Sprechstunde im Tempel

Sprechstunde im Tempel Die Ethnologin Helene Basu über Stress in anderen Kulturen, verhexte Inder und das Bruttonationalglück in Bhutan 120 SPIEGEL ...
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Sprechstunde im Tempel Die Ethnologin Helene Basu über Stress in anderen Kulturen, verhexte Inder und das Bruttonationalglück in Bhutan

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NARINDER NANU / AFP

Bei einem Fest in Amritsar verkleiden sich gläubige Hindus als Affengott Hanuman

Grimmige Masken und freundliche Gesichter: In Bhutan ist Glück ein Staatsziel.

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HELFEN UND HEILEN

Depression zuordnen würden. Sie nann- von Körper und Geist. Es gibt aber auch ganz andere Modelle, die solche Störunpression und Burnout vor allem Wohl- ten sie aber nicht so. standskrankheiten? SPIEGEL: Diese Inder hatten also Phasen gen im seelischen Gleichgewicht zu erBasu: Ich würde diese Krankheiten nicht tiefer Traurigkeit, Konzentrationspro- klären versuchen. In Indien gibt es zwar auch die klassische Psychiatrie. Andeals im ethnologischen Sinne „kulturge- bleme, Antriebslosigkeit … bunden“ bezeichnen. Sie sind eng mit den Basu: … genau. Eine junge Frau, mit der rerseits glauben aber viele, dass die Bejeweiligen Lebens- und Arbeitsbedingun- ich gesprochen habe, beschrieb diesen Zu- schwerden der Betroffenen daher rühgen der Menschen verknüpft – und durch stand ganz plastisch. Schon der Gang zur ren, dass sie verhext wurden oder etwa die Globalisierung ähneln sich diese Be- Toilette wurde für sie zum Kraftakt. Sie von Totengeister besessen sind. Das sind dingungen immer mehr, auch wenn die hatte große Schwierigkeiten, das ihrer Fa- zwei sehr populäre Erklärungen, warum Länder weit auseinanderliegen. Ein Bör- milie zu vermitteln. Zunächst reagierten ein Verwandter nicht mehr richtig senmakler in Frankfurt kämpft sicherlich die Angehörigen abweisend und sagten: „funktioniert“. mit ähnlichen StresserlebSPIEGEL: Dann wäre ein nissen wie ein Broker in rachsüchtiger Ahne der Bangalore oder in Singapur. Schuldige? Unabhängig vom kulturelBasu: Er könnte dafür stelen Kontext oder ihrer Herhen, dass die sozialen Bekunft sind sie einem verziehungen dieses Mengleichbaren Erfolgsdruck schen gestört sind. Bezieunterworfen. Und der kann hungsprobleme analysiekrank machen. ren ja auch westliche Psychiater bei ihren Patienten. SPIEGEL: Der afrikanische Oder nehmen wir die Idee Bauer kennt diese Art Hetdes Karma. Wird jemand ze aber nicht? im medizinischen Sinne Basu: Auch er kann unschizophren, sucht man in ter ErschöpfungszustänIndien die Ursache durchden leiden. Wenn er alle aus auch in einem früheren Energie in seinen LebensLeben. unterhalt investiert, aber all seine Bemühungen SPIEGEL: Was passiert bei so nicht fruchten, die Ernte einer Tempel-Therapie? ausbleibt, das Vieh stirbt, Basu: Nehmen wir den seine Kinder hungern. Shri Hanuman Mandir Dann stellt sich ResignaTempel in Salangpur im tion ein; irgendwann kann westindischen Bundesstaat dieser Mann einfach nicht Gujarat. Der Affengott HaHELENE BASU mehr. Das gibt es überall numan gilt im Hinduismus auf der Welt. Aber die Mitals „Vertreiber des Leimenschen des afrikanidens“, weshalb sich viele Die Professorin für Ethnologie lehrt seit 2006 an der Westschen Landwirts würden psychisch Kranke von ihm fälischen Wilhelms-Universität Münster. Basu, 56, forscht sein Leiden wohl nicht als Heilung versprechen. Im im Feld der transkulturellen Psychiatrie, speziell in Indien. Burnout etikettieren. Tempel selbst sind die AbIhre Arbeit ist eingebettet in das Cluster „Religion und Poläufe straff durchorganiSPIEGEL: Die Krankheit ist litik in vormodernen und modernen Kulturen“. also ein globales Phänosiert. Zunächst lösen die men, die Diagnose eine Pilger an einem Schalter kulturspezifische? das Ticket für ein rituelles Basu: Emotionen werden kulturell er- Du bist doch nur faul, reiß dich zusam- Bad, das in einem Nebengebäude stattlernt. Nehmen Sie das arktische Volk der men. Das kommt uns gewiss bekannt vor. findet. In frischer, sauberer Kleidung Inuit: Bei ihnen ist das Gefühl der Wut Aber als die Frau überhaupt nicht mehr werden die Kranken dann in den offenen einfach unbekannt. Schon die Kinder zu motivieren war, sie nicht mal mehr ko- Behandlungsraum geführt, wo eine growerden ohne Zorn erzogen. Noch mehr chen oder putzen konnte, da suchte man ße Ikone des Gottes steht und sie, nach als die puren Gefühle fallen die Erklä- nicht nur Rat beim Arzt. Sondern die Fa- Geschlechtern getrennt, in vollkommerungen für emotionale Ausnahmezu- milie pilgerte zu einem Tempel. ner Stille auf den Brahmanen, den Priesstände kulturell unterschiedlich aus. Bei SPIEGEL: Sie erforschen seit Jahren die ter, warten. Dann werden Mantras, heimeiner Feldforschung in Indien bin ich Bedeutung ritueller Stätten und Tempel lige Sprüche, rezitiert. Der Priester ruft vielen Menschen begegnet, die Sympto- für Menschen mit seelischen und geis- die einzelnen Patienten und ihre Angeme beschreiben, die wir einer klinischen tigen Problemen. Inwiefern kann Reli- hörigen der Reihe nach zu sich nach gion bei echten Störungen helfen? vorn. Basu: Wir haben in der westlichen Welt SPIEGEL: Der Brahmane ersetzt also den Das Gespräch führten die Redakteurinnen Annette Bruhns und Simone Kaiser. ein sehr biomedizinisches Verständnis Arzt?

