Sozialpolitik und Familie

Sozialpolitik und Familie Beiträge anlässlich des Symposiums zum 75. Geburtstags von Prof. Dr. DDr. h.c. Franz-Xaver Kaufmann am 18. September 2007 ...
Author: Martina Pohl
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Sozialpolitik und Familie

Beiträge anlässlich des Symposiums zum 75. Geburtstags von Prof. Dr. DDr. h.c. Franz-Xaver Kaufmann

am 18. September 2007 im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Ruhr-Universität Bochum

Veranstalter: ZEFIR – Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung Katholisch – Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum Sektion Sozialpolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziologie

Herausgeber Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier Prof. Dr. Rolf G. Heinze Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

erstellt (Juli 2008) vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung der Ruhr-Universität Bochum (ZEFIR) www.rub.de/zefir

Textbearbeitung Jennifer Pätsch

Inhalt Seite

Vorwort

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Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats Prof. Dr. Adalbert Evers: Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken

6

Prof. Dr. Karl Gabriel: Die religiösen Grundlagen der europäischen Wohlfahrtsstaaten

27

Warum (nicht) Bevölkerungspolitik? Prof. Dr. Joachim Wiemeyer: Zur ethischen Legitimation von Bevölkerungspolitik

39

Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier: Wie wirkt Familienpolitik? Was lehren uns internationale, regionale und lokale Vergleiche?

54

Festvortrag Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer: Ressourcen einer orthodoxen Sozialethik. Anfrage an Ost und West

68

Vorwort – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

4

Vorwort Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier Franz-Xaver Kaufmann, Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, ist im August 2007 fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Ihm zu Ehren haben die Katholisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, deren Ehrendoktor er ist, und die Sektion Sozialpolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die (die Sektion) er mit gegründet hat, im September 2007 im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum ein Festkolloquium veranstaltet, an dem zahlreiche Freunde und Wegbegleiter, Kollegen und Schüler 1 teilgenommen haben. Die Organisation der Veranstaltung lag beim Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung ZEFIR.

„Sozialpolitik und Familie“, so war das Kolloquium überschrieben, und so lautet der Titel dieses Bändchens, in dem die gehaltenen Fachvorträge und der Festvortrag von Bischof Homeyer, der keinen Bezug zu diesem Thema, sehr wohl aber zu Franz-Xaver Kaufmanns religionssoziologischem Werk hat, versammelt sind. "Sozialpolitik und Familie" hieß auch der von Franz Xaver Kaufmann geleitete Arbeitsbereich im Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Bielefelder Universität, das er 1981 gegründet

hat.

Dieses

Institut

war

das

erste

bevölkerungswissenschaftliche

Universitätsinstitut im Nachkriegsdeutschland. Vielleicht brauchte es den Schweizer Kaufmann und seine fachliche Reputation, um das bis dahin tabuisierte Thema "Bevölkerung" auf die akademische Agenda zu bringen. Sein besonderes Verdienst war es, in Überwindung einer allzu engen an bevölkerungsstatistischen Untersuchungen orientierten demographischen Forschung, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Politik wenig beachtet in den statistischen Ämtern quasi "überwintert" hatte, Familie, Bevölkerungsentwicklung

und Sozialpolitik im Konzept einer "anwendungsorientierten

Grundlagenforschung" zusammen zu denken. Damit war seinerzeit bereits ein problemangemessener theoretischer und forschungspraktischer Zugang zu einer Dynamik gesellschaftlicher Prozesse gefunden, deren Komplexität und Interdependenz die Politik in Deutschland erst jetzt Jahrzehnte später zu begreifen begonnen hat.

1

Der maskuline Plural soll in nicht diskriminierender Absicht auch die anwesenden Frauen einschließen

Vorwort – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

5

Die Beiträge (und die Diskussionen) dieses Festkolloquium beschreiben natürlich nicht das Gesamtwerk des Jubilars. Franz Xaver Kaufmanns Werk ist interdisziplinär im Sinne einer integrativen Sozialwissenschaft, die nicht nur Soziologie im engeren Sinne ist. Auch aus diesem Grunde ist die Ruhr-Universität ein guter Ort für diese Veranstaltung gewesen.

Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Adalbert Evers

6

Prof. Dr. Adalbert Evers Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken Einleitung: Eine neue Generation von Sozialpolitiken und ihre Kritik

Die folgenden Überlegungen bauen auf einer Annahme auf, die in diesem Beitrag selbst nicht belegt werden kann. Seit einigen Jahrzehnten bildet sich im Kontext von Globalisierung, neuen technologischen Entwicklungen und tiefgreifenden politischen und kulturellen Brüchen mit veränderten Gesellschaftspolitiken auch so etwas wie eine neue Generation von Sozialpolitiken heraus. Sie unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von denen der „trentes glorieuses“, der mehr oder minder störungsfreien Rekonstruktions-, Konsolidierungs- und Wachstumsphasen, die bis in die Zeit der 80er Jahre hinein reichte. Die Rede von einer „neuen Generation“ zielt auf Gemeinsamkeiten jenseits des Umstands, dass natürlich auch heute liberale, konservative oder sozialdemokratische Parteien Sozialpolitik unterschiedlich akzentuieren. Der Duktus dieser neuen Generation von Sozialpolitiken unterscheidet sich vor allem an zwei Punkten von den Sozialpolitiken der vorangegangenen Generation: 1. Sozialpolitiken sind heute weit weniger, als das noch bei der Nachkriegsgeneration der Fall war, ein abgegrenztes Terrain, in dem vor allem anderen genuin soziale Maximen tonangebend sind – wie z. B. sozialer Schutz, Sicherheit und die Verringerung von Ungleichheiten; heute werden sie sehr viel mehr mit Blick auf ihren Beitrag zu wirtschaftlicher Entwicklung und Modernisierung konstruiert und bewertet. Das ist der Kern des „investive turn“ in der Sozialpolitik, dessen, was international als investive Sozialpolitik, Sozialinvestitionsstaat u. Ä. bezeichnet wird. Oft steht er im Kontext der Suche nach dritten Wegen in der Gesellschaftspolitik. Der hier gewählte Plural ist insoweit gerechtfertigt, als de facto in den meisten europäischen Ländern in der einen oder anderen Weise nach progressiven Antworten jenseits der traditionellen Gegenüberstellung von klassischen Sozialstaatskonzepten und neoliberal geprägten Doktrinen gesucht wird. 2. Ein zweites wesentliches Unterscheidungsmerkmal der neuen Generation von Sozialpolitiken liegt darin, dass sie - insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Rolle in einem Diskurs, der vom Zwang zum Wandel und zur Modernisierung bestimmt ist - im

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Adalbert Evers

7

Unterschied zum „Beruhigungsduktus“ der Nachkriegssozialpolitiken und ihrem lange Zeit eher technischen Charakter wieder eine „starke Sprache“ sprechen. Eine wesentliche Rolle spielen darin Aktivierungskonzepte. Sie formulieren Verhaltensanforderungen in Hinblick auf Lern- und Mobilitätsbereitschaft, Eigenverantwortung und die Unterordnung von Eigen- und Gruppeninteressen unter Gemeinwohlrhetoriken. Die Sensibilisierung für die Dimension von persönlicher Freiheit, Macht und Demokratie und damit auch die Frage, inwieweit Sozialpolitik zu so etwas wie „Wohlfahrtsdemokratie“ (Leibfried 2003) beiträgt, ist deshalb so wichtig, weil es ja in realen Gesellschaftsprojekten und den darin eingebetteten Sozialpolitiken immer um eine bestimmte Beziehung von drei Dimensionen geht - der von wirtschaftlichen, sozialpolitischen und mehr oder minder demokratisch-emanzipatorischen oder autoritären Perspektiven. Das lässt sich an Bismarcks Sozialpolitik ebenso veranschaulichen wie an den historischen Projekten der Sozial-Demokratie oder verschiedenen Phasen US-amerikanischer Gesellschaftspolitik mit so unterschiedlichen Konstellationen wie den heutigen und denen zur Zeit des New Deal. Derartige Veränderungen – unabhängig davon, ob man ihnen nun einen so zentralen Stellenwert zuweist, wie dies gerade geschehen ist – sind nun seit Jahren auch Gegenstand lebhafter Kontroversen. Ich will mich im Folgenden mit drei immer wieder vorgetragenen grundsätzlichen Kritikpunkten beschäftigen, die nicht zufällig im Kontext der englischen Variante einer Suche nach dritten Wegen und damit auch einer Entwicklung neuer Sozialpolitiken entstanden sind. Denn die gesellschaftspolitische Absetzung von der Vergangenheit – welcher praktischen oder ideologischen Provenienz auch immer – ist schließlich im internationalen Vergleich innerhalb der Linken von „New Labour“ besonders markant betrieben worden. Die Kritikpunkte an den entsprechenden neuen Sozialpolitiken lauten, (a) dass sich solche „investiven“ Sozialpolitiken damit zu einer Handlangerin der Wirtschaftspolitik machen und einem „Ökonomismus zum Wohlfühlen“ (Lessenich 2004) huldigen, (b) dass bei der Entgrenzung von Sozialpolitiken in Richtung auf eine Unterstützung wirtschaftlicher Zielsetzungen im Bereich der Wirtschaft und Wirtschaftspolitik selbst die liberale Orthodoxie den Ton angibt und dort eine Öffnung für soziale Fragen ausbleibt, (c)

dass

die

sozialpolitischen

Investitionen

in

Humankapital,

Bildung

und

Sozialkomponenten, die Erziehung zu Rollenmustern des Arbeitskraftunternehmers und Kunden Ausweis eines neuen bevormundenden Paternalismus oder, wie es in der

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Adalbert Evers

Gouvernementalitätsdebatte

heißt,

von

Strategien

8

der

Herstellung

folgebereiter

„Selbstführung“ seien. Meine Absicht bei der Diskussion der gerade genannten drei Kritikpunkte an neuen (bzw. an einer neuen Generation von) Sozialpolitiken ist nun nicht die, als Verstärker oder Antipode dieser Kritik aufzutreten, die Entgrenzung als Ökonomisierung und staatliche „Lebenshilfen“ und Orientierungsvorgaben als spezifische Form der Bevormundung analysieren. Mit Blick auf Protagonisten und Kritiker möchte ich vielmehr herausarbeiten, dass beide, die Politikkonzepte und Einwände, vor dem prägenden Hintergrund des Gegenbildes

eines

wohl

organisierten

Ineinandergreifens

von

Sozial-

und

Wirtschaftspolitik in den „trentes glorieuses“ der Nachkriegszeit verstanden werden müssen. Nach dem Ende dieser Jahrzehnte wirken manche ihrer Denkmuster in den Kategorien fort, mit denen die sozial- und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung heute geführt wird. Gleichzeitig sind auf der Suche nach dritten Wegen mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken auch neue Antwortversuche zur Gestaltung des Verhältnisses von Sozial- und Wirtschaftspolitik und ihres Bezuges zu Fragen von Selbstbestimmung und Demokratie aufgetaucht, die erst eine vergleichsweise kurze Erprobungszeit hinter sich haben. Es sollte also zwischen den Fehlern und Leerstellen neuer Praktiken und Konzepte und den dahinter liegenden Fragen und Suchprozessen unterschieden werden. Anders ausgedrückt: Muss eine Öffnung der Sozialpolitik zu wirtschaftspolitische Zielen unbedingt Ökonomismus bedeuten? Und müssen stark mit Wertansprüchen und Verhaltensforderungen aufgeladene Sozialpolitiken notwendig autoritär sein?

1. Die investive Orientierung neuer Sozialpolitiken: Ökonomismus und Selbstaufgabe?

Jedem aufmerksamen Zeitungsleser kann auffallen, dass in relativ kurzer Zeit die Rede vom „Investieren“ in dieses oder jenes gesellschafts- und sozialpolitische Projekt geradezu zu einem Allgemeinplatz geworden ist. Investiert werden soll in Schulen, neue Arbeitsmarktpolitiken, neue Angebote in der Gesundheitspolitik, zurückgebliebene Stadtteile u. v. a. m. Was investive Sozialpolitik bedeutet, ist von Vertretern verschiedener Varianten dieses Konzepts wie Giddens (1999), aber auch Esping-Andersen (2002), so weit popularisiert worden, dass ich mir hier eine detaillierte Nachzeichnung ersparen kann zu Begriff und Debatte: Ebsen u.. a. 2004 und Rothgang/Preuss in diesem Band). Beiden

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Autoren geht es um Beiträge der Sozialpolitik zu Wachstum und wirtschaftlicher Modernisierung. Das soll erreicht werden, indem sich Sozialpolitik stärker auf Bereiche wie Bildung und Prävention konzentriert, wo ihre Investitionen starke wirtschaftliche Folgeeffekte versprechen. In Hinblick auf ihre Adressaten geht es nun weniger darum, sie besser

zu

versorgen,

Eigenverantwortung

zu

als

vielmehr

befähigen.

darum,

Die

lange

sie

zur

Zeit

Übernahme

dominanten

von

mehr

versorgenden,

umverteilenden und absichernden Elemente der Sozialpolitik sollen demgegenüber zurücktreten. Paradigmatisches Anwendungsfeld für die Forderung nach einer investiven Orientierung

ist

bei

Giddens

vor

allem

die

Suche

nach

neuen

Wegen

der

Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, bei Esping-Andersen eine kinderzentrierte Investitionspolitik, deren Erträge sich in der demographischen Entwicklung und besseren Nutzung des Humankapitals von Frauen aus Familien bemerkbar machen sollen. Giddens selbst bezieht sich übrigens genau an diesem Punkt positiv auf Esping-Andersen, der trotz seiner früheren Kritik bereits seit einiger Zeit an Konferenzen und Veröffentlichungen zum Thema „Suche nach Dritten Wegen“ mitarbeitet. Dass investive Sozialpolitik wirtschaftliche Ziele, wie eine bestmögliche Nutzung von Humankapital am Arbeitsmarkt, Vorleistungen für die Qualifizierung zukünftiger „citizen worker“ (Lister 2003) u. Ä. verfolgt, wird von einigen Protagonisten und in vielen einschlägigen Dokumenten offen erklärt. Ein besonders anschauliches Beispiel bilden hier in Deutschland die regelmäßigen Pressemitteilungen des Familienministeriums, wo etwa so formuliert wird: „Eine gezielte Familienpolitik ist ein bedeutsamer Wachstumstreiber für die deutsche Volkswirtschaft. Durch familienpolitische Maßnahmen kann es gelingen, die Wertschöpfung in den nächsten Jahrzehnten spürbar zu steigern. Bis zum Jahr 2050 ist eine familienpolitische Wachstumsdividende von de facto 25 Prozentpunkten zu erwarten“ (BMFSFJ Pressemitt. 118/2006). Andere wiederum machen genau diese „gezielte“ Orientierung zum Gegenstand der Kritik (vgl. Ostner 2004 und in diesem Band).

1.1 Sozialpolitik die sich wirtschaftlich auszahlt – im Prinzip nichts Neues

Tatsächlich ist eine derartige Indienstnahme von Sozial- und Familien- für WirtschaftsWachstums- und Bevölkerungspolitik nur „neu“, wenn man sie vor dem Hintergrund der Nachkriegsprosperität betrachtet. Eine Trennung von der Wirtschaftspolitik fand sich zu dieser Zeit in zwei recht verschiedenen Varianten.

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In einigen Ländern, wie z. B. Deutschland, handelte es sich um so etwas wie eine entspannte Komplementarität mit der Wirtschaftspolitik, im Rahmen derer jede der beiden Seiten sich um das „Ihre“ kümmerte .Damals verlief Wirtschaftsentwicklung so glatt, dass eine Zielsetzung wie z. B. die des Kindergeldes oder der „Bildung für alle“ fast ausschließlich als sozialpolitische Forderung, als unmittelbare Lebenserleichterung und Gratifikation ohne direkten wirtschaftspolitischen Hintersinn gedeutet werden konnte. Eine weitgehende

Autonomie

von

Sozialpolitik

und

die

Zurückweisung

einer

wirtschaftspolitischen Indienstnahme waren zu dieser Zeit auch möglich, weil wirtschaftlich kontraproduktive

Effekte

wie

z.

