Stipendiumsbericht. (erstellt im Rahmen eines Stipendiums der Studienstiftung) ,,Poetry Slam -Workshop

Stipendiumsbericht (erstellt im Rahmen eines Stipendiums der Studienstiftung) ,,Poetry Slam“-Workshop 19.07.2010 – 23.07.2010 im Rahmen der 33. Marbu...
Author: Cathrin Neumann
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Stipendiumsbericht (erstellt im Rahmen eines Stipendiums der Studienstiftung)

,,Poetry Slam“-Workshop 19.07.2010 – 23.07.2010 im Rahmen der 33. Marburger Sommerakademie für Darstellende und Bildende Kunst

Vorgelegt von: Chantale Rau Lehmweg 7 25492 Heist 1

Inhaltsverzeichnis

Zu meiner Person…………………………………………. 3 Was ist ,,Poetry Slam“?........................................................ 3 Tagesberichte……………………………………….…….. 4 - 11 Resümee…………………………………………….…….. 12 Danksagung……………………………………………….. 12 Anhang ,,Über Schuhe und Fische“………………………………... 13 - 14 ,,Eine Minute“…………………………………………….. 14 – 16 ,,Die Tragik der Ampelmännchen“……………………….. 16 - 17 ,,Drama in einem Akt“……………………………………. 17 – 19 Fotos………………………………………………………. 20-21

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,,Ist dir schon einmal aufgefallen, dass sich Inspiration genau dann einstellt, wenn du nicht nach ihr suchst? Sie kommt, wenn alle Erwartungen aufgegeben wurden, wenn das Geist-Herz still ist.“ (Krishnamurti)

Zu meiner Person: Mein Name ist Chantale Rau und ich bin 18 Jahre alt. Zur Zeit besuche ich die 12. Klasse und werde im ästhetischen Profil unterrichtet. Im Allgemeinen interessiere ich mich für Theater, Literatur, Fotografie, Sprachen und natürlich – das Schreiben. Kreatives Schreiben ist ein Hobby, das ich seit Jahren in Form von Kurzgeschichten, Gedichten und Prosatexten ausübe. Da ich außerdem regelmäßig und mit großer Begeisterung ,,Poetry Slam“- Veranstaltungen in Hamburg besuche, bewarb ich mich für ein Stipendium bei Ihnen, um an einem derartigen Kurs teilnehmen zu können. Diese recht neuartige Form von Dichterwettstreit faszinierte mich auf Grund der vielseitigen, impulsiven und oftmals auch sehr experimentellen Art der Texte. Mein Ziel war es, die Formbarkeit der Sprache in ihrer Vielfalt zu erlernen. Zudem war mir wichtig zu erfahren, wie ich am besten meinen Text vorstelle, da die Performance bekanntlich eine bedeutende Rolle beim ,,Poetry Slam“ spielt. Schließlich bin auch begeistertes Mitglied in der Theater-AG unserer Schule.

Was ist ,,Poetry Slam“? Lyrik, Kurzgeschichten, Rap, Provokation, Träumerei, Geheimnisse, Wahrheiten… ,,Poetry Slam“ darf alles. Dabei handelt es sich um einen so genannten Dichterwettstreit. Selbst geschriebene Texte werden innerhalb einer bestimmten Zeit vor Publikum vorgetragen. Eine willkürlich gewählte Jury aus dem Publikum bewertet den vorgetragenen Text. Dabei geht es nicht nur um das Gelesene, sondern auch um die Performance. Man darf flüstern, man darf schreien, alles ist erlaubt und die Poeten zaubern Leben in ihre Texte. Beim ,,Poetry Slam“ geht es darum, den Zuhörer schnell zu fesseln, man hat ca. fünf Minuten Zeit seinen Text vorzutragen. Das hängt damit zusammen, dass sich in unserer mediatisierten Welt die Konzentrationsspanne der Menschen stark verkürzt hat. Poeten versuchen, die Menschen zu erreichen und schnell zu fesseln.

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Montag, der 19.07. Den richtigen Raum am ersten Tag zu finden erwies sich als schwierige Mission. Die Kurse der Sommerakademie waren auf vier Gebäude verteilt, die sich allesamt in der LeopoldLucas-Straße befanden. Ich wusste nur, dass ich in die Elisabethschule musste, doch ahnte ich nicht, dass sich in jener genannten Straße alle der verschiedenen Schulen befanden! Mit Mühe und Not fragte ich mich bis zur besagten Schule durch und die Raumsuche begann. Schnell traf ich auf Gleichgesinnte und mit vereinter Kraft schafften wir es bis zum richtigen Raum. Unter den Gleichgesinnten befand sich auch mein Kursleiter Lars Ruppel. Und so kamen wir alle am ersten Tag zu spät, dafür war jedoch das Eis fürs Erste gebrochen, sodass eine lockere Stimmung herrschte. Wir begannen klassisch mit einer Vorstellungsrunde. Die 14 Teilnehmer waren zwischen 17 bis 58 Jahre alt, darunter ein Deutschlehrer, Literatur- und Sprachstudenten, eine Psychiaterin, ein Verlagslektor, der altgriechisch (!) sprechen konnte, und so weiter. Die Vielfalt in der Zusammensetzung der Teilnehmenden sollte sich später in deren Texten niederschlagen, was den Workshop unglaublich interessant machte. In der Vorstellungsrunde wurde deutlich, dass ,,Poetry Slam“ für uns alle etwas Neues und Experimentelles war. Insbesondere die Sprachund Literaturbewanderten wollten sich einer neuen Form von Ausdruck aus dem Bereich der Lyrik stellen. Ich selbst empfand es als sehr aufregend, mich unter so unterschiedlichen Menschen zu bewegen. Schließlich klärten wir einige allgemeine Fakten über ,,Poetry Slam“ und übers Schreiben. Wir einigten uns darauf, dass es zwei Arten von Schreibenden gibt. Da wäre einmal der Intuitive. Er schreibt, wenn er fühlt. Der Intuitive wird von seinen Emotionen geleitet und kann meistens auch nur dann schreiben, wenn sie ihn dazu anregen. Der andere Persönlichkeitstyp ist der Sachliche. Er kann immer schreiben, kann sich schnell auf Situationen einlassen, sie auf sich einwirken lassen und festhalten. Ich ordnete mich der Gruppe der Intuitiven zu. Unser Kursleiter erklärte, dass wir im Laufe der Woche lernen würden, dass Inspiration bis zu einem bestimmten Grad erzwingbar ist. Ich konnte mir das nur sehr schwer vorstellen. Inspiration? Erzwingbar? Stets dachte ich, dass das Konzept der Inspiration voraussetzt, dass Kreativität im Menschen durch einen bestimmten Auslöser von außen oder vielleicht auch von innen in Gang gesetzt werden müsste: Diesen Auslöser kann man selbst nicht betätigen, ein Gefühl drückt jenen Knopf, der den Impuls für den kreativen Prozess gibt. Später sollte ich jedoch erfahren, dass er Recht hatte. Als Nächstes klärten wir die letzten offenen Fragen über ,,Poetry Slam“. Beispielsweise kam die Frage auf, warum der Poet nur eine begrenzte, recht kurze Zeit auf der Bühne hat. Die Antwort ist simpel und einleuchtend. Heutzutage haben die Leute weniger Zeit. Die Welt ist schnell und hektisch geworden, ein stetiger Wettlauf. Die Konzentrationsspanne der Menschen verkürzt sich. Wenn Leute fernsehen, entscheiden sie innerhalb von drei Minuten, ob sie eine Sendung mögen oder nicht. Es geht beim ,,Poetry Slam“ also darum, die Menschen schnell zu fesseln. 4

