Strafanzeige Fall Leonor Gertrudis Marx (21.06.1999) Bundesgerichtshof Herrenstraße 45 a 76125 Karlsruhe

Berlin, den 21.6.1999/IKL Unser Zeichen: 99000026/NbKl/WKA

Strafanzeige und Antrag nach § 13 a StPO

Hiermit zeige ich an, dass ich die rechtlichen Interessen von Frau Ellen Marx, wohnhaft 3 de Febrero 2350-2 B, 1428 Buenos Aires, Argentinien, vertrete. Vollmacht anbei. (Anlage 1) Frau Ellen Marx ist die Mutter der am 13.06.1948 in Buenos Aires geborenen Frau Leonor Gertrudis (Rufname Nora) Marx. Während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) ließen die verantwortlichen Militärs Frau Nora Marx am 21.08.1976 "verschwinden" und ermordeten sie im Anschluss zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt. Namens und in Vollmacht meiner Mandantin erstatte ich Strafanzeige und stelle Strafantrag wegen sämtlicher in Betracht kommender Straftatbestände (namentlich Mord, Geiselnahme und gefährliche Körperverletzung)

gegen

1. den Ex-Junta-Chef Jorge Rafael Videla, damaliger Oberkommandierender des Heeres, geboren am 2.8.1925 in Mercedes, wohnhaft Barera 166, 8°A, Bue nos Aires, Argentinien, 2. das Ex-Junta-Mitglied Emilio Eduardo Massera, damaliger Oberkommandierender der Seestreitkräfte, geboren am 19.10.1925 in Parana, wohnhaft Avenida Callao 1307, Buenos Aires, Argentinien, 3. den Ex-Oberbefehlshaber des I. Heereskorps, Carlos Guillermo Suarez Mason, geboren am 20.8.1929, wohnhaft O' Higgins, 1754, Buenos Aires, Argentinien, 4. den Ex-General der Division Jorge Olivera Rovere, geboren am 14.3.1926, derzeitige Wohnanschrift unbekannt, sowie gegen weitere unbekannte Täter.

Ich bitte um Zuleitung der vorliegenden Anzeige an den Bundesgerichtshof, damit dieser gemäß § 13

a StPO das zuständige deutsche Gericht bestimmen kann. Im April 1998 wurde in vier Fällen Strafanzeige gegen argentinische Militärs wegen ähnlich gelagerter Sachverhalte erstattet. Auf Anregung der dortigen Anzeigenerstatter sowie ihrer in Nürnberg ansässigen Rechtsanwälte wurde das Landgericht Nürnberg-Fürth als das zuständige Gericht bestimmt. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ermittelt seitdem unter dem Aktenzeichen - 2 AR 80/98 -in diesen vier sowie in einem weiterem später angezeigten Fall. Aufgrund der Strafanzeige eines Düsseldorfer Rechtsanwaltes im November 1998 gegen den chilenischen Ex-Militärdiktator Augusto Pinochet wurden Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf - 2 ARS 471/98 und 474/98 - eingeleitet, nachdem auf entsprechenden Antrag der Bundesgerichtshof das Landgericht Düsseldorf als das zuständige gemäß §13 a StPO bestimmt hatte. Ich beantrage, bezugnehmend auf diese Praxis das Landgericht am Kanzleisitz des Unterzeichnenden, das Landgericht Berlin als das hier zuständige gemäß § 13 a StPO zu bestimmen. Ein weiterer örtlicher Anknüpfungspunkt wäre neben der Ansässigkeit des Unterzeichnenden in Berlin die Tatsache, dass die Anzeigenerstatterin gebürtige Berlinerin ist. Sie wurde 1921 in Berlin geboren und hatte dort ihren letzten Wohnsitz vor der Emigration. Gemäß RiStBV Nr.9 bitte ich um Bestätigung des Einganges der Anzeige sowie um Mitteilung des Aktenzeichens.

Gliederung: I. Sachverhalt II. Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts gemäß § 7 StGB III. Das Verschwindenlassen von Menschen während der argentinischen Militärdiktatur IV. Besondere Unterdrückung jüdischer Opfer V. Strafrechtliche Verantwortung der angezeigten Militärs I. Sachverhalt 1. Familiäre Verhältnisse und Staatsangehörigkeit Ausweislich der Kopie der Geburtsurkunde wurde Leonor Gertrudis Marx als Tochter des Jeremias Enrico Marx und der Elena Renata Pincus de Marx am 21.6.1948 im Hospital Israelita in der Stadt Buenos Aires in Argentinien geboren. Der inzwischen verstorbene Vater wurde am 19.10.1908 als Jeremias Erich Marx in Mainz geboren. Als Jude musste er am 5.3.1936 das Deutsche Reich verlassen und wanderte nach Argentinien aus, wo er Anfang April 1936 seinen Wohnsitz nahm. Frau Ellen Marx, wurde am 24.3.1921 als Ellen Renate Pincus in Berlin geboren. Sie ist ebenfalls Jüdin und musste Anfang 1939 aus Deutschland ausreisen. Dabei ließ sie praktisch ihre gesamte Familie in Deutschland zurück. Zahlreiche Familienangehörige wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Sie gelangte am 20.5.1939 mit Unterstützung einer jüdischen Hilfsorganisation in ihr Zufluchtsland, die Republik Argentinien. Als sogenannte Auslandsjuden wurden Jeremias Erich Marx und Ellen Renate Pincus durch die Nationalsozialistische 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 ausgebürgert. Am 11.3.1942 heirateten beide in Buenos Aires, Argentinien. Frau Ellen Marx nahm zu keiner Zeit die argentinische Staatsangehörigkeit an. Aufgrund der ihr nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gewährten gesetzlichen Möglichkeiten wurde sie am 24.4.1964 auf ihren Antrag hin wieder eingebürgert und ist seitdem deutsche Staatsangehörige. Der Vater, Erich Marx, nahm relativ bald nach seiner Einwanderung, vermutlich in den frühen 40er Jahren, die argentinische Staatsangehörigkeit an. Andernfalls wäre das Ehepaar staatenlos geblieben. Um dieses Schicksal zu vermeiden, ließ sich Erich Marx in Argentinien einbürgern. Aufgrund dieser Konstellation hatte Nora Marx mit ihrer Geburt am 13.6.1948 zunächst die argentinische Staatsangehörigkeit erworben. Sie machte zunächst keinen Gebrauch von ihrem Anspruch, sich deutsche Papiere ausstellen zu lassen.

2. Vorgeschichte des Verschwindens Nora Marx war ausgebildete Meteorologin und als solche bis Juni 1976 als Zivilbeschäftigte bei der argentinischen Luftwaffe angestellt. Dort trat sie der Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten und

technischen Angestellten der Luftwaffe (ATEPSEA) bei. Sie war am Arbeitsplatz stark gewerkschaftlich engagiert und setzte sich für die Belange ihrer Kollegen ein. Aufgrund dieser Tatsachen machte sich Nora Marx bei ihren Vorgesetzten unbeliebt und wurde daher im Juni 1976 gekündigt. Während ihrer Schulzeit war sie bereits in der zionistischen Jugendbewegung Argentiniens tätig gewesen. Später schloss sie sich einer peronistischen Basisorganisation im Stadtteil Mataderos mit der Bezeichnung Justicia Social (Soziale Gerechtigkeit) an. Als deren Mitglied ging sie in die Armenviertel von Buenos Aires und gab dort Kindern armer Familien Nachhilfe. Darüber hinaus organisierte sie Kleider- und sonstige Sammlungen für die dort lebenden Familien. Die vorstehenden Angaben beruhen auf Schilderungen der Kindesmutter und Anzeigenerstatterin.