B.

steigende

Lohnnebenkosten

oder

„Hängemattenmentalität“ kein drängendes Problem waren. Wenn es schon um den wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik ging (dazu: Vobruba 1989; Bulmer u. a. 1989), dann eher um indirekte Stabilisierungseffekte einer Politik der sozialen Sicherung wie etwa Loyalität, Zufriedenheit, Belohnung von Leistungsorientierung. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Systemkonkurrenz mit den sozialistischen Ländern einen politischen Kontext darstellte, der ganz anders geartet war als die heutige Situation, in der es zur Marktwirtschaft keine Alternative gibt. In Deutschland konnte sich der mainstream weitgehend getrennter sozial- und wirtschaftspolitischer Diskurse unter dem Dach einer soziale-Marktwirtschaft-Rhetorik zusammenfinden. In anderen Ländern war die zuvor angesprochene

entspannte

Komplementarität

auch

deshalb

möglich,

weil

Wirtschaftspolitik selbst - wo sie keynesianisch inspiriert war - als positives Komplement zur Sozialpolitik gedacht werden konnte. Die prosperierende Nachkriegsentwicklung entlastete aber nicht nur eine weitgehend gesellschaftsimmanent

gedachte

Sozialpolitik

von

unmittelbaren

wirtschaftlichen

Nutzenerwägungen. Sie ermöglichte auch antikapitalistisch Orientierten, im Kapitalismus (Sozial)Politik zu machen und sich gleichzeitig von wirtschaftlichen Überlegungen zu distanzieren. Nur in einem Umfeld relativer Prosperität konnte zum Beispiel in England Titmuss Sozialpolitik definieren, „as a major integrated institution in society, providing universalist services outside the market on the principle of need“ (1974, 31) Die Forderung nach Distanz zum Wirtschaftlichen war für Titmuss doppelt begründet. Zum einen ergab sie sich aus einem analytischen Ansatz, der marktwirtschaftliche Maximen als kapitalistische verstand – also als den humanen Zielsetzungen von Sozialpolitik äußerliche und für sie bedrohliche. Zum anderen geschah sie vor dem Hintergrund seiner Kritik an der

untergeordneten

Rolle

von

Sozialpolitik

im

Rahmen

der

sowjetischen

Wirtschaftsplanung. Seine Konzentration auf eine separate Sozialpolitik, die sich allein an

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„needs“ und der Beseitigung jener „diswelfares“ orientieren sollte, die kapitalistisches Wachstum erzeugen hatte als gleichermaßen mit einem Misstrauen gegenüber dem Marktkapitalismus und gegenüber einer entfesselten ökonomischen Logik zu tun. Geht man in der Geschichte der Sozialpolitik allerdings weiter zurück, so weiß man, dass die explizite und gezielte Verfolgung wirtschaftlicher Ziele mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen vielfach zu finden war – nicht nur bei den Konzepten beruflicher Bildung aus der deutschen Kaiserzeit, sondern auch beim Ausbau der Betreuungsdienste für Kinder und Alte in Schweden im Kontext der Suche nach nutzbarer weiblicher Arbeitskraft oder im Kontext der Entwicklung familienpolitischer Leistungen eines sich demographisch bedroht sehenden Frankreichs (zur deutschen Historie: Mätzke in diesem Band). Schon Eduard Heimann kannte Sozialpolitik als „Produktionspolitik“ (1929, 125) – allerdings wollte er sie zugunsten weiter gesteckter gesellschaftspolitischer Ziele überwunden sehen. Was lässt sich daraus folgern? Zunächst einmal ist festzustellen, dass eine produktivistische Orientierung in der Sozialpolitik nicht so neu ist, wie ihre Erfinder meinen. Aber auch die Forderung, dass Sozialpolitik sich ihr verweigern sollte, entstammt bestimmten historischen und ideologischen Kontexten. Die Zurückweisung eines umfassenden Ökonomismus und Produktivismus ist dabei allerdings eine Sache, die antikapitalistische Aufrüstung der Forderung nach Autonomie der Sozialpolitik eine andere.

Akzeptiert

man

das

Konzept

Marktwirtschaft,

dann

heißt

das,

dass

produktivistische Orientierungen durchaus einen Teil sozialpolitischer Zielsetzungen ausmachen können und entsprechende Tendenzen durchaus nicht so verwerflich sein müssen, wie manche Kritiker das glauben machen wollen. Komplexere Entwicklungsvorstellungen, die begreifen, wie wichtig Sozialausgaben für nationale Prosperität und „Wettbewerbsstaaten“ (Heinze / Schmid / Strünck 1999) sind, bieten für Sozialpolitik durchaus Vorteile. ist, Sie erfährt hier im Vergleich zu neoliberalen Konzepten, aber auch zu allein Zielen der Wohlfahrtsmehrung verpflichteten Konzeptionen von Sozialpolitik eine enorme Aufwertung. Man merkt der bundesdeutschen Familienpolitik an, wie sehr sie versucht, diese Karte zu spielen; profitieren können von investiven Orientierungen

aber

auch

Schul-

und

Stadtteilpolitiken

und

alle

Politiken

für

Bevölkerungsgruppen, bei denen sich “Aktivpotentiale“ mit auch wirtschaftlich positiven Effekten vermuten lassen. Der Nachteil besteht in entsprechenden Verschiebungen von Rationalitäten, Aktivitätsschwerpunkten und Leistungsstrukturen. Besonders bemerkbar machen wird sich dies vor allem dort, wo Sozialausgaben nicht zugleich sozial und wirtschaftlich positiv wirken, wie etwa bei Investitionen in eine weitere Entwicklung von

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Angeboten zur Hilfe und Pflege im Alter oder von Verwahrlosung bedrohten städtischen Nachbarschaften. Wird es hier möglich sein, den Begriff der Investition von der Frage nach wirtschaftlichen Effekten zu lösen und ihn auch im Sinne der Verfolgung neuer Strategien zur Stärkung sozialen Zusammenhalts fruchtbar zu machen, wie es z. B. Jenson und Saint Martin (2003) fordern?

1.2 Produktivistische und investive versus soziale und schutzbezogene Orientierungen – welche Balancen?

Die Frage, um die sich zu streiten lohnt – theoretisch wie politisch - ist also nicht die um das

Ob

des

Zulassens

investiver

Orientierungen,

sondern

welches

Gewicht

produktivistische relativ zu sozialen Orientierungen und Kriterien wie Gleichheit, Sicherheit und Lebensqualität haben sollen. Sei es nun Einkommensungleichheit, Randständigkeit und Kriminalität im Zusammenhang sozialer Auflösungsprozesse, Arbeitsstress, Urlaub o. a. m. – fast alle sozialpolitischen Fragen und Aufgabenfelder haben auch eine wirtschaftliche Dimension und beeinflussen somit die Position des bundesdeutschen „Wettbewerbsstaats“. An aktuellen Diskussionen wie etwa denen um PISA und Schule kann man sehen, wie es um das relative Gewicht wirtschaftlicher (Kinder als zukünftiges „Humankapital“, Förderung von Leistung und Begabung) und sozialer Argumente (wie weit sollen Bildungsreformen auch mehr Chancengleichheit schaffen?) steht. Die Balance zwischen sozialen Garantien und Maßnahmen, die auch wirtschaftlich eine Dividende abwerfen und sozialem Schutz und Autonomiesicherung als eigenständigem Ziel wird auch auf anderen Gebieten – etwa der Bekämpfung der Kinderarmut – kontrovers sein. Was vermögen sozialpolitische Angebote wie mehr und bessere Gelegenheitsstrukturen (etwa durch spezielle Bildungs- und Beratungsangebote, gezielt eingesetzt in bestimmten Gebieten und Milieus), wenn Sozialpolitik nicht gleichzeitig auch der Prekarisierung und zunehmenden sozialen Ungleichheiten entgegenarbeitet? Mit einer neuen Generation stärker investiv orientierter Sozialpolitiken, die anerkennen, dass sie in gewissem Grad selbst

auch

Wirtschaftspolitiken

sind,

entstehen

also

vor

allem

zwei

interne

Spannungsfelder: es geht zum einen um das Gewicht erwünschter wirtschaftspolitischer Effekte in der Sozialpolitik und zum anderen um die Frage, welche Bedeutung Investitionen in bestimmte Fertigkeiten und Kompetenzen gegenüber versorgenden und schützend-sozialen Orientierungen haben sollen. Spannungen entstehen

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Adalbert Evers



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zwischen produktivistischen Zielsetzungen und Bewertungen (was tragen sie bei zu wirtschaftlichem Wachstum?) und eigenständigen sozialen wie auch demokratischen Zielsetzungen

(inwieweit

fördern

sie

soziale

Integration,

Lebensqualität

und

Bürgerkompetenz?); •

zwischen Orientierung an äußerer Sicherheit, dem Schutz der Schwachen einerseits und

der

Entwicklung

leistungsorientierter

Chancenstrukturen

und

Angebote

andererseits, also der Förderung der Aufstiegswilligen und in vieler Hinsicht bereits starken Gruppen; •

zwischen einer Orientierung an den Bedürfnissen der unmittelbaren Adressaten (z. B. Kinder und Familien) und der an den Interessen weiterer Gruppen und Stakeholder aus Wirtschaft und Gesellschaft (Arbeitgeber, Sozialkassen);



zwischen der Orientierung an zukünftigen Erträgen und der Verpflichtung, hier und jetzt Abhilfe zu schaffen (wie sehr orientiert sich Politik für Kinder an ihren Bedürfnissen als Kinder und wie sehr lediglich an der Entwicklung ihrer Potentiale als zukünftiger Leistungsträger? (siehe dazu auch Olk, in diesem Band).

Es ist in diesem Zusammenhang übrigens interessant, dass Giddens sich vom Konzept des „enabling state“ verabschiedet hat, weil es, wie er argumentiert, suggerieren könnte, dass nach vorübergehender staatlicher Unterstützung die Bürger gemeinhin – wie im liberalen Konzept – für sich selbst sorgen können. Er proklamiert nunmehr den „ensuring state“ (2003, 13f.), den „gewährleistenden“ oder „vorsorgenden“ Staat, in dem grundsätzlich beide Komponenten der Sozialpolitik aufgehoben sein sollen, die leistungsund nutzenorientierte Investition in die Aktivitätsbereiten und der bedarfsorientierte Schutz der Schwachen. Alles in allem: Nach dem Zeitalter einer scheinbar autonomen und umverteilenden Sozialpolitik

kehrt

heute,

unter

anderen

Bedingungen,

mit

investiv

orientierten

Sozialpolitiken eine alte Frage in neuer Form zurück: Wie hoch muss oder sollte unter gegebenen Rahmenbedingungen das Ausmaß produktivistischer, wirtschaftsbezogener Orientierungen in der Sozialpolitik sein?

2. Dritte Wege: nur in der Sozial-, aber nicht in der Wirtschaftspolitik?

Vor einigen Jahren hat Gösta Esping-Andersen von der „Vagheit“ dritter Wege gesprochen und davon, dass eines ihrer Bestandteile „das enthusiastische – viele sagen: naive – Lob

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des Marktes“ (Esping-Andersen 2004, 193) sei. Tatsächlich kann man kritisch feststellen, dass das eigentliche Feld von Innovationen speziell in der englischen Politik die Gesellschafts-, Demokratie- und Sozialpolitik gewesen ist, kaum aber das der Auffassungen von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Giddens selbst hat angemerkt (2003, 10), dass die Selbstglorifizierung der Wirtschaftshelden der 90er Jahre auch in den Diskussionen über dritte Wege ihre Spuren hinterlassen hat. Blickt man quer durch die europäischen Staaten so lassen sich Unterschiede in den Sozialpolitiken und Unterbereichen wie der Arbeitsmarktpolitik, der Alterssicherung u. Ä. relativ schnell feststellen. In der Wirtschaftspolitik muss man aber schon die erste Phase der Regierungspolitik Mitterands bemühen, um eine dezidiert andere (keynesianisch geprägte und nachfrageorientierte) Wirtschaftspolitik (und deren Misserfolg) festmachen zu können. Öffnung der Sozialpolitik zu einer Wirtschaftspolitik, die ihrerseits kaum mehr von sozialen, wirtschaftlichen Effizienzfragen übersteigenden Zielen angeleitet ist, wäre aber fatal. Ohne die Formulierung wirksamer sozialer Anliegen in der Wirtschaftspolitik wäre sie nichts anderes als ein um sich greifender Ökonomismus der Sozialpolitik. Einmal mehr lohnt es sich, einen derartigen Befund auf der Folie der Nachkriegsjahrzehnte zu diskutieren.

2.1 Wirtschaftspolitik im Rückblick – das Verblassen sozialpolitischer Elemente und Rahmungen

Auf der einen Seite kann man dann nachzeichnen, wie die damalige von gesellschaftsund sozialpolitischen Errungenschaften und Regulierungen regelrecht „durchdrungene“ Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten tatsächlich wieder mehr nur „reine“ Wirtschaft geworden ist und wie „äußere“ Zwänge der Globalisierung, aber auch nationale Politiken und nicht zuletzt die Politik der Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums durch die EU dabei nachgeholfen haben. Die entsprechenden Stichworte lauten: Flexibilisierung der Arbeitsmärkte,

schwindender

Einfluss

der

Gewerkschaften

auf

die

primäre

Einkommensverteilung und der Betriebsräte auf die Arbeitsverhältnisse, drastische Verringerung der sozialen Integrationswirkungen von nunmehr segmentierten Arbeits- und Konsummärkten, „shareholder value“ und Amerikanisierung des Leitungsstils von Unternehmen. Die heutigen Prosperitätsmodelle von Wirtschaft und der Wandel der letzten Jahre haben mehr soziale Integrationsprobleme aufgeworfen als gelöst und auch von dorther Sozialpolitik unter wachsenden Stress gesetzt. Während ihre Mittel sinken, steigt der Umfang an Externalitäten, die das Wirtschaftssystem ihr zuspielt. Mit Blick auf

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die Bundesrepublik und die dortigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen steht damit das Leitbild einer „sozialen Marktwirtschaft“ zur Disposition. Diejenigen die es konzipierten, hatten diese Wortverbindung damit zu begründen versucht, dass es gelte, immer wieder auf einen Kompromiss zwischen Effizienz- und Verteilungszielen hinzuarbeiten. Das bedeutete auch, in der Wirtschaftspolitik selbst sozialpolitische Ziele zu beachten oder geltend zu machen. Tatsächlich ist das Konzept des Keynesianismus ja nicht nur ein anderer wirtschaftspolitischer Handlungsmodus, sondern auch eine bestimmtere Art der Berücksichtigung gesellschafts- und sozialpolitischer Integrationsziele in der Wirtschaftspolitik selbst Wo kann aber in den Wirtschaftspolitiken der heutigen EUStaaten noch ein derartiges soziales Element ausgemacht werden? Der Bedeutungsverlust sozialpolitischer Zielsetzungen oder auch nur Selbstbegrenzungen in der Wirtschaftspolitik ist allerdings nicht einfach eine historisch kontingente politische Entscheidung. Er muss auch als Ergebnis einer Unterminierung herkömmlicher wirtschaftspolitischer Konzepte durch die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen selbst verstanden werden. Viele der Institutionen und Konzepte einer sozial- und demokratiepolitischen Regulierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten der ersten Nachkriegsjahrzehnte greifen nicht mehr und sie werden weithin auch nicht mehr als Modelle mit Zukunft gehandelt. Man denke hier nicht allein an die einzelstaatliche keynesianistisch inspirierte „Globalsteuerung“ sondern etwa auch an schwedische und englische Konzepte einer durch den Staat oder die Gewerkschaften als Anteilseigner mitbestimmten „gemischten Wirtschaft“, die Einhegung des „Profitprinzips“ durch die Koexistenz öffentlicher, privater und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen, klassische Normalarbeitskonzepte oder Mitbestimmungsmodelle. Fehlende sozial orientierte Konzepte in der Regulation der Wirtschaft bei denen, die (ob nun in Schweden, England, Spanien, Deutschland oder anderenorts) nach dritten Wegen suchen, sind also real. Aber sie können nicht einfach zur Frage schuldhafter Versäumnisse gemacht werden, sondern spiegeln weit eher die verbreitete Unsicherheit darüber, wie man unter heutigen Bedingungen den Tiger der wirtschaftlichen Entwicklung wieder reiten kann, statt nur von ihm mitgeschleift zu werden. Neue Konzepte jenseits des herkömmlichen Dualismus von weithin diskreditierten Regulierungskonzepten auf der einen und neoliberal geprägten Ansätzen auf der anderen Seite sind rar.

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2.2 Neue Einbettungschancen? - Sozialpolitische Aufgaben der Wirtschaftspolitik

Eine Debatte über neue Denkansätze und Möglichkeiten zum Geltendmachen sozialpolitischer Dimensionen in der Wirtschaftspolitik muss also ganz grundsätzlich am Verhältnis zwischen Gesellschaft, Politik und Markt ansetzen. Hier hat z. B. Czada in einem bemerkenswerten Beitrag das Problem als Frage der „sozialen Entbettung der Marktökonomie“ (2004, 26) gefasst und in einem kursorischen Rückblick, der von Polanyi über die Vertreter der deutschen historischen Schule der Wirtschaftswissenschaften bis zu den Theoretikern der sozialen Marktwirtschaft reicht, argumentiert, dass „Entbettung“ und „Einbettung“ Stichworte sind, die auch auf markante Unterschiede zwischen theoretischen Wirtschaftskonzepten und daran orientierten Wirtschaftspolitiken verweisen. Während Gesellschaft und Politik dabei für die Einen lediglich äußere Stabilitätsgaranten sind, verstehen Andere sie weit mehr als (potentielle) Gestalt gebende Faktoren. Nicht zufällig hat nun auch Anthony Giddens in dem bereits zitierten Beitrag (2003) nach einer Selbstkritik

der

Leerstellen

bisheriger

dritter

Wege

in

Sachen

Wirtschaft

und

Wirtschaftspolitik vorgeschlagen, analytisch mit Granovetter (1992) vom Befund der „embedded economy“ und massiver Prozesse der „disembeddedness“ auszugehen. Er verlangt sich zu fragen, welche neuen Einbettungschancen es heute gibt, wenn ältere, wie die Macht der Gewerkschaften oder staatlicher Planung, in Frage stehen. Diese Suche stellt er unter die Überschrift des Ziels einer „civic economy“. Eine wesentliche Bedeutung dieses Begriffs liegt nun aber darin, dass mit ihm die Suchrichtung

nicht

sogleich

auf

Fragen

nach

bestimmten

staatlichen

(Regulierungs)Politiken eingeschränkt wird, sondern auch mit in den Blick gerät, welche gesellschaftlichen (sozialkulturell und politisch artikulierten) Kritikelemente Widerstände und Wegweiser gegenüber einer „entbetteten“ Ökonomie geltend gemacht werden könnten, so dass wirtschaftliche Fragen und Entwicklungen anders und eventuell auch wieder stärker „eingebettet“ werden und so, dass mit Politisierungsprozessen auch regulative staatliche Politik neue Chancen erhält. Man denke sich etwa, was ein Bewusstsein von Klimawandel auf diesen beiden Ebenen von Zivilgesellschaft und Staat für Wirtschaft und Wirtschaften bedeuten könnte. Tatsächlich lässt sich hier ja eine umfangreiche Liste aufmachen. Sie reicht von ökologischen Fragen über die vielfältige Kritik an seitens der Wirtschaft propagierenden Lebens-, Konsum- oder Ernährungsstilen, Auseinandersetzungen um soziale Vereinbarungen, Regelungen von Produktqualitäten bis zur demokratisch inspirierten Kritik an oligarchischen Strukturen und Hierarchien in

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Konzernen und Finanzorganisationen. Das all dies nicht politikfernes Wunschdenken sein muss lässt sich auch damit belegen, dass im deutschen Arbeitsministerium derzeit an einer

