Sterbebegleitung in Europa

Prof. Dr. med. Gerhard Pott Drs. Durk Meijer Sterbebegleitung in Europa am Beispiel Deutschlands und der Niederlande mit einem Exkurs zur intuitiven ...
Author: Hilke Hauer
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Prof. Dr. med. Gerhard Pott Drs. Durk Meijer

Sterbebegleitung in Europa am Beispiel Deutschlands und der Niederlande mit einem Exkurs zur intuitiven Ethik Met een Nederlandse inleiding Including English summary

Sterbebegleitung in Deutschland

gerliche Gesellschaften in Industrienationen stellen zu Recht die Autonomie des Einzelnen mit seinen Entscheidungsfreiheiten zur Sterbebegleitung in den Vordergrund. Bevor wir diese Möglichkeiten im Einzelnen näher betrachten, ist es zunächst notwendig, einige Begriffe zu definieren.

Positionen in der Sterbebegleitung In Deutschland werden folgende Begriffe zur Sterbebegleitung verwendet: Beendigung oder Unterlassung lebensverlängernder Behandlung Indirekte Sterbehilfe: Sedierung und Gabe von Schmerzmitteln zur Leiyy densminderung, auch unter Inkaufnahme einer Lebensverkürzung Aktive Sterbehilfe: Tötung auf Verlangen, in Deutschland verboten yy Assistierter Suizid: Beihilfe zur Selbsttötung, in Deutschland erlaubt yy Passive Sterbehilfe: yy

Da einige dieser Begriffe missdeutbar sind, wurden vom Deutschen Ethikrat die folgenden Begriffe vorgeschlagen: Sterbenlassen, d. h. Änderung des Therapieziels der Lebensverlängerung, yy statt passive Sterbehilfe Therapie am Lebensende statt indirekte Sterbehilfe yy Voraussetzung für alle diese Formen der Sterbebegleitung ist der Patientenwunsch, entweder selbst vorgetragen oder durch Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht dargelegt. Juristisch wird für passive Sterbehilfe der medizinisch ungünstige Begriff Behandlungsabbruch verwendet. Auch dieser Begriff kann sehr schnell missverstanden werden, denn das Sterbenlassen oder -gewähren ist kein „Behandlungsabbruch“, im Gegenteil ist die Aufwendung für den Patienten häufig größer durch Symptomkontrolle, insbesondere Schmerztherapie, spirituelle Begleitung und Sorge um die Angehörigen. Die rechtlichen Regelungen in Deutschland gleichen denen der meisten Länder in Europa (s. dazu S. 19 ff). Die aktive Sterbehilfe, d. h. die Tötung auf Verlangen – in den Niederlanden als Euthanasie bezeichnet – ist in Deutschland auch durch die historische Erfahrung mit und im Nationalsozialismus geächtet und damit verboten. Es handelt sich bei dem Begriff „Euthanasie“, wie er von den Nationalsozialisten verwendet wurde, jedoch um etwas grundlegend anderes als das, was heute in den Niederlanden als Euthanasie bezeichnet wird. Im Nationalsozialismus wurde damit die Ermordung geistig und körperlich Behinderter bezeichnet, sodass der Begriff mit Verbrechen gegen die Menschrechte, insbesondere das Recht auf Leben, assoziiert wird. Dagegen ist die Tötung auf Verlangen, die in den Niederlanden Euthanasie heißt, eine autonome Entscheidung des Einzelnen. Mit zunehmender Distanz zu unserer geschichtlichen Erfahrung in Deutschland nimmt die Debatte um die Legalisierung der Tötung auf Ver­