Endlich war alles geklärt, sodass wir die erste Aufgabe bekamen, die genau genommen aus drei Teilen bestand. Folgendes sollten wir stichwortartig festhalten und anschließend erzählen: 1) Eine Geschichte, die in diesem Jahr passiert ist. 2) Eine Ausrede, wenn man zu spät ist. 3) Wünsche, die man bis zu Silvester erfüllt haben will. Ich machte mich gleich an die Arbeit. Ich erzählte von einer Geschichte im Sommer am Strand. Davon, wie einige Freunde und ich eines Abends spontan entschieden am Strand zu übernachten und es zu einer turbulenten Nacht kam. Als ich mir eine Ausrede überlegte, erinnerte ich mich an ein Zitat von Oscar Wilde: ,,Pünktlichkeit ist der Dieb der Zeit.“ Weniger kreativ waren meine Wünsche, sie hielten sich eher klassisch: Familie, Erfolg etc. Anschließend trugen wir die Ergebnisse vor. Die Runde gewann an gegenseitigem Vertrauen, eine wichtige Grundlage um kreative Texte im Rahmen einer Gruppe zu erstellen und vorzutragen. Lars Ruppel erklärte nun die Regeln für ,,Poetry Slam“. Als Erstes werden fünf Jurymitglieder spontan und willkürlich aus dem Publikum ausgewählt, die jeweils einen Block mit Stift erhalten. Dann werden selbstgeschriebene Texte auf einer Bühne innerhalb von fünf Minuten vorgetragen. Solange, bis die Eieruhr klingelt. Die aus dem Publikum Ausgewählten bewerten den vorgetragenen Text mit einer Punktzahl von 0-10. Die drei besten Slammer kommen ins Finale. Sie lesen einen zweiten Text vor. Anschließend wird anhand der Lautstärke des Klatschens entschieden, wer gewinnt. Der Gewinner erhält einen Preis, der jedoch nie wertvoll ist. Es soll nämlich nicht ums Gewinnen von Geld oder Ähnliches gehen, die Liebe zur Lyrik steht im Vordergrund und nicht der Wettbewerb. Poetry-Slammer empfinden einen Auftritt vor Publikum als eine Möglichkeit, die Energie für ihr Gedicht zurückzugewinnen, die es beim Aufschreiben verloren hat. Nun ging es an eine letzte Aufgabe vor der Mittagspause. Aus den Buchstaben unserer Vornamen sollten wir Sätze bilden: Chaos hegt Angst, Niedergang, Träume auch, Liebe ebenso. Champagner hat Alkohol, niemals trunken Autofahren, lieber Eis essen. Crack, Heroin, Alkohol, nimmer Tee trinkend abwarten, lieber Ekstase. Dann sprachen wir über Anagramme. Als Hausaufgabe sollten wir bis zum nächsten Tag ein Anagramm aus unseren Vor- und Nachnamen machen. Durch das lange Befassen mit den entsprechenden zu anagrammierenden Wörtern wurden neue und oft überraschende Kombinationsmöglichkeiten sichtbar. 5