Initiative

gearbeitet

wird,

die

„corporate

social

responsibility“

von

einer

unverbindlichen vagen Präambel in Richtung auf verbindlichere und detaillierte (Selbst)Verpflichtungen von Unternehmen weiterentwickeln möchte. Konkrete Praktiken von Unternehmen in Hinblick auf Fragen wie die von Familie und Beruf, Weiterbildung der Beschäftigten, Ökologie, Verbraucherschutz u. a. m. sollen zu konkreten Absprachen mit Unternehmensgruppen und -branchen weiter entwickelt werden. Ob das die Form einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft oder die eines formellen Gesetzes finden soll ist noch offen. (SZ, 3. 5. 2007). Alles in allem scheint Wirtschaftspolitik heute weniger als zuvor durch die Anliegen der Gewerkschaften und ihre Kritik im Namen der „arbeitenden Menschen“, aber dafür mehr als bisher durch Medienöffentlichkeiten und die artikulierten Bedürfnisse und Proteste der „consumer-citizen“ (Clarke u .a. 2007; Lamla in diesem Band und 2005;) beeinflussbar zu sein. Die Chancen zu staatlich-regulativen Verpflichtungen der Wirtschaft müssen in einen Zusammenhang gesetzt werden mit der Frage nach der möglichen

Geltungskraft

solcher

weniger

formalisierter

Verpflichtungen

wie

sie

Zivilgesellschaft, Medienöffentlichkeit und Konsumgesellschaft herzustellen in der Lage sind. Mit Blick auf die Aufgabe der “Wiedereinbettung“ und „Zivilisierung“ wirtschaftlicher Entwicklungen plädiert auch Giddens vor allem für eine stärkere Rolle demokratischer Öffentlichkeit und der Bürger als Konsumenten. Corporate social responsibility, ökologische und soziale Vereinbarungen, Regelungen zu Produktqualitäten, mehr Verantwortlichkeit, Transparenz und demokratischere Strukturen in Konzernen und Finanzorganisationen, das sind hier die Stichworte (2003, 7f.). All das ist reichlich vage. Aber es zeigt zumindest eine strategische Richtung auf, wenn man bei der Frage nach der Neuverankerung

gesellschafts-

und

sozialpolitischer

Zielsetzungen

in

den

Wirtschaftspolitiken selbst aus der herkömmlichen sofortigen Verengung auf Aufgaben der staatlichen Politik oder den altbekannten Streit zwischen Angebotstheoretikern und Keynesianern hinauskommen will. Kurzum: Nach dem Ende eines ganzen Zeitalters funktionierender sozialer Einhegungen wirtschaftlicher Institutionen und Dynamiken geraten nicht nur die Auffangmechanismen der Sozialpolitik, soziale Sicherung, Sozial- und Arbeitslosenhilfe unter wachsenden Druck. Es stellt sich auch die Frage danach, wo neue realistische Ansatzpunkte zur Zivilisierung wirtschaftlicher Dynamiken und Verankerung sozialer Zielsetzungen in Wirtschaftspolitiken

liegen

könnten.

Vieles

spricht

dafür,

dass

Sozial-

und

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18

Demokratiepolitik hier in neuen Formen gefragt ist, die heute zumeist unter Konsumentenschutz, Fragen der corporate citizenship von Unternehmen u. Ä. firmieren. Und möglicherweise hat eine so lange auf die worker-citizen konzentrierte Sozial- und Wirtschaftspolitik heute bei den consumer-citizens eine zweite Chance.

3. Eine neue Generation von Sozialpolitiken - Promotoren fragwürdiger Bevormundungs- und Erziehungsansprüche?

Neben der Kritik an der investiven Orientierung von Sozialpolitik und der Kritik, dass die Entgrenzung

gegenüber

einer

rein

ökonomisch

definierten

Wirtschaftspolitik

Ökonomismus bedeutet, gibt es einen dritten zentralen Vorwurf an die neue Generation von Sozialpolitiken. Verbunden mit Attributen des Förderns und Forderns oder dem nicht nur in England, sondern auch in Skandinavien populären Slogan „no rights without responsibilities“ ist für sie kennzeichnend, dass hier soziale Leistungen mit bestimmten Verhaltensanforderungen verbunden werden. Soziale Rechte werden konditional und soziale Programme sollen ihre Adressaten in Hinblick auf bestimmte Anforderungen konditionieren (Dahme u. a. 2003). Vor allem auf den letzten Punkt konzentriert sich auch in

Deutschland

eine

Denkschule,

die,

vor

allem

auf

Foucault

zurückgehend,

Gouvernementalität als eine Form und einen Prozess der Politik beschreibt, die bei ihren Adressaten auf die Verinnerlichung entsprechender Maximen, eine „Selbstführung“ zielt (Kahl 2004) bei der speziell Sozialpolitiken und Politiken der sozialen Arbeit eine wichtige Rolle zukommt (Kessl 2006). Claus Offe (1982) hat hier einmal von der Herstellung „aufgeklärter Folgebereitschaft“ gesprochen. Welche Position man immer gegenüber derartigen Theoriekonzepten beziehen mag – es gibt eine Fülle empirischer Phänomene, die veranschaulichen, dass staatliche Politiken heute in hohem Maße zu bestimmten Lebens-, Arbeits- und Konsumformen anzuleiten versuchen, Leistungen von erwünschten Verhaltensweisen abhängig machen und damit so etwas wie Erziehungsgewalt beanspruchen. Nicht nur in England, sondern auch in Skandinavien, nicht nur bei der Arbeitsmarkt- und Familien-, sondern auch bei der Gesundheits- und Rentenpolitik gehen neue Sozialpolitiken mit starken Leitsätzen einher, die den Bürgern Verpflichtungen vorhalten, zur Arbeitsorientierung, Übernahme von mehr Mitverantwortung und einem versierteren Konsumentenverhalten erziehen wollen. In Deutschland hat sich vor allem in der Auseinandersetzung um Hartz IV eine Praxis des Umgangs mit den Betroffenen auskristallisiert,

bei

dem

diese

im

Rahmen

von

Fallmanagement

und

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Eingliederungsplänen

auf

ganz

bestimmte

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Verhaltensoptionen,

Situations-

und

Selbstinterpretationen hin konditioniert werden sollen (vgl. den Beitrag von LudwigMayerhofer, Behrend und Sondermann in diesem Band); in ähnliche Richtung verweisen aber auch viele andere Beispiele – im Bereich des Arbeitslebens der Diskurs über „aktives Altern“ und die Notwendigkeit, auch im eigenen Interesse länger (verpflichtend bis 67) im Berufsleben aktiv zu bleiben; im Bereich der Gesundheit wird ausverhandelt, wie Gesundheitserziehung Selbstbehandlung

und

und

die

Teilnahme

Selbstkontrolle

an

mit

entsprechenden Ab-

oder

Maßnahmen

Zuschlägen

bei

der den

Krankenversicherungsbeiträgen gekoppelt werden und wie Richtlinien aussehen sollen, die

Eltern

zu

Früherkennungsuntersuchungen

bei

ihren

Kindern

verpflichten.

Befürchtungen vor einer Politik, die ihre Leistungen ganz ausdrücklich mit bestimmten Verhaltenserwartungen und -empfehlungen verbindet oder doch zumindest auf bestimmte erwartbare und präferierte Lebensmodelle hin zuschneidet, wird dabei nicht nur auf liberaler und linker, sondern auch auf konservativer Seite laut – z. B. die an einer Familienpolitik, wo ein bestimmtes Konzept von Familienleben, das der doppelten Berufstätigkeit,

zur

alleinigen

Richtschnur

für

die

Reform

von

Familien-,

Sozialversicherungs- und Dienstleistungspolitiken gemacht wird. Zwar ist dabei die Rede von der „Herstellung von Wahlfreiheit“, aber die verbalen und regulativen Signale präferieren eindeutig ein Lebens- und Familienmodell (vgl. dazu auch die Beiträge von Ostner und Leitner in diesem Band). Man könnte diese Beobachtungen noch ergänzen um all jene Tendenzen, staatlicherseits auch kollektive Mitarbeitsbereitschaft zu stärken. Inwieweit mit Geldern für lokale Gemeinwesenarbeit und Vereinsförderung in Programmen der sozialen Stadt, mit der Finanzierung von lokalen Bündnissen für Familien oder Anlaufstellen für Freiwilligendienste von Bürgern jeden Alters vor allem Eigeninitiativen der Zivilgesellschaft gefördert oder vor allem Kooperationsbereitschaft für staatlicherseits beschlossenes, angeleitetes und betreutes Handeln geschaffen werden soll, darüber lässt sich trefflich streiten. Jedenfalls lohnt es sich, neue Formen der „good governance“, ministeriell

inszenierte

bürgergesellschaftliche

Veranstaltungen,

auch

unter

dem

Gesichtspunkt zu analysieren inwieweit damit nicht staatliche Vormundschaft reorganisiert oder gar gestärkt statt zivilisiert wird (Evers 2006).

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Adalbert Evers

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3.1 Von Politiken der sozialen Sicherung zu Politiken der Aktivierung. Beschleunigter Wandel und die Notwendigkeit, neue Bewältigungsformen zu lernen

Auch an diesem Punkt fällt neues Licht auf die Debatte, wenn man sie vor dem Hintergrund der prägenden Kraft der Nachkriegsjahrzehnte begreift, in der es – trotz der Diskussion zur „formierten Gesellschaft“ - eine mit der heutigen Situation vergleichbare enge Bindung von Debatten über Lebensmodelle und Sozialpolitiken, Rechte und Pflichten, nicht gab. Allerdings war der „Liberalismus“ der herkömmlichen Sozialpolitiken jener Zeit leicht zu haben. Tatsächlich konnten hier speziell in Deutschland ja bestimmte wachstums- und integrationsförderliche Dispositionen der Arbeiter, Bürger, Männer und Frauen vorausgesetzt werden: Wille zum sozialen Aufstieg, Disziplin u. a. m. Es gab in der durch Traditionen formierten Gesellschaft der damaligen BRD vielleicht mehr Armut, aber weniger Verwahrlosung und Desorientiertheit, aber auch weniger Fragmentierung von Lebensmustern

und

-orientierungen.

Von

Sozialhilfe

wurde

ganz

ohne

alle

moralisierenden und erzieherischen Maßnahmen und Slogans nur wenig und verschämt Gebrauch gemacht. Außerdem hatten sich die sozialpolitischen Regelungen und impliziten Lebenslaufkonzepte der damaligen Sozialpolitik über Jahrzehnte mit den realen Lebenserwartungen und Biographieentwürfen der meisten Menschen abgeglichen. Man bekam nach dem Arbeitsleben den Ruhestand, den man erwartete. In all diesen Punkten sieht für Politik, speziell auch für Sozialpolitik und demokratische Integration, die Situation heute jedoch anders aus. Man muss auf neue biographische Modelle hin orientieren, wenn man z. B. auf ein längeres Arbeitsleben und kontinuierliche Bildung setzt, ohne dass sich das schon mit dem Möglichkeits- und Erwartungshorizont der Adressaten deckt. Es gilt deutlich zu machen, was in einer Großstadt mit verschiedenen Subkulturen die Regeln des Zusammenlebens sein sollen. Und man muss mit der Kluft zwischen einer staatlichen Politik zurechtkommen, die mehr denn je auf den zentralen Stellenwert von Erwerbsarbeit für Teilhabechancen setzt, während gleichzeitig ein erheblicher Teil der Bevölkerung diese Verbindung für sich nicht mehr lebenspraktisch einlösen kann. Wie sollte angesichts all dessen Sozialpolitik in Hinblick auf ihre Werte stumm sein, sich in Hinblick auf Lebens-, Arbeits-, Konsum- und Familienmodelle abstinent verhalten? Giddens hatte auch hier wohl früh einen wichtigen Punkt getroffen, als er für die Sozialpolitik Konzepte einer „positiven Wohlfahrt“ (1997, 243f.) forderte, die also z. B. in Hinblick auf Alter nicht nur vor Verarmungsrisiken schützen, sondern im Rahmen einer

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Debatte um eine neue Konzeption „aktiven Alterns“ Handlungs- und Zugangschancen entwerfen und institutionalisieren sollen. Es gibt also in einer Zeit massiver Umbrüche gute Gründe für oder gar keine Alternative zu Sozialpolitiken, die auf bestimmte Arbeits- und Lebensmuster setzen, sie zu unterstützen und bekräftigen beabsichtigen. Und man sollte daran erinnern, dass in Zeiten ähnlich drastischer Umbrüche zu Beginn von Markt-, Industriegesellschaft

und

Sozialstaat

auch

der

Sozialpolitik

moralisierende

und

erzieherische Dimensionen alles andere als fremd waren – nicht nur bei der staatlichen Erziehung zu Arbeitsamkeit und Sauberkeit, sondern auch im Rahmen des „making“ einer working class, die Thompson (1968) als einen großen Selbsterziehungsprozess beschrieben hat – ohne zu verheimlichen, in welch erheblichem Maße „bürgerliche“ Vorbilder darin eingingen. Viele andere Beispiele ließen sich hinzu addieren – etwa die lange

Tradition

der

Hygienebewegungen

und

Gesundheitserziehung

in

der

Gesundheitspolitik. Mit anderen Worten: Bei aller Kritik am Staat als Erzieher gilt es doch, die dahinter stehende Herausforderung anzuerkennen, dass es heute im Unterschied zu Jahrzehnten zuvor um die Findung neuer biographischer Orientierungen, veränderter Formen des Zusammenlebens geht, die nicht nur neue Freiheiten, sondern bisher unbekannte

Risiken

und

Zwänge

beinhalten

und

dass

die

Ausbildung

neuer

Verhaltensmodelle auf dem Weg dorthin nicht ohne eine aktive und aktivierende Rolle staatlicher Institutionen werden laufen können.

3.2 Aktivierende Sozialpolitik: Kann Politik Lernprozesse organisieren, ohne den Staat zum Erzieher zu machen?

Von der Illusion einer gewissermaßen wert- und lebensstilneutralen Sozialpolitik Abstand zu nehmen, heißt damit aber nicht zu sanktionieren, wie heute positive Leitbilder konstruiert und verpflichtend gemacht werden. Wann ist ein bestimmtes Lebens- und Verhaltensmodell tatsächlich ein demokratisch legitimer Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Sozialpolitik der „positiven Wohlfahrt“? Giddens selbst hat eingeräumt, dass immer dann, wenn im Kontext der Forderung „no rights without responsibilities“ der Eindruck entstehen muss, dass die fraglichen Pflichten staatlich gesetzt werden, ein autoritäres Element in Dritte-Weg-Politiken hineinkommt (2004, 16). Dazu passt, dass, wie Newman (2006) festgestellt hat, viele der neuen Partizipationsformen und lokalen Foren, in denen in der englischen Sozialpolitik operiert wird, gleichzeitig als Elemente von „empowerment“

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und als eine neue Form der Ausübung staatlicher Macht durch deren Dezentrierung gelesen werden können. Auf der Suche nach Governanceformen in einer Sozialpolitik, die sich mit positiven Modellen von erstrebten Verhältnissen und Verhaltensweisen verbindet, gleichzeitig aber nicht einfach bevormundend auftreten, sondern demokratische Verständigungsformen und Öffentlichkeiten ermuntern und respektieren will, statt sie nur medial zu manipulieren, gibt es keine leichten Lösungen. Es gibt sie nicht, jene vorgängigen „Verständigungsprozesse in der Zivilgesellschaft“, auf die dann Politik nachrückend bauen könnte. Im Gegenteil: staatliche Politik sollte eine Initiativrolle einnehmen, gleichzeitig aber Leitorientierungen mit den Bürgern selbst erarbeiten, sie sollte bei Lernprozessen vorangehen ohne gleich „erziehen“ zu wollen (dazu auch Lamla und Schwengel in diesem Band). - Man könnte hier z. B. diskutieren, was uns der heutige integrationspolitische Diskurs in der Bundesrepublik und entsprechende jüngste Regierungsinitiativen zum Dialog mit islamischen Gruppen lehren. - Es ist zu fragen inwieweit nicht mit der Konzentration auf individuelle Kompetenzen und Verantwortungen Fragen nach den Möglichkeiten kollektiven Lernens zur bloßen Frage der Reichweite von Medienkampagnen etc. verkommen; tatsächlich lehren aber Politikfelder wie die der Stadtentwicklung oder auch der Schulreform u. a. m., wie wichtig die Lernprozesse und Lernchancen sind, die bei Vereinen, Verbänden lokalen communities und anderen Assoziationsformen der Zivilgesellschaft liegen, wenn es darum

geht,

die

Entwicklung

von

Bewältigungsmöglichkeiten

nicht

auf

Anpassungsstrategien schrumpfen zu lassen (zur Kritik der diesbezüglichen frühen Reduktion staatlicher Aktivierungskonzepte: Evers 2000) - Es wäre auch daran zu erinnern, dass es trotz unbestreitbarer Verbindungen zwischen Rechten und Pflichten nach wie vor bestimmter unbedingter Autonomiegarantien bedarf - solchen der Garantie von Bildungs-, Gesundheits- aber auch Unterhaltsansprüchen, die auch dann gelten sollten, wenn erwartbare Standards und Modelle von Verhalten von den Betroffenen unbeachtet bleiben. - Und

schließlich

sollte

auch

im

Blick

bleiben,

wo

Verhaltensappelle

zu

volkspädagogischen Ersatzhandlungen werden; das ist immer dort der Fall, wo Verhaltensänderungen gefordert werden, die nicht mehr glaubwürdig auch mit Politiken zur Veränderung von Verhältnissen verbunden sind; es lohnt sich, die Kontraste von großen Anforderungen auf Nachweis von Arbeitsbereitschaft und geringer Verfügbarkeit von Jobs unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten; und auch die allgegenwärtiger

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Forderungen nach mehr Eigenverantwortung für soziale Sicherheit haben einen üblen Beigeschmack solange sozialpolitische Maßnahmen zur Schaffung von neuen Sicherheiten auf veränderten Arbeitsmärkten ausbleiben.

