Sprechweisen von Lehrpersonen in zwei unterschiedlichen Schulkontexten ein Vergleich

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Author: Britta Solberg
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Jäger, Sprechweisen von Lehrpersonen in zwei unterschiedlichen Schulkontexten – ein Vergleich

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Marianna Jäger

Sprechweisen von Lehrpersonen in zwei unterschiedlichen Schulkontexten – ein Vergleich Summary: In diesem Aufsatz wird die Sprechweise von zwei Zürcher Lehrpersonen am ersten Schultag in zwei sozialräumlich kontrastiven Schulkontexten verglichen und am Beispiel der Erläuterungen zu den Hausaufgaben aufgezeigt. Die Differenzen zwischen den beiden Klassen lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Die Sprechweisen können als Annäherung an die je vermuteten sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen des verallgemeinerten Schülers/der Schülerin ihrer Klasse identifiziert werden. Damit dürften sie zwar der Mehrheit die Passung zwischen Herkunftsmilieu und Schulkultur erleichtern, jedoch zugleich das Gefälle zwischen den beiden Schulkontexten zementieren.

Ausgangslage In einem Schweizer Forschungsprojekt wurde der Frage nachgegangen, wie die schulische Alltagskultur beschaffen sei, die den Erstklässler/innen als Sozialisationsrahmen für ihre Integration in die Schule dient. Dazu wurden zwei erste Klassen in Quartieren mit unterschiedlicher Bevölkerungszusammensetzung untersucht, ein Zürcher Stadtquartier mit hohem Migrationsanteil (63,6%, Bista ZH)1 und tendenziell bildungsfernen Elternhäusern (Neuried) und eine Zürcher Vorortgemeinde mit niedrigem Migrationsanteil (18,7%) und vorwiegend bildungsnahen Familien (Egerlingen). Mittels teilnehmender Beobachtung wurden die Schulklassen während eines halben Jahres selektiv begleitet, das Unterrichtsund Pausengeschehen beobachtet und mit allen Akteuren Interviews geführt. Es interessierte vor allem, welche sozialen Praktiken sich Schüler/innen im Hinblick auf das „richtige“ Schüler/insein aneigneten und wie dies geschah. Als besonders aufschlussreich bezüglich des Aufbaus von schulischem Alltagswissen erwiesen sich die Beobachtungen in den ersten Schulwochen, ja sogar schon am ersten Schultag, an dem die Kinder sich mit den Eltern erstmals in der Klasse einfanden und der neuen Lehrperson begegneten. Worüber spricht die Lehrperson? Gibt sie Anhaltspunkte dafür, wie man sich zu verhalten hat, was von einem erwartet wird? Der Vergleich des Geschehens an diesem ersten Schultag verwies inhaltlich auf zahlreiche Gemeinsamkeiten, zeitigte aber erstaunliche Unterschiede bezüglich der Sprechweisen der Lehrpersonen. Diese sollen hier am Beispiel der Äußerungen zu den Hausaufgaben betrachtet werden. Dabei sind folgende Fragen leitend: 1. Welche Zuschreibungen erfahren die Schüler/innen und deren Eltern durch die Lehrpersonen?

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2. Was verraten ihre Sprechweisen über die Positionen, die sie den beteiligten Akteuren in der sozialen Ordnung zuschreiben? 3. Wie können die beiden Sprechweisen charakterisiert werden? Zuerst werden die Sequenzen zu den Hausaufgaben in den beiden Schulkontexten vorgestellt und danach bezüglich der drei Fragen besprochen.

Gegenüberstellung der beiden Schulkontexte am Thema Hausaufgaben Die Lehrperson ist am ersten Schultag, an welchem die Eltern traditionsgemäß ihre Kleinen begleiten, die Hauptakteurin einer Inszenierung, welche für die Kinder als erstes schulisches Sozialisationsereignis stehen kann. In beiden Schulkontexten wird nach der Begrüßung eine exemplarische Unterrichtssequenz durchgeführt; außerdem werden eine Reihe organisatorischer Themen behandelt, von denen auch die Eltern Kenntnis haben sollen, so auch die Hausaufgaben. Bei beiden Lehrpersonen ist das Ziel der Erläuterungen dasselbe: sie erwarten, dass die Schüler/innen die Hausaufgaben erledigen. Dass diese zu den Pflichten des Schüler/inseins gehören, wird in beiden Klassen als selbstverständliches Wissen vorausgesetzt.