Sterbebegleitung in Europa: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

langen zu. Dem steht die Autonomie der dazu notwendigen Helfer – gefordert wird eine Tötung durch ärztliches Personal – entgegen, denn dieser Personenkreis definiert die Lebensbewahrung und Leidensminderung als seine Auf­ gabe. Der kulturelle Diskurs in Europa dazu wird theologisch und philo­ sophisch-ethisch geführt. Die jüdisch-christliche Argumentation wird ab Seite 10 behandelt, die philosophisch-ethische Position wird ausführlich ab Seite 37 dargestellt. Der assistierte Suizid, die Beihilfe zur Selbsttötung, ist in Deutschland erlaubt. Eine Besonderheit ergibt sich für Ärztinnen und Ärzte: Formal können Ärztekammern eine solche Hilfe disziplinar bestrafen. Das Disziplinarrecht kollidiert hier mit dem höherrangigen Strafrecht, sodass in den letzten Jahrzehnten disziplinarrechtliche Ermittlungen nicht mehr bekannt wurden. Mit passiver Sterbehilfe wird das Sterbenlassen bezeichnet, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht. Lebensverlängernde Behandlungen werden beendet oder nicht mehr begonnen. Im Vordergrund stehen die spirituelle Begleitung, auch der Angehörigen, und die Leidenslinderung. Wenn Letztere mit starken schmerzlindernden und beruhigenden Medikamenten erfolgt, spricht man von indirekter Sterbehilfe. Sollte in den darauffolgenden Stunden oder Tagen der Tod eintreten, ist dies nicht strafbar, wenn die Dosis der gewählten Medikamente deutlich geringer ist als bei Tötungsabsicht. Dies ist eine eher theoretische Überlegung, denn der Tod tritt in der Regel durch den Verlauf der Krankheit ein. Der Begriff der indirekten Sterbehilfe ist als Schutz für das ärztliche Personal emotional von Bedeutung. Es gibt auch Situationen, in denen eine lebensverlängernde Behandlung aus ärztlichen Gründen sinnlos ist, international als futility bezeichnet. Diese Entscheidung trägt das ärztliche Personal. 8o Prozent der Menschen in Deutschland sterben in palliativer Krankheitsphase wunschgemäß in vertrauter Umgebung zu Hause. Flächendeckend wurden ambulante Palliativpflegedienste aufgebaut. Allerdings ist in diesen Einrichtungen die Bezahlung für ärztliches und Pflegepersonal nicht ausreichend und die notwendige Dokumentation zu aufwendig. Für die notwendige verbale und nonverbale Sterbebegleitung bleibt zu wenig Zeit. Ehrenamtliche Besuchsdienste, vor allem der Hospizhilfe, leisten hier wertvolle, unverzichtbare Hilfe. Einzelheiten zu Versorgungswegen für Palliativkranke und ehrenamtlicher Betreuung s. aktuelle Literatur für die Allgemeinheit (Pott u. Domagk 2013). Palliativstationen oder Konsiliardienste findet man heute in vielen Krankenhäusern, sie dienen der akuten palliativen Versorgung. Ein Drittel der betreuten Kranken stirbt dort, auch weil die Verlegung in ein Hospiz wegen unzureichender Zahl und Kapazität nicht möglich ist und im Gegensatz zu den Niederlanden eine zusätzliche Vergütung der palliativmedizinischen Betreuung in Alten- und Pflegeheimen auf den Widerstand der Kostenträger trifft. Wünschenswert sind der Ausbau und die Einrichtung von Hospizen, in denen Palliativkranke längere Zeit als auf den Palliativstationen bleiben kön-

Sterbebegleitung in Deutschland

nen, allerdings auch nicht unbegrenzt. Anders als in den Niederlanden sind Hospize in Deutschland unterfinanziert und deshalb bei weitem nicht in ausreichender Zahl vorhanden. Die öffentliche Debatte in Deutschland zur Sterbebegleitung ist durch eine gewisse Unaufrichtigkeit gekennzeichnet: Es gibt eine Charta für menschenwürdiges Sterben und viele andere öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu Sterbebegleitung, Palliativmedizin und Hospizhilfe, die von Politikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens medienwirksam propagiert werden. Die eigentlichen Strukturprobleme, wie überbordender Verwaltungsaufwand, Personalreduktion und fehlerhafte Verteilung der finanziellen Mittel werden jedoch nicht gelöst. So entsteht eine Funktionärsaktivität zur Sterbebegleitung, die Tonangebenden haben sich von den tatsächlichen Gegebenheiten der Sterbebegleitung gelöst und kennen sie nicht ausreichend. In den Medien wird zu viel über Sterbebegleitung geredet, statt Strukturen zur Verbesserung zu schaffen und das Personal zu bezahlen, das die Kranken in der Sterbephase betreut. Ein großes Problem ist weiterhin, dass in palliativen Krankheitssituationen nach wie vor zu lange lebenserhaltend behandelt wird. Gründe hierfür sind die bereits angesprochenen Vergütungssysteme, die einseitig die technische Medizin bezahlen, sowie das Fehlen oder Nichtbeachten von Patientenver­ fügungen und Vorsorgevollmachten für den Krankheitsfall (s. S. 129 ff). Der Alltag der Sterbebegleitung ist geprägt von einer intuitiven ethischen Position. Dies gilt nicht nur für das Ärztinnen und Ärzte, sondern auch und besonders für das Pflegepersonal, das die Kranken am häufigsten sieht und für Sozialarbeiter, Seelsorger etc. Auch sie und insbesondere der Patient nehmen die unmittelbare Aufforderung zur Hilfe aus den Gesichtern der Umgebung wahr. Auf die Begründung einer intuitiven Ethik durch Empathie wird im Teil „Intuitive Ethik und Sterbebegleitung“ ausführlich eingegangen. Diese Gemeinschaftserfahrungen einer ethischen Motivation zur Betreuung von Kranken, unsere Kultur und Religion stärken eine Gesellschaft und befähigen sie, daraus Normen einer rationalen Ethik zu entwickeln. Diese Position der deskriptiven Ethik zeigt große Übereinstimmung mit den Niederlanden und auch mit anderen europäischen Ländern. Unterschiede bestehen in norma­ tiven ethischen Positionen. Primäres Ziel in den Niederlanden ist die Autonomie des Patienten. In Deutschland ist das primäre Ziel die Wahrung des Tötungsverbotes, aufgrund einer deontologischen Position im Sinne einer Pflichtethik, die nicht nur religiös geprägt sein muss. Auch atheistische und agnostische Positionen können aus humanistischen Gründen einen deontologischen Kern (Sollensethik) haben. Man kann auch utilitaristisch argumentieren, dass ein Schaden für die Gesamtgesellschaft entsteht, wenn es zu einem Dammbruch des Tötungsverbotes kommt. Dies ist der partiell unterschiedliche ethische Rahmen. Im Alltag handeln Ärztinnen und Ärzte beider Länder lebensbejahend und leidensvermeidend,