Nach der Pause machten wir einen Spaziergang durch das schöne Marburg. Währenddessen erklärte uns der Kursleiter etwas über Aufmerksamkeit und Inspiration. Wer hat die Zeitung, die auf der Bank liegt, gelesen? Wer hat von dem Apfel abgebissen und warum hat er ihn weggeworfen? Was bedeuten die Initialen, die an die Mauer gesprayt sind? Was hat die Person dazu bewegt, so zu handeln? Was ist das für ein weißer Fleck auf dem Asphalt? Ist ein Stückchen Wolke herabgefallen? Man begegnet Menschen auf einem Spaziergang, sieht Dinge vermeintlich unachtsam hingeworfen ohne wirklich darauf zu achten. Eben gerade sich bewusst durch seine Umwelt zu bewegen regt die Inspiration an. Unsere nächste Aufgabe bestand darin, sich einen Ort zu suchen und sich auf diesen einzulassen. Was rieche ich, höre ich, sehe ich? Wo führen meine Gedanken mich hin? Anschließend sollten wir schreiben, was uns einfällt. Ich ging durch einen Park, über einen Spielplatz und setzte mich schließlich an eine Fußgängerampel. Ich ließ mich vor der Ampel nieder und beobachtete eine Stunde, wie sie hypnotisierend von Grün auf Rot schaltete. Anschließend schrieb ich eine Kurzgeschichte über die Tragik des Ampelmännchen-Daseins. Es entstand ein witziger Dialog zwischen dem unbeliebten roten Ampelmännchen und dem eitlen, angeberischen grünen. Die Geschichte gewann in Anspielung auf die Menschen an philosophischer Tiefe. Die Ampelmännchen erfüllen Tag ein, Tag aus ihren Zweck, tun ihre Pflicht, funktionieren, weil sie es einfach schon immer getan haben. Doch eines Tages beginnt das rote Männchen, von einer Welt außerhalb zu träumen, es beginnt zu zweifeln und macht am Ende der Geschichte etwas Revolutionäres: Es bricht aus, verlässt den runden Kreis, in dem es lebt. Die Kurzgeschichte ist im Anhang zu finden. Bevor die Kurszeit für diesen Nachmittag endete, trafen wir uns und stellten uns gegenseitig unsere kleinen Werke vor. Nur wenige schüchterne Teilnehmer trauten sich nicht. Dienstag, der 20.07. Am Morgen des nächsten Tages ging es ans Selbstbewusstsein-Aufbauen. Im Laufe der Woche sollten wir mehr Vertrauen zu uns selbst gewinnen, schließlich steht man beim ,,Poetry Slam“ letztendlich allein auf einer Bühne vor Publikum. Da bedarf es Mut und Selbstvertrauen. Anstatt eine „Wie geht’s uns heute?“-Runde zu machen, sangen wir das „Hast-du-ein-Problem“-Lied. Jeder musste diesen Satz singen und anschließend hinzufügen „Ja/Nein, weil…“ Auch wenn uns das anfangs lächerlich erschien, war die Stimmung danach locker und gelöst und selbst die Schüchternen vom gestrigen Tag lasen nun ihre Kurzgeschichten vom vorherigen Tag vor. Die erste richtige Aufgabe bestand heute darin, Papierkonfetti zu erstellen. Das sind kleine Zettel, die mit Sprüchen, Wörtern, Witzen, Zitaten oder Weisheiten versehen sind. Diese Zettelchen ließen wir in fremde Taschen fallen, legten sie auf Bänke und verteilten sie in der Stadt, um die Marburger mit schönen Wörtern zu verzaubern. Diese Aufgabe gefiel mir besonders gut. Danach fühlten wir der Sprache auf den Zahn. Wir sprachen über das BrocaAreal im Gehirn. Es ist eine der beiden Hauptkomponenten des Sprachzentrums und für die motorische Funktion zuständig. Wird dieser Teil des Gehirns beschädigt, führt das zu einer Sprachstörung, da die Lautbildung nicht mehr möglich oder eingeschränkt ist. Dieser kleine Exkurs in das Sprachzentrum des Gehirns bewies auf der einen Seite, in wie viele Richtungen 6

man von Poesie aus gehen kann. Auf der anderen Seite wurde deutlich, wie unbewusst man als Mensch durchs Leben geht und sich nie über das Selbstverständliche (wie das Sprechen) wundert. Nun ging es wieder ans Wörter-Jonglieren. Zuerst trugen wir unsere kleine AnagrammHausaufgabe vor. Leider musste ich feststellen, dass mein Name nicht der geeignetste für ein Anagramm ist. Aus Chantale Rau wurde… 1) Na, Rachel, Uta 2) Er lacht nuaa 3) Lea, raue Nacht Anschließend ging es auf Synonymsuche. Wir schrieben vier Wörter auf und hatten für jedes knapp 20 Sekunden Zeit. 1) Menschen: Humane, people, Lebende, Existierende, Erdkriecher 2) trinken: Flüssigkeit zu sich nehmen, to drink, bechern, hinunterspülen 3) lachen: grinsen, kichern, gackern, losprusten 4) Zeit: unexistentes Messen, Anreihung von Augenblicken Besonders der letzte Begriff regte die Fantasie der Teilnehmer an. Ich erinnerte mich an vergangene ,,Poetry Slams“, die ich besucht hatte. Das Ausdenken von Wörtern war in den Texten der Slammer besonders beliebt. An dieser Stelle merkte ich wieder, dass Sprache tatsächlich stets neu formbar wie Ton ist. Weiterhin sollten wir uns mit dieser Ton-Masse beschäftigen, denn die nächste Aufgabe bestand darin, ein sogenanntes Elfchen zu schreiben. Ein ,,Elfchen“ ist ein aus elf Buchstaben bestehendes Gedicht folgenden Aufbaus: A BC DEF GHIJ K Jeder Buchstaben stellt ein Wort dar. Genau genommen bestand die Aufgabe darin zwei Elfchen zu schreiben, einmal über etwas, das man mag, und einmal über etwas, was man nicht mag. Mein ,,Ich mag“-Gedicht: Zeilen Dessen Worte 7

Mich auf wogenden Süßen Wellen aus Honig Forttrugen Mein ,,Ich mag nicht“-Gedicht: Winter Kühler ausbreitender Grauer Atem sich Legend narkotisierend auf eisige Stadt Nach dem Vortragen schrieben alle einen Brief an ihre Sorgen und Probleme. Diesen Brief übertrugen wir anschließend auf mehrere weiße Papierstreifen, die wir ineinander verflochten, sodass kein Satz mehr vollständig lesbar war. Mit diesem Papier-Geflecht konnten wir machen, was wir wollten. Einige verbrannten sie, andere, wie ich, bewahrten sie auf. Eine Kopie meines Papier-Geflechts ist im Anhang zu finden. Nach der Mittagspause gab es interessante Aufgaben zu erfüllen. Wir sammelten Ideen zu den Rubriken: Thema, Formmittel und Stilmittel.

Thema

Formmittel

Stilmittel

Liebe Tod Familienturbulenzen Leben Krieg Nahrung Freizeit Tiere Freizeit Sport Träume Länder Feinde

Reime Prosatext Roman Essay E-Mail Visuelle Poesie Journalistischer Bericht Drama

Metapher Vergleich Anapher Alliteration Tautologie Oxymoron Sprichwörter Ironie Kontraste Steigerung Kraftausdrücke Symbole

Mit Hilfe von Zufallslosen wurden jedem drei Ideen vermittelt. Meine Aufgabe bestand darin, ein Drama über Freizeit mit Hilfe von Sprichwörtern zu verfassen. Meine Kurzgeschichte ist im Anhang zu finden. Mittwoch, der 21.07.