Frau Lang in Neuried (Schulkontext A) Im Schulkontext A (hoher Migrationsanteil, tendenziell bildungsferne Elternhäuser, sozioökonomisch benachteiligtes Quartier) spricht Frau Lang das Thema Hausaufgaben nur insofern an, als sie den Eltern die Kontrolle darüber zuweist. Sie setzt dafür ein Aufgabenheft ein, das die Kinder täglich zu Hause vorzeigen müssen. In der folgenden Sequenz erklärt sie den Eltern ihre Aufgabe: „Jetzt kommt der erste – Montag ist heute. Da steht die Aufgabe drin. Zuunterst steht jeden Tag: Unterschrift. Und ein Strich. Das bedeutet, sie sollen zu Hause kontrollieren, hier im Aufgabenheft und beim Kind: “Hast du das, was hier steht gemacht?” Zum Beispiel heute steht: Das Bild fertig malen. Dann müssen Sie mit dem zum Kind und sagen: „Vidusan, zeig mal! Oh, du hast aber die Aufgabe noch nicht fertig gemacht. Du musst noch fertig machen“. Das isch kontrollieren. Und wenn’s gut ist, unterschreiben. Die Unterschrift muss von den Eltern sein. Vater oder Mutter. Nicht das Kind, Vater oder Mutter. Dann haben Sie jeden Tag die Kontrolle, was muss mein Kind machen, hat es das gemacht, hat es das verstanden? (…) Sie müssen mithelfen, weil die Kinder vergessen das und dann kommen sie wieder und sagen (hohe Stimme): „Ah ja, Mami hat gelesen, aber sie hat vergessen, den Namen zu schreiben“. Also wir nehmen ein bisschen Sie bei der Verantwortung, oder? Weil, das Kind ist jetzt ganz frisch in der Schule. Es ist alles neu. Das Schulhaus ist neu. Die Kinder sind neu. Sie müssen stark mithelfen da, bei dem.” (Transkript zum 20.08.2007, C. Biffi, S.13. Hervorhebung bedeutet: mit Nachdruck gesprochen) Frau Lang erläutert den Eltern somit eindrücklich, wie sie sich den Umgang mit dem Aufgabenheft wünscht. Während sie ihnen zunächst ein Eigeninteresse an der Arbeitskontrolle ihrer Kinder zuschreibt („Dann haben Sie jeden Tag die Kontrolle”), lenkt sie von der Unverbindlichkeit zur institutionell verordneten Pflicht über („Sie müssen mithelfen”). Sie begründet die Inanspruchnahme der Eltern mit dem Unvermögen der Kinder („weil die Kinder vergessen das”). In einer zweimaligen Steigerung übergibt sie den Eltern schließlich noch weit umfassender gleich die Mitverantwortung für eine erfolgreiche schulische Sozi-

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alisation ihrer Kinder: „Sie müssen stark mithelfen da.” Dieser Imperativ lässt keine Optionen mehr offen. Bezüglich ihres impliziten Gehalts lassen Frau Langs Ausführungen ihre defizitären Zuschreibungen gegenüber Kindern und Eltern bzw. dem sozialen Milieu der Familie erkennen. Während sie die Kinder als hilfsbedürftige Wesen konstruiert – eine Eigenverantwortung wird ihnen weder zugestanden noch zugewiesen –, unterstellt sie den Eltern mangelnde Kenntnis der Bedeutung einer Unterschrift oder der Durchführung einer Kontrolle sowie mangelndes Interesse an den Lernfortschritten der Kinder. Mit dem Arrangement um das Aufgabenheft sichert sie sich nicht nur die Übersicht über die außerschulische Pflichterfüllung der Kinder, sondern hält auch deren Eltern in der Funktion schulischer Hilfskräfte unter Kontrolle. Die Lehrerin mobilisiert damit unausgesprochen mehrere Ordnungskategorien: sie baut bei den Eltern auf die Macht der sozialen Ordnung „Expertin versus Laien“, nutzt andererseits gegenüber den Kindern die Wirksamkeit der generationalen Ordnung, welche es den Eltern bzw. den Müttern erlaubt, Einfluss auf ihre Kinder zu nehmen.2 Schließlich aktualisiert die Lehrerin, indem sie die Ansprüche der Schule ganz selbstverständlich über diejenigen der Familie stellt, die Ordnungskategorie der Institutionen. Mit dem Thema Hausaufgaben bindet sie alle Akteure hierarchisch ein: die Kinder als ausführende, die Eltern als ihre Kinder kontrollierende, die Lehrperson als beide überprüfende und bewertende fachliche und schulische Instanz.