3. Die Entführung von Nora Marx am 21.8.1876 Am Samstag, den 21.8.1976 gegen 15.00 Uhr, verließ Nora Marx die elterliche Wohnung in Buenos Aires, um sich mit Freunden im Stadtteil Mataderos zu treffen. Abends war sie für 19.00 Uhr mit anderen Freunden in einem Kino der Stadt verabredet. Dort traf sie aber niemals ein. Am Tag darauf, dem 22.8.1976, erstattete die Mutter, Frau Ellen Marx, Anzeige beim zuständigen 33. Kommissariat. In den darauffolgenden Tagen sprach sie bei weiteren benachbarten Kommissariaten vor und versuchte bei einer Vielzahl von Stellen, Informationen über den Verbleib ihrer Tochter zu bekommen. Darauf soll im einzelnen unten eingegangen werden. Bei ihren Nachforschungen stieß Frau Ellen Marx auf Dora Palacios sowie die Mutter von Alberto Pites, deren Angehörige zusammen mit Nora Marx verhaftet worden waren. Von diesen erfuhr sie Einzelheiten der Verhaftung ihrer Tochter. Offensichtlich wandten die Sicherheitsorgane bei der Festnahmeaktion die in jenen Jahren regelmäßig verwandte Praxis der sogenannten Rattenfalle an. Die Polizei hatte für fünf Tage die Werkstatt des Kleinunternehmers Juan Carlos Masaglia in Tandil, 5466 im Stadtteil Mataderos in Buenos Aires besetzt. Der erste Festgenommene war der Sohn des Inhabers Masaglia, der allerdings sogleich wieder freigelassen wurde. Von den Angehörigen der Mitinhaftierten wurde diese Freilassung im Nachhinein so interpretiert, dass er als sogenannter Pajarito (Lockvogel) benutzt werden sollte. Das heißt, die Sicherheitskräfte wollten beobachten, zu wem er nach seiner Freilassung Kontakt aufnimmt, um so eventuell weitere Anhaltspunkte zu gewinnen. Es wurden dann am 19.8.1976 der schon erwähnte Zeuge Alberto Pites und im Verlaufe der Aktion noch drei andere Besucher der Werkstatt, darunter Nora Marx, festgenommen. Von Alberto Pites stammen auch die verlässlichsten Aussagen. Von ihm liegt eine schriftliche Zeugenaussage vom 29.3.1984, aufgenommen von der CONADEP (Comisión Nacional sobre Desapareción de personas - Kommission zur Untersuchung des Verschwindens von Personen), vor. Diese Kommission wurde nach Wiederherstellung der Demokratie unter der Regierung Alfonsín durch Regierungserlaß vom 15.12.1983 eingerichtet. Es handelt sich um eine aus Honoratioren zusammen gesetzte Kommission, die Tausende von Dokumenten, Anhörungen, Berichte und Befunde in einem Abschlußbericht zusammenfasste. Die im Archiv der CONADEP befindliche Aussage von Alberto Pites wird in Kopie in Spanisch und Deutsch beigefügt. (Anlage 2) Seiner Aussage zufolge wurde Pites am 19.8.1976 in der Werkstatt von Zivilpolizisten festgenommen. Gleich nach Öffnen der Haustür wurde auf ihn eingeschlagen. Die Augen wurden ihm verbunden und er wurde von einer Person mit dem Decknamen Coronel (Oberst) vernommen. Nach ungefähr 12 Stunden wurde er mit gefesselten Händen und verbundenen Augen zum 42. Kommissariat im Stadtteil Mataderos (Ecke Tellier/Avenida del Trabajo) verbracht. In diesem Abschnitt verblieb er fünf Tage und wurde dort immer wieder gefoltert. Dabei wurde insbesondere die berüchtigte Picana benutzt, eine argentinische Version des Elektroschocks. Er befand sich allein in einer Kerkerelle. Nach 5 Tagen sei ihm die Binde abgenommen worden, denn man hatte ihm bereits kurz vorher mitgeteilt, dass er nunmehr als Häftling legalisiert werden sollte, d.h. er sollte in ein größeres reguläres Gefängnis verbracht und von dort aus einem Strafprozess zugeführt werden. Während er durch den Kerker bzw. das Wachlokal ging, habe er die ihm bekannten Nora Marx und Carlos Alberto Quieto gesehen. Er kannte beide seit 1973 aus der schon erwähnten peronistischen Basisorganisation in Mataderos. Diesen beiden Personen waren lediglich die Hände gefesselt worden, die Augen waren nicht verbunden. Aus dieser Tatsache schloss er, dass sie ebenfalls legalisiert werden sollten. Die Mutter, Frau Ellen Marx, erinnert sich, dass sie in den Tagen nach dem 22.8.1976 auch im 42. Kommissariat, der Nachbarschaft Mataderos, nach ihrer Tochter gefragt hatte. Dort war ihr die Auskunft erteilt worden, dass sich keine Gefangenen im Kommissariat befänden. Das einzige

Lebenszeichen, das die Eltern von der entführten Nora Marx erhielten, war ein anonymer Anruf ca. 14 Tage nach dem Verschwinden der Tochter, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass die Tochter Grüße bestellen lasse und hoffe, sie werde ihre Eltern in 30 Tagen wiedersehen. Danach erhielten die Eltern keinerlei Lebenszeichen der Tochter mehr. Erst im weiteren Verlauf ihrer Nachforschungen traf die Mutter auf Dora Palacios, die Ehefrau des Jorge Palacios, der bei derselben Aktion wie Nora Marx verhaftet worden war. Diese arbeitete in den ersten Jahren der Diktatur in der Liga por los Derechos del Hombre, eine der damals aktiven Menschenrechtsorganisationen. Sie teilte Frau Marx mit, dass ihr Ehemann in das Gefängnis von La Plata verbracht worden sei. Dort sei er ebenfalls misshandelt worden und hätte sich in einem äußerst schlechten Zustand befunden. Beim nächsten Zusammentreffen innerhalb der Organisation teilte Frau Palacios mit, dass ihr Mann angeblich in den nächsten Tagen freigelassen werde. Sie teilte Frau Marx ebenfalls mit, dass das Ehepaar danach sofort das Land verlassen werde, um weitere Gefährdungen auszuschließen. Frau Marx hat seitdem keine Nachrichten von der Familie Palacios erhalten. Die nächste Nachricht über das Schicksal ihrer Tochter erhielt sie dann 1984 von der Mutter von Alberto Pites. Alberto Pites war nach seiner Überführung von "illegaler" in "reguläre" Haft wegen angeblichen Waffenbesitzes verurteilt worden. Er befand sich noch ein Jahr nach der Demokratisierung im Gefängnis in Rawson und wurde erst 1984 freigelassen. Er hatte in der Zwischenzeit aus der Haft heraus versucht, nach Nora Marx zu forschen und durch seine Mutter, Frau Pites, einen Habeas-Corpus- Antrag für sie eingereicht. Frau Pites hatte auf diesen Antrag auf Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens die Antwort erhalten, dass die damalige Festnahmeaktion in Mataderos eine Aktion des 1. Heereskommandos der Bundeshauptstadt Buenos Aires unter dem Kommando von Suarez Mason gewesen sei. Die Familie Pites hatte dann in den Zeitungen 1983 über eine Deutschlandreise von Frau Marx und anderen Familienangehörigen von Verschwundenen gelesen und daraufhin den Kontakt zu Frau Marx gesucht.

4. Nachforschungen zum Verbleib von Nora Marx Wie bereits ausgeführt, erstattete die Mutter schon am 22.8.1976 zum ersten Mal Anzeige beim 33. Kommissariat in Buenos Aires. Danach unternahm sie eine Vielzahl von Nachforschungen. Sie hat bei allen Menschenrechtsorganisationen, bei sämtlichen Kommissariaten, bei vielen Kasernen in Buenos Aires und in der Umgebung von Buenos Aires nach ihrer Tochter gefragt und nie eine Nachricht erhalten. Insbesondere hat sie zahlreiche Habeas-Corpus-Anträge gestellt, die bei folgenden Gerichten unter der genannten Aktenzeichen geführt wurden: - Juzgado de Instrucción N°21 (Capital Federal) am 30.8.1976 (N° 12834) - Juzgado Penal N°1 (San Martín, Provinz Buenos Air es) am 2.11.1976 (N° 22634) - Juzgado Penal N°5 (San Isidro, Provinz Buenos Air es) am 1.11. 1976 (N° 5456) - Juzgado Federal N°1 (La Plata, Provonz Buenos Aire s) am 4.4.1977 (N° 83/93) - Juzgado de Instrucción N°15 (Capital Federal) am 18.5.1977 ( N° 14424) - Juzgado de 1° Instancia Criminal, Letra "S" (Capi tal Federal) am 3.8.1977 (1790) Alle Anträge waren erfolglos. Frau Marx hat die damals gegebenen gesetzlichen Mittel sämtlich ausgeschöpft. Ein Teil der noch vorhandenen schriftlichen Anzeigen wird in Kopie beigefügt. (Anlage 3) Weiterhin hat sich die Anzeigenerstatterin bereits im September 1976, also kurz nach dem Verschwinden ihrer Tochter, an die Deutsche Botschaft in Buenos Aires gewandt. Sie hat dann in den darauffolgenden Monaten regelmäßig an die Botschaft geschrieben und dort vorgesprochen. Zumeist hatte sie mit den jeweiligen Konsuln Kontakt, in der ersten Zeit mit Konsul Krier. Sie hat in regelmäßigen Abständen, alle ein bis zwei Monate, in der Botschaft persönliche Gespräche gehabt. Ihr wurde jeweils Hilfe zugesagt. Greifbare Ergebnisse konnten dabei nicht erzielt werden. Es entzieht sich auch der Kenntnis der Anzeigenerstatterin, was die Botschaft im Einzelnen zum Schutz und Wohl ihrer Tochter unternommen hat.