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Alle Kurzgeschichten wurden zu Beginn des neuen Kurs-Tages vorgetragen und kritisch von allen Teilnehmern beurteilt. Danach erstellten wir Zungenbrecher. Das diente als Artikulationsübung. Mein Zungenbrecher: Zwölf Zwetschgen zwicken zwischen zweiundzwanzig Swetlanas Zwiebeln zu, zwackeln zwei Zwetschgen zweisam zwischen zwölf zwacksige Swetlanas, so zwackseln zwölf zwacksig zwicksige Zwiebeln ebenso! Daraufhin begaben wir uns nach draußen und versammelten uns unter einem Baum. Wir unterhielten uns noch einmal über Inspiration. Unser Kurleiter erklärte, dass Inspiration bis zu einem gewissen Grade erzwingbar sei. Es gäbe Mittel zum Zweck, die Impulse wecken und sich einen Zugang zum Herzen sichern. Beispielsweise die Musik. Musik kann Gefühle wecken und beeinflussen. Also starteten wir ein kleines Experiment. Drei Leute aus unserem Kurs sollten uns mit ihren Klängen fesseln. Jürgen, der Deutschlehrer, spielte für zehn Minuten seine Mundharmonika. Nach einer ebenfalls zehnminütigen Pause stimmte Eugénie, eine französische Stipendiatin, ihre Querflöte an. Anschließend ließ die Hobbybauchtänzerin und Psychologin Christiane sanfte rasselnde Klänge von ihrem Hüfttuch fallen. Am Ende rundete die Mundharmonika das halbstündige ,,Konzert“ ab. Ich ließ mich auf das Experiment ein und schuf die Kurzgeschichte „Über Schuhe und Fische“. Ich bemerkte, wie der Instrumentenwechsel meinen Gedankenfluss in verschiedene Richtungen lenkte. Der Versuch schlug sehr gut bei mir an. Wir verbrachten den Rest des Tages damit, an unserer frisch erstellten Geschichte zu feilen, um sie letztendlich vorzutragen und zu bewerten. Die Endversion meiner Geschichte ist im Anhang zu finden. Am Abend besuchten alle gemeinsam einen Slam, der in einer Strandbar an der Lahn stattfand. Unser Kursleiter nahm am eigentlichen ,,Poetry Slam“ teil. Ein anderer Teilnehmer des Slams las die Getränkekarte vor. Durch seine amüsante Performance und wechselnde Aussprache hinterließ er einen nachhaltigen Eindruck beim Publikum. Donnerstag, der 22.07. Der Tag startete mit einem Gespräch über interkulturelles Selbstbewusstsein und über die mediatisierte Sprachlosigkeit. Viele Jugendliche sind davon betroffen. Ihr Wortschatz zeichnet sich vor allem durch viele Anglizismen aus. Funk, Fernsehen und Printmedien haben Spuren hinterlassen: Den Jugendslang. Heranwachsende werden oft sprachlos, wenn ein Gespräch ihr 30-Wörter-Vokabular übersteigt. Oft ist es ihnen auch nicht möglich sich adäquat auszudrücken. Lars Ruppel berichtete über seine Erfahrungen, die er bei Workshops an Schulen machte. Er war besonders entrüstet über die Abhängigkeit von Handys. Als spontane Idee schrieb jedermann ein SMS-Gedicht mit genau 160 Zeilen (Standardlänge für eine SMS), um jemanden den Tag zu erhellen. Meine SMS: ,,Es war einst ein Giraffentier, das liebte einen grünen Schakir, es wünschte sich eine Zunkunft, ein „Wir“, doch leider mochte der Schakir – das Nilpferdtier!“

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Die nächste Aufgabe bestand darin, ein Tier und ein Gemüse aufzuschreiben. Die Zettel wurden eingesammelt und nach dem Zufallsprinzip verteilt. Meine Begriffe waren „Pony“ und „Blumenkohl“. Wir sollten uns eine witzige Indianerweisheit ausdenken. ,,An dem Tag an dem er kommt der Ponyregen und der Blumenkohl verkehrt herum wächst, wirst du ihn kennen deinen Segen und ihn finden auf deinen Wegen.“ Anschließend sprachen wir über den kommenden Tag. Am Freitag sollte das Akademiefest stattfinden, bei dem wir – die Poeten – auftreten sollten. Wir suchten nach einem geeigneten Thema und einigten uns auf „Vier Minuten“. Eingeteilt in vier Gruppen bekam jede davon „eine“ Minute, die wir kreativ und individuell interpretieren konnten. Meine Gruppe bestand aus Christiane, einer Psychologin, Sabine, einer Kabarettistin, und mir. In einer Minute kann ein Herz stehen bleiben. Verstrichene Jahrzehnte sind plötzlich ausgelöscht. Aus unserer Gruppenarbeit entstand folgende Szene: Ein junges Mädchen erleidet einen Herzstillstand und bricht an einer Bushaltestelle zusammen. Eine Passantin ruft den Notarzt. Jede in meiner Gruppe nahm die Rolle von einer der drei Personen an und schrieb einen Text über die Minute, in der der Notarzt das Mädchen wiederzubeleben versuchte. Es entstand eine emotionale Geschichte, in der die Sichtweisen der Personen geschildert wurden: die ernüchternde, sachliche Sicht des Arztes, die ergriffene, geschockte Sicht des Passanten und die Sicht der Sterbenden, die außerhalb der Realität stand und sich entscheiden musste. Meine Kurzgeschichte behandelte die Sichtweise der Sterbenden. Mein Part sowie die Sichtweise der Passantin sind im Anhang zu finden. Leider hatte ich keine Möglichkeit die Frau, die die Sichtweise der Notärztin dargestellt hat, zu erreichen und konnte ihren Part nicht mehr hinzufügen. Am Nachmittag fanden wir uns wieder in der großen Gruppe zusammen und sprachen über die Performance. Auf was muss man beim Vorlesen achten? Unterbrechungen oder schnelles Vorlesen haben verschiedene Effekte auf den Zuhörer. Lars Ruppel klärte uns über die Wichtigkeit von choreographischen Elementen auf. Meine Gruppe plante den Inhalt unserer Szene zu betonen, indem wir Herzpochen nachahmten. Wir stellten uns nebeneinander und bevor jemand mit dem Vortragen begann, klopften wir dreimal rhythmisch auf unseren Brustkorb. Als Erstes sollte die Sichtweise der Passantin vorgetragen werden. Ihr Text endete mit Rückwärtszählen. „Zehn, neun, acht.“ Dann klopfte sie zweimal rhythmisch auf ihre Brust. Es sollte der Notarzt-Text folgen. Dieser endete mit dem Zählen: ,,Sieben, sechs, fünf, vier“ und wiederum mit zweimaligem Klopfen auf die Brust. Als Letztes der Auftritt der Sterbenden. Auch ich sollte am Ende herunterzählen: ,,Drei, zwei, eins.“ Es folgte ein letztes Klopfen auf die Brust. Ein letzter Herzschlag. Unsere Performance war damit geplant. Freitag, der 23.07. Am Anfang des letzten Tages gab jeder Teilnehmer ein Feedback. Meines ist im Resümee zu finden. Danach erklärte uns der Kursleiter, dass der Zweck des Workshops nicht darin bestand, jemandem das Schreiben beizubringen, sondern vielmehr darin, Impulse zu setzen. Anschließend machten wir einige Entspannungs- und Lockerungsübungen. Bis zur Mittagspause überarbeiteten wir unsere Gruppenarbeit und übten unsere Vorträge. 10