FOTOS: HOLLY WILMETH / AURORA / LAIF

SPIEGEL: Frau Professor Basu, sind De-

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Basu: Ja, das ist vergleichbar mit einer

normalen Sprechstunde. In diesem Tempel wird sie zweimal täglich abgehalten. Ich habe dort unter anderem eine Frau begleitet, die kurz zuvor ihr erstes Kind geboren hatte und unter einer postnatalen Depression litt. Nachdem alle Arztbesuche erfolglos blieben, brachte ihre Familie sie zum Tempel. Der Brahmane dort erklärte mir, er spüre anhand von Vibrationen, wenn die Person etwa von einem toten Ahnen besessen sei – wie diese junge Frau seiner Meinung nach.

Der Priester spürt, ob die depressive Frau von einem Toten besessen ist. 124

Inuit-Mädchen in Festtagskleidung

SPIEGEL: So weit die Diagnose. Und die Behandlung? Basu: Der Priester verschreibt tatsächlich Hilfsmittel: Das kann ein bestimmtes heiliges Tuch, ein Amulett, eine Flasche mit gesegnetem Wasser oder ein Gebetbüchlein sein – all diese Utensilien können die Leute im Tempel kaufen. In einer Art Krankenakte, einem kleinen Heft, trägt der Brahmane dann die Diagnose, die Beschwerden und seine Empfehlungen ein und gibt es dem Kranken mit. Darin steht, welche Gebete der Patient wann und wie oft sprechen soll. Oder ob er auf seine Ernährung achten muss. Etwa anregende Gewürze wie Ingwer meiden oder nach indischem Brauch als „kalt“ oder eben „heiß“ klassifizierte Speisen. Dann wird noch festgehalten, ob und wann der Patient wieder zur Konsultation erscheinen soll. SPIEGEL: Und das hilft?