Fassen wir zusammen: In Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken einer neuen Generation, die ganz generell ihre Leistungen mit bestimmten Verhaltenserwartungen und Anforderungen verbinden, die sie zu „aktivieren“ versuchen, verbirgt sich ein objektives Dilemma. Sozialund wirtschaftspolitische Maßnahmen sind immer mit bestimmten Annahmen über Lebens- und Gesellschaftskonzepte verbunden; sie werden deshalb auch immer bestimmten Zielgruppen und Lebensstilen näher stehen als anderen und außerdem vor der Aufgabe stehen, zu neuen noch nicht weithin geteilten Rollenverständnissen und Lebenskonzepten

anleiten

zu

müssen.

Sozial-

und

Gesellschaftspolitiken

der

Nachkriegsjahrzehnte mit ihren großen Entsprechungen zwischen gelebten Biographien und in die Politiken eingebauten Annahmen über Rechte und Pflichten hatten dieses Problem sehr viel weniger. Staatlicherseits zu mehr Eigenverantwortung anzuhalten, muss also nicht unbedingt ein Paradox und Ausweis eines neuen Paternalismus (Nullmeier 2005) sein. Es bleibt die schwierige Frage, wie und inwieweit in die heute gängigen Diskurse und Praktiken von Aktivierung und Partizipation, die die laufende rapide Veränderung von Lebens- und Arbeitskonzepten begleiten, mehr demokratische Substanz eingebracht werden kann, so dass sie weniger als bisher als blinder Zwang erfahren werden müssen - auch dort, wo sie eine Zumutung bleiben.

4.

Sozialpolitik

heute:

Nicht

mehr

unumstritten

im

eigenen

Feld

und

herausgefordert, in anderen Politikfeldern Geltung zu erwerben

Bei dem Versuch deutlich zu machen, inwieweit sowohl die Promotoren einer neuen Generation von Sozialpolitiken wie auch deren Kritiker Recht haben, sind in analytischer Absicht

Sozialpolitik,

Wirtschaftspolitik

und

Demokratiepolitik

als

getrennte

Aufgabenbereiche behandelt worden – auch wenn ihr wechselseitiger Bezug diskutiert wurde. Genau diese Trennung gilt aber in vielen Alltagsbereichen praktischer Politik und öffentlicher Auseinandersetzung so nicht mehr. Deutlich wird das bei den vielen komplexen Reformkonzepten und Aktionsprogrammen, mit denen heute Politik gemacht wird.

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4.1 Sozialpolitik als Teil komplexer Entwicklungsprogramme und –konzepte

Analog zur Governance-Debatte, in der die Verschränkung hierarchischer Steuerung, Marktsteuerung und der co-governance gesellschaftlicher Netzwerke thematisiert wird (Benz 2004) und analog zur Diskussion um „hybride Organisationen“ und „soziale Unternehmen“, die marktwirtschaftliche, staatliche und zivilgesellschafliche Elemente in sich verschränken (Evers / Rauch / Stitz 2002) sind auch viele Programmpolitiken heute zugleich von wirtschafts- und sozialpolitischen Imperativen geprägt. Ein entsprechender Trend lässt sich von der weltweiten internationalen bis hinunter zur lokalen Ebene durchdeklinieren. Ob Entwicklungskonzepte der Weltbank für Dritte-Welt-Staaten, das European Social Model (in welcher Version auch immer), die englische Variante eines dritten Weges, die deutsche Familienpolitik der letzten Jahre, das Programm Soziale Stadt, Arbeitsmarkt und Schulpolitiken, regionale Modernisierungsbündnisse oder auch lokale Bündnisse für Familien – sie alle verschränken in sich sozialpolitische, wirtschaftspolitische und demokratie- und herrschaftsbezogene Ziele und Effekte. Sozialpolitik wird dabei immer mehr zu einem Teil räumlich oder sachlich fokussierter Entwicklungsprogramme und -politiken, die auch institutionell oft fachübergreifend operieren (dazu konzeptionell: Midgley 1999). Sozialpolitik lässt sich (wie auch Trampusch in diesem Band herausarbeitet) nicht länger unter dem Gesichtspunkt der Genese und Entwicklung eines „Wohlfahrtssektors“ (Kaufmann 2005, 231) thematisieren.

4.2 Am Ende der Vorstellung von einem „Wohlfahrtssektor“ – was folgt?

Aus der Tatsache, dass in den meisten heute diskutierten Reformprogrammen zugleich wirtschaftliche, soziale und auf Demokratie bezogene Dimensionen präsent sind, folgt für Sozialpolitik zweierlei: Zum einen muss sie lernen, dass sie immer weniger eigenes Terrain hat, wo traditionelle soziale Logiken und Werte fraglos dominant sind (wie z. B. klassischerweise bei der Alterssicherung); auf ihren eigenen traditionellen Operationsfeldern spielen andere konkurrierende wie komplementäre Logiken eine zunehmende Rolle; das sind einmal wirtschafts-

und

wachstumspolitische

Erwägungen

wie

etwa

auch

in

der

gesundheitspolitischen Diskussion; es sind aber auch Fragen von Macht, Autoritarismus und Demokratie – etwas an das z. B. in der Diskussion um Praktiken des Umgang mit Arbeitslosen Begriffe wie „Würde“ und „Respekt“ erinnern.

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Zum anderen geht es darum, zu lernen, originär sozialpolitischen Fragen, wie denen nach sozialen Teilhabechancen, Sicherheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, in anderen Sachund Politikbereichen (wieder oder mehr) Geltung zu verschaffen – etwa im weiten Feld der Wirtschaftspolitik und hier speziell bei Fragen der Konsumentenpolitik oder etwa in der Diskussion um EU-weite Dienstleistungsrichtlinien. Man mag als Soziologe oder Politikwissenschaftler davon entmutigt sein, dass in den entsprechenden Diskussionen in der Regel wirtschaftliche Belange und Logiken dominieren. Aber man sollte bei all dem auch nicht übersehen, dass z. B. in der Auseinandersetzung der Bundesbürger mit „ihrer“ Wirtschaft und deren Vertretern nicht nur „traditionelle“ soziale Ansprüche auf Grundsicherheiten immer noch präsent sind, sondern auch macht- und markt-kritische demokratische Ansprüche an Bedeutung gewonnen haben. In den entsprechenden Auseinandersetzungen um Arbeit und Konsum reiben sich an vielen Stellen Selbstverständnisse der heutigen zivilen Kultur der Bundesrepublik mit gängigen Wirtschaftspraktiken. Das eröffnet Chancen, sozialpolitische Themen zeit gemäß zu bestimmen und ihnen damit auch wieder mehr Gewicht zu geben.

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Wohlfahrtsdemokratie:

Entwicklungen

und

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Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Karl Gabriel

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Prof. Dr. Karl Gabriel Die religiösen Grundlagen der europäischen Wohlfahrtsstaaten 1. Grundmuster Europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit

Die europäischen Wohlfahrtsstaaten lassen sich durch ein gemeinsames Grundmuster charakterisieren. Vom liberal geprägten amerikanischen Modell unterscheidet sie sich insbesondere durch zwei Kennzeichen: Strukturelle Vielfalt und sozialen Ausgleich. Wenn man die europäischen Sozialstaaten als Varianten einer Familie betrachtet, so kommen unter den Stichworten gesellschaftliche Vielfalt und sozialer Ausgleich die folgenden Charakteristika in den Blick: Die spezifische gesellschaftliche Vielfalt findet ihren Ausdruck in einer den Wettbewerb begrenzenden, koordinierten Marktökonomie, wie sie in den Begriffen von sozialem Kapitalismus oder sozialer Marktwirtschaft zur Sprache kommt. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ist durch vielfältige institutionelle Regelungen und korporatistische Absprachen geregelt und eingehegt. Der Vielfalt der Konfliktregelungen entsprechen die Formen einer Verhandlungs- und Konsensdemokratie. Sie ist darauf ausgelegt, möglichst viele Interessen und Konfliktlinien zu integrieren. Dies schließt auch die in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägte Konfliktlinie zwischen Staat und Kirche ein. In der Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen spielt der Grundsatz der Subsidiarität eine Rolle. Sie wird im Sinne einer unterstützten Selbstbestimmung gesellschaftlicher Gruppen und sozialer Einheiten interpretiert.

Die Institutionalisierung sozialen Ausgleichs findet ihre spezifisch Kristallisation in folgenden Ausprägungen: Die Verantwortung und der Eingriff des Staates gehen über ein residuales Maß hinaus und enthalten zumindest quasi-universalistische, am Bürgerstatus anknüpfende Elemente. Einen zweiten Aspekt macht die Regulierung der Märkte, insbesondere des Arbeitsmarktes aus. Der Staat interveniert zum Schutz der Arbeitnehmer und sucht das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit am Arbeitsmarkt auszugleichen. Gleichzeitig räumt er verbandlich-autonomen Entscheidungen wie im Fall der Tarifautonomie einen Spielraum ein. Zur europäischen Wohlfahtsstaatlichkeit gehört drittens ein bestimmtes Ausmaß an Umverteilung durch den Ausgleich der marktbedingten Einkommensdifferenzen

durch

eine

sekundäre,

sozialpolitisch

hergestellte

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Karl Gabriel

Einkommensverteilung;

28

und schließlich folgt viertens das Modell dem Leitbild

sozialstaatlich vermittelter Solidarität.

Wie Franz-Xaver Kaufmann betont, hat sich „das Leitbild eines Gemeinwesens, das auf Freiheit, rechtlicher Gleichheit und zugleich marktwirtschaftlich wie sozialstaatlich vermittelter Solidarität seiner Bürger beruht, ...ausschließlich im Horizont der kulturell von Christentum und Aufklärung geprägten westeuropäischen Gesellschaften herausgebildet“ (Kaufmann

1997:

41).

Damit

sind

die

religiösen

Wurzeln

der

europäischen

Wohlfahrtsstaaten angesprochen.

2. Das Christentum als kultureller Horizont europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit

Nachdem das wissenschaftliche Interesse hinsichtlich der Frage nach den normativen Ideen und Triebkräften des modernen Sozialstaats sich lange Zeit auf den Beitrag der Arbeiterbewegung konzentrierte, kommen seine religiösen Wurzeln erst in jüngster Zeit stärker in den Blick. So spielt in der am meisten beachteten Typologie europäischer Wohlfahrtsstaaten von Esping-Andersen der religiöse Faktor nur eine sehr untergeordnete Rolle (Esping-Andersen 1990; 1998). Der Hauptgrund dafür ist wohl darin zu suchen, dass der indirekte, schwer zurechenbare Einfluß des Christentums auf die sozialstaatliche Entwicklung größer einzuschätzen ist als unmittelbare Wirkungszusammenhänge.

Auf einer ersten Ebene hat das Christentum den kulturellen Horizont und die Ideenwelt mitgeprägt, auf der es zu einer Wertdynamik in die Richtung von Inklusion und Teilhabe aller und der Fokussierung auf die staatliche Gemeinschaft als verantwortlicher Träger und Garant entsprechender Handlungsstrukturen gekommen ist. Im Horizont des Glaubens an einen Schöpfergott, der vor allen Differenzen die Menschen unterschiedslos als Gleiche geschaffen hat und an ein Erlösungsgeschehen, in das alle Menschen in gleicher Weise einbezogen sind, lagen kulturelle Muster der Problematisierung und des Protest gegen Exklusion und Mißachtung Einzelner und Gruppen stets bereit. Dass sie in den 1500 Jahren, in denen das Christentum die europäische Kulturwelt dominierend prägte, häufiger von christlichen Dissidenten als von den offiziellen Trägern des Christentums in Anspruch genommen wurden, kann nicht weiter überraschen. Der christliche Einspruch gegenüber dem offiziellen Gebrauch des Christentums zur Legitimation politischer Herrschaft,

Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Karl Gabriel

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Unterdrückung und Exklusion konnte aber nie gänzlich still gestellt werden. Davon zeugt der gelebte Protest von christlichen Dissidenten von Franz von Assisi bis Las Casas im Kampf gegen die religiös legitimierte koloniale Unterdrückung und Ausbeutung. Wie keine andere kulturelle Tradition wirkte die christliche Prägung in die Richtung einer exzeptionellen

Stellung

der

individuellen

Autonomie

als

Teil

des

westlichen

Modernisierungspfads (Rieger/Leibfried 1999). Darin ist wohl der Hauptgrund zu suchen, dass es nur im kulturellen Kontext des westlichen Christentums zu Entwicklungen in die Richtung eines sozialstaatlichen Gesellschaftsmodells gekommen ist.

3. Die Wirkung der konfessionellen Traditionen auf die sozialstaatliche Entwicklung

Nimmt man die breiten Volksschichten in den Blick, so hat sich die eigentliche Christianisierung

Europas

zu

einem

erheblichen

Teil

als

Konfessionalisierung

durchgesetzt (Schilling 1988). Will man auf einer zweiten Ebene den religiösen Wurzeln des Europäischen Wohlfahrtsstaatlichkeit und ihrer Varianten nachgehen, muss man deshalb die Aufmerksamkeit auf Wittenberg, Genf und Rom als Repräsentanten der konfessionellen Hauptströmungen des europäischen Christentums richten. Als der deutsch-amerikanische Soziologe Arnold Heidenheimer – den Hinweis verdanke ich Franz-Xaver Kaufmann - Anfang der achtziger Jahre als einer der ersten der Frage nach den religiösen Hintergründen der Sozialstaatsentwicklung nachging, kleidete er seine These in einen fiktiven Dialog zwischen Max Weber und Ernst Troeltsch anläßlich der Weltausstellung in St. Louis 1904, die beide auf ihrer gemeinsamen Amerikareise tatsächlich besuchten (Heidenheimer 1983; Kaufmann 1989: 89-92). Heidenheimer lässt Weber und Troeltsch fragen, ob nicht die erste Einrichtung eines staatlich regulierten Sicherungssystems weltweit in Deutschland und seine frühe Nachahmung in den skandinavischen Ländern etwas mit der dominierenden Prägung dieser Länder durch das lutherische Staatskirchentum zu tun habe. Umgekehrt sei es auffällig, dass – so Heidenheimer – in den Ländern, in denen der Calvinismus und freikirchliche Strömungen Dominanz besäßen, eine sozialstaatliche Verantwortung sich nicht – wie in den USA oder nur verspätet und gebremst – so in England und Holland – durchgesetzt hätten.

Die neuere Forschung hat diese Perspektive Heidenheimers weiter vertieft und zur Kritik und Erweiterung der vergleichenden Sozialstaatsforschung genutzt (Kaufmann 1989;

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Kersbergen 1995; Manow 2002). Dabei wurde klar, dass nicht nur die jeweils dominierenden konfessionellen Traditionen in einem Land eine Rolle spielen, sondern gerade auch das jeweilige konfessionelle Mischungsverhältnis. Ebenso wurde deutlich, dass der konfessionelle Einfluß nicht nur den direkten Weg über die Programmatik konfessioneller Parteien nahm, sondern sich auch auf die jeweilige Arbeiterbewegungen und die Art, wie der Klassenkonflikt ausgetragen wurde, auswirkte. So trugen und tragen bis heute die anti-staatliche Programmatik der lange Zeit dominierenden reformierten und freikirchlichen Strömungen in den USA dazu bei, dass es bei einem liberalen System des reinen Kapitalismus weitgehend ohne sozialstaatliche Verantwortung geblieben ist. Von Bedeutung ist hier ein Staatsverständnis, das den Staat aus religiösen Gründen „auf die Stufe reiner menschlicher Zweckmäßigkeit“ (Troeltsch 1954:954) herabdrückt – so Troeltsch –, während Hilfe und Fürsorge in die Hand der gemeindlichen Selbsthilfe gelegt sind. Hemmend für die Sozialstaatsprogrammatik haben sich in der calvinistischfreikirchlichen Tradition die strikte Trennung von Staat und Kirche, die Betonung der an die innerweltliche Askese anknüpfenden Selbstverantwortung des Einzelnen und die freiwillige Hilfe für die Notleidenden durch Wohltätigkeitsorganisationen ausgewirkt. Philip Manow hat zeigen können, dass im europäischen Kontext Länder mit einem starken Einflußbereich des reformierten bzw. freikirchlichen Protestantismus eine Reihe von Gemeinsamkeiten in der sozialstaatlichen Entwicklung aufweisen (Manow 2002: 206-216; 2005). So sind die Schweiz, die Niederlande und England Nachzügler in der Sozialstaatsentwicklung gewesen, haben ihn vergleichsweise spät fortentwickelt, weisen von Anfang an Elemente des Kapitaldeckungsverfahrens auf und kombinieren eine universalistisch ausgerichtete Versorgung auf basalem Niveau mit der Notwendigkeit eigenverantwortlicher

Vorsorge.

Manow

spricht

von

„‘protestantisch

gezügelten‘

Wohlfahrtsstaaten“ (Manow 2002: 210) und ordnet sie einem eigenen Typus zu.

Im Einflußbereich des lutherischen Protestantismus erleichterte die Verbindung von Staatskirchentum mit einem individualistisch geprägten und verinnerlichten Glauben die frühe

Übernahme

skandinavische

staatlicher

Sozialstaat

mit

Verantwortung seiner

im

sozialpolitischen

universalistischen,

an

den

Bereich.

Der

Bürgerstatus

gebundenen Ausrichtung und hohen Staatszentrierung steht in dieser Perspektive in der Tradition

des

lutherischen

Staatskirchentums.

Die

für

die

lutherische

Tradition

kennzeichnende Staatsnähe hat es in den vom Luthertum geprägten Regionen Euopas nicht oder nur abgeschwächt zum Ausbruch von Kulturkämpfen kommen lassen.

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Zusammen mit einer starken Arbeiterbewegung und sozialdemokratischen Parteien zeichnet die lutherische Tradition für die Ausbildung eines universalistisch ausgerichteten, starken Wohlfahrtstaats weitgehend ohne staatsunabhängige, gesellschaftliche Kräfte in der Wohlfahrtspflege verantwortlich. Im nordeuropäischen Muster verbindet sich ein universalistisch an der Staatsbürgerrolle orientierter Wohlfahrtsstaat mit einer nur sehr schwach ausgebildeten intermediären Ebene gesellschaftlicher Verbände.