Erst nach einer Deutschlandreise der Anzeigenerstatterin im Jahre 1983 nach der Ablösung der Diktatur, die auf ein verhältnismäßig großes Medienecho stieß, stellte die Deutsche Botschaft in Buenos Aires der Anzeigenerstatterin und einigen weiteren deutschen Familienangehörigen von Verschwundenen zwei Rechtsanwälte zur Verfügung, die Habeas-Corpus-Anträge stellten, die jedoch ergebnislos blieben. Im Mai 1999 konnte Frau Marx eine fragmentarische Akteneinsicht in den über ihre Tochter

angelegten Aktenvorgang in der Deutschen Botschaft in Buenos Aires nehmen. Allerdings wurde ihr untersagt, Kopien zu fertigen. Einen Antrag auf umfassende Akteneinsicht lehnte das Auswärtige Amt mit Schreiben vom 27.4.1999 ab. Weder auf die von ihnen selbst eingereichten Habeas-Corpus-Anträge, noch auf schriftliche oder mündliche Nachfragen erhielten die Eltern Marx jemals nähere Auskünfte über den Verbleib ihrer Tochter nach dem 21.8.1976. Die wenigen bekannten Fakten sind Zeugenaussagen von Angehörigen, Mitverhafteten bzw. Mithäftlingen, die bei den diversen Menschenrechtsorganisationen liegen. Ein gemeinsames Computerarchiv existiert nicht. Das einzige größere systematisierte Archiv ist das der Nationalen Kommission für die Verschwundenen (CONADEP). Das dort vorliegende Dossier über Nora Marx wird in Kopie beigefügt. (Anlage 4) Auch die schon erwähnte Zeugenaussage Pites konnte in dem Archiv aufgefunden werden. Ansonsten sind insbesondere in Vorbereitung dieser Strafanzeige praktisch alle informellen Wege erschöpft worden, um an weitere Einzelheiten im Falle von Frau Marx zu gelangen. Es ist daher auch eines der Nebenziele dieses Verfahrens, auf welchem Wege auch immer, sei es über das formelle Rechtshilfeverfahren, sei es über formelle und informelle Anfragen bundesdeutscher Stellen an die argentinische Seite, die zweifelsohne noch vorhandenen Informationen über den Verbleib von Leonor Marx nach dem 21.8.1976 zu erhalten. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass sich Frau Marx und die anderen deutschen Mütter von Verschwundenen bei ihren diversen Gängen, namentlich zur deutschen Botschaft, aber auch zu den diversen Menschenrechtsorganisationen kennenlernten und dass sich noch in den Jahren der Diktatur um Frau Marx und andere die Gruppe der deutschen Mütter von Verschwundenen bildete, die sich aufgrund der großen Gefährdung in den Räumen der evangelisch-lutheranischen Kirche der La-PlataRegion traf. Diese Gruppe wurde wurde von den jeweiligen deutschen Pfarrern unterstützt und war Ausgangspunkt vieler gemeinsamer Aktionen, nicht zuletzt auch für die Initiierung der Strafverfahren in Deutschland durch die sogenannte Koalition gegen die Straflosigkeit in Nürnberg, in deren Namen die ersten vier Strafanzeigen im April 1998 eingereicht worden waren. Alle vier Anzeigenerstatterinnen reichten gemeinsam mit anderen deutschen Müttern nach dem Ende der Diktatur einen HabeasCorpus-Antrag ein, der auch von der deutschen Botschaft unterstützt wurde.

II. Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 1 StGB Im Falle der verschwundenen Nora Marx gilt das deutsche Strafrecht gemäß § 7 Abs. 1 StGB aufgrund des sogenannten passiven Personalitätsprinzips, da sie als Deutsche im Sinne der Vorschrift anzusehen ist. 1. Aufgrund der geschilderten familiären Verhältnisse und der Staatsangehörigkeitsverhältnisse der Eltern hätte Nora Marx normalerweise bei ihrer Geburt 1948 die deutsche Staatsangehörigkeit gemäß § 4 RuStAG erworben. Die Eltern Marx waren zwar durch § 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 ausgebürgert worden (RGBl I, S. 722). Dieser lautete: " Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit a) wenn er bei Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, ... mit dem Inkrafttreten der Verordnung.“ Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine so offensichtliche nationalsozialistische Unrechtsvorschrift, dass ihr die Geltung als Recht abgesprochen werden muss. Diese Konsequenz zieht das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu Artikel 116 Abs. 2 GG im 23. Band, S. 98 ff. und beurteilt die Verordnung in der Weise, dass hier " der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht (hat, der Verf.), dass sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muss“. Ginge man also von der Nichtigkeit der Verordnung von Anfang an aus, hätte eine Ausbürgerung nicht stattgefunden und das Ehepaar Marx hätte die deutsche Staatsangehörigkeit behalten. Die Tochter Nora hätte die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt erworben, zusätzlich hätte sie die argentinische aufgrund der argentinischen Gesetzgebung erlangt, da sie in Argentinien geboren ist. Die insoweit gegebene Doppelstaatigkeit wäre entsprechend der damaligen Praxis in diesem Fall hingenommen worden.

Die Anzeigenerstatterin verkennt jedoch nicht, dass der Grundgesetzgeber mit der Fassung des Art. 116 Abs. 2 GG einen anderen Weg gegangen ist, der auch mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde (BVerfGE 8, 81 ff., 23,98 ff., 36,30 ff und 54,53 ff.). Danach soll trotz der Nichtigkeit der Norm nicht der alte Rechtszustand in bezug auf die Staatsbürgerschaft wiederhergestellt werden, es soll also keine automatische Wiedereinbürgerung stattfinden. Der Grund hierfür liegt einzig und allein darin, dass keinem der Verfolgten des Nazi-Regimes die deutsche Staatsbürgerschaft aufgedrängt werden sollte, insbesondere denjenigen nicht, die Zuflucht außerhalb Deutschland gesucht hatten. 2. Allerdings ergibt eine systematische Auslegung des § 7 Abs. 1 StGB, dass Nora Marx als Deutsche im Sinne der Vorschrift zu behandeln ist. Folgt man der gängigen Kommentierung, soll die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 7 I StGB zunächst nur Deutsche im Sinne des Reichs- und Staatsangehörigkeitgesetzes (RuStAG) umfassen. Jedoch müssen Deutsche im Sinne des Staatsangehörigenrechtes und solche im Sinnes des Strafrechtes nicht notwendigerweise deckungsgleich sein. Davon geht die einhellige Kommentierung zum Beispiel schon dann aus, wenn sie zunächst deutsche Volkszugehörige im Sinne des Art. 116 I GG (Flüchtlinge, Vertriebene, sogenannte "Neubürger") aufgrund des bislang herrschenden Prinzips des ius sanguinis den deutschen Staatsangehörigen bei der Anwendung des § 7 Abs.1 StGB gleichstellt (vgl. nur LK-Tröndle, StGB, vor § 3, RN 64). Ein weiterer Beleg für die nicht vollständige Deckungsgleichheit zwischen Staatsangehörigkeitsrecht auf der einen und Strafrecht auf der anderen Seite ist die Tatsache, dass Lehre und Rechtsprechung auch an anderer Stelle den Anwendungsbereich der Norm im Wege der funktionellen Auslegung bestimmt haben (LKTröndle,a.a.O., RN 60: "funktionsgerechte Auslegung"; SK-Hoyer, StGB, vor § 3: "funktionale Korrektur" u.a.) und so den Geltungsbereich der Norm bei DDR-Bürgern eingeschränkt haben. Schon in der Vergangenheit also wurde von Lehre und Rechtsprechung über den reinen Wortlaut hinaus mittels der üblichen Auslegungskriterien definiert, wer der Norm unterliegt. Im vorliegenden Fall kommt ein ganz gewichtiger Gesichtspunkt hinzu. Die Bundesrepublik Deutschland würde die Rechtsfolgen eines nationalsozialistischen "Recht"setzungsaktes unnötigerweise akzeptieren, wenn nicht der Wiedergutmachungsgedanke angemessen berücksichtigt würde. Denn eindeutiger Zweck der Grundgesetzvorschrift des Artikel 116 Abs.2 GG ist der Ausgleich einer nationalsozialistischen Gewaltmaßnahme, die im krassen Widerspruch zu fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien stand und das Ziel der Ausrottung der deutschen und europäischen Juden mit administrativen Maßnahmen unterstützen sollte. Diesem Zweck ist dadurch Rechnung zu tragen, dass zugunsten der Verfolgten und ihrer Angehörigen die Rechtsfolgen des Ausbürgerungsaktes in jedem Einzelfall und auf jedem Rechtsgebiet überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Demnach darf die nichtige Norm über den anzuerkennenden Schutz des Willens der Ausgebürgerten hinaus keine rechtliche Wirkung entfalten können. Dies bedeutet konsequenterweise, dass die ausgebürgerten Verfolgten den Status der deutschen Staatsangehörigen nicht verloren hatten. Die Wiedereinbürgerung gemäß Art.116 Abs. 2 GG stellt somit keine konstitutive Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft dar. So sieht es auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hirsch in BVerfGE 54, 75ff: "Die Wiedereinbürgerung im Sinne dieser Verfassungsbestimmung kann danach nur bedeuten, unter Mitwirkung des Betroffenen das bestehende, aber vorübergehend auf Seiten des Staates und des Staatsangehörigen nicht ausgeübte Staatsangehörigkeitsverhältnis zu aktualisieren. Der als Wiedereinbürgerung bezeichnete antragsbedingte Verwaltungsakt war ein rechtstechnisches Mittel zur Verwirklichung der Wiedergutmachung des Willens des verfolgten Staatsbürgers. " Schon dieser Gesichtspunkt spricht für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 StGB im vorliegenden Fall.