Basu: Das ist ja immer die Frage, auch

in der Psychiatrie: Wann ist jemand geheilt? Bei der Frau, die nach der Geburt ihres Kindes depressiv war, hat es auf jeden Fall funktioniert. Wichtig ist dabei wohl der ganzheitliche Ansatz: Der Priester befragt auch die Verwandten, er bezieht die Lebensumstände des Kranken mit ein. Er hat der Familie erklärt, dass nicht die Patientin selbst schuld sei an ihrer Situation, sondern in diesem Fall ein unzufriedener Ahnengeist. Damit nimmt er der jungen Mutter eine große Last. Er untersagte aber auch dem Ehemann, der seine Frau wegen ihres Zustands schlug, Hand an sie zu legen. Ich habe die Frau einige Monate später mit ihrem Kind wiedergetroffen, sie war sehr glücklich. Sie und ihre Angehörigen hatten die bösen Geister vertrieben. SPIEGEL: Muss man also nur fest daran glauben, dass man besessen ist?

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GUSTAU NACARINO / REUTERS (L.); EVA HAEBERLE / LAIF (R.)

Musiker der Gruppe Sidi Goma

HELFEN UND HEILEN

Basu: Davon habe ich auf jeden Fall noch

Junge Frauen in einem Tempel auf Bali

ANDREAS FECHNER / LAIF

Basu: Das dachte ich zunächst auch. Aber

für die Brahmanen selbst ist der Glaube der Patienten nebensächlich. Ich habe einen Exil-Inder getroffen, der seit 40 Jahren in England lebt und dort erfolgreich als Ingenieur arbeitete. Irgendwann stürzte er in eine tiefe Krise mit schlimmen Angstzuständen, aus der er mit herkömmlichen Medikamenten nicht mehr herausfand. Also flog er in die alte Heimat, ging zum Tempel und ließ sich behandeln. Für den Priester war klar, dass der Mann von Geistern besessen war, aber auch, dass der nicht daran glaubte. Er hat ihm diese spirituelle Erklärung gar nicht erst genannt, sondern ihm einfach verordnet, was er gegen seine Beschwerden tun soll. Wir haben den Mann getroffen, als er dem Tempel ein traditionelles Speiseopfer stiftete – als Dank für seine Genesung. SPIEGEL: Könnte es Kulturen geben, in denen Stresskrankheiten gar nicht vorkommen?