Später trainierten wir gemeinsam weiterhin für die Performance und die Vorträge und taten etwas für unser Selbstbewusstsein. Beispielsweise musste jeder sich in die Mitte stellen, Fäuste machen, eine gerade Haltung einnehmen und laut sagen: ,,Ich bin gut, ich bin gesund, ich bin glücklich!“ Es folgten einige Sprachübungen. Zum Beispiel sollten simple Wörter so ausgesprochen werden, dass verschiedene Emotionen deutlich wurden. Danach perfektionierten wir weiterhin unsere Performance und die letzten Gruppen vervollständigten ihre Texte. Bevor wir sie uns gegenseitig vortrugen, machten wir eine letzte kleine Schreibübung, die wieder auf zusammengelosten Begriffen basieren sollte. Ich musste ein Hassgedicht über Langeweile verfassen: Oh du Langeweile, du verweilst stets zu lang, immer bin ich so in Eile, ich will nicht mehr, oh wie ich bang‘! Oh, oh du, du Langweile, verweile doch nicht immerzu Meile um Meile. Sei doch mal kürzer! Bist so trüb, so grau, so mau Was ich will ist Kurzeweile! Doch – mittlerweile, in in dieser Zeile expandiert die Langeweile. Nach dem Vortragen übten wir zum ersten und letzten Mal mit Mikrofon auf der Bühne. Am Abend fand das Akademiefest statt. Leider konnten wir die Bühne nicht benutzen, da die auftretende Band den Platz für die Instrumente benötigte. Doch das Wetter war gut, also verlegten wir unseren Auftritt kurzerhand nach draußen. Alles verlief nach Plan. Unsere ,,Minute“ war der letzte Auftritt und wir hinterließen einen guten Eindruck bei den Zuschauern, von denen wir viel Lob und Beifall erhielten. Eine Frau kam im Laufe des Abends mit Tränen in den Augen zu mir und lobte unsere vorgestellte Szene. Sie erzählte mir von ihrer Tochter, die jung an einem unentdeckten Herzfehler gestorben war. Sie bedankte sich. Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, wofür. Diese kurze Unterhaltung traf mich tief. Doch wusste ich auch, dass wir es geschafft hatten, die Zuschauer zu erreichen, und darum ging es schließlich. Eine gelungene Woche klang im Akademiefest aus. 11

Resümee: Im Ganzen empfinde ich die Woche in Marburg als vollen Erfolg. Ich habe mich nicht nur mit dem Schreiben befasst, sondern habe an Mut, Selbstbewusstsein und Selbstironie gewonnen. Mein Wissen wurde in verschiedener Hinsicht erweitert. Mir gefiel besonders, dass wir uns vom Zentrum Poesie aus in so viele Richtungen bewegt haben. Vom Broca-Areal im Gehirn bis hin zur Aussprache. Oft haben wir zwischendurch Lieder gesungen oder über alberne Themen Gedichte geschrieben. Während der Workshop-Woche fand ich das etwas rätselhaft. Inzwischen habe ich jedoch den Sinn erkannt. Um gut schreiben zu können, muss man locker sein. Ich kann keinen Text aus mir herausfließen lassen, wenn ich verkrampft gerade dieses Ziel verfolge. Es ist wichtig, sich locker zu nähern, auf diese Weise können die Wörter fließen. Auch haben sich einige meiner Sichtweisen geändert. Auf der einen Seite habe ich begriffen, dass ,,Poetry Slam“ kein wirklicher Wettbewerb an sich ist. Es geht schlichtweg darum, dass da Leute sind, die dich hören wollen. Der Text muss auch nicht unbedingt grandios sein. Es ist nur wichtig, dass man seine Aussage präzise und ehrlich zum Ausdruck bringt. Das Authentisch-Sein steht im Mittelpunkt. Auf der anderen Seite hat mich die Begegnung mit der Frau beim Akademiefest tief bewegt. Ich habe gelernt, dass ein Text für mich dann gelungen ist, wenn er fähig ist die Menschen zu fesseln und sie zu erreichen. Ich würde den ,,Poetry Slam“-Kurs für Lyrikverliebte unbedingt empfehlen. Jedoch sollte sich jeder dabei im Klaren sein, dass ,,Poetry Slam“ recht experimentell ist. Danksagung: Ich möchte herzlich dem Kuratorium der Studienstiftung für diese großartige Chance danken. Der Kurs war eine Bereicherung und hat mich in meinem Berufswunsch, dem Schreiben nachzugehen, gefestigt. Außerdem möchte ich Frau Lindenberg dafür danken, dass sie mich zum Teilnehmen ermutigt hat und mir bei der Suche nach einem geeigneten Kurs geholfen hat. Ebenfalls ein großes Dankeschön an Frau Scheele, die mich mit ihrem Empfehlungsschreiben und den Korrekturhilfen unterstützt hat. Ich hoffe, dass noch zahlreiche Schüler dieselbe Chance bekommen werden wie ich, um ebenfalls so gute Erfahrungen zu sammeln.