3. Im Falle von Nora Marx sprechen im Übrigen zwei weitere Argumente für eine Anwendung der Vorschrift. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass sich die Familie Marx nach der Emigration der Ehegatten bis zum heutigen Tage im deutsch-jüdischen Milieu in Argentinien bewegt. Die Kinder sind in deutscher Sprache und Kultur aufgezogen worden. Frau Ellen Marx hat lange Jahre an der deutschsprachigen Pestalozzi-Schule sowie in einem jüdischen Kinderheim in Buenos Aires gearbeitet. Zum anderen haben die Eltern der Ermordeten - wie oben bereits berichtet - seit dem Verschwinden ihrer Tochter am 21.8.1976 immer wieder den Schutz deutscher Behörden gesucht und versucht, diese zum Tätigwerden zum Schutz ihrer Tochter zu veranlassen. Viele der damals von den Militärdiktaturen Lateinamerikas verfolgten Kinder von Deutschen konnten die Gelegenheit nutzen, sich deutsche Pässe ausstellen zu lassen. Sie wollten dadurch einen gewissen Schutz vor der Repression erlangen und eine eventuelle Ausreise nach Deutschland ermöglichen. Das war allerdings

nur in den Fällen möglich, in denen die Betroffenen ahnten oder wussten, dass sie sich im Visier der Militärs befanden. Nora Marx war sich dessen zum Zeitpunkt ihres Verschwindens keineswegs bewusst, da sie nur legal und auch nicht besonders öffentlichkeitswirksam politisch gearbeitet hatte. Andere Betroffene (z.B. in der "weniger brutalen" Militärdiktatur Uruguays) hatten die Möglichkeit, aus der Haft heraus oder bei einer zwischenzeitigen Entlassung ihren deutschen Pass zu beantragen. Dabei wirkten oft die Eltern im Antragsverfahren mit oder nahmen in vielen Fällen die Einbürgerungsurkunde in der jeweiligen deutschen Botschaft entgegen. Für eine "verschwundene" Person bestand diese Möglichkeit nicht. Niemand wusste, wo sich Nora Marx befand, niemand stand in Verbindung mit ihr, noch hätte sie Kontakt zu jemand aufnehmen können. Unter den Umständen einer "regulären" - möglichweise politisch bedingten, möglicherweise unrechtmäßigen, möglicherweise sogar von Folter begleiteten - Inhaftierung hätte sie ihre Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit geltend machen und sich einen deutschen Pass beschaffen können. Dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht sind die hier vorgebrachten Rechtsgedanken durchaus geläufig. Nach § 21 des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (Sartorius Nr. 22) dürfen Verwandte auf- und absteigender Linie das Ausschlagerecht eines zwischen 1938 und 1945 einbürgerten Verstorbenen geltend machen. Gemäß § 9 des Zweiten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (Sartorius Nr. 23) dürfen Verwandte sogar den rückwirkenden Erwerb der Staatsangehörigkeit für die eigentlich erklärungsberechtigte Person erklären und das sogar, wenn "sie bis zu ihrem Tode in Gewahrsam einer fremden Macht waren und daher ihren willen, in Deutschland dauernden Aufenthalt zu nehmen, nicht mehr verwirklichen konnten". Die Tochter Marx war während der Zeit ihres Verschwundenseins objektiv daran gehindert, ihren eigenen Willen in rechtlicher Hinsicht kundzutun. Dies haben jedoch stellvertretend für sie ihre Eltern getan und ihrem mutmaßlichen Willen und ihren Interessen entsprechend die deutschen Behörden eingeschaltet, um bei diesen Schutz für ihre Tochter zu suchen. Es müssen also der damals stellvertretend von den Eltern geäußerte Wille und der nunmehr von der Mutter geäußerte Wille auf Strafverfolgung der Täter unter Berücksichtigung der vorgenannten Auslegungskriterien dahingehend Berücksichtigung finden, dass Nora Marx als Deutsche im Sinne des § 7 Abs. 1 StGB zu behandeln ist und es wäre daher alles in allem ein eklatanter Wertungswiderspruch, wenn Nora Marx nur deshalb nicht unter den Schutz des deutschen Strafrechts fallen würde, weil der eine Unrechtsstaat ihren Eltern aufgrund einer nunmehr für nichtig befundenen Vorschrift die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannte und sie dann von der argentinischen Militärdiktatur unter Verstoß gegen jegliche Menschen-und Bürgerrechte der Möglichkeit beraubt wurde, in den Besitz deutscher Papiere zu gelangen, obwohl ihre Eltern alles taten, um den deutschen Staat zu ihrem Schutz zu bemühen.

4. Die sonstigen Anwendungsvoraussetzungen des deutschen Strafrechts sind unzweifelhaft gegeben. Das Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht in Freiburg hat durch Dr. Kai Ambos zu dieser Frage für die Verfahren gegen argentinische Militärs im März 1998 ein Rechtsgutachten erstattet. Ambos kommt zu dem Ergebnis, dass das deutsche Strafrecht anwendbar ist. Im argentinischen Strafgesetzbuch (Codigo Penal) sind die Straftatbestände des Mordes (Art. 80 CP), des Totschlages (Art. 79 CP), der Freiheitsberaubung (Art.141 CP), der qualifizierten Freiheitsberaubung (Art. 142 CP) und des Zuführens zu Folter (Art. 144 CP) enthalten, so dass die Tat am Tatort ohne weiteres mit Strafe bedroht ist. Im Übrigen führt Ambos überzeugend aus, dass die diversen Straffreistellungsgesetze in Argentinien die Strafbarkeit in Deutschland nicht entfallen lassen, da sie gegen zwingendes Völkerrecht verstoßen. Argentinien hatte das sogenannte Schlußpunktgesetz (Nr.23.492), verkündet am 24.12.1986, erlassen, wonach die Strafverfolgung hinsichtlich jeder Person, deren Erscheinen nicht innerhalb von 60 Tagen nach Verkündigung des Gesetzes angeordnet worden ist, wegen ihrer vermuteten Teilnahme an Verbrechen der Diktatur erlischt. Mit dem sogenannten Gesetz über den pflichtgemäßen Gehorsam (Nr.23.521), verkündet am 8.6.1987, wurde die unwiderlegbare Vermutung verankert, dass Militärangehörige bis zum Brigadegeneral nicht strafbar gemacht haben können, da sie aufgrund pflichtgemäßen Gehorsams gehandelt hätten. Diese und weitere Amnestiegesetze sind jedoch völkerrechtswidrig. Denn nach geltendem Völkerrecht besteht für schwerste Menschenrechtsverletzungen eine Bestrafungspflicht nach Völkerstrafrecht. Nach der Amerikanischen Menschenrechtskonvention in Verbindung mit der Rechtssprechung des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte haben die Staaten die Pflicht, Menschenrechtverletzungen zu untersuchen, die Verantwortlichen zu identifizieren, für angemessene Bestrafung zu sorgen und die Opfer adäquat zu entschädigen. Die ist nach verheißungsvollem Auftakt, der Einsetzung der

CONADEP-Kommission und der Prozess gegen die Junta-Mitglieder, durch die diversen Amnestiegesetze nicht gewährleistet. (vgl. zum Ganzen :Ambos, EuGRZ 1998, S. S.478 ff.) Das deutsche Strafrecht bleibt somit auch insoweit anwendbar.