Frau Moser in Egerlingen (Schulkontext B) Ganz anders verlaufen die Erläuterungen zu den Hausaufgaben bei Frau Moser im Schulkontext B (niedriger Migrationsanteil, tendenziell bildungsnahe Elternhäuser, sozioökonomisch privilegierte Gemeinde). Sie wendet sich wie folgt an die Eltern: „Thema Hausaufgaben: Normal ist in der ersten Klasse ca. 10 Minuten pro Tag; am freien Nachmittag werden die Kinder sicher Hausaufgaben mitnehmen. An den Nachmittagen, an denen sie Schule haben, haben sie die Gelegenheit, damit (in der Schule) zu beginnen und je nachdem, gibt es dann auch noch etwas zu arbeiten. Von Freitag auf den Montag gebe ich normalerweise keine Hausaufgabe, außer wenn ein Kind etwas vergessen hat oder sehr, sehr langsam gearbeitet hat. Dann gibt es vielleicht noch etwas, aber normalerweise gebe ich keine.“ (Jäger/Biffi 2011, S. 5) Mit diesen Worten orientiert Frau Moser die Eltern über die Modalitäten ihrer Erteilung von Hausaufgaben. Während sie das Ausmaß der schulischen Arbeiten unter der Woche als allgemeine schulische Norm hinstellt („normal ist“), legt sie für das Wochenende ihre Gepflogenheiten als persönliche Entscheide dar, die allerdings nur bei Unzulänglichkeiten der Schüler/innen zum Tragen kämen. Zusätzliche Hausaufgaben erscheinen so als Disziplinierungsmaßnahme säumiger oder zu langsam arbeitender Schüler/innen. Damit weist die Lehrerin die Verantwortung für eine Beeinträchtigung des familiären Zeitmanagements am Wochenende von sich. Frau Moser fährt fort: „Dann kommen wir zu den Hausaufgaben auf morgen. (Sie hebt die Stimme und blickt in der Klasse umher; die Kinder haben sich während der Elterninformation still beschäftigt.) Jetzt müssen die Erstklässler und Erstklässlerinnen auch die Ohren spitzen. Hausaufgabe auf morgen ist: Ein Ding mitbringen, das mit dem Buchstaben O beginnt. Weil der erste Buchstabe, den wir gemeinsam lernen, ist der Buchstabe O, den wir schreiben lernen; einige können ihn wahrscheinlich schon, andere nicht. Aber ihr sollt etwas mitbringen, das mit O beginnt. (....)” (Transkript vom 20.08.2007, M. Jäger, S. 5)