4. „Sozialer Kapitalismus“: das sozial-katholische Modell des Sozialstaats

Die Typologie der Wohlfahrtsstaaten von Esping-Andersen kennt keine „katholische Version“ des westlichen Sozialstaats. Der katholische Typus verschwindet bei EspingAndersen im korporatistisch-konservativen Modell (Esping-Andersen 1990). EspingAndersens unterschwellige Bewertung betont die Ambivalenz dieses Typus. Er ist zwar in den Augen Esping-Andersens – darauf verweist zu Recht Philip Manow – nicht der schlechte, – dieses Urteil bleibt dem liberalen Sozialstaat vorbehalten –, aber der hässliche (Manow 2002). Hässlich deshalb, weil er nur eine geringe Orientierung an Markteffizienz aufweist, an der Aufrechterhaltung von Statusdifferenzen orientiert ist, den Markt als Wohlfahrtsproduzenten zu verdrängen tendiert und familienorientiert und partikularistisch bleibt. Demgegenüber sucht Kees van Kersbergen aufzuweisen, dass sich sehr wohl ein spezifisch katholischer Typus des Sozialstaats aufweisen lässt (Kersbergen 1995: 3). Man kommt ihm für van Kersbergen nicht auf die Spur, wenn man nur die „große Soziallehre“ der päpstlichen Enzykliken im Auge hat. Viel mehr ist er ein Werk der „kleinen Soziallehre“ vor Ort, mit deren Hilfe die politisch handelnden Christen sich zu orientieren suchen. Er sieht ihn idealtypisch durch fünf Merkmale gekennzeichnet (Kersbergen 1995:186-191):

(1.) Die Ursachen und Quellen moderner Armut und sozialen Elends werden an den Funktionsbedingungen des kapitalistischen Marktes festgemacht, gleichzeitig wird aber der Kapitalismus als Wirtschaftssystem prinzipiell akzeptiert, allerdings unter Bedingungen gestellt. Es gilt ein konditioniertes „Ja, aber“ gegenüber dem Kapitalismus. (2.) Ein besonderes Augenmerk gilt den Grenzen der Staatsintervention in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Staat ist gedacht als „subsider“, als hilfreicher

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Beistand. Seine Rolle bleibt im Gegenüber zur Gesellschaft eine eher passive. Seine normative Begründung findet dieses Merkmal im Subsidiaritätsprinzip, wie es die Tradition der katholischen Soziallehre ausgebildet hat.

(3.) Die Existenz von sozialen Klassen in kapitalistisch geprägten Gesellschaften wird nicht geleugnet, wohl aber der Klassenkampf als notwendige und legitime Konsequenz der Klassengesellschaft. Dem Klassenkampf wird die Idee der Versöhnung der Klassen und die Überzeugung ihrer wechselseitigen funktionalen Abhängigkeit gegenüber gestellt. Klassen sind letztendlich keine antagonistischen Kräfte, sondern werden eingebettet gedacht in die Gesellschaft als eines organischen Ganzen. Leugnet man die Klassenstruktur der Gesellschaft, erübrigt sich eine entscheidende Triebfeder des „Sozialen Kapitalismus“.

(4.) Dem Sozialkatholizismus gelingt es, über die Idee der caritativen Mildtätigkeit hinaus eine Konzeption von Gerechtigkeit zu entwickeln. Sie weist eine Dominanz der Dimension der klassischen distributiven Gerechtigkeit auf. Jeder Mensch und jede Klasse sollen das erhalten, was ihnen zusteht. Entsprechend gehört es nicht zu den primären Intentionen der Sozialpolitik, Statusdifferenzen aufzubrechen und zu überwinden. So weit sich aufweisen lässt, dass jedem das Seine zukommt, gehören die Statusunterschiede zu den legitimen Differenzierungen der Gesellschaft, die die Sozialpolitik zu schützen hat. Eine solche Konzeption von Gerechtigkeit

tut sich

schwer mit der Idee individueller Bürgerrechte, die Jederfrau und Jedermann als Ausdruck der vollen Mitgliedschaft in der Gesellschaft zustehen.

(5.) Schließlich ist der Soziale Kapitalismus von der Idee des Privateigentums als Sozialpolitik geprägt. Zu diesem Ideenkomplex gehört die Forderung nach einem gerechten (Familien-)lohn, der es erlaubt, sich durch Sparanteile aus der proletarischen Lebenslage eines eigentumslosen Lebens „von der Hand in den Mund“ heraus zu arbeiten. Die Idee des Familienlohns ist verbunden mit der Konzeption natürlich verankerter Geschlechterdifferenzen und Aufgabenzuweiseungen. Van Kersbergen bringt es auf die Formel: „paid jobs for men, unpaid domestic and community labor for women“ (Kersbergen 1995:190).

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5. Der konfessionelle Wohlfahrtsmix: das Beispiel des deutschen Sozialstaats

In Deutschland überschneiden und überlagern sich historisch wie in keinem anderen Land unterschiedliche Einflußlinien. Zum einen ist es die lutherische Tradition mit ihrer Staatsnähe. Die zweite Einflußlinie ist die auf Überordnung bzw. Eigenständigkeit gegenüber dem modernen Staat bedachte religiös-kirchliche Tradition des reformierten Protestantismus. Die dritte Einflusslinie ist die des sozialen Katholizismus, wie ich sie eben gekennzeichnet habe. Zusammen mit der Konkurrenzsituation zwischen katholischer und sozialistischer Arbeiterbewegung und christ-demokratischen und sozialdemokratischen Parteien hat diese Konstellation zur Ausprägung eines quasi-universalistischen, versicherungsstaatlich ausgeprägten Sozialstaats mit einer starken Stellung kirchlicher Wohlfahrtsverbände in Deutschland geführt.

Fassen wir zusammen: In den europäischen Nationalstaaten hat die Mischung der christlichen Konfessionen von Luthertum, Calvinismus und Katholizismus zur Ausbildung sozialstaatlicher Strukturen beigetragen, die durch eine innere Vielfalt und durch die Verpflichtung zum sozialen Ausgleich gekennzeichnet sind. Der jeweilige spezifische Mix der Konfessionen spiegelt sich bis heute in unterschiedlichen Ausformungen der sozialstaatlichen Idee und Praxis wider.

6. Die Krise des „Sozialen Kapitalismus“: auf dem Weg zum protestantischcalvinistischen Sozialstaat?

Von allen Typen des westlichen Sozialstaats sieht sich heute die katholische Variante des „Sozialen Kapitalismus“ am stärksten in die Defensive gedrängt und insbesondere der ökonomischen

Kritik

ausgesetzt.

Esping-Andersen

zum

Beispiel

führt

beinahe

ausnahmslos alle Probleme des entfalteten Sozialstaats auf kontra-intentionale Resultate des konservativen Wohlfahrtsregimes zurück (Esping-Andersen 1996). So habe die Tendenz des konservativen Sozialstaats zu Wohlfahrt ohne Arbeit dazu geführt, dass es zu einer scharfen Spaltung zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt gekommen sei, die die Vollbeschäftigung unterminiert habe. Da im katholischen Typus auch im Niedriglohnsektor familiengerechte Löhne gezahlt werden müssten, trage dieser Typus zur Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit bei. An der Unterminierung des Familienmodells, das er unbedingt erhalten und schützen wolle, sei er unmittelbar beteiligt.

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Die niedrigen Geburtenraten seien auch als Ausdruck der Rebellion der Frauen gegen ihre Beschränkung

auf

die

Reproduktionssphäre

zu

deuten.

Schließlich

führe

der

Korporatismus zwischen Kapital und Arbeit zu Mißbrauch wie im Fall der Frühverrentung und zu politischen Reformblockaden. Zwischen sozialdemokratischen und liberalen Modell – dieser Eindruck drängt sich heute auf – scheint es immer weniger Platz für einen konsistenten, überzeugenden dritten Typus zu geben.

Fragt man nach der Logik, die die gegenwärtige Neujustierung der Sicherungssysteme in Europa kennzeichnet, kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis. Mit Blick auf die deutschen

Reformen

heben

Ilona

Ostner

u.a.

folgende

Tendenzen

hervor

(Ostner/Leitner/Lessenich 2001:4ff.; Ostner 2005). Überall werden die Elemente einer „bedingten Leistungsgewährung“ gestärkt. Es ist eine wachsende Betonung der Pflichten der

Leistungsempfänger

gegenüber

einem

Rechtsanspruch

auf

Leistungen

zu

beobachten. In der Mißbrauchsdiskussion und in der Frage, ob Leistungen gestrichen werden sollen, wenn keine aktive Mitarbeit der Leistungsempfänger erkennbar wird, kommt diese Tendenz deutlich zum Ausdruck. Die Entwicklung tendiert hin zu Grundversorgungsmodellen

bzw.

der

Minimalabsicherung

in

den

gesetzlichen

Sicherungssystemen, die durch Eigenleistungen bzw. weitere Leistungen aufgestockt werden müssen. Unverkennbar sind die Verstärkung der Elemente der privaten Risikoabsicherung und des Einbaus von Marktsteuerung und privater Dienstleister in den „welfare-mix“ des Sozialstaats (Geller/Gabriel 2004:257-304). Seit den späten 1990er Jahren ist eine Umstellung in der europäischen Politik in Sachen Sozialstaat zu beobachten. Nun betrachtet man von Brüssel aus eine grundlegende Reform des Sozialstaats als unvermeidlich. Als entscheidende Handlungsebene dafür gelten die jeweiligen

Nationalstaaten,

die

im

Wettbewerb

der

europäischen

Sozialstaaten

untereinander zur Realisierung eines neuen Sozialmodells gewissermaßen gezwungen werden sollen. Die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sollen „wettbewerbsorientierter, beschäftigungsfreundlicher und rationeller“ ausgestaltet werden (Aust/Leitner/Lessenich 2002: 290). Angezielt ist ein stärker residualer Sozialstaat, der seine Leistungen nur noch jenen anbietet, die auch wirklich Hilfe benötigen. Die sozialstaatlichen Interventionen in den Arbeitsmarkt sollen sukzessive zurückgenommen werden, um mit den Mitteln der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dem Ziel der Vollbeschäftigung näher zu kommen. Die Ungleichheit am Arbeitsmarkt gilt weniger als Belastung denn als produktivitäts- und wettbewerbsfördernd. Dies findet insbesondere in der Bejahung einer stärkeren

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Lohnspreizung und der Ausbildung eines Niedriglohnsektors seinen Niederschlag. Die Elemente solidarischer Umverteilung werden auf die Gewährung von Chancengleichheit reduziert. Universalistisch orientierte Rechtsansprüche erhalten den Charakter bedingter Leistungen. Mit Blick auf die religiösen Traditionen der Sozialstaatsentwicklung drängt sich folgende Einsicht auf: Offensichtlich sind es die lange außer acht gelassenen Einflüsse des calvinistisch-reformiert geprägten Protestantismus auf den Sozialstaat, die sich in den beschriebenen Tendenzen niederschlagen (Manow 2002: 221f.).

7. Vor einer Renaissance des „sozialen Kapitalismus“ in Europa?

Welche Elemente des sozial-katholischen Denkens sollte man hinüber retten in eine Zeit, wenn – wie Rieger und Leibfried dies ausdrücklich erwarten – der „Erlösungsliberalismus“ seine Anziehungskraft verliert, das Pendel wieder zurückschlägt und die Suche nach „theologischen Blaupausen“ für eine Kontrolle der Marktbedingungen erneut beginnt? (Rieger/Leibfried 2004: 56;224ff.) Dazu möchte ich abschließenede Bemerkungen machen.

Erhaltenswert am katholischen Erbe sozialkatholischen Denkens ist meines Erachtens zunächst ein spezifisches Verständnis von Solidarität, das sich vom liberalen Denkhorizont klar unterscheidet. Katholische Sozialdenker wie Heinrich Pesch und Oswald von NellBreuning haben die Einsicht französischer Sozialtheoretiker von der zunehmenden Verflechtung und Individuierung gesellschaftlichen Lebens zugleich in der modernen Gesellschaft kreativ zu einem „starken“ Begriff der Solidarität ausgearbeitet (Große Kracht 2003:23-45). Er entlarvt den verdienstethisch aufgeladenen Individualismus, der das Menschen- und Gesellschaftsbild des frühbürgerlichen „self-made-man“ immer wieder zu erneuern sucht, als Ideologie. Solidarität setzt dem das Bewusstsein von der unausweichlichen Gemeinverstrickung aller entgegen. Im modernen Sozialstaat verkörpert sich in dieser Perspektive institutionell die Einsicht in die Dialektik von Gemeinverstrickung und Gemeinhaftung. Deshalb lässt er sich nicht auf das Konzept einer politischen Solidariät im Sinne Wolfgang Kerstings reduzieren, in dem es darum geht, die Hilfe auf die wirklich Bedürftigen zu reduzieren (Kersting 2000:2002-256). Wenn heute im Sinne einer negativen

Verdienstethik

die

Konsequenzen

der

veränderten

gesellschaftlichen

Wachstums- und Verteilungsbedingungen dem einzelnen als selbstverantwortlichem „Ich-

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Agenten“ einseitig zugerechnet und zugeschoben werden, so erweist sich die katholische Tradition eines „starken“ Solidaritätsgedankens als höchst aktuell.

Ähnliches gilt für das katholische Subsidiaritätsdenken. Es enthält mit seinem Verständnis als „hilfreicher Beistand“ und seinen beiden Komponenten des „Hilfsgebots“ und „Kompetenzanmaßungsverbots“ klare Maßgaben, um den Subsidiaritätsgedanken nicht auf die Maxime der Selbstverantwortung zu reduzieren (Dabrock/Gabriel 2003:403-406). Wo heute Selbstverantwortung gefordert wird, ohne gleichzeitig die Frage nach der Ermöglichung und Befähigung zu stellen, erweist sich die Forderung als ideologisches Konstrukt, das derselben Logik folgt wie der verdienstethische Individualismus. Vom katholischen

Verständnis

von

Subsidiarität

her

ist

es

selbstverständlich,

dass

Selbstverantwortung nur in Solidarität funktionieren kann und die Befähigung und Ermächtigung als Voraussetzung der Selbstverantwortung gelten müssen.

An den sozialen Katholizismus ergeht aber auch die kritische Frage, inwieweit er bis heute die Tendenz hat, mit seiner sozialpolitischen Konzeption konservativen ständischen und patriarchalen Interessen Vorschub zu leisten und damit nicht selten sich selbst in seinen eigenen sozialpolitischen Intentionen im Wege zu stehen. Der Blick auf die konfessionellen Wurzeln der europäischen sozialstaatlichen Traditionen – damit möchte ich schließen - hat gezeigt, dass sie auf unterschiedliche Weise und nicht selten gegen die Intentionen von formeller kirchlicher Lehre und theologischer Reflexion an der Sozialstaatsbildung und -entwicklung mitgewirkt haben. Es gehört meines Erachtens zu einer wichtigen Aufgabe der Kirchen und der Theologie, diesen Prozeß zu reflektieren und sich ihm verantwortlich zu stellen.

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Entwicklung und Theorie des Wohlfahrtsstaats - Prof. Dr. Karl Gabriel

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Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

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Prof. Dr. Joachim Wiemeyer Zur ethischen Legitimation von Bevölkerungspolitik Einleitung Als Max Wingen 2002 in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 2 einen Beitrag über eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik veröffentlichen wollte, wurde dieser Beitrag nur mit einer redaktionellen Vorbemerkung abgedruckt. Selbst 2002 machte es in Deutschland noch Probleme über Bevölkerungspolitik zu schreiben. Dabei bekennen sich international mehr als betreiben,

2/3 der Staaten dazu, eine aktive und bewusste Bevölkerungspolitik zu darunter

auch

viele

rechtsstaatliche

Demokratien. 3

Quantitative

Bevölkerungspolitik zielt auf die Zahl der Menschen in einem Raum, und qualitative Bevölkerungspolitik, auf die Zusammensetzung der Bevölkerung gemäß bestimmter Merkmale ab. Dieses Tabu hat dazu beigetragen, dass in Deutschland der Geburtenrückgang im Sinne der Reduzierung der Nettoreproduktionsrate, der sich wesentlich bereits zwischen 19651975 vollzog, nicht gesellschaftspolitisch umfassend reflektiert wurde. Selbst in den letzten Jahren wurde im Kontext der Rürup- und der Herzog-Kommission lediglich über eine Anpassung

der

Sozialen

Sicherungssysteme

an

die

Bevölkerungsentwicklung

nachgedacht, nicht aber über eine aktive Bevölkerungspolitik selbst 4 . Ursachen für das deutsche Phänomen, nicht systematisch über Bevölkerungspolitik auch in der Wissenschaft zu reflektieren, sind: •

Bevölkerungsfragen sind Langfristprobleme, die gegenüber Kurzfristfragen, wie Arbeitslosigkeit, Inflation, Konjunktur etc. eher vernachlässigt werden, weil sie auch nicht auf der politischen Agenda stehen. So hatte die Ökonomie ihre traditionelle Beschäftigung mit Bevölkerungsfragen weitgehend aufgegeben. 5



In einer dem Anspruch nach „wertfreien“ Sozialwissenschaft wollte man sich nicht einem unvermeidbar so werthaltigen Thema zuwenden.

2

Vgl. Max Wingen, Ein erneutes Plädoyer für eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 27. Jg. (2002), 69-85, hier S. 69.

3

Vgl. Jörg Tremmel, Bevölkerungspolitik im Kontext ökologischer Generationengerechtigkeit, Wiesbaden 2005, S. 114.