III. Das Verschwindenlassen von Menschen während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) Die wohl umfassendste Darstellung des Repressionsapparates der Diktatur in Argentinien ist der Abschlußbericht "Nunca más!" der CONADEP. Dieser wurde am 28.11.1984 veröffentlicht und ist trotz inzwischen angewachsener Erkenntnisse immer noch aktuell. Dieses Dokument ist auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden ("Nie wieder! - Ein Bericht über Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien", hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Stuttgart 1987). Auf den Bericht soll in der nachfolgenden Zusammenfassung Bezug genommen werden. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen sowie Sammlungen von Dokumenten, vor allem von Befehlen der Militärdiktatur. Um diese Darstellung nicht ausufern zu lassen, soll hier lediglich eine kurze Zusammenfassung der Repression gegeben werden, die sich vor allem auf das hier aktuelle Problem des Verschwindenlassens von Menschen konzentriert. In den vierziger und fünfziger Jahren war Argentinien aufgrund seiner Agrarexporte, in erster Linie aufgrund des Fleischhandels, ein wohlhabendes Land, das von 1946 bis 1955 von dem populistischen Präsidenten General Juan Domingo Perón regiert wurde. Nach einem Militärputsch 1955 musste Perón nach Spanien fliehen. In der Folgezeit kam es immer wieder zu Militärputschen nach Wahlen. Von 1966 bis zum 25.5.1973 waren hintereinander drei Militärdiktatoren an der Macht. Aufgrund des großen Drucks der Bevölkerung, insbesondere der unabhängigen Gewerkschaften sowie der Studenten, wurde unter Führung der peronistischen Bewegung eine erneute demokratische Wahl erzwungen. Der dabei zunächst gewählte Präsident Cámpora trat zurück, nachdem der aus dem Exil zurückgekehrte General Perón aufgrund einer allgemeinen Volksabstimmung am 12.10.1973 die Präsidentschaft übernahm. Perón verstarb am 1.7.1974. Die Präsidentschaft übernahm seine Frau Isabel Perón. Das Land war seit den späten sechziger Jahren von schweren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gezeichnet. Das Verbot jeder freien politischen Betätigung sowie eine restriktive Wirtschaftspolitik hatten zahlreiche gesellschaftliche Bewegungen zum Widerstand gegen die Militärs mobilisiert. Ein Arbeiter- und Studentenaufstand 1969 in der Provinzhauptstadt Córdoba konnte nur durch den Einsatz von Militärs niedergeschlagen werden. Seit dieser Zeit bildeten sich auch einzelne bewaffnete Gruppierungen, von denen die bedeutendste die Montoneros waren, eine Abspaltung aus der linksperonistischen Bewegung, die sich auf den damals noch im Exil befindlichen und um seine Wiederkehr kämpfenden General Perón berief und äußerst mobilisierungsfähig war. Nach der Übernahme der Macht durch den zivilen Präsidenten Cámpora im Frühjahr 1973 wurde zunächst eine Vielzahl von politischen Gefangenen freigelassen. Die gesellschaftliche Lage beruhigte sich. Die linksperonistische Jugend übernahm zahlreiche Funktionen im Staatsapparat. Dabei geriet sie allerdings in Konflikt mit dem anderen Flügel der Peronisten, deren bedeutendster Exponent der spätere Wohlfahrtsminister López Rega war. Zur ersten größeren Auseinandersetzung kam es bei der Rückkehr von General Perón aus Spanien am 20.6.1973. Die Linksperonisten hatten ungefähr zwei Millionen Menschen am Flughafen Ezeiza versammelt, um den Präsidenten zu begrüßen. Bewaffnete Vertreter von rechtsextremen Gruppen des Peronismus eröffneten das Feuer auf die Menschenmenge. Es gab dreizehn Tote und zweihundert Verletzte. Seit diesem Ereignis kam es zu gewaltigen Spannungen zwischen den beiden Strömungen des Peronismus. In deren Verlauf gründeten die Gruppierungen um López Rega die inoffizielle Todesschwadrone, die sogenannte Argentinische Antikommunistische Allianz (AAA) und paramilitärische Banden. Diese griffen insbesondere die Exponenten der anderen Strömungen des Peronismus an. Allein im Jahre 1974 wurden etwa dreihundert Menschen durch Todesschwadronen getötet, bei den Opfern handelt es sich überwiegend um Studenten, Rechtsanwälte, Journalisten und aktive Gewerkschafter. In den sogenannten "Comandos Liberadores de America" hatten sich auch Armeeoffiziere niederer Ränge zusammengetan, um gemeinsam gegen Linke vorzugehen. So gehen die spanischen Strafverfolgungsbehörden in ihren Strafbefehlen gegen die Militärjunta vom 10.10.1997 davon aus, dass die Militärs zu schon diesem Zeitpunkt einen kriminellen Plan abzielend auf das Verschwindenlassen und die systematische Eliminierung von Personen verfolgten und zu diesem Zweck Aktionen mittels paramilitärischer Organisationen durchführten. Dabei sollte zunächst gegen terroristische Gruppen, aber auch undifferenziert gegen Bürger im allgemeinen vorgegangen

werden, indem diese auf offener Straße umgebracht wurden, um ein Gefühl allgemeinen Terrors und Desasters hervorzurufen, das die Einsetzung eines Militärregimes rechtfertigen sollte. Ab 1974 begaben sich die peronistischen Montoneros wieder in den Untergrund. Gleichzeitig organisierte sich mit der ERP (Revolutionäre Volksarmee) eine Guerilla-Gruppe, die aus der PRT (Revolutionäre Arbeiterpartei) hervorging und in der ländlichen Provinz Tucuman den bewaffneten Kampf betrieb. Das Militär setzte daraufhin die Präsidentin Perón unter Druck und brachte diese dazu, zahlreiche Ausnahme- und Sondergesetze zu unterzeichnen. So wurde am 5.2.1975 das Dekret 261/75 erlassen, in dem der Generalstab des Heeres autorisiert wurde, alle notwendigen militärischen Operationen durchzuführen, "um die subversiven Elemente in der Provinz Tucuman zu neutralisieren oder zu vernichten". Die Armee bildete daraufhin in der Provinz Tucuman eine unabhängige Einheit, riegelte das Gebiet ab und wandte die Methoden zum Kampf gegen die Guerilla - Folter, Bombardierungen, Massenverhaftungen - auch gegen die Bevölkerung an. Es gab die ersten Verschwundenen. In weiteren Dekreten, die alle beigebracht werden können, wurden die Kompetenzen der Armee immer weiter gestärkt. Die Ermächtigung militärische Operationen durchzuführen, die für notwendig erachtet wurden, die sogenannten subversiven Elemente zu vernichten, wurde auf das gesamte Land ausgeweitet. Am 28.10.1975 wurde der geheime Kampfbefehl der Armee 404/75 verteilt. Ausgestattet mit der Ermächtigung der Präsidentin, beschloss die Armee in die Offensive zu gehen, deren Ziele wie folgt lauteten: 1. bis Ende 1975 sollten die Aktionen der Subversion auf ein Minimum begrenzt werden, 2. bis Ende 1976 sollte die Subversion nur noch ein polizeiliches Problem sein, 3. bis Ende 1977 sollte die Subversion vernichtet werden. Nach Schätzung eines spanischen Militärsoziologen zählten die PRT-ERP damals sechshundert und die Montoneros etwa 1500 - 2000 bewaffnete Kämpfer. Die Sicherheits- und Streitkräfte hatten zu diesem Zeitpunkt etwa 300.000 Menschen unter Waffen. Durch die harte und erfolgreiche Repression in der Provinz Tucuman und einen weiteren militärischen Fehlschlag der Guerilla (Versuch einer Kasernenbesetzung im Oktober 1975) war die PRT-ERP 1975/76 militärisch praktisch schon gescheitert. Selbst argentinische Militärberichte von 1975/76 hatten bereits festgestellt, dass der Gegner von der Bevölkerung isoliert, seiner Infrastruktur beraubt und fortschreitend verschlissen sei. Nichtsdestotrotz wurden weitere Ermächtigungen für die Armee ausgestellt. So häufen sich mittlerweile auch die Dokumente und Analysen, die davon ausgehen, dass die Armee ihr militärisch-politisches Ziel der Besiegung der bewaffneten linken Gruppierungen bereits vor dem Putsch erreicht hatte. Sie hatte fast uneingeschränkte gesetzliche Möglichkeiten und tatsächliche Ressourcen, um das selbst so definierte polizeiliche Problem in den Griff zu kriegen. Es stellt sich jedoch heraus, dass ihre Planungen von Anfang an wesentlich weitergingen. Es sollte das nachfolgend geschilderte Terrorregime installiert und die gesamte Opposition nach festgelegten Stufenplänen bis hin zu potentiellen Gegnern physisch ausgelöscht werden (vgl. dazu u.a. den Aufsatz der Menschenrechtsanwältin Mirta Mántaras, El Manual de la Repression in: Pagina 12 vom 24.3.1999, in dem sie sich auf einen mittlerweile auch im Internet unter www.nuncamas.org.de veröffentlichen Plan der Armee "Plan Del Ejercito" bezieht) In den schlichten und klaren Worten des ersten Junta-Chefs Jorge Rafael Videla heißt es dazu: "Ein Terrorist ist nicht einfach jemand mit einem Gewehr oder einer Bombe, sondern auch jemand, der Gedankengut verbreitet, das sich gegen die westliche und christliche Zivilisation richtet." Am 24.3.1976 kam es dann zum Militärputsch. Die Präsidentin Isabel Perón wurde entführt und auf eine Militärbasis verbracht. Die Oberkommandierenden der drei Teilstreitkräfte, General Videla, Admiral Massera und der inzwischen verstorbene Brigadegeneral Agosti bildeten eine Militärjunta, die die Macht übernahm. Die Mitglieder des Obersten Gerichts wurden abgesetzt. Das Parlament wurde aufgelöst. Die wichtigsten Institutionen des Landes wurden unter militärischen Befehl gestellt. In den darauffolgenden Wochen und Monaten kam es zu zahlreichen Morden, Entführungen und Verhaftungen von politischen Gegnern.