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Unter Einbezug der Schüler/innen wird sodann die konkrete Hausaufgabe ausführlich erläutert. Die Kinder nennen exemplarisch Objekte, die man von zu Hause mitbringen könnte (vgl. Jäger/Biffi 2011, S.18f.). Die Erörterung endet wie folgt: „Lukas: ‘Obst.’ - Lehrerin: ‘Obst. Ja, sehr gut, wunderbar. Ja, das kannst du mitbringen.’ - Assia: ‘Orange.’ – Lehrerin: ‘Bravo, genau. So etwas könnt ihr mitbringen. Ihr könnt vielleicht zusammen mit euren Eltern zu Hause noch etwas überlegen, was mit O beginnt und was ihr gut mitnehmen und zeigen könnt, hm.“ (wie oben) Die Sequenz führt vor, wie Frau Moser die konkreten Aufgaben für den nächsten Tag bespricht. In einer den Kindern angepassten Ausdrucksweise („die Ohren spitzen“) spricht sie die Kinder politisch korrekt als betroffene Akteure direkt an. Sie statuiert Hausaufgaben implizit als tägliche Schülerpflicht, schiebt dann aber mit Verweis auf den didaktischen Kontext noch eine Begründung nach, womit sie an ein inhaltlich abgesichertes Verständnis für deren Bedeutung appelliert. In einem interaktiven, offen angelegten Gespräch wird sodann das Erfassen der Aufgabe erarbeitet. Nur quasi beiläufig erwähnt Frau Moser am Schluss noch die Eltern, indem sie den Schüler/innen rät, ergänzend zu den eigenen Ideen „vielleicht“ noch die Eltern einzubeziehen. Sie geht ganz selbstverständlich von bildungsnahen Familien aus, in denen man sich für die Fortschritte der Kinder interessiert und sie bei Bedarf unterstützt.

Ergebnisse zur vergleichenden Analyse der Sprechweisen Im Folgenden werden die Befunde zu den drei in der Einleitung angeführten Fragen dargestellt.

Zuschreibungen: Wie werden Schüler/innen und Eltern durch die Lehrperson eingeschätzt? In der Art, wie Schüler/innen und Eltern angesprochen werden, lassen die beiden Lehrpersonen unterschiedliche Zuschreibungen erkennen, u.a. in Bezug auf die soziokulturelle Herkunft und Bildung, welche ihnen – wie die Beobachtungen später zeigen sollten – als Folie für die Einschätzung der Schulfähigkeit dienten. Die Ausführungen von Frau Lang legen nahe, dass sie den Familien einen (schul-) bildungsfernen Habitus zuschreibt. Kinder wie Eltern schätzt sie als unwissende und inkompetente Akteure ein, welche gut instruiert und geführt werden müssen. Das Aufgabenheft als täglich gegenwärtiger Repräsentant schulischer Verpflichtungen soll vom Kind nach genauer Vorgabe zwischen der pädagogischen Expertin und den für seine Schulbildung ebenfalls als verantwortlich erklärten Eltern hin- und hergetragen werden. Es wird im Schnittpunkt von Elternhaus und Schule zum Bestandteil einer wichtigen sozialen Praktik, welche es der Lehrperson erlaubt, Eltern und Kinder für die Anliegen der Schule eng einzubinden. Im Gegensatz zu Frau Lang wird bei Frau Moser der Privatraum ‘Familie’ bewusst mit keinerlei Auflagen verletzt noch die erzieherische Autonomie der Eltern angetastet. Mit ihrem klaren Schnitt zwischen Privatheit und Öffentlichkeit markiert die Lehrerin eine Gleichrangigkeit der Institutionen Schule und Familie. Sie konstruiert die Eltern in einem kollegialen Verhältnis zu den Kindern. Für die Hausaufgaben appelliert Frau Moser konsequent an die Selbstverantwortung der Kinder, die damit als kompetente Akteure angesprochen werden. Es konnte jedoch in den folgenden Wochen zunehmend beobachtet werden, dass bei ihr das Misstrauen bezüglich Pflichterfüllung und schulaffirmativer Hal-

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tung bei den wenigen Kindern mit Migrationshintergrund ebenso deutlich hervortrat wie bei Frau Lang gegenüber der ganzen Klasse. Da die beiden Lehrpersonen am ersten Schultag aus Datenschutzgründen keine Kenntnisse zu den sozialen Milieus ihrer Schüler/innen haben3, dürften ihre Zuschreibungen dem vagen Wissen um die soziokulturelle Herkunft ihrer Schülerschaft folgen, welches durch ihre langjährigen Erfahrungen im selben Schulhaus gestützt wird.