4

Vgl. Franz Xaver Kaufmann, Gibt es einen Generationenvertrag?, in: Jahres- und Tagungsbericht der GörresGesellschaft 2003, S. 63-90, hier 90. 5

Als einer der wenigen Nationalökonomen der Nachkriegszeit spielten Bevölkerungsfragen bei meinem akademischen Lehrer Erik Boettcher, der selbst wiederum Assistent bei Gerhard Mackenroth gewesen war, eine wichtige Rolle.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer



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In dem wertorientierten kritischen Zweig der Sozialwissenschaften hatte der Nationalsozialismus für ein Tabu gesorgt, weil jede bevölkerungspolitische Diskussion durch ihn diskreditiert war. 6



Für die jüngere sozialwissenschaftliche Diskussion kommt hinzu, dass eine kritischfeministische

Perspektive

hinter

jeder

Überlegung

zur

Familien-

bzw.

Bevölkerungspolitik ein - in historischer Sicht durchaus eine berechtigte Befürchtung - patriarchalisches Denken vermutet. 7

Bevölkerungs- und familienpolitische Reflexion nicht nur in der Politik und Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft sind auch dadurch erschwert, dass sich hier eigene Wertvorstellungen, persönliche Erfahrungen und Betroffenheit massiv artikulieren. Dies beeinträchtigt auch die nüchterne wissenschaftliche Reflexion. Der Verzicht auf die Thematisierung von „Bevölkerungspolitik“ hat dazu geführt, dass aber in Deutschland offensichtlich die seit rund 35 Jahren niedrige und offenbar weitgehend unveränderte Nettoreproduktionsrate als gegeben hingenommen, die Auswirkungen des Geburtenrückgangs für breite Bevölkerungskreise weitgehend verdrängt wurden und ebenso

das

Thema

einer

gezielten

Zuwanderungs-

und

daraus

abgeleiteten

Integrationspolitik mit allen Konsequenzen vernachlässigt wurde. 8 Diese Fragen ausdrücklich aus normativer Hinsicht zu thematisieren, erscheint deshalb sinnvoll, weil sowohl beim wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen, mit Gutachten über „Gerechtigkeit“ 9 wie bei Familienforschern, etwa Franz Xaver Kaufmann, normative Überlegungen zu finden sind, entweder negative Werturteile wie die „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ gegenüber Familien in der Wirtschaft und Gesellschaft oder aber normative Kriterien der Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit Platz greifen. Wenn man eine normative Reflexion über die Legitimation staatlicher Bevölkerungspolitik anstellt, kann man dies - zumindest in Deutschland - nicht unternehmen, ohne sich der historischen Vorbelastungen zu vergewissern. Dies erfolgt in einer ersten knappen Skizze. Im zweiten Schritt werden dann systematische normative Überlegungen angestellt. Im

6

Vgl. Franz Xaver Kaufmann, Warum nicht Bevölkerungspolitik?, in: Sabine Rupp/ Karl Schwarz (Hrsg.), Beiträge aus der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung, Wiesbaden 1993, S. 35-44, hier 35.

7 8 9

Vgl. zu solcher feministischen Kritik: Jörg Tremmel, a.a.0., S. 155f. Vgl. Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende, 3. Aufl. München 2003.

Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, Gerechtigkeit für Familien - Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs, Stuttgart 2001.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

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dritten Schritt werden kurz einige institutionelle Konsequenzen aus der normativen Reflexion angedeutet.

1. Historische Belastungen von Bevölkerungspolitik

Die vorindustriellen europäischen Gesellschaften kannten zur Vermeidung von Armut durch Überbevölkerung eine Heiratsregulierung. Nur derjenige, dessen wirtschaftliche Stellung es zuließ, dass er eine Familie ernähren konnte, durfte heiraten und Kinder in die Welt setzen. 10

Alle anderen blieben

als ledige Onkel und Tanten auf

dem

landwirtschaftlichen Betrieb, gingen in Klöster oder andere geistliche Berufe, fuhren zur See oder wurden Söldner. Der Kath. Kirche in der Schweizer Heimat von Franz Xaver Kaufmann fiel es nicht schwer, das Söldnerwesen religiös einzubeziehen, ist die Kathedralkirche des Bischofs von Basel in dem ehemaligen Söldnerstadt Solothurn den Märtyrer - Soldaten Ursus und Victor gewidmet, die dort auch in der Kirche mit entsprechenden Heiligenbildern verehrt werden. Um die Heiratsverbote einzuhalten, existierten strikte soziale Kontrollen, vor allem eine starke Diskriminierung lediger Mütter und unehelicher Kinder. Die Eheschließung selbst war vielfach arrangiert, durch gesellschaftliche

Konventionen,

wirtschaftliche

und

politische

Überlegungen.

Sie

entsprach nicht dem freien Willen der Eheleute. Diese Restriktionen, z.B. unmündige Kinder in Klöster zu geben, wurden in der Menschenrechtsbewegung der französischen Revolution bekämpft, was mit zum Konflikt von Menschenrechtsidee und Katholischer Kirche beitrug. Die nach 1800 gelockerten Heiratsbeschränkungen führten zu einer schnellen Bevölkerungsvermehrung, so dass sich in Deutschland die Bevölkerung von 1800-1900 etwa von 20 auf 60 Millionen verdreifachte, obwohl zusätzlich noch mehrere Millionen Menschen nach Übersee auswanderten. Wegen dieses Bevölkerungsproblems wollten manche deutsche Länder um 1860 noch erneut wieder gesetzliche Heiratsverbote einführen. 11 Großindustrielle wollten bei ihren Arbeitern, indem sie eine Heiratserlaubnis unter Androhung der Entlassung in ihren Betrieben einführten, die alte Rolle der Gutsbesitzer einnehmen, die in vorindustrieller Zeit bei ihren Hörigen und Leibeigenen eine Heirat erlauben mussten.

10 11

Vgl. dazu Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre, Berlin Göttingen Heidelberg 1953. Vgl. Karl Martin Bolte/ Dieter Kappe/ Josef Schmid, Bevölkerung, Opladen 1980, S. 43f.

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In den USA gab es im 19. Jahrhundert Diskussionen darüber, ob man Katholiken einwandern lassen dürfe. Diese wären dem Oberhaupt eines fremden Staates, dem Papst untertan, und könnten daher keine loyalen Staatsbürger sein. Nachdem man kurzzeitig chinesische Arbeiter zugelassen hatte, wurden Mitte des 19. Jh. schnell wieder Zuwanderungsbeschränkungen für Asiaten erlassen. Im Gefolge des ersten Weltkriegs kam es - etwa durch die Vertreibung von orthodoxen (Griechen) aus dem Gebiet der heutigen Türkei - und teilweise einer Vertreibung von Muslimen (Türken) aus dem Gebiet des heutigen Griechenlandes zur Herausbildung nach religiös-kulturellen Kriterien möglichst homogener Staatsgebilde. Es kamen später in vielen Teilen der Erde ähnliche Bevölkerungsverschiebungen (gewaltsame Vertreibungen) hinzu. In Frankreich führte die mehrfache Erfahrung militärischer Niederlagen gegen Deutschland dazu, dass um ökonomisch und militärisch mit Deutschland mithalten zu können, eine gezielte pronatalistische Politik seit Jahrzehnten betrieben worden ist. Diese Politik hat langfristig Erfolg gehabt. Denn obwohl die deutsche Gesamtbevölkerung gegenwärtig um 20 Millionen über der Frankreichs liegt, ist dort die Zahl der Geburten seit 2002 absolut höher, so dass Frankreich Deutschland in der Zahl der Gesamtbevölkerung um 2040 übertreffen könnte. Auch unter dem Einfluss darwinistischer Ideen und daraus veranlassten Theorien wurde in vielen europäischen Ländern über eine „Optimierung“ der Bevölkerungsstruktur und Eugenik nachgedacht. Dazu wurden Maßnahmen wie die Sterilisierung von Behinderten, die sich nicht vermehren sollten, praktiziert. Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass das Ehepaar Myrdal in Schweden in den 30er Jahren solche aus menschenrechtlicher Perspektive problematischen Ideen, die sich auch in der Praxis niederschlugen, propagiert hatte. 12 Im Mittelpunkt der Ideologie und der Praxis des Nationalsozialismus standen bevölkerungspolitische und „rassenhygienische“ Vorstellungen. Diese zielten erstens darauf ab, als „wertvoll“ angesehene Bevölkerungskreise zu einer Vermehrung anzuhalten. Dazu wurden Frauen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter verwiesen. Diese sollte mit Mutterkreuzen etc. aufgewertet werden. Dazu wurden als sozialpolitische Maßnahme erstmals in Deutschland 1935 ein Kindergeld bzw. Kinderbeihilfen eingeführt. Männer und Frauen, die besonders der nationalsozialistischen Rassenideologie entsprachen, sollten gezielt zur Vermehrung veranlsst werden. 12

Vgl. Franz Xaver Kaufmann, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Frankfurt a.M. 2003, S.169.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

43

Gemäß der Rassenideologie wurden geschlechtliche Beziehungen zwischen Personen, die unterschiedlichen Rassen zugeordnet wurden, untersagt. Personen, die als minderwertig angesehen wurden, wie Behinderte etc. sollten an der Vermehrung gehindert werden. Daher wurden Zwangssterilisationsprogramme durchgeführt. Bis 1939 wurde auf die jüdische Bevölkerung ein zunehmender Druck ausgeübt, um sie zur Auswanderung ins Ausland zu veranlassen. Nach Kriegsbeginn wurden dann im Rahmen der deutschen Eroberungskriege erhebliche Bevölkerungsverschiebungen vorgenommen, indem deutschstämmige Personen aus Ostgebieten umgesiedelt, dafür andere Gruppen (z.B. Polen) aus annektierten Gebieten vertrieben

wurden.

Es

kam

zu

organisierten

und

industriell

durchgeführten

Massenvernichtungsaktionen gegen Juden, aber auch Sinti und Roma. Ebenso ermordet wurden Behinderte, Homosexuelle, das Führungspersonal der eroberten Länder in Mittelund Osteuropa und Oppositionelle. Diese hier keineswegs vollständig aufgeführten Maßnahmen des Dritten Reiches hatten nach 1945 berechtigterweise jegliche Form staatlicher Bevölkerungspolitik diskreditiert. Die Zahlung von Kindergeld wurde als nationalsozialistische Maßnahme nach 1945 abgeschafft, so dass zu Beginn der Bundesrepublik unter kinderreichen Familien Armut stark verbreitet war. Auch die Christliche Sozialethik lehnte zu Beginn der 50er Jahre mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip staatliche Familienpolitik ab. Ein Staat, der für Kinder Transfers zahlt, will diese auch - wie die Hitlerjugend im Nationalsozialismus gezeigt hat oder wie dies die DDR mit der „Freien Deutschen Jugend“ als Staatsjugend damals zeigte - in seinen Dienst nehmen. Deshalb suchte man mit der Forderung nach einem Familienlohn oder der Forderung nach Ausgleichskassen der Betriebe auf Branchenebene, die sich an den Berufsgenossenschaften orientieren sollten, einen finanziellen Ausgleich für kinderreiche Familien. 13 Aufgrund des starken Anstiegs der Weltbevölkerung nach 1945 wurde Bevölkerungspolitik vor allem eine Problematik der Entwicklungsländer. China 14 führte 1979 mittels staatlicher Regulierungen (1 Kind-Politik), die auch Zwangsabtreibungen beinhalten, eine repressive Bevölkerungspolitik durch. Indien versuchte zeitweise, z.B. unter Indira Ghandi, Sterilisationsprogramme

ohne

hinreichende

Aufklärung

unter

der

ungebildeten

Bevölkerung durchführen zu lassen. 15 Ein sehr gravierendes Problem in Indien und China 13

Vgl. Max Wingen, Anmerkungen zu 50 Jahre Familienpolitik mit Reflexionen und Reminiszenzen, in: ders., Familienpolitische Denkanstösse,, Grafschaft 2001, S. 241-291, bes. 245ff. 14 15

Vgl. Jörg Tremmel, a.a.O., S. 114-123 Vgl. ebenda, S. 123ff.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

44

ergibt sich daraus, dass es durch gezielte geschlechtsspezifische Abtreibungen aufgrund der Möglichkeiten der modernen Medizin, bzw. Vernachlässigungen von Mädchen nach der Geburt statt zu fast ausgeglichenen Geschlechterverhältnissen zu Defiziten von 30% bei Mädchen kommt. Der Ökonomienobelpreisträger Amartya Sen 16 hat ja auf diese Problematik der „Missing women“ hingewiesen. In Rumänien wollte der Diktator Ceausescu eine Politik der Bevölkerungsvermehrung betreiben. Dazu wurde der Vertrieb von Verhütungsmitteln untersagt und Abtreibungen strikt verboten. Frauen wurden regelmäßig auf Schwangerschaften untersucht, um heimliche Abtreibungen zu verhindern. Es bleibt also festzuhalten, dass eine aktive Bevölkerungspolitik in einer Vielzahl von Staaten

in

der

Vergangenheit

und

Gegenwart

häufig

mit

schwerwiegenden

Menschenrechtsverletzungen verbunden war, und die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte,

die

der

Nationalsozialisten,

unter

bevölkerungspolitischen

Vorzeichen vorgenommen wurden. Die

skizzierten

historischen

Vorbelastungen

verschiedener

Formen

von

Bevölkerungspolitik, die sich vielfach Instrumente bedienten, die als äußerst gravierende Formen von Menschenrechtsverletzungen bewertet werden müssen, ruft die Frage hervor, ob Bevölkerungspolitik und die Grundwerte eines demokratischen Rechtsstaates, sich nicht grundsätzlich ausschließen? Die Eingangsfrage müsste so beantwortet werden: Bevölkerungspolitik kann ethisch nicht legitimiert werden. Daher könnte es in einem demokratischen Rechtsstaat keine Bevölkerungspolitik geben. Nun

wirken

aber

bestimmte

institutionelle

Arrangements

in

der

öffentlichen

Kinderbetreuung, in der finanziellen Förderung für Familien, in der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit etc. auf die Geburtenrate ein. Gerade der Blick einer gesellschaftskritischen

Theorie

weist

daraufhin,

dass

immer

schon

faktisch

Bevölkerungspolitik betrieben wird. Diese wird aber nicht öffentlich thematisiert und systematisch reflektiert. Dies ist erstaunlich, weil eine wichtige Gesellschaftstheorie in Deutschland, nämlich die Diskursethik von Habermas, doch Diskurse, ohne vorgängige Diskursverbote in ihr Zentrum stellt und in anderen Zusammenhängen etwa zur Enttabuisierung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen oder zur Gewalt in der Ehe beigetragen hat. Für die Legitimität einer ausdrücklichen Thematisierung könnte auch sprechen, dass demokratische Rechtsstaaten wie Frankreich im Kontext ihrer Familienpolitik, oder in ihrer 16

Vgl. Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen, München Wien 2000, S. 237ff.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

Zuwanderungspolitik

Länder

wie

Kanada

45

und

Australien

letztlich

gezielte

Bevölkerungspolitik betreiben. Trotz der Vergangenheit scheint es daher möglich, über eine ethisch legitimierbare Bevölkerungspolitik im deutschen Kontext nachzudenken.

2. Normative Grundlagen einer Bevölkerungspolitik

Menschen verdanken sich nicht selbst, sie sind ohne gefragt zu sein, ohne ihr Zutun, von ihren Eltern in die Welt gesetzt worden. Nach christlichem Verständnis ist jeder einzelne Mensch im Plan Gottes vorgesehen. In Reflexion über und Auseinandersetzung mit der eignen Existenz muss der einzelne Mensch sein eigenes Leben annehmen und als sinnvoll erfahren. Dies spricht dafür, selbst wiederum neues Leben zu ermöglichen. Wie der einzelne oder die einzelne sein / ihr Leben der Liebe der eigenen Eltern verdankt, so schließt die enge und dauerhafte Liebe zu einem Partner, die in einer Eheschließung bekräftigt wird, auch die Weitergabe des Lebens ein. 17 Damit setzen die Eltern die Generationenfolge, die ja ihre eigene Existenz der Bereitschaft ihrer Vorfahren Leben weiterzugeben

verdanken,

fort.

Diese

Kontinuität

darf

nicht

einfach

willkürlich

durchbrochen werden. Eine solche Kontinuität schließt im christlichen Sinn auch die Weitergabe des Glaubens an nachfolgende Generationen ein, was nicht immer gelingt, wofür aber die Existenz einer nachfolgenden Generation eine notwendige Voraussetzung darstellt. Dieses christliche Ethos als einer kommunitären Gemeinschaft hat durchaus praktische Relevanz, sind doch die Geburtenzahlen bei Paaren mit enger Kirchenbindung höher. 18 Während die Ehe nach christlichem Verständnis die grundsätzliche Bereitschaft zum Kind einschließt, ist die Verantwortung für die genaue Kinderzahl in das Ermessen der Eltern gestellt. Diese haben dabei ihre Möglichkeiten, ihre Kinder zu lebenstüchtigen Menschen heranzubilden wie auch das Wohl der Allgemeinheit zu bedenken. Nach kirchlicher Auffassung darf der Staat zwar im Sinne des Gemeinwohls indirekt auf die Bevölkerungsentwicklung einwirken, muss sich aber aller direkten Eingriffe in die Privatsphäre

der

Eheleute

und

Zwangsmaßnahmen

(Zwangsabtreibung,

Sterilisationsprogramme) enthalten.

17 18

Vgl. Gaudium et spes Nr. 50.