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nie gehört. Aber die Verbreitung dieser Krankheiten schwankt. Die jüngste Studie der WHO „Global Burden of Disease“ hat ergeben, dass in reichen Ländern Depressionen heute sogar die höchste Krankheitslast ausmachen. Psychische Leiden weiten sich aber auch zunehmend in Entwicklungs- und Schwellenländern aus. SPIEGEL: Spielt nicht auch der Umgang mit Zeit eine wesentliche Rolle? Das Zeitempfinden in Nairobi ist doch gefühlt mindestens zehnmal langsamer als in Berlin. Ist diese Gemächlichkeit auch Ausdruck von mehr Gelassenheit? Basu: Zeit ist keine abstrakte Sache, sondern steht immer in Zusammenhang mit sozialen Beziehungen. Man macht ja in vielen Ländern die Erfahrung, dass die Leute scheinbar immer Zeit für einen Plausch mit einem Gast finden. Das liegt natürlich nicht daran, dass sie nichts anderes zu tun hätten. Sondern sie nehmen sich eben die Zeit und stellen andere Dinge hintenan. Soziales hat Vorrang. Bei uns heißt es dagegen oft: Jetzt passt es gerade wirklich nicht. SPIEGEL: Einem stabilen Sozialgefüge wird ein wichtiger präventiver Effekt gegen Depressionen zugesprochen. Basu: Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen spielt auch für die persönliche Zufriedenheit eine große Rolle. Nehmen Sie zum Beispiel die Sidis, eine ursprünglich aus Afrika stammende islamische Sufi-Gemeinschaft, die auch im indischen Staat Gujarat lebt. Aus ihrer Mitte stammt die Musikgruppe Sidi Goma, die aus einem Dutzend junger Männer besteht. Sie sind weltweit auf Musikfestivals gefragt mit ihren mitreißenden Rhythmen. Aber sie haben immer wieder Probleme mit den nötigen Visa, weil der Verdacht in der Luft hängt, sie wollten nur ihren armen Verhältnissen entfliehen. Wenn man die Sidis jedoch fragt, ob sie nicht im reichen Amerika oder in Europa bleiben wollten, dann reagieren sie ganz verblüfft. Sie können sich gar nicht vorstellen, ihre Familie, ihre religiöse Gemeinschaft zurückzulassen. Nur dort sind sie glücklich. SPIEGEL: Auch die Menschen auf der von Geistern beseelten Insel Bali besitzen oft nicht viel, aber jeder scheint immer ein Lächeln im Gesicht zu tragen … Basu: … in dieses Lächeln projizieren wir natürlich auch unsere eigenen Wün-

sche und Hoffnungen. Über die Zufriedenheit der Lächler selbst sagt unser Empfinden bei ihrem Anblick wenig. SPIEGEL: Können wir etwas von fremden Kulturen lernen zum Umgang mit Stress – von Bali, von Indien? Basu: Es gelingt dort, mit ganz einfachen Mitteln eine angenehme, sinnliche Atmosphäre herzustellen. Gerüche spielen für das seelische Wohlbefinden eine große Rolle, dieses Wissen wird ja auch hierzulande bereits in der Therapie eingesetzt. Wir können uns da Dinge abschauen, beispielsweise auch aus dem Ayurveda oder Yoga. SPIEGEL: Was ist mit dem Königreich Bhutan, in dessen Verfassung es heißt: „Der Staat bemüht sich, jene Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttonationalglück ermöglichen“? Ist Bhutan das Land des Glücks? Basu: Da sind wir wieder bei der Frage, ob man subjektives Glück messen kann. Mir scheint dieses Bruttonationalglück eng mit den Werten des Königtums verknüpft zu sein. Aus buddhistischer Sicht gehört es zur Pflicht des Herrschers, sich um sein Volk und dessen Wohlergehen zu kümmern. Andernfalls hätte das auch negative Konsequenzen für sein persönliches spirituelles Karma und seine eigene Heilserwartung. SPIEGEL: Bhutans König kämpft mit kostenloser Gesundheitsvorsorge also in Wirklichkeit nur für sein eigenes Glück? Basu: Er schadet seinem Volk damit auf jeden Fall nicht, aber ich bezweifle, dass deswegen keine depressiven Krankheitsbilder in seinem Reich existieren. Die Insel der Glückseligen gibt es nicht! In jeder Kultur leben Menschen, die besser und solche, die schlechter mit ihrem Dasein zu Rande kommen. Aber manche Gesellschaften gehen entspannter als unsere mit Mitgliedern um, die nicht der Norm entsprechen. Ich glaube, da gibt es signifikante Unterschiede. SPIEGEL: Inwiefern? Basu: Wird zum Beispiel ein Arbeitskollege, der einen Burnout erlitten hat, aus der beruflichen Gemeinschaft ausgeschlossen? Oder wird sein Anderssein akzeptiert? Die Toleranz, andere einfach so sein zu lassen, wie sie sind, und sie trotzdem einzubinden, ist anderswo stärker ausgeprägt als hierzulande. Und das ist doch etwas, was den sozialen „Stress“ erheblich reduziert. SPIEGEL: Frau Professor Basu, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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