Dabei unterschied sich das Ausmaß und die Brutalität der Repression von den anderen Diktaturen im südlichen Lateinamerika zur damaligen Zeit. Es wurden etwa 30.000 Menschen ermordet. Schon aus dem Vergleich dieser Zahlenangabe mit der obengenannten Schätzung der Anzahl der Angehörigen bewaffneter Organisationen geht hervor, dass es sich bei den Verschwundenen und Ermordeten mitnichten sämtlichst um bewaffnete Gegner der Militärs handelte. Der damalige Gouverneur von Buenos Aires, Brigadegeneral Iberico Manuel Saint Jean brachte die Ideologie der Militärs folgendermaßen auf den Punkt: "Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Indifferenten, und zum Schluss die Lauen." (zitiert nach: Argentische Menschenrechtskommission. Argentinien auf dem Weg zum Völkermord, dt. Fassung, Bonn 1977). Dieser Ausspruch bringt eine Entwicklung auf den Punkt, die sich in allen lateinamerikanischen Ländern im Zuge des Kalten Krieges vollzogen hatte. Unter Führung der USA war der sogenannte TIAR, ein Beistandspakt unter den lateinamerikanischen Ländern, 1947 geschlossen worden, um sich vor äußeren Feinden zu schützen. Die USA übernahm die militärische Verteidigung des Kontinents nach außen. Die lateinamerikanischen Armeen widmeten sich der Aufstandsbekämpfung innerhalb ihrer Länder. So wurden auch die Organisationstrukturen der Armeen verändert. Nicht mehr die Verteidigung der Landesgrenzen war die wichtigste Aufgabe der Streitkräfte. Die neue Planung sprach von ideologischen Grenzen, die "christlich-abendländische Ideologie" müsse sich gegen die "jüdischmarxistische internationale Subversion" zur Wehr setzen. Symptomatisch für diese Planung ist die Stationierung der wichtigsten Heereseinheiten Argentiniens nicht an den dünn besiedelten Landesgrenzen, sondern in den Großräumen Buenos Aires, Rosario und Córdoba, wo auch die Mehrheit der Bevölkerung Argentiniens lebt. In den sechziger Jahren übernahm die USA die Ausbildung von Spezialkräften der verschiedenen lateinamerikanischen Armeen. Zentrum der Ausbildung war die sogenannte Escuelas de las Americas in der Panama-Kanal-Zone. Dabei spielte die Doktrin der Nationalen Sicherheit eine herausragende Rolle. Sie ging von einem inneren Feind aus, der im Auftrag des Internationalen Kommunismus die Gesellschaft von innen heraus zersetze und deshalb mit allen Methoden auch außerhalb der Gesetze bekämpft werden müsse. Zu den festen Bestandteilen dieser Doktrin zählten Folter mit wissenschaftlichen Methoden sowie der Einsatz von paramilitärischen Banden unter dem Oberkommando der Streitkräfte und die Ermordung von Regimegegnern und -kritikern. Am 1.4.1964 wurde in Brasilien die demokratisch gewählte Goulart-Regierung gestürzt und eine brutale Militärdiktatur installiert, in deren Verlauf es zur Anwendung der genannten Methoden kam. Das Zeitalter der Militärdiktaturen hatte damit begonnen. US-Militärberater wurden im weiteren Verlauf der Geschichte sowohl in Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile als eben auch in Argentinien eingesetzt. Die Diktaturen vereinbarten eine sehr weitgehende Zusammenarbeit unter dem Namen Operación Condor. Regimegegner wurden über die Landesgrenzen von den Geheimdiensten erfasst, verfolgt, ausgeliefert und gegebenenfalls auch liquidiert. Ausgehend von dieser Ideologie sah das argentinische Militär sich in einem Krieg gegen einen inneren Feind, der nur zum Teil politisch definiert war. Nach der Niederschlagung der bewaffneten Gruppen der Stadtguerilla und ihrer unmittelbaren Unterstützungsgruppen wurde der Kreis der zu bekämpfenden Gruppen immer weiter gezogen, letztlich sollten bestimmte Teile der argentinischen Gesellschaft vernichtet werden. Man berief sich dabei auf ein Staatsverständnis, wonach die argentinische Nation von "kranken Elementen" zu befreien sei. Wer zur abendländisch-christlichen argentinischen Nation gehörte, bestimmten die Militärs. Die Gruppen, die nicht dazu zählten, waren zur Vernichtung freigegeben. Dazu gehörten nicht nur aktive Gewerkschafter, kritische Intellektuelle, Wissenschafter, unbequeme Journalisten und sozial engagierte Christen, insbesondere Anhänger der Theologie der Befreiung, sondern auch Sozialarbeiter in den Elendsvierteln und eben in hohem Maße jüdische Mitbürger. Betroffen war potentiell jede Bevölkerungsgruppe, die nicht dem Weltbild der Militärs entsprach. Bezeichnend für die Haltung der Militärs ist die Aussage des angezeigten Ex-JuntaMitgliedes Massera, der 1985 sagte, dass Militär hätte zwar den Krieg der Waffen gewonnen, aber den psychologischen verloren. Eine besonders wichtige Rolle in diesem System spielte der Plan des Verschwindenlassens von Menschen. Aus allen Berichten, insbesondere aus dem schon zitierten Bericht "Nie wieder!", geht hervor, dass es sich nicht um einzelne "Gewaltexzesse" handelte, wie von militärischer Seite euphemistisch behauptet wurde, sondern um ein ausgeklügeltes System, das nach den immer