Vgl. Marina Rupp, Die Lebenssituation kinderreicher Familie und sozialpolitische Herausforderungen, in : Jörg Althammer / Ute Klammer (Hrsg.) Ehe und Familie in der Steuerrechts- und Sozialordnung, Tübingen 2006, S. 155-178, hier 160.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

46

Einige Fragen der traditionellen kirchlichen Lehre wie das Verbot künstlicher Mittel der Empfängnisverhütung und das überlieferte Familien- und Frauenbild sind auch innerkirchlich umstritten. So schrieb 1985 der inzwischen verstorbene Münchener Jesuit Walter Kerber zur Problematik „künstlicher“ Mittel der Empfängnisverhütung: Bisher sei es dem kirchlichen Lehramt nicht gelungen, „für diese Auffassung ethische Argumente vorzubringen, die die breite Öffentlichkeit überzeugt hätten.“ 19 Zu einigen jüngeren bischöflichen Aussagen zum Frauen- und Familienleitbild muss festgestellt werden, dass katholischen Religionslehrerinnen, promovierte Theologinnen in bischöflichen Behörden, Theologieprofessorinnen usw. ihre Kinder vor Vollendung des 1. Lebensjahres in Fremdbetreuung geben, selbst wenn die Ehepartner Professoren sind, so dass keine ökonomischen Zwänge für eine schnelle Rückkehr in die Erwerbsarbeit gegeben sind. Wenn schon innerhalb der kirchlichen Kommunität bestimmtem Fragen der Konkretion „guten

Lebens“

umstritten

sind,

kann

man

nicht

erwarten,

dass

sie

als

Gerechtigkeitsvorstellungen zu einem gesamtgesellschaftlichen Leitbild werden, dass die Institutionen und Regelsysteme einer pluralistischen Gesellschaft prägen. Zur

sozialethischen

Perspektive

ist

aus

katholischer

Sicht

die

Position

der

Pastoralkonstitution des Konzils „Gaudium et spes“ Nr. 87 zentral: „Nach dem unveräußerlichen Menschenrecht auf Ehe und Kinderzeugung hängt die Entscheidung über die Zahl der Kinder vom rechten Urteil der Eltern ab und kann keinesfalls dem Urteil der staatlichen Autorität überlassen werden.“ In ähnlicher Weise wie in Gaudium et spes 1965 hat 1968 die UN-Konferenz über Menschenrechte proklamiert: „Eltern haben ein fundamentales Menschenrecht, frei und verantwortlich die Zahl und den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder zu bestimmen.“ 20 Individuelle

Rechte

müssen

aber

immer

wieder

mit

Gemeinwohlanliegen

in

Übereinstimmung gebracht werden, wenn sozialwissenschaftlich gesprochen, individuelle Rationalität und kollektive Rationalität auseinanderfallen. 21 Dass dies bereits bei zwei Personen der Fall sein kann, zeigt ja das „Gefangenendilemma“. Um kollektive und individuelle Rationalität in größere Übereinstimmung zu bringen, ist generell, z.B. in der Umweltpolitik

akzeptiert,

dass

diese

durch

eine

Gestaltung

gesellschaftlicher

Rahmenbedingung und Anreizbedingungen hergestellt werden soll. Dass dies auch für Bevölkerungsfragen gelten kann, soll nun näher thematisiert werden. 19 20 21

Vgl. Walter Kerber, Bevölkerungspolitik, in: Staatslexikon 7. Auflage, S. 769. Zitiert nach ebenda, S. 765.

Vgl. dazu: Joachim Wiemeyer, Familie und marktwirtschaftliche Ordnung, in: Nils Goldschmidt u.a. (Hrsg.) Die Zukunft der Familie und deren Gefährdungen, Norbert Glatzel zum 65. Geburtstag, Münster 2002, S. 287-3000, bes. 294f.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

47

Für normative Fragestellungen innerhalb einer weltanschaulich-pluralistischen und freiheitlichen Gesellschaft bietet sich der Rückgriff auf die vertragstheoretische Konzeption im Horizont von John Rawls 22 an. Dabei geht es nicht um die genaue Übernahme, sondern um die Anwendung seiner Denkstrukturen. Im Gegensatz zu einem naturrechtlichen Individualismus, wie er etwa von Robert Nozick vertreten wird, kennt eine Vertragstheorie kollektive gesellschaftliche Zielsetzungen, die allen Individuen gemeinsam sind. Solche kollektiven Zielsetzungen können sich etwa auf den Erhalt der natürlichen Umwelt beziehen, im ökonomischen Bereich etwa auf das Ziel der Preisstabilität, über den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und die Begrenzung sozialer Ungleichheit etc. In dem Konzept von Rawls werden die Gerechtigkeitsgrundsätze der Gesellschaft in einem Urzustand hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ festgelegt. Im Urzustand verfügen die Vertragsschließenden zwar über historisch-sozialwissenschaftliches Wissens über grundlegende Ordnungsfragen von Gesellschaften, aber sie verfügen über keine Kenntnis darüber, welche Stellung sie in der Gesellschaft einnehmen, für die sie Gerechtigkeitsregeln festlegen. Auch haben sie keine Kenntnis darüber, welcher Generation sie angehören, wenn sie die Regeln intergenerationeller Gerechtigkeit bestimmen. Bekanntlich gibt es bei Rawls eine Spannung zwischen den horizontalen Grundsätzen der Verteilungsgerechtigkeit

(Differenzprinzip)

und

Regeln

der

vertikalen,

generationenübergreifenden Gerechtigkeit (gerechter Spargrundsatz). Während im horizontalen Bereich vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen von der Verteilung profitieren sollen, müssen im Kontext der ökonomischen Entwicklung jeweils ärmere Generationen auch noch Konsumverzicht leisten und sparen, um die Herausbildung menschlicher Kultur, eine schrittweise Besserstellung nachfolgender Generationen, die potentielle Vermehrung nachfolgender Generationen und eine höhere Lebenserwartung zu ermöglichen. Es muss also in jeder Generation Nettoinvestitionen geben. Die Überlegungen zur intergenerationellen Gerechtigkeit 23

beinhalten also, dass

nachfolgenden Generationen hinreichendes Naturkapital hinterlassen wird, verbrauchtes Naturkapital durch höheres Sachkapital und Wissenskapital überkompensiert wird. Es liegt

22

Vgl. John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1979; zum Überblick: Wolfgang Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 1993.

23

Joachim Wiemeyer, Gerechtigkeit zwischen Generationen als wirtschaftsethisches Problem, in: Ethica 12. Jg. (2004), 71-94.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

48

auf der Hand, dass es einen Unterschied macht, ob man den Gesamtbestand des Kapitals eines Landes betrachtet oder den Kapitalbestand pro Kopf. Bei

einem

hohen

Bevölkerungswachstum

kann

z.B.

bei

einem

Anstieg

des

Gesamtbestandes des Kapitals trotzdem das Kapital pro Kopf sinken, bei einer Bevölkerungsschrumpfung aber bei konstantem oder gar leicht rückläufigen Kapital das Kapital pro Kopf steigen. Man muss sich also der Frage der Bevölkerungszahl widmen. Zunächst muss man festhalten, dass die Existenz einer nachfolgenden Generation im Interesse aller liegt. Gemeinwesen sind auf Dauer angelegt. Dies liegt darin, dass Menschen nach Ende ihrer aktiven Arbeit auch mit Güter und Diensten versorgt werden wollen, was eine jüngere Generation voraussetzt. Der Bevölkerungswissenschaftler und Sozialpolitiker Gerhard Mackenroth 24 hat darauf verwiesen, dass die Versorgung der Alten immer Bestandteil des laufenden Volkseinkommens ist. Dies muss aktiv erarbeitet werden. Wenn man ein Interesse an einer Mindestabsicherung des Lebensstandards im Alter voraussetzt und ebenso ausreichende alterspezifische pflegerische und medizinische Dienstleistungen ergibt sich daraus eine Mindestbevölkerungszahl. Ein Interesse an einer solchen Mindestgröße nachfolgender Generationen ist m.E. vernünftigerweise nicht zu bestreiten. Daher ergibt sich das ethische Postulat, dass die gesellschaftlichen Institutionen so gestaltet sein sollten, dass diese Mindestzahl gewährleistet wird. Prinzipiell könnte man sich denken, dass jedes Gesellschaftsmitglied individuell selbst zur Reproduktion verpflichtet wäre. Es gibt daher Gesellschaften, die so eingerichtet sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung auf eigene Kinder zur Alterssicherung existentiell angewiesen ist. Weder garantiert dort ein Rechtsstaat eine hinreichende Sicherheit privater Vorsorge bzw. Kapitalbildung, noch existiert ein Sozialstaat, so dass die Folgen eigener Kinderlosigkeit sozialisiert sein können. Dort ist Kinderlosigkeit ein hartes Schicksal, das häufig dann so aufgefangen wird, dass man Kinder der Verwandten adoptiert. Wenn man einen freiheitlichen Charakter der Gesellschaft bejaht, sollten Zwänge aus Kinderlosigkeit vermieden werden: Kinderlosigkeit kann es aus verschiedenen Gründen, wie einer nichtheterosexuellen Orientierung, medizinischer Kinderlosigkeit (Sterilität), freiwilliger Ehelosigkeit, Nichtfinden eines geeignetes Partners etc. geben.

24

Vgl. Gerhard Mackenroth, Die Reform der deutschen Sozialpolitik Sozialpolitik durch einen Sozialplan, in: Erik Boettcher (Hrsg.) Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, 43-74.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

49

In seiner intertemporalen Reflexion der Einkommensverteilung hat Wilfried Schreiber 25 darauf hingewiesen, dass eine Person in seiner aktiven Phase das gesamte Lebenseinkommen erwirtschaften muss, nämlich zum einen für die Kinder- und Jugendphase, den Lebensstandard während der aktiven Phase sowie für das Alter. Die deutsche Gesellschaft ist bisher so organisiert, dass Menschen nicht den eigenen Jugendkredit zurückzahlen, sondern dies durch die Investitionen in eigene Kinder tun. Wenn in der Gegenwart etwa ein Drittel der Bevölkerung kein Kind hat, weitere knapp 20 % der Paare nur ein Kind haben, erbringen rd. 50% der jüngeren Alterskohorten kein quantitativ ausreichenden Beitrag. Kaufmann 26 hat darauf aufmerksam gemacht, dass für die inländische Bevölkerung ohne Migrationshintergrund die Kinderzahl noch geringer ist, weil sich diese lediglich noch zu 55% reproduziert. Somit zahlt im Sinne von Schreiber gewissermaßen die Generation der nach 1945 Geborenen ihren eigenen Jugendkredit nicht zurück und verfügen über vermehrte Konsummöglichkeiten. Dabei haben sie faktisch gleichermaßen wie die Personen mit zwei und mehr Kindern ein Interesse an einer ausreichend starken nachwachsenden Generation, weil sie z.B. im Alter Güter und Dienstleistungen benötigen werden, unabhängig davon, ob ein umlage- oder kapitalgedecktes Alterssicherungssystem existiert. Wenn man nun zwei Aspekte in Rechnung stellt, nämlich den freiheitlichen Charakter der Gesellschaft mit der Wahl der Lebensformen und zweitens berücksichtigt, dass es für die Zukunftsvorsorge der Gesellschaft nicht allein auf die Quantität nachwachsender Generationen, sondern auch ihre Ausbildung ankommt, ebenso die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen von Investitionen in Wissen, Sachkapital, Infrastruktur, und der Erhaltung des Naturkapitals abhängen und ebenso fehlende inländische Geburten durch schnell und gut integrierte Zuwanderer teilweise ersetzt werden können, ergibt sich nicht zwingend eine Bestandserhaltung der Bevölkerung als bevölkerungspolitisches Leitbild. Die normative Frage wird sich also auf die Zukunftssicherung der Gesellschaft insgesamt beziehen. Dabei stehen zwei mögliche Grundprinzipien zur Auswahl: A. Alle

Gesellschaftsmitglieder

sind

verpflichtet,

sich

gleichermaßen

an

der

Zukunftssicherung der Gesellschaft zu beteiligen. B. Es ist Ausdruck der Freiheit, dass es in das Belieben der Gesellschaftsmitglieder gestellt wird, ob und welchem Umfang sie Zukunftsvorsorge betreiben wollen.

25 26

Vgl. Wilfried Schreiber, Zum System Sozialer Sicherung, hrsg. v. Heinz Allekotte, Köln 1971. Franz Xaver Kaufmann, Familien in den Spannungsfeldern gefährdeter Sozialstaatlichkeit, Köln 2007.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

50

M.E. wird man sich in einer unparteilichen Ausgangssituation wie im Urzustand gemäß Rawls für die Alternative A entscheiden. Sie hat zwei entscheidende Vorteile: Erstens wirft sie keine Gerechtigkeitsprobleme zwischen denjenigen auf, die Zukunftsvorsorge betreiben und denjenigen, die sie unterlassen, und zweitens kann sie verhindern, dass als Ergebnis unkoordinierter, dezentraler Entscheidungen letztlich ein Ergebnis herbeigeführt wird, das niemand wollen kann. In der klassisch-katholisch Terminologie hat man solche kollektive Irrationalitäten, die aus fehlendem oder schlecht koordiniertem individuellen Rationalverhalten

erwachsen

als

gemeinwohlwidrige

Zustände

bezeichnet.

Die

ausreichende Zukunftsvorsorge der Gesellschaft wäre damit ein Erfordernis des Gemeinwohls. Zur Zukunftsvorsorge gehört eine hinreichende Bevölkerungsgröße. Bevölkerungspolitik gehört damit zu den legitimen Politikbereichen.

3. Konsequenzen für die Bevölkerungspolitik

1. Aus der Vertragstheorie ergibt sich ein demokratischer Rechtsstaat. Dies bedeutet, dass bevölkerungspolitische Überlegungen mit Grundrechten vereinbar sein müssen, Gegenstand

zivilgesellschaftlicher

Diskussionen

und

formaldemokratischer

Entscheidungsprozesse zu sein haben. Im Rahmen dieses Kontextes ist aber eine gesellschaftspolitische Verständigung darüber möglich, dass in Deutschland die gegenwärtige Geburtenrate zu gering ist und dass die vielfältigen Instrumente, die sich auf die Geburtenzahl auswirken, ausdrücklich auf ihre Wirkung hinsichtlich der Geburtenrate zu überprüfen sind. Bevölkerungspolitik bedeutet damit, dass Instrumente wie das Elterngeld, Arrangements der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kindergeld, Steuererleichterungen,

Bestimmungen

im

Rentenrecht,

Einrichtungen

der

Kinderbetreuung, Ganztagsschulen etc. bewusst vorrangig unter demographischen Auswirkungen evaluiert werden. Es sollten z.B. Kosten-Nutzen- Analysen durchgeführt werden, welche Maßnahmen welche Effekte haben. Dabei ist auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der häufig weder in der Ökonomie beachtet wird, noch dem vier-Jahres Rhythmus der Politik entspricht. Neue institutionelle Regelungen brauchen längere Zeit bis sie implementiert werden und effektiv wirken. Sie müssen eine gewisse Verlässlichkeit und Kontinuität aufweisen, bis ihnen die Bevölkerung vertraut, schrittweise Verhaltensänderungen von einzelnen Individuen können erst langsam sich auf das Wertbewusstsein der Bevölkerung auswirken. Selbst wenn man etwa sofort alle französischen Institutionen einführen würde und könnte, würden in Deutschland

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

51

vermutlich auch nach fünf Jahren noch längst nicht französische Geburtenziffern erreicht worden sein. 2. Zur Höhe der Geburtenzahl ist anzumerken, dass Befragungen der Bürger in Deutschland ergeben, dass sich die angestrebte Kinderzahl der Individuen oberhalb der tatsächlichen Geburtenzahl, aber unterhalb des für die Konstanz der Bevölkerung erforderlichen Niveaus bewegt. Sie liegt etwa bei 1,7 27 und ist bei Frauen leicht höher als bei Männern, was auf eine wichtige Ursache der Geburtenentwicklung hinweist, nämlich dass Frauen mit Kinderwunsch vielfach keinen Partner mit identischem Kinderwunsch finden. Daher ist es in sozialethischer Hinsicht unproblematisch, wenn gesellschaftliche Institutionen so fortentwickelt werden, dass sie den Menschen die Erfüllung der individuellen Zielvorstellungen ermöglichen. Hinzu kann noch eine begrenzte Zuwanderung kommen. Diese ist aus ethischer Hinsicht legitimerweise zu beschränken, weil Integrationsprozesse Zeit dauern und nur in begrenzter Weise möglich

sind.

Solche

Begrenzungen

ergeben

sich

z.B.

daraus,

dass

die

nachwachsende Generationen in Schulen nicht überwiegend aus Migranten bzw. Schülern mit Migrationshintergrund bestehen sollte, weil sonst eine Integration in die deutsche Gesellschaft schwierig wird. Die Fragen qualitativer Bevölkerungspolitik, die sich im Kontext der Auswahl von Migranten (deutsche Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation, Alter etc.) stellt, kann hier nicht weiter thematisiert werden. 3. Bei einem leichten Anstieg der Geburtenrate und einer begrenzten Zuwanderung kann die Bevölkerung in Deutschland durchaus langsam schrumpfen. Eine langsamere Schrumpfung als sich unter status quo-Bedingungen abzeichnet überfordert nicht die Anpassungsprozesse im Bereich der Sozialen Sicherungssysteme, der Infrastruktur etc. Bei einer schrumpfenden Bevölkerung unter der Voraussetzung einer angemessen Städtebau- und Raumordnungspolitik, die z.B. vor allem Brachflächen nutzt und Städte von außen nach innen zurückbaut, gibt es ökologische Vorteile. Der Gebrauch natürlicher Rohstoffe kann zurückgehen, die Artenvielfalt besser erhalten werden etc. 4. Wenn man in einem drei Generationen-Kontext eine jüngere, eine erwerbstätige und eine ältere Generation unterscheidet, so ist in der Gegenwart die Alterssicherung fast vollständig sozialisiert, hingegen die Versorgung der jüngeren Generation nur zumindest teilweise mit erheblichen privaten Anteilen. Es gibt daher zwei grundsätzliche Reformansätze: Die erste Möglichkeit wäre, auch die Kosten der nachwachsenden Generation ebenso voll zu sozialisieren. Ein Kernproblem der ersten Alternative besteht 27

Vgl. etwa Jörg Tremmel, a.a.O., S. 263f.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

52

darin, wie man nicht nur die effektiven Kinderkosten wie Aufwendungen für Ernährung, Kleidung, Wohnung, Freizeit, Spielzeug usw. finanziert, sondern auch den Zeitaufwand der

Eltern,

zumindest

soweit

dieser

mit

Opportunitätskosten

entgangenen

Erwerbseinkommens verbunden ist, teilweise kompensiert. Gerade der letze Punkt würde erhebliche Mittel und eine deutlich höhere Steuer - und Abgabenquote erfordern. Die zweite Alternative besteht darin, die Alterssicherung zumindest teilweise zu privatisieren. Zwar ist eine stärkere Privatisierung der Alterssicherung in den letzten Jahren erfolgt. Dies betrifft aber Personen ohne Kinder genauso wie Personen mit Kindern. Die bei der Riester-Rente für Familien gezahlten besonderen Prämien können aber folgendes ökonomisches Rationalkalkül eines Paares nicht vermeiden: Sollen wir ein bzw. ein weiteres Kind bekommen, oder sollen wir stattdessen mögliche private Aufwendungen für Kinder bzw. potentiell höhere Erwerbseinkommen nicht lieber für Formen kapitalgedeckter Altersversorgung verwenden? Wenn dieses Rationalkalkül empirische Bedeutung hätte, wäre eine weiterer Geburtenrückgang die Folge und mit der Einführung einer verstärkten kapitalgedeckten Altersvorsorge nichts gewonnen. In diesem Sinne wäre es sinnvoll, von Kürzungen in der Alterssicherung, soweit sie sich nicht auf eine längere Lebenserwartung beziehen, sondern auf den Geburtenrückgang, Personen mit zwei und mehr Kindern auszunehmen, und diese auf kinderlose Personen bzw. Personen mit nur einem Kind zu konzentrieren, mit einer entsprechenden Verpflichtung zusätzlicher privater Altersvorsorge. 28 Höhere Einkommen bzw. fehlende Ausgaben für private Kinderausgaben, könnten dann nicht in höheren Konsum fließen, sondern in Kapitalbildung. Der Konsumstil der Gesellschaft würde nicht von kinderlosen Singles und Doppelverdienern geprägt. Außerdem könnte mit so einem System ein sich selbststeuernder Regelmechanismus etabliert werden.