Soziale Ordnungen: Wie werden Kinder und Eltern durch die Lehrperson positioniert? Beide Lehrerinnen unterlegen in ihren Sprech- und Handlungsweisen quasi selbstverständlich die soziale Ordnung der Generationen zwischen sich und den Schüler/innen. Diese generationale Ordnung wird jedoch am ersten Schultag von andern Kategorien überlagert und verstärkt: der institutionellen Ordnung sowie der Kompetenzordnung. Das heißt, die Lehrerinnen bringen klar zum Ausdruck, dass sie in ihrer Funktion und in ihrer Kompetenz als Lehrpersonen handeln und sprechen. Dies geschieht jedoch mit unterschiedlicher Ausprägung. So erlaubt Frau Moser der dezente, praktisch unsichtbare Modus ihrer Aktualisierung von sozialen Ordnungen, die bestehenden Asymmetrien in den Hintergrund treten zu lassen und damit das Bild einer gleichwertigen, sachbezogenen Begegnung aller Akteure zu konstruieren, wobei sie gegenüber den Kindern etwas bestimmter auftritt als gegenüber den Eltern. Ihre Aussagen lassen erkennen, dass sie sich der Asymmetrien sehr wohl bewusst ist. Während sie ihre vorwiegend bildungsnahen Eltern und Kinder als „Komplizen“ (vgl. Bühler-Niederberger 2011, S. 202 – 214) des Schulsystems behandelt, scheint Frau Lang davon überzeugt zu sein, dass die Eltern als pädagogische Laien ebenso zu sozialisieren seien wie deren Kinder. Sie legt viel Wert darauf, die sozialen Positionen deutlich zu markieren und bei Kindern wie Eltern auf eine „kompetente Gefügigkeit“ (Bühler-Niederberger 2011, S. 202) zu setzen. Mit ihren klaren Vorgaben dürfte sie schulische Sozialisation primär als eine Anpassungsleistung verstehen, Frau Moser dagegen stärker als eine aktive Auseinandersetzung der Kinder mit schulischen Vorgaben; damit weist Frau Moser deren Handlungsfähigkeit einen größeren Spielraum zu. Dass die Lehrerinnen die an sich identischen Machtstrukturen so unterschiedlich markieren, dürfte wiederum ihrer Einschätzung der Familienmilieus geschuldet sein: Sie veranschlagen die Voraussetzungen für schulischen Erfolg bei ihren Schüler/innen offenbar unterschiedlich günstig. Je nachdem dürfte sich bei ihnen eine mehr oder weniger klare Markierung der schulischen Ordnungen aufdrängen, welche wohl die Notwendigkeit einer mehr oder weniger starken Führung der Schüler/innenklientel andeuten sollte.4 Die Befunde stellen eine logische Ergänzung zu den unterschiedlichen Zuschreibungen der Akteure dar.

Sprachstile: Worin bestehen die Unterschiede des Sprechens der Lehrpersonen? Neben den zuvor beschriebenen inhaltlichen Dimensionen sprachlicher Mitteilungen soll hier auf den Sprachstil der beiden Lehrerinnen, der sich so augenscheinlich unterscheidet, fokussiert werden. Frau Lang in Neuried praktiziert einen holzschnittartigen, konkreten, betont direktiven und emotional aufgeladenen Sprachstil mit starkem Einbezug des Körpers. Sie verwendet häufig Objekte zur Visualisierung von Erläuterungen und Anweisungen. Sie steuert und kontrolliert mit großer Eindringlichkeit das Geschehen und die Aktivitäten der einzelnen