_________________ Chantale Rau 12

Anhang: Über Schuhe und Fische Die Luft ist mild und warm. Es ist dunkel. Es duftet süß wie schwerer Atem von dir. Doch du, ja du, bist nicht hier. Das soll kein Text über die Liebe werden, nein, ganz und gar nicht. Und noch einmal. Ich gehe durch die Straßen der Stadt, das Pflaster ist kühl. Ich weiß nicht warum ich es spüre, doch ich tue es. Ich gehe Schritt für Schritt, doch spüre sie nicht. Meine Kleidung flattert, das Haar auch. Die Schminke ist verwischt. Das spüre ich. Auf meinen Wangen. Vielleicht würden die schwarzen Schlieren des vergifteten Mascaras, die zierlich mein Gesicht umfahren, als Vorlage dienen. Dort wo sich die Linien befinden, könntest du in mein Gesicht schneiden. Es wäre butterweich, butterweich wie Apfelkuchen, Apfelkuchen mit Zimt. Zimtfarben sind meine Haare, hast du einmal gesagt. Inzwischen sind sie eher schwarz, schwarz wie Krähen, wie Kohle, schwarz wie mein vergifteter Mascara und deine verseuchte Seele. Die heutige Nacht hat sie mit dunkler Farbe getränkt. Und ich gehe und gehe und gehe und spüre den kühlen, dreckigen Asphalt unter meinen Füßen und ich weiß nicht, warum. Langsam gerate ich in die Menge. Die Straßenhälfte hinter mir ist dunkel und leer, hier und da kreischt eine Katze, bellt ein Hund, schimpft eine Frau auf Türkisch und Penner liegen in Bierscherben schlafend oder sterbend am Rande. Wie gern ich manchmal auch schlafen oder sterben würde. Als ich langsam auf die andere Straßenhälfte komme, spüre ich, wie ich aus dem schmutzigen Nass der Nacht auftauche. Bunte Reklamentafeln leuchten und blinken im Wettstreit. Nutten am Straßenrand, die Frauen böse anfunkeln und Männer anmachen. Besoffene Menschen, laute, grelle Musik wie einschlagende Blitze, doch in mir schlägt nichts mehr ein. Ich will eintauchen, doch ich bin ein Kork auf dem Wasser, unter mir, ja unter mir, da flackert das Licht, das Lachen der Menschen, doch ich schwimme, ich schwimme, ich bin kein Teil dieser Straße. Auf dieser Hälfte ist die Nacht blau und betrunken. Ich spüre die Risse der Maskaraschlieren auf meinen Wangen. Mein Gesicht zerfällt und ich gehe gesichtslos durch die Straßen. All die Existenzen der bunten Seele um mich herum rauschen an mir vorbei wie ein Schwarm Fische. Menschliche Fische: Wie können die in diesem schmutzigen Meer noch atmen? Ich gehe und ich gehe und ich gehe...wohin nur? Ich treibe im Strom und dieser Strom bunter Fische oder Seelen oder Menschen oder was auch immer sie darstellen wollen, ja, sie, sie tragen mich und ich, ich wehr‘ mich nicht. Vielleicht bin ich auch nur ein Fisch. Doch ein Fisch ohne Gesicht, ein Fisch ohne Schwanz, ein Fisch ohne Flossen und... ein Fisch ohne Gesicht! Was für ein Fisch. Und der Strom reißt an mir, trägt mich in eine Seitengasse, durch eine graue, schwere Tür hindurch, die sich von selber öffnet. Eine klatschmohnrote Treppe hinauf. Im Erdgeschoss: ein Restaurant. Die Menschen speisen, es stinkt nach Verbranntem, niemand hört mich, niemand sieht mich, gesichtslos, wie ich bin. Also: Treppe 'rauf, nach links durch eine weiße Tür in einen verrauchten Raum. Ich spüre, wie meine einst zimtfarbenen Haare von Pechrabenschwarz sich erdbeerblond färben. In diesem verrauchten Raum sind drei Fische. Der eine...ein junger, blonder Knilch mit einer langsam grau werdenden Seele, er erinnert mich an einen Hering… und eine Fischin - wie ein Lachs, ja, ein türkisches Mädchen und das Klingeln ihrer gigantischen Ohrringe treibt mich in den 13

Wahnsinn. Ich will, ich will sie ihr herausreißen… Der dritte Fisch ist ein Hai. Mit schwarzen Haaren, schwarzer Seele und Augen wie Kohlen schiebt er mir ein Päckchen zu. *** Ich male mit den kleinen Finger Muster in den Sternenstaub. Minuten später stehe ich im Bad. Wasch‘ mir die Hände. Niese einmal. Und als ich mir durchs zimtfarbene Haar fuhr, da blickte ich mich im Spiegel an. Niemand blickte zurück. Doch fühlte ich mich nicht mehr wie ein Kork, auch nicht wie ein Fisch, viel eher wie eine Flasche, die sich mit Wasser füllt und langsam auf den Meeresboden sinkt. Und da liege ich zwischen tausend anderen zerschellten Flaschen. Über mir - buntes Licht. Unter mir - Sand. Und ich träume davon, eines Tages auf der Milchstraße Ski zu fahren. Hier unten stelle ich nichts mehr dar, hier unten fange ich an zu sein. Zumindestens fühlt sich das so an. Und ich höre eine Stimme aus der Küche, unten, im Restaurant, jemand ruft ,,Der Fisch ist serviert!“ Ist er das? Und als ich den kühlen Fliesenboden unter mir spüre, da stelle ich fest, ich habe keine Schuhe an. Ich hatte nie welche an.