wiederkehrenden Mustern und vor allem hierarchisch organisiert ablief. Dabei wurde Argentinien militärisch in fünf Zonen aufgegliedert. Zone 1 umfasste die Stadt und die Provinz Buenos Aires. Der Kommandeur dieser Zone war von 1976 bis Januar 1979 der Divisionsgeneral Suarez Mason. Die fünf Zonen waren in weitere sogenannte Subzonen untergliedert. Die hier verfahrensgegenständliche Subzone 1 ist die der Bundeshauptstadt Buenos Aires. In jeder dieser Zonen erhielten die regionalen Befehlshaber die direkte Verantwortung für antisubversive Operationen. Es wurden sogenannte Sonderkampfgruppen bzw. Einsatzgruppen (fuerzas de tareas) gebildet, die sich in Untergruppen aufteilten (grupos de tareas). Diese Gruppen bildeten die Kommandos, mit denen teilweise in Zivil, teilweise uniformiert, die Entführungen vorgenommen wurden. Der Ablauf der Entführungen im Einzelnen wird im Bericht "Nie wieder!" beschrieben (vgl. Seite 17 - 21). Der Großteil der Operationen wurde in den späten Nachtstunden oder frühen Morgenstunden durchgeführt. Unter Einbeziehung der Polizei wurden mehrere Fahrzeuge eingesetzt, die Opfer in ihren Wohnungen, am Arbeitsplatz oder an der Universität verhaftet. Dabei wurden meist mehr Kräfte eingesetzt, als erforderlich gewesen wären. Es sollte ein Effekt der Einschüchterung und des Terrors nicht nur gegenüber dem Opfer und seiner Familie, sondern auch gegenüber der unmittelbaren Nachbarschaft erzielt werden. Die Einsatzkräfte waren oft vermummt und verweigerten jegliche Auskunft zu ihrer Identität. Versuche, die Polizei herbeizurufen, scheiterten, da diese jegliche Unterstützung verweigerte, weil sie vorher vom Militär informiert und zur Zurückhaltung angehalten worden war. Alle entführten Personen wurden ausnahmslos im Anschluss an ihre Festnahme einer mehrtägigen bis mehrwöchigen oder mehrmonatigen Folter unterzogen. Die Misshandlung begann teilweise schon in den Wohnungen. Die ausgefeilteren Foltermethoden wurden allerdings in speziell dafür eingerichteten geheimen Haftzentren durchgeführt. Immer wieder wurde insbesondere die Elektrofolter (sogenannte picana) angewandt. Die Angehörigen wurden über das Schicksal der Verschwundenen vollkommen im Unklaren gelassen. Über die Justiz eingeleitete Maßnahmen, wie Habeas-Corpus-Anträge, blieben fast immer ohne Ergebnis. Die Gefangenen waren in den über 340 geheimen Haftzentren nicht nur illegal ihrer Freiheit beraubt, sie waren, bis hin zur vollständigen physischen Vernichtung, den militärischen Machthabern ausgeliefert. In dem schon erwähnten Dokument der Menschenrechtsorganisation CELS "Terrorismo de Estado" sind zwei wichtige Aussagen hoher Militärs wiedergegeben worden, die die Aufgabenverteilung innerhalb des Militärs verdeutlichen und die sich im Übrigen mit den später angestellten Untersuchungen decken. Konteradmiral Manuel Jacinto García Tallada hatte als Chef des Oberkommandos der Marine den Oberbefehl über die Kräfte für Spezialaufgaben, die insbesondere als sogenannte Paramilitärs ohne Uniform mit den Entführungen betraut waren. Er sagte aus, dass die Kommandanten dieser Gruppen ihm als Oberbefehlshaber eine Übersicht über die Operationen gaben und auch die Probleme und Erfahrungen im Einzelnen mit ihm besprachen. Vizeadmiral Oscar Antonio Montes sagte aus, dass die Tätigkeit der Einsatzkräfte in der Verschleppung der Entführten in die geheimen Haftzentren bestand und diese dann dort unter Folter von Geheimdienstoffizieren verhört wurden, so dass in den Fällen, wo der Ort der Gefangenschaft der Verschwundenen bekannt wurde, auch gegen die verantwortlichen Geheimdienstoffiziere Anzeige erstattet wird. Aufgrund dieser nachgewiesenen und sicherlich noch auszuführenden Tatsachen kann es als feststehend betrachtet werden, dass Leonor Marx von einer Einsatzgruppe des 1. Heereskorps unter dem Kommando von Divisionsgeneral Suarez Mason entführt wurde. Sie wurde dann im 42. Kommissariat Mataderos mehrere Tage festgehalten und dort gefoltert. Ihr anschließender Verbleib ist bis heute ungeklärt. Aus der Tatsache jedoch, dass sie nicht wieder aufgetaucht ist, muss man zwingend schließen, dass sie mit einer der bekannten Methoden umgebracht wurde. Das geschah entweder durch Erschießen und anschließendes Vergraben der Opfer oder aber dadurch, dass man die Opfer mit ärztlicher Hilfe betäubte und anschließend über dem Atlantik ins Meer warf.

IV. Besondere Unterdrückung jüdischer Opfer Ein Gedicht von Arturo Chacho Vazquez bringt vielleicht deutlicher auf den Punkt als eine wissenschaftliche Abhandlung, in welch besonderem Ausmaß jüdische Argentinier unter der Repression zu leiden hatte. Vazquez, selbst Opfer von staatlicher Verfolgung schrieb es für den im

Alter von 22 Jahren verschleppten Juan Miguel Thanhauser, den besten Freund seines Sohnes, den ebenfalls 22jährigen Martín Vazquez: LECHAIM Als sie meinem Sohn Martin seine Ration Prügel gaben bekam Juan Miguel der jüdische Freund meines Sohnes die doppelte Ration. Als sie meinen Sohn mit seiner Portion Horror versahen (ich will das erklären: Horror meint nicht allein die größte Todesangst sondern auch die Niedertracht der Mittel etwa Elektroschocks am Zahnfleisch, am Geschlecht, bis der Körper am Ende ist und sie am nächsten Tag von neuem beginnen) KurzumAls sie meinen Sohn mit seinem Anteil an Terror versahen bekam der jüdische Freund meines Sohnes die doppelte Portion. Nachdem sie meinen Sohn getötet hatten stellten sie zu ihrer Enttäuschung fest, dass sie den jüdischen Freund meines Sohnes nicht öfter als einmal töten konnten. Wir aber, die wir überlebten wir könnten es tun:mit einer Amnestie mit dem Vergessen können wir sie zum zweiten Mal töten. Mal sehen, ob wir endlich unsere Hände vereinen (ich will erklären: unser Gewissen unser Wille zu Handeln) wir also unsere Hände vereinen damit die, die nach uns kommen nicht ermordet werden. Nicht ein einziges Mal. Damit allen dieselbe Ration Leben zukommt Damit wir unsere Gläser erheben können und uns die Schamesröte nicht ins Gesicht steigt wenn wir es aussprechen LECHAIM ! Arturo Chacho Vazquez Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Streitkräfte und in den folgenden Monaten erschienen in allen größeren Städten in zunehmendem Maße zahlreiche antijüdischen Publikationen. Die Militärs hatten eine rigide Pressezensur installiert und Verlage, Druckereien und Verteilerorganisationen von Zeitungen und Zeitschriften einer strikten Kontrolle unterworfen. Taschenbuchausgaben von Hitlers "Mein Kampf" und den Goebbelsreden sind jedoch in hoher Auflage erhältlich. Es werden antisemitische Schriften verbreitet, die den Juden finstere Machtpläne zuschreiben, wie die von Walter Beveraggi Allende über den "Plan Andinia". Ab August 1976 ist das Stadtviertel Once, in dem die meisten der 500 000 Juden Buenos´ Aires´ leben, Ziel gewaltsamer Übergriffe, bei denen Geschäfte beschossen werden, in Synagogen und hebräischen Einrichtungen wie Schulen Bomben gelegt werden, und zu denen sich eine Frente Argentina Nacional Socialista bekennt. (alles aus: Argentinien auf dem Weg zum Völkermord, Bonn 1977, S. 80f.) Im März 1999 übergaben Vertreter der jüdisch-argentinischen Organisation COSOFAM dem spanischen Juzgado Nr.6 der Audencia Nacional, dem Untersuchungsrichter Baltasar Garzón, der sowohl für den chilenischen als auch für den argentinischen Ermittlungskomplex zuständig ist, zahlreiche Dokumente über die gezielte Verfolgung von Juden unter der argentinischen Militärdiktatur. Die Dokumente sowie die bereits zitierten Berichte ("Nie wieder!", aber auch der Bericht der Organisation der Amerikanischen Staaten von Ende 1979) stellen sämtlichst fest, dass jüdische Opfer

