie nur in dem JH zur Ruhe kommen. Die Monate im JWH und GJWH waren schlimm.

Ja, für sich. Kontakt zu Manfred May.

Mit ihrer Psychologin. Sie redet seit etwa 2003 darüber. 18

Scham ist vorhanden, da sie sich mehrfach gegenüber den Interviewer der Anonymität versichert. 19 Ast fälscht sie ihren Lebenslauf und streicht die JWH/Heim-Zeit. 20

Borderline, Suizidversuch 2003. In psychologischer Behandlung.

Anhang Pseudonym und Geburtsjahr

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Bewertung des Heimaufenthaltes

Thematisierung des Themas „Heim“ im Leben

Belastend. Robin Mistel 1972

Sinnlosigkeit, Druck und Willkür. 21 Minimal; er versucht eher, das Thema zu verdrängen. 24 Aversion gegen Disziplin. 22 Zwang. 23

Stigmatisierung/Scham Heute Ja. Den Begriff Stigma bringt er selbst ins Spiel, behauptet seinen Aufenthalt im JWH, nicht als Stigma zu empfinden, gleichsam fügt er sein TFA-Zeugnis mit dem JWHStempel seinen Bewerbungsunterlagen nie bei. 25

Psychische Stabilität

Emotionale Wunden, die nicht heilen.

Belastend.

Simon Rüster 1976

Seine Lebensbilanz bis heute fällt so aus, dass kein negativer Höhepunkt bestimmt werden kann, sondern dass alles was ihm passiert ist, die Gewalt durch seine Mutter, der Heimaufenthalt als eine Kette von Grausamkeiten betrachtet werden, die dazu geführt hat, dass er jetzt so schlecht dasteht.

Bis vor ein paar Jahren wurde das Thema Heim kaum thematisiert. Heute sehr stark, sucht nach Erklärungen. Zentral, gekoppelt mit den Eltern. Sieht in seinen Kindheits- und Jugendjahren den Grundstock für seinen Abstieg. Motive für Interviewteilnahme: Aufklärung und Aufarbeitung, EZ von damals zur Verantwortung ziehen, persönliche Aufarbeitung aber erst im Gefängnis. 26

Nicht thematisiert. >Das SKH, in welches er eingewiesen wurde, existiert immer noch und beschäftigt die gleichen Mitarbeiter wie zu DDR-Zeit.