Eine Minute (aus der Sichtweise einer Passantin, verfasst von Sabine Späth) Die Ärztin versucht ihr Möglichstes. Meine Gedanken sind bei der jungen Frau. Regungslos liegt sie am Boden. Wie alt ist sie wohl? Wird sie durchkommen? Verbleibt ihr noch Lebenszeit oder ist ihre Uhr abgelaufen? Zeit! Zeit für Freunde. Zeit für Familie. Zeit für Arbeit, Wünsche, Leben. Zeit nicht an der Uhr zu kleben. Zeit für kleine, große Träume, Zeit zum Pflanzen neuer Bäume… …solcher, die groß werden, hoch in den Himmel wachsen. Kraftvoll strotzend der Sonne entgegen. ….solcher, die das Leben symbolisieren…gleichsam dem Tod! Wenn im Herbst die Blätter fallen und der Winter kommt… Nacktheit, Tod. Meine Gedanken fliehen in unterschiedliche Richtungen. Ich kann sie nicht mehr kontrollieren. Mein eigenes Leben zieht an mir vorbei, verschwommen, verschleiert, verblasst. Ich weiß nicht, ob die Ärztin es geschafft hat. 14

Ich verlasse den Unfallort. Ich muss meine Zeit überdenken. Sieben, sechs, fünf, vier. Eine Minute (aus der Sichtweise der Sterbenden) Hi. Mein Name ist Mia. Und ich… sterbe gerade. Sehe…mich. Auf dem Boden liegend. Über mir eine Fremde. Neben mir eine Fremde. Ich stehe… hier. Auf der stillen Straße. Die Szene vor mir. Wir sind drei Menschen. Wie in einer Seifenblase. Nichts kann herein. Nichts heraus. Ein goldener Faden verbindet uns. Von meinem Herzen, zum Herzen der Ärztin, zum Herzen der Fremden. Drei Menschen. Verbunden. Durch einen Faden. Ich habe nie übers Sterben nachgedacht. Es gab immer nur Leben und Tod. Entweder, oder. Doch dazwischen. Wo die Erde den Himmel küsst, liegt das Sterben. Ein Prozess. Hi. Mein Name ist Mia. In meiner Hand halte ich drei Buchstaben: M. I. A. Sie glänzen matt-golden. Es sind nur drei Lettern. Eine Zeile aus Gold. Man nannte mich wohl einst so. Meine Erinnerung ist trüb. Ich dachte immer, der Tod wäre glasklar wie das Meer. Mein Leben würde an mir vorbeiziehen, alles würde auf einmal klar erscheinen. Doch jetzt merke ich, das Meer ist nicht glasklar. Es ist blau, es ist braun, es ist grün, Müll ist darin, schmutziger Schaum, der das Leben vor sich herschiebt. Das Meer ist nicht durchsichtig. Das wahre Meer hat eine ehrliche Farbe. Ein Symbol des Lebens. Plötzlich merke ich, dass neben mir ein Koffer steht. Ich schaue in den Himmel und greife nach dem Blau. Lege es sanft in den Koffer. Nehme das Grau der Straße, das Grün meiner Schuhe, das Braun meiner Augen. Bedächtig streue ich die Scherben der Farben hinein. Meine Hülle wacht noch in der Gegenwart. Die drei Lettern in meiner Hand färben sich silbern. Ich bin eine hauchdünne Hülle, nie gefragt, ob ich geboren werden oder sterben will. Geordnete Muster, Strukturen, 15

feine, dürre, wirre Fäden, ein Fehler beim Verweben und die Ordnung ist zerstört. Bin ein Teelicht, auf dem Ozean schwimmend. So leicht zu erlöschen. Ich spüre einen Windhauch, der süße Atem der Hölle oder des Himmels. Die drei Buchstaben in meiner Hand zerfallen zu Staub. Mit meiner linken Hand umklammere ich den goldenen Faden, der uns verbindet. Irgendetwas sagt mir, ich solle ihn herausreißen, meinen Koffer voller Farben nehmen und gehen. Hi. Mein Name ist Mia. Ich bin nicht tot. Ich sterbe nur. Drei, zwei, eins.

Die Tragik der Ampelmännchen Es ist recht schwierig ein Ampelmännchen zu sein. Wie gesagt, mein Name ist Ampelmännchen. Hin und wieder werde ich verkehrterweise Ampel genannt. Doch darf ich bitten! Ich bin kein dämlicher, schwarzer Pfahl, nein, nein, nein. Ich bin das Männchen, jawohl, das Männchen im runden Kreis. Der Volksmund munkelt, ich sei gefährlich, denn ich bin Rot. Einseitig gesehen eine negativ besetzte Farbe in der heutigen Gesellschaft. Rot wie Blut, Rot wie Zorn, Rot, wie rote Zahlen schreiben… Ich muss zugeben, ich bin nicht sonderlich groß, auch bin ich nicht muskulös. Doch stehe ich stramm da. Fast schon salutierend. Vor allen Dingen, stehe ich ja auch wirklich immer. Ist ja jetzt nicht so, als würde ich mich jemals hinsetzen. Unter mir, da wohnt das grüne Ampelmännchen. Manchmal bin ich neidisch. Es ist beliebter als ich. Es ist mir sowieso, im wahrsten Sinne des Wortes stets einen Schritt voraus. Was soll ich sagen. Es ist schwierig ein Ampelmännchen zu sein. Tagtäglich schauen mich Menschen feindselig an. Stets sauer, da ich ein Symbol fürs Stehenbleiben bin. Stehenbleiben ist auch ein negativ besetztes Wort. Stehenbleiben bedeutet Warten, nicht Vorankommen, Zeit verschwenden. Doch mal ganz ehrlich, wer sagt das denn, bitte? Habe ich je ein Wort übers Stehenbleiben verloren? Die Leute haben es einfach so übernommen, weil sie es irgendwann einmal so gelernt haben. Hin und wieder ist da der ein oder andere, der mich ignoriert. Zur Empörung des grünen Männchens wird die Straße überquert. Ich persönlich finde diese Menschen revolutionär. Die gehen, obwohl ich stehe. Risikobereit, aufmerksam, schnell. Ich beneide sie. Wie gern würde ich einmal über die Straße gehen. Die Ampelmännchen von der anderen Straßenseite besuchen. Ich glaube nämlich, dass die ganz außerordentlich sind. Manchmal, wenn da eine Menschenmasse auf der anderen Seite stand, ungeduldig, auf und ab wippend, da geschah etwas Faszinierendes. Einer ging, nur dieser eine, der Rebell, der Revolutionär. Und als hätte er mit seinem ersten Schritt die Regel des Stehenbleibens aufgelöst, folgte ihm die Masse.