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Akteure auf der Bühne des Klassenzimmers, indem sie verbal und räumlich die Nähe zu ihren Interaktionspartner/innen sucht, sich dazu unablässig zwischen den Tischen der Kinder hin und her bewegt. Frau Lang pflegt einen vorwiegend „regulativen Diskurs“ (Bernstein 1971, nach Sertl/Leufer 2012): Sie schenkt den Regeln der sozialen Ordnung, den schulischen Umgangsformen, viel Beachtung. Sie versieht ihre Ausführungen zudem mit einer „starken Rahmung“ (Bernstein), d.h. sie bringt soziale Hierarchien explizit zum Ausdruck und kommuniziert ihre Erwartungen so klar, dass keine Gefahr einer falschen Auslegung besteht, wie etwa in der Bemerkung an die Eltern: „Sie müssen stark mithelfen da.“ Eine solche Sprechweise könnte aber einen double bind beinhalten. Die Lehrerin erleichtert zwar – indem sie die sprachliche Passung zu den Herkunftsmilieus bzw. dem vermuteten kulturellen Kapital der Kinder herstellt – die Integration aller Akteure am Unterrichtsdiskurs. Sie setzt jedoch mit ihrer Sprechweise ein Vorbild für eine sprachliche Sozialisation, welche nicht der gesellschaftlich legitimierten Schulsprache entspricht und damit längerfristig zur ungleichen Realisierung von Bildungschancen ihrer Schüler/innenklientel beitragen könnte. Frau Moser in Egerlingen bedient sich eines argumentativen, diplomatischen Sprachstils, agiert verbal differenziert und bleibt emotional sehr kontrolliert. Sie nimmt ihren Platz relativ starr vor der Wandtafel ein, frontal zu allen Akteuren, und markiert damit Distanz. Verbalität ist vorherrschend, der Körpereinsatz sparsam und sehr diskret. Sie präsentiert sich als kompetente Fachexpertin und Vertreterin der Institution. Ganz klar überwiegt der „instruktionale Diskurs“ (Bernstein), mit welchem die inhaltliche Ordnung angesprochen wird. So werden etwa in der Bemerkung betreffend der Hausaufgaben ihre methodisch-organisatorischen und inhaltlichen Absichten sichtbar: „Ihr könnt vielleicht mit den Eltern noch zu Hause überlegen, was mit O beginnt und was ihr gut mitnehmen und zeigen könnt...“. Die Eltern werden nicht als Kontrollinstanzen wie bei Frau Lang eingesetzt, sondern nur indirekt und unverbindlich als fachlich-inhaltlich interessierte Partner/innen der Kinder wie auch der Lehrperson angesprochen. Der regulative wie auch der instruktionale Diskurs sind bei Frau Moser vorwiegend „schwach gerahmt“, was den Kindern im Schulalltag eine hohe Kompetenz im Ableiten der unsichtbaren Sprech- und Verhaltenscodes abfordert. Das geschieht etwa, wenn die Lehrerin zu Amir, der sein Wasserfläschchen am Mund hat, sagt: “Ja, Amir, trinken ist ja ganz gesund, aber wenn ich spreche, möchte ich das nicht.“ Er stellt zwar sein Fläschchen anstandslos auf den Tisch, versteht aber die dahinter versteckte Hierarchieregel nicht, dass Nebenbeschäftigungen bei Erläuterungen der Lehrperson als Verletzung des Respekts gelten. Fehlt ihm diese Einsicht, kann er die Regel auch nicht auf analoge Situationen übertragen. Solche Bemerkungen werden – wie die folgenden Wochen zeigen konnten – von den vorwiegend der Mittelschicht angehörenden Schüler/innen sinnvoll dekodiert. Nur einzelne bekunden Mühe damit: Kinder nichtdeutscher Muttersprache wie Amir ebenso wie deutschsprachige Kinder aus sozial nicht privilegierten Milieus. Sie können die von der Lehrerin im Unterrichtsdiskurs implizit konstruierten Regeln für ihre Teilnahme nicht immer entschlüsseln. Obwohl dieses mangelnde Verständnis nicht im Zusammenhang mit den kognitiven fachlichen Erfordernissen steht, taxiert Frau Moser das daraus resultierende unangemessene Verhalten als schulisches Versagen, was nicht wirkungslos für die Bildungslaufbahnen einzelner Schüler/innen sein dürfte. Damit reproduzieren sich in ihrer Klasse die sozialen und kulturell-ethnischen Unterschiede.