einer besonderen Repression unterlagen. Dabei kann nicht endgültig behauptet werden, dass bereits die jüdische Abstammung als solche zum Anknüpfungspunkt für eine Verhaftung oder für die Repression wurden. Allerdings liegen zahlreiche Zeugenaussagen vor, dass jüdische Gefangene besonders grausam misshandelt wurden. Dies liegt daran, dass der Antisemitismus im öffentlichen Leben Argentiniens und insbesondere innerhalb der Streitkräfte eine große Rolle gespielt hat. Dabei speist sich der Antisemitismus aus verschiedensten ideologischen Quellen, wie rechtsextremen Katholizismus, Ultranationalismus und Faschismus. Dies führte dazu, dass sich unter den Opfern überproportional viele Juden befunden haben, man spricht von bis zu 10.000 der 30.000 Verschwundenen, die Juden gewesen sein sollen. Dies lässt sich nach Auffassung der jüdischen Organisationen darauf zurückführen, dass die Mitglieder der Streitkräfte glaubten, dass die Juden sehr stark an oppositionellen Aktivitäten beteiligt sind. Sie vereinigen nach dem Weltbild der Militärs in ihrer Person die Vertretung des internationalen Kapitalisten, des gefährlichen Kommunisten und des Zionisten mit zweifelhafter Loyalität zu seinem Heimatland. Nach einer Vielzahl von Berichten wurden jüdische Mitgefangene immer wieder besonders übel behandelt. Sie wurden aufgrund ihrer Abstammung vor Mitgefangenen körperlich und seelisch gedemütigt. Es wurde ihnen mit der Gaskammer gedroht. In den Quartieren der Soldaten befanden sich faschistische Schmierereien wie "Es lebe Hitler", "Töte einen Juden für´s Vaterland" sowie das Hakenkreuz und Hitlerbilder.

V. Strafrechtliche Verantwortung der angezeigten Militärs Jorge Rafael Videla gehörte als Oberkommmandierender des Heeres ebenso wie der Oberbefehlshaber der Marine Emilio Eduardo Massera zu der ersten Militärjunta, die sich am 24.3.1976 an die Macht geputscht hatte und deren Chef Videla bis Mitte 1978 war. Carlos Suarez Mason war von Januar 1976 bis Januar 1979 der Kommandeur des 1. Heereskorps mit Sitz in Buenos Aires und damit Oberverantwortlicher in der Zone 1 (Stadt und Provinz Buenos Aires). Der ExBrigadegeneral Jorge Olivera Rovere war Befehlshaber der Subzona Stadt Buenos Aires. Die vier angezeigten Personen sind die ranghöchsten Militärs innerhalb der Befehlskette für die verfahrensgegenständliche Region (vgl. die umfassende Auflistung der Kommandostrukturen im Einzelnen in: Terrorismo de Estado. 692 Responsables. Hrsg. von CELS (Centro De Estudios Legales y Sociales). Buenos Aires 1986). Sie sind nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft strafrechtlich voll verantwortlich für das angezeigte Geschehen. Dabei sind die Prinzipien der Rechtsprechung zur strafrechtlichen Verantwortung der Politbüromitglieder der DDR im vollen Umfange auf sie anwendbar (insbesondere BGH NJW 1994, S.2703ff). Dort heißt es u.a., dass es nicht darauf ankommt, ob die unmittelbaren Täter uneingeschränkt verantwortlich handeln, worüber übrigens in den Fällen der argentinischen Militärs trotz des "Gesetzes über den erzwungenen Gehorsam" nicht die Spur eines Zweifels besteht. Der Hintermann verwirklicht dann den Tatbestand selbst, wenn er "durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Derartige Rahmenbedingungen ...kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen in Betracht. Handelt ...der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, ist er der Täter in der Form mittelbarer Täterschaft. ... Den Hintermann in solchen Fällen nicht als den Täter zu behandeln, würde dem objektiven Gewicht seines Tatbeitrages nicht gerecht, zumal häufig die Verantwortlichkeit mit größerem Abstand zum Tatort, nicht ab-, sondern zunimmt." (BGH a.a.O. S.2706). Es müssten und könnten an dieser Stelle sicherlich umfangreiche Ausführungen zu den Planungen der Militärjunta zur bewussten und gewollten Auslöschung der gesamten, nicht nur der bewaffneten Opposition zu ihrem polit-ökonomischen Projekt (und teilweise sogar darüber hinaus) gemacht werden. Dies würde den Rahmen dieser Strafanzeige jedoch sprengen. Nähere Erläuterungen hierzu sollen ausdrücklich zu einem späteren Zeitpunkt gemacht werden. Dabei ist sicherlich in besonderem Maße auf den zweifelsohne vorhandenen Vorsatz aller Angezeigten einzugehen. Im übrigen sind zumindest bezüglich der angezeigten Junta-Mitglieder bereits umfangreiche Schuldfeststellungen gemacht worden, auf die sich hier ausdrücklich berufen wird: In dem Urteil gegen die Mitglieder der Militärjunta der "Camara Nacional de Apelaciones" vom 9.12.1985 (auszugsweise

abgedruckt in Human Rights Journal 1987, S. 387 ff.) wurden die Herren Videla und Massera in Anwendung der deutschen Tatherrschaftslehre wegen der Verantwortlichkeit für 66 (Videla) bzw. 3 (Massera) Tötungsdelikte und zahlreichen Fällen von unrechtmäßiger Freiheitsberaubung, Folter, Folter mit Todesfolge und Raub jeweils zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das hier angezeigte Geschehen ist nicht unter den abgeurteilten Fällen. Beide Ex-Juntamitglieder mussten nur wenige Jahre unter absolut privilegierten Haftbedingungen verbüßen und wurden dann begnadigt. Im Übrigen ist auch der Fall von Carlos Guillermo Suárez Mason gerichtlich aufgearbeitet worden. Er hatte sich nach dem Ende der Diktatur in die USA geflüchtet, wo gegen ihn, in der Phase als in Argentinien selbst noch die Verfahren gegen die Militärs liefen, vor dem United States District Court Northern District auf California -CR-87-23-MISC-DLJ- ein Auslieferungsverfahren wegen mindestens 43 Fällen von Mord lief. Dort wurde festgestellt, dass der Befehl 9/77 festlegte, dass die Auswahl der Zielpersonen direkt vom Kommando der Zone 1 zu erfolgen hatte und dass Aktionen nur erfolgen durften, wenn das Kommando der Zone 1, das Suárez Mason in diesen Jahren innehatte, autorisiert hatte. Zwar ging aus dem Befehl nicht ausdrücklich hervor, dass die Entführten zu töten seien, indirekt jedoch ließ sich dies aus den Anweisungen schließen, wie mit den Kindern von "Verschwundenen" zu verfahren sei. Ansonsten muss es den weiteren Ermittlungen vorbehalten bleiben, ob nicht bezüglich des rangniedrigeren Kommandeurs Rovere darüber hinaus nicht eine mittäterschaftliche Begehung in Betracht kommt, wenn sich herausstellen sollte, dass er persönlich in das Geschehen anlässlich der Entführung und Ermordung von Nora Marx eingegriffen hat. Für den kaum vorstellbaren Fall, dass die letztlich zuständige Staatsanwaltschaft aus irgendeinem formalen Grund -ohne Aufnahme von Ermittlungen- beabsichtigen sollte, das Verfahren einzustellen, wird ausdrücklich um Gelegenheit zur weiteren Stellungnahme nach vorheriger Akteneinsicht gebeten. Ansonsten wird angeregt, die hochbetagte Anzeigenerstatterin nach dem Konsulargesetz in der deutschen Botschaft in Buenos Aires so schnell wie möglich konsularisch vernehmen zu lassen. Es wird beantragt, die bei der deutschen Botschaft in Buenos Aires und beim Auswärtigen Amt in Bonn befindlichen Vorgänge über Nora Marx, darüber hinaus aber auch die Akten und Dokumente, die mit dem Komplex "Verschwindenlassen von Menschen" allgemein zu tun haben, zum hiesigen Verfahren beizuziehen und sobald wie möglich Akteneinsicht in diese Akten zu ermöglichen. Weiterhin wird angeregt, die angezeigten Personen über Interpol international zur Fahndung auszuschreiben. Letztlich wird angeregt, zumindest in den EU-Staaten Spanien und Italien im Wege der Rechtshilfe Erkundigungen darüber einzuziehen, in welchem Ermittlungsstadium sich die dortigen zum Teil seit 1996 geführten Verfahren gegen einen Teil der hier angezeigten Personen befinden und gegebenenfalls in erheblichem Maße eigene Ermittlungskapazitäten dadurch einzusparen, dass man die gerade beim Ermittlungsrichter bei der spanischen Audencia Nacional befindlichen umfangreichen Unterlagen und Erkenntnisse über die Organisationsstrukturen der argentinischen Militärdiktatur, über Planung und Methoden der Repression nutzt.

Kaleck Rechtsanwalt