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Ich erinnerte mich an den Tag vor einiger Zeit, an dem das grüne Ampelmännchen nicht mehr zur Arbeit kam, also das von gegenüber. Der Kreis blieb leer. Die Menschen waren erbost, verwirrt. Ein Umstand, oh je. Doch schon bald kamen Männer und drehten und schraubten, solange, bis es wieder leuchtete wie eh und je. Beeindruckend fand ich das. Also das Männchen von gegenüber. Einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen im wahrsten Sinne des Wortes. Wo es nur so lange war? Es strahlte auf eine ganz andere Weise in einer neuen Nuance. Wow. Nun ja. Vor einiger Zeit hörte ich zwei Menschen unter mir über einen grünen Park reden. Da soll es ruhig sein, haben sie gesagt. Hier bei mir ist es nur in der Nacht ruhig. Dann spiele ich hin und wieder mit dem Gedanken auszubrechen. Einfach weg von diesem Auspuffgestank, den feindseligen Blicken, weg von dem scheiß-arroganten grünen Männchen unter mir. Weg von allem. ,,Hey. Hey du“, flüstert das grüne Ampelmännchen hin und wieder. ,,Hey du, ich bin grün, grüüün wie die Hoffnung“, surrt es dann. ,,Menschen mögen mich lieber, denn ich kann gehen und du…“ ,,Ja, dann geh doch!“, murr ich dann. Daraufhin fällt dem grünen Männchen auch nichts mehr ein. Gegangen ist es auch noch nie. ,,So verschieden sind wir gar nicht. Du und ich“, wisperte es. ,,Wir sind beide Männchen, wir leuchten und bleiben stets an derselben Stelle“ Langsam merkte ich, wie satt ich das alles hatte. Der Gestank, die Hektik, das genervte Auf-dengelben-Knopf-Gehaue, als würde es dann schneller grün werden! All‘ das tat mir nicht gut. Ich fühlte mich ausgebrannt, frustriert und depressiv. ,,Burn-out-Syndrom“, murmelte das Männchen unter mir. Ich begann zu begreifen, dass ich nicht besser war. Ich stand stramm da, weil ich es nicht anders kannte. Fest verwachsen in meiner Rolle, in meiner Funktion. Ich erinnerte mich an den Park. Da soll es ruhig sein, haben die beiden gesagt. Ich will wissen, wie es dort ist. Jetzt brauchte ich erst einmal Zeit zum Nachdenken. Nach all‘ den Jahren des Stehens wagte ich es. Meine Gelenke knirschten etwas, doch es gelang. Geschockt riss das grüne Ampelmännchen den Mund auf. Auch der Passant von der anderen Straßenseite tat das. Als er mich da sitzen sah, locker nachdenklich, die grünen Beinchen locker aus dem Kreis schwingend und das geschockte, aufgewühlte grüne Männchen mit aufgerissenem Mund, da stand er da, unfähig sich zu bewegen. Er stand da, geschockt, vielleicht auch gerührt und da wusste ich, morgen würde ich nicht mehr hier sein. Ich konnte den grünen Park schon riechen.

Drama in einem Akt Personen: Ilka, Vernunft, Selbstmitleid, Selbstbewusstsein, Zweifel, Erinnerung, Wahnsinn. Auf der Bühne: Ilka, im Sessel sitzend, in der Hand eine Weinflasche. Scheinwerfer auf sie gerichtet, Dämmerlicht, hinter ihr eine schwarze Wand ohne Fenster, nur mit großer Uhr mit großen Ziffern versehen. Ilka (nachdenkend zu sich selber sprechend): Frei-zeit. Freie Zeit. Freizeit. Frau Steiner hat gesagt, ich muss meine Freizeit gestalten. Sie füllen. Frei-zeit. Freie Zeit. Freizeit. Ilka streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und greift nach dem Wein. Am Flaschenrand sitzt die Vernunft. 17

Vernunft (vorwurfsvoll): Ilka, Ilka. Frau Steiner meinte du solltest deine Zeit sinnvoll nutzen. Selbstmitleid auf Ilkas Schulter sitzend. Selbstmitleid: Sinnvoll die Leere füllen. Man genehmige sich noch ein Schlückchen. Ilka seufzend, trinkt ein beachtlich großes Schlückchen. Ilka: Wie denn? Selbstbewusstsein völlig angetrunken aus der Flasche schauend. Selbstbewusstsein: Mehr trinken! Mehr trinken! Selbstbewusstsein taucht wieder ab. Wahnsinn taucht auf. Mustert alle Teilnehmenden irre. Lacht. Grinst. Wahnsinn taucht wieder ab. Leber: Nein! Bitte nicht! Herz (angetrunken): Eeey komm! Geteiltes Leid ist halbes Leid! Selbstmitleid sich auf Ilkas Schulter hinlegend. Selbstmitleid: Wie Recht ihr alle habt… Zweifel sitzt auf Ilkas linken Knie Zweifel: Ach, ich weiß ja nicht. Ilka: Selbstbewusstsein, was sagst du dazu? Selbstbewusstsein: Was soll ich dazu sagen. Was willst du schon machen außer saufen?! Zweifel: Kannst ja auch nichts anderes… Erinnerung aus Ilkas rechten Ohr schauend. Erinnerung: Ilka ist ein Alki! Ilka ist ein Alki! Ilka (seufzend, sich einen großen Schluck genehmigend): Wo ist eigentlich Motivation geblieben? Vernunft (lachend): Die Motivation ist schon lange tot. Seit knappen fünf Jahren. Kopfüber aus dem linken Ohr gesprungen. Doppelter Genickbruch. Erinnerung (nickend): Hatte keine Chance. Ilka: Und die Hoffnung? Alle Organe und Gefühle schweigen. Erinnerung zieht sich in ihr Ohr zurück, Selbstbewusstsein taucht wieder in Weinflasche ab, Zweifel winkt ein letztes Mal, Selbstmitleid, Vernunft und Zweifel verlassen mitgenommen die Bühne. Ilka bleibt 18

weintrinkend und allein in ihrem Sessel auf der Bühne zurück. Sie schaut auf die große Uhr. Die Uhr bleibt stehen. Ilka (wie in Trance): Frei-zeit. Freie Zeit. Keine Zeit. Mehr.

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Fotos:

,,Papierkonfetti“

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,,Kreative Runde“

,,Beim Vortragen“

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