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Fazit Die Sprechweisen der beiden Lehrpersonen, welche sich inhaltlich und formal auf die vermuteten herkunftsbedingten Sprachkompetenzen der Mehrheit ihrer Schüler/innen beziehen, schaffen für die Kinder ihrer Klassen je unterschiedliche Sozialisationsbedingungen. Im Vergleich der beiden Schulklassen wird eine indirekte „institutionelle Diskriminierung“ (Gomolla/Radtke 2002) einerseits zwischen den sozioökonomisch unterschiedlichen Kontexten Egerlingen und Neuried wirksam, andererseits auch innerhalb der Klasse von Frau Moser bezüglich jener Kinder, welche nicht die für die Bildungssprache erforderlichen Dispositionen mitbringen. Der Sprechweise der Lehrperson dürfte sowohl für die expliziten Unterrichtselemente wie auch die vielen Verhaltensanweisungen im Rahmen schulischer Alltagskultur eine exemplarische Bedeutung zukommen. Lehrpersonen beherrschen die Routinen des sich Mitteilens und der Performativität des Handelns als Professionelle. Ihnen wird über die Berufsausbildung eine Beheimatung in der Bildungssprache attestiert; aber wie deren Sprachpraxis im Unterrichtsdiskurs tatsächlich aussieht, welchen Grad der Bewusstheit sie jeweils situativ aufweist, wie sie rezipiert wird und welche Konsequenzen sie auf die Bildungschancen der Kinder ausübt, ist bisher unbekannt. Entsprechende Forschungen wären aufschlussreich.

ANMERKUNGEN 1 2

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Bildungsstatistik Kanton Zürich 2013, aufgerufen am 12.April 2013, www.bista.zh.ch/vs/SGem.aspx. Es hat sich in den Interviews mit den Kindern gezeigt, dass fast ausschließlich die Mütter sich um die schulischen Pflichten der Kinder kümmern. Gemäß Auskunft des Rechtsdienstes des Volksschulamtes der Stadt Zürich vom 10.02.2014 erhalten die Lehrpersonen die Personalien der Kinder von der Einwohnerkontrolle (Gemeindebehörde): damit erfahren sie nur Name und Adresse. Eine amtliche Bestimmung über den Umfang der Angaben gibt es nicht. Gemäß Rechtsdienst ist jedoch die Sensibilität gegenüber dem Datenschutz inzwischen so hoch, dass weder die Religionszugehörigkeit noch die Berufe der Eltern erhoben werden dürften. Um den pädagogischen Auftrag einer Integration aller Kinder in das Schulsystem erfüllen zu können, müssen sich die Lehrpersonen im persönlichen Kontakt mit den Eltern an den familiären sozialen Hintergrund und die entsprechenden schulischen Voraussetzungen herantasten. Diese Strategie verrät die Vorbehalte, die viele Lehrpersonen gegenüber Kindern aus tieferen Sozialschichten wie auch gegenüber Familien mit Migrationshintergrund haben (vgl. Gomolla/Radtke 2002, S.148ff., 228f., S. 243ff.); dafür verantwortlich dürften auch große Forschungen wie PISA und IGLU sein, die eine Beziehung zwischen Bildungserfolg und soziokulturellen Herkunftsfaktoren nachgewiesen haben.

LITERATUR Bernstein, Basil (1990). Class, Codes and Control. Vol. 4. The structuring of pedagogic discourse. London: Routledge. Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Weinheim: Juventa. Gomolla, Mechthild/Radtke, Frank Olaf (2002). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske und Budrich. Jäger, Marianna/Biffi, Cornelia (2011). Alltagskultur in der ersten Primarschulklasse. Schlussbericht. Pädagogische Hochschule Zürich. www.phzh.ch/personen/marianna.jaeger

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Sertl, Michael/Leufer, Nikola (2012): Bernsteins Theorie der pädagogischen Codes und des pädagogischen Diskurses. In: Gellert, Uwe/Sertl. Michael (Hrsg.): Zur Soziologie des Unterrichts. Weinheim: Beltz 2012, S.15-62.

ZUR AUTORIN Marianna JÄGER; Dr. phil., Primarlehrerin 1968-1972, Studium der Volkskunde/ Geschichte/Deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, Bis 1987 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Volkskundlichen Seminar der Uni Zürich, ab 1979 bis 2013 Dozentin in Institutionen der Zürcher Lehrer/innenbildung; Implementation von volkskundlichen Inhalten und Zugängen, ab 2002 in der Pädagogischen Hochschule Zürich; Konzeption, Ausarbeitung und Leitung kulturwissenschaftlicher/ethnographischer Grundlagenmodule im Bereich Kindheit und Jugend für Studierende aller Zielstufen; Realisierung von Forschungsprojekten zur ethnographischen Schulforschung.

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