Sterbebegleitung in Europa: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

die Therapie am Lebensende ist vergleichbar (palliative Sedierung, s. Glossar S. 124) und in beiden Ländern erlaubt. Im Gegensatz zu den Niederlanden ist in Deutschland die aktive Sterbehilfe verboten. Auch zwei Drittel der niederländischen Ärztinnen und Ärzte lehnen die Tötung auf Verlangen ab. Moderne Gesellschaften sind Individualgesellschaften, die zwar hohe moralische Standards erreichen können, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen jedoch nur eine minimale Moral voraussetzen. Dies führt zu einer Wertediskussion und zu einem Value Ranking, denn jede Gesellschaft muss sich auf eine basishafte Moral stützen können. Dazu gehören auf der einen Seite Leidensvermeidung und Tötungsverbot, andererseits jedoch auch die genannte Autonomie des Einzelnen. Das akademisch ausgebildete Pflegepersonal im Besonderen könnte eigenverantwortlich Fragen der Autonomie, der Patientenwünsche und der Bedürfnisse der Angehörigen in der Sterbebegleitung erfragen, dokumentieren und das Therapieziel gemeinsam mit dem ärztlichen Personal ändern (z. B. Symptomkontrolle, keine Lebensverlängerung, d. h. passive Sterbehilfe, wenn vom Patienten so gewünscht). Eine solche gemeinsame Arbeitsweise würde auch den Begriff palliative care in Deutschland weiter konkretisieren.

Sterbebegleitung und Euthanasie in den Niederlanden Durk Meijer

Wir leben in einer Zeit, die von einer zunehmenden Globalisierung geprägt ist. Neben wirtschaftlichen und politischen Folgen bringt diese Entwicklung auch eine kulturelle Integration mit sich, verschiedene Kulturen treffen immer öfter aufeinander. In zunehmendem Maße lassen sich Menschen temporär oder dauernd im Ausland nieder. Die Bevölkerung, die sich langfristig in einem anderen Land angesiedelt hat, wird älter. Innerhalb dieser älter werdenden Gruppe immigrierter Menschen wird sich eine wachsende Zahl in ihrer letzten Lebensphase mit Palliativpflege konfrontiert sehen. Die Betroffenen werden feststellen, dass trotz der zunehmenden kulturellen Integration große Unterschiede in Bezug auf Gewohnheiten und Werte zwischen den einzelnen Ländern bestehen. Dies gilt vor allem für ethische Auffassungen in Bezug auf das Lebensende, die von Land zu Land unterschiedlich ausfallen können. Das beste Beispiel hierfür ist die große Gruppe Niederländer, die sich in den letzten Jahrzehnten in unmittelbarer Nähe der Grenze auf der anderen Seite in Deutschland niedergelassen hat. Betroffene, die in einer Verfügung schriftlich festgelegt haben, dass sie unter bestimmten Bedingungen eine aktive Sterbehilfe wünschen, müssen feststellen, dass diese nach deutschem Recht nicht erlaubt ist. Hier muss erwähnt werden, dass trotz des Wunsches nach einer Euthanasie, diese niemals ein Recht des Patienten darstellt. In diesem Kapitel wird versucht, die Situation in den Niederlanden zu skizzieren, wobei neben der Auseinandersetzung mit dem Euthanasiegesetz gleichzeitig auch die Hintergründe zur Debatte über Sterbebegleitung und Euthanasie behandelt werden. Es sei darauf hingewiesen, dass das Wort Euthanasie in den Niederlanden in seinem ursprünglichen Sinn nach wie vor verwendet wird, während es in Deutschland aufgrund der Assoziation mit der NS-Zeit aus dem Vokabular weitestgehend verschwunden ist. Deswegen verwendet man in Deutschland den Begriff aktive Sterbehilfe.

Unterschiede und Parallelen zwischen den Niederlanden und Deutschland Im Bereich Sterbebegleitung und Lebensende weisen beide Länder sowohl Unterschiede als auch Parallelen auf. Beide Länder verfügen über identische medizinisch-technische Mittel zur effektiven Linderung von Schmerzen und Unwohlsein. Des Weiteren ermöglichen beide Länder eine palliative Se­ dierung, um sogenannte refraktäre oder körperlich unerträgliche Leiden zu lindern, indem das Erleben der Symptome genommen wird. Auch auf organi-