Schlussbemerkung

Als Fazit soll mit einem Zitat aus der nationalökonomischen Dissertation in St. Gallen von Franz Xaver Kaufmann aus dem Jahr 1960 geschlossen werden: „Das Wort ist durch die Maßnahmen des Dritten Reiches in vielen Kreisen in zwar verständlichen, aber nicht gerechtfertigten Mißkredit geraten. Demgegenüber muß betont werden, daß das grundsätzliche Anliegen einer

28

Vgl. dazu die Überlegungen bei Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, 4. korr. Aufl. München 2003, S. 390ff.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Joachim Wiemeyer

53

Bevölkerungspolitik, die Beeinflussung der Bevölkerungsentwicklung im Hinblick auf allgemein angenommene gesellschaftliche Zielsetzungen, ebenso legitim ist, wie dasjenige der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die durchaus diskussionswürdige Frage ist allein, nach welchen Zielen eine Bevölkerungspolitik ausgerichtet sein soll und welcher Mittel sie sich bedienen soll und darf, um diese Ziele zu erreichen.“ 29 . Wahrscheinlich musste man in der Vergangenheit Schweizer wie Franz Xaver Kaufmann sein, um solche Fragen überhaupt in Deutschland thematisieren zu können.

29

Franz Xaver Kaufmann, Die Überalterung. Ursachen, Verlauf, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses, Zürich St. Gallen 1960 zitiert nach: Warum nicht Bevölkerungspolitik? In: Beiträge aus der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung. Festschrift für Hermann Schubnell, hrsg. von S. Rupp und K. Schwarz. (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Band 11) Boppard a.Rh.: Boldt, 1983, S. 3544, hier S. 35f.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

54

Klaus Peter Strohmeier Wie wirkt Familienpolitik? Was lehren uns internationale, regionale und lokale Vergleiche?

1. Staatliche Familienpolitik am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist Bevölkerungspolitik

Der fünfte Familienbericht der Bundesregierung (Bundesministerium für Familie und Senioren 1994) im Jahre 1994 hat Franz-Xaver Kaufmanns These von der strukturellen Rücksichtslosigkeit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als eine der Hauptursachen für den Wandel der privaten Lebensformen und der Familie ausgemacht. Strukturelle Rücksichtslosigkeit, so war die Botschaft, gefährdet das Humanvermögen und damit die sozialen Existenzgrundlagen unserer Gesellschaft. Diese Rücksichtslosigkeit eine strukturelle zu nennen, impliziert eine gewisse Unvermeidlichkeit und möglicherweise auch Erwünschtheit solcher Vernachlässigung. Entsprechend nachrangig ist jahrzehntelang das Politikfeld Familie besetzt gewesen, und bei der Etablierung eines Familienministeriums in der Bundesrepublik In den 1950er-Jahren sprach der Soziologe Helmut Schelsky sogar von der „Mission einer Landplage" (Schelsky 1954).

Der Geburtenrückgang der 1960er- und 1970er-Jahre, dessen Echowirkungen in den 1990er-Jahren nicht mehr zu übersehen waren, ebenso wie der Einbruch der Geburtenzahlen in den neuen Bundesländern ab Oktober 1990, haben der Familienpolitik in Deutschland erstmals wirkliche Konjunktur beschert. Auch wenn das heute niemand so nennen mag, Familienpolitik in Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts ist faktisch Bevölkerungspolitik, und das bevölkerungspolitische Motiv ist verantwortlich für die gegenwärtige

Prominenz

familienpolitischer

Themen.

Der

Unterschied

zwischen

Familienpolitik und Bevölkerungspolitik, zumindest solange man Maßnahmen und Programme darunter versteht, die im Rahmen einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft vorstellbar sind, besteht in der Tat nur in den expliziten Absichten derer, die sie veranstalten. In diesem Zusammenhang ist eine Unterscheidung wichtig, auf die am Ende dieses Beitrags zurückgegriffen wird. Einerseits sei solche Politik Familienpolitik, die die

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

55

Beeinflussung der Lebenslage von Familien, ihrer Lebensformen (einschließlich der Zahl ihrer Kinder oder der Erwerbstätigkeit der Eltern), des Familienalltags oder der Leistungen der Familien (vor allem ihrer Erziehungsleistung) beabsichtigt. Andererseits lässt sich sagen, dass eben jene Politik Familienpolitik sei, der dies tatsächlich gelingt. Im einen Fall wird also über die Intentionen der Politiker (beziehungsweise über die Absichten der Familienministerin) geredet, im anderen Fall über die tatsächlichen Wirkungen der Politik. Der zweite Begriff von Familienpolitik ist folglich weitaus umfassender und schwerer zu operationalisieren.

Im internationalen Vergleich hat sich gezeigt, dass eine (von den Wirkungen her gesehen) moderne Familienpolitik, die besonders die Erwerbsbeteiligung beider Eltern ermöglicht, mit relativ hohen Geburtenzahlen einhergeht. In den Ländern, in denen die Erwerbsquote von Müttern deutlich höher ist als in Deutschland, finden sich deutlich höhere Geburtenzahlen und deutlich weniger kinderlose Erwachsene. Deshalb empfehlen heute auch Konservative eine in diesem Sinne moderne Familienpolitik als Mittel zur Geburtenförderung

(und

gelegentlich

als,

freilich

ungeeignete,

Alternative

zur

Einwanderung). Diese Empfehlungen übersehen dennoch, dass jene Länder, in denen hohe Müttererwerbsquoten und relativ hohe Geburtenzahlen zu verzeichnen sind (z.B. die skandinavischen Länder und Frankreich, neuerdings aber auch die Niederlande) mit Ausnahme Frankreichs gar keine explizite Familienpolitik betreiben.

Um die Nachfrage nach Kindern und damit die Fertilitätsrate zu erhöhen, müssen die Opportunitätskosten von Kindern verringert werden. „Der Leitgedanke einer nachhaltigen Familienpolitik besteht darin, den Einkommensverlust in der Familiengründungsphase abzumildern" (Rürup/Gruescu 2005, S. 5f), so Bert Rürup in seiner Literaturstudie über nachhaltige Familienpolitik, denn: In „Deutschland ist Kinderlosigkeit, die zudem überdurchschnittlich bei gut qualifizierten Frauen auftritt, das eigentliche demographische Problem. Im europäischen Vergleich bleiben hier die meisten Frauen dauerhaft kinderlos. Ein Trend zur Ein-Kind-Familie ist nicht feststellbar. (...) Daher muss der Schwerpunkt einer Familienpolitik darauf liegen, die Ursachen dafür zu beseitigen, dass sich ein Paar generell gegen die Umsetzung eines Kinderwunsches entscheidet“ (ebd., S. 4). Aus diesem Grunde wird als Kernstück einer nachhaltigen Familienpolitik Erhöhung der Geburtenrate und Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen genannt. Ein wichtiges Instrument dieser Politik ist der Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, der flankiert wird durch Elterngeld für Mütter und -durchaus kontrovers diskutiert- für Väter. Das

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

56

Spannungsverhältnis zwischen einem institutionellen (an den Absichten der Politiker ansetzenden) und einem wirkungsanalytischen (von den Effekten bei den Familien ausgehenden)

Familienpolitikbegriff

bleibt

in

diesen

Diskursen

unberücksichtigt.

Tatsächlich wird davon ausgegangen, dass Politik tatsächlich ihre Absichten erreicht. Franz-Xaver Kaufmann hat aber bereits 1990 die „Politikresistenz" (vgl. Kaufmann 1990) und die Eigensinnigkeit der Familie unterstrichen.

In einem Beitrag zur Theorie der Wirkungsweise von Familienpolitik habe ich die Bedeutung sozialkultureller Faktoren sowohl für die Implementation als auch für die Inanspruchnahme und die möglichen Wirkungen von Politik bei den Adressaten betont (vgl.

Abbildung

1).

Familienpolitikprofile

unterschiedlicher

Länder

sind

danach

gewissermaßen in Institutionen geronnene Ideologien eines „richtigen“ Familienlebens (vgl. Strohmeier 2002).

Abbildung 1: Wie wirkt Familienpolitik auf die Geburtenzahlen?

Quelle: Strohmeier 2002.

Die Niederlande beispielsweise sind Anfang der 1990er-Jahre von einem dem deutschen ähnlichen Politikprofil, welches faktisch die Förderung der traditionellen Hausfrauenfamilie bedeutet, auf ein skandinavisches Profil umgestiegen, das die Erwerbstätigkeit beider Eltern erleichtert und in diesem Fall sogar erfordert hat. Dieser Politikwechsel war nicht familienpolitisch, sondern arbeitsmarktpolitisch motiviert. Tatsächlich haben sich die Lebensläufe von Frauen und Männern und die Familienstrukturen (einschließlich der mittlerweile recht hohen Geburtenraten) erst mit einer Verzögerung von etwa einem Jahrzehnt diesen neuen Rahmenbedingungen angepasst. Es gibt in diesem Modell keinen

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

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direkten Effekt der Politik auf die Fertilität. Mögliche Wirkungen ergeben sich erst über individuelle und paarweise beziehungsweise im Familienzusammenhang getroffene Lebensentscheidungen. Solche Entscheidungen werden jedoch nicht nur durch kulturelle und gesamtgesellschaftliche politische Vorgaben beeinflusst. Sie hängen vielmehr in entscheidendem Maße von den örtlichen Lebensbedingungen ab, unter denen Familien leben und Kinder aufwachsen. Ob biografische Optionen junger Erwachsener tatsächlich in die angestrebten Lebensformen münden, hängt nicht zuletzt von den Möglichkeiten der Organisation des Alltags in diesen Lebensformen und damit von den örtlichen Verhältnissen ab.

2. Familienpolitik und Familienleben „vor Ort“

in der Gemeinde oder im Stadtteil entscheidet sich, ob eine von einer Frau und einem Mann für ihr Leben und das ihrer Kinder getroffene „biographische Option“ (es geht also um mehrere Optionen und ihre nicht unproblematischen Synchronisationen) tatsächlich verwirklicht werden kann. Ausschlaggebend für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind z.B. die Möglichkeiten der Kinderbetreuung, die sie an ihrem Wohnort bzw. Arbeitsplatz in guter Erreichbarkeit vorfinden. Im internationalen Vergleich ist dieser Zusammenhang in der Tat sehr deutlich: Je besser die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, desto höher sind die Erwerbsquoten der Mütter und desto höher sind die Geburtenraten (vgl. Abbildung 2), so der siebte Familienbericht der Bundesregierung, der ausgewählte Länder vergleicht (vgl. Bertram u.a. 2006).

Abbildung 2: Öffentliche Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren und zusammengefasste Fertilitätsraten ausgewählter Länder 1 ,7 5

N e t h e r la n d s F ra n c e

1 ,7 0

S w e d e n

1 ,6 5

total fertility rate 2002

D e n m a rk

U n i te d

K in g d o m

1 ,6 0

1 ,5 5

1 ,5 0

1 ,4 5

R - Q u a d r a t lin e a r = 0 ,9 3 6

1 ,4 0

G e rm a n y

1 ,3 5

0 ,0

1 0 ,0

2 0 ,0

n o n -p r iv a te d a y c a re

3 0,0

fo r c h i l d r e n

4 0,0

5 0 ,0

u n d e r th re e , 2 0 0 2

Quelle: Bertram u.a. 2006: eigene Berechnungen

6 0 ,0

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

58

Auf der örtlichen Ebene jedoch finden wir nicht die gleichen Korrelationen, wie in den Ländervergleichen. Zwischen den Müttererwerbsquoten und den Betreuungsquoten für die unter Dreijährigen besteht im Vergleich der Kreise und kreisfreien Städte in NRW zum Beispiel überhaupt kein Zusammenhang, was bei einer Spannweite von null bis maximal sechs Plätzen auf 100 Kinder betreffenden Altersgruppe nicht weiter erstaunlich ist.

Abbildung 3: Kindergartenplätze auf 100 Kinder (2002) und Müttererwerbsquoten (2003) in den Kreisen und kreisfreien Städten in Nordrhein-Westfalen

per cent working mothers, cities and districts 2003

7 0,0 0

G ü te 65 ,0 0

M in d

60 ,0 0

H erf

L ip p

H ö xt R em s P a d e V ie r M ö n c S o es N e u s R he i S tei W are M ün s O be r C oe s R he i M e t t S ie g Le ve K re f W ese H a m m U n n a M ä r k K le v E u sk D ü r e R e ck E sse K ö ln D üss

B ie l O b er

5 5,0 0

S o li

K re i

D o rt 5 0,0 0

M ü lh

A ach B och

H e rn

4 5 ,0 0

D u is G e ls R - Q u a d r a t li n e a r = 0,2 2 6

4 0 ,0 0

9 0 ,0

9 5 ,0

1 00 ,0

1 0 5,0

1 1 0 ,0

p la c e s p e r 1 0 0 c h ild r e n 3 - 6 , 2 0 0 2

Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW: eigene Berechnungen

Abbildung 4: Kindergartenplätze auf 100 Kinder (2002) und Geburtenraten (Frauen im Alter von 15 bis unter 45; 2004) in den Kreisen und kreisfreien Städten in Nordrhein-Westfalen 1 1 0 ,0

B oc h A a c h

M ü lh

nurseries places 3-6 per 100, 2002

G e ls

W e s e K re f R e c k

1 0 5 ,0

S o es S ie g R em s D ü re H öx t K re i B ott D ü s s D u is N e u s V ie r H e in E u s k E r ft M e t t K le v K ö ln M ö nc E s s e U n na R h ei C oe s O b e r P a de D o r t O lp e W u p p M ä rkL e v e H a ge H e rn S o li R h e i E nn e H e rf S te i

H oc h

M ü ns 1 0 0 ,0

95 ,0

W a re B o rk

H a m m M in d 90 ,0

O b er

B ie l

3 8 ,0 0

4 0 ,0 0

4 2 ,00

F e r ti l i ty

4 4 ,0 0

ra te

4 6 ,0 0

4 8 ,00

L ip p G ü te

R - Q u a d r a t lin e a r = 0 ,2 5 4

5 0 ,0 0

5 2 ,00

2 0 0 4 (a g e s 1 5 - 4 5 )

Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW: eigene Berechnungen

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

59

Zwischen den Betreuungsquoten für die Drei- bis unter Sechsjährigen auf der einen und den Müttererwerbsquoten und den Geburtenraten auf der anderen Seite gibt es sogar signifikante negative Korrelationen, wie die Abbildungen 3 und 4 zeigen. In den Umlandkreisen der großen Städte sind die Geburtenraten und die Anteile der erwerbstätigen Mütter besonders hoch.

Welchen Rat also soll man einer Oberbürgermeisterin oder einem Oberbürgermeister in den Städten mit besonders niedrigen Fertilitätsraten geben? Wo soll staatliche Familienpolitik, wenn sie den Empfehlungen von Rürup folgen will, die entsprechende Betreuungsinfrastruktur etablieren? Die Großstädte mit den niedrigsten Geburtenraten und den

niedrigsten

Müttererwerbsquoten

haben

zumindest

im

Kindergartenbereich

Versorgungsniveaus bei oder über 100 Prozent. Unstrittig ist, dass die Angebote für Kinder bis drei Jahren überall weit hinter den Bedarfen zurückbleiben dürften. Irritierend jedoch der Befund: Je mehr Plätze für Kinder im Kindergartenalter in den Städten vorhanden sind (Spitzenreiter sind die Städte Bochum, Aachen und Gelsenkirchen), desto geringer ist die Erwerbsquote der Mütter und desto geringer sind die Geburtenraten.

Auf der örtlichen Ebene, also dort, wo die verbesserte und vermehrte Kinderbetreuung, die den Politikwechsel in Deutschland maßgeblich ausmachen soll, implementiert werden soll, erweist sich die Unzulänglichkeit einer Engführung von Familienfreundlichkeit auf Kinderbetreuung. Die Städte im Ballungskern haben zwar die besten Versorgungsniveaus, aber nur einer von fünf oder sechs Haushalten dort ist noch eine Familie mit Kindern. Vor allem die Familien der Mittelschicht haben in den letzten Jahrzehnten die großen Städte im Ballungskern verlassen und sind an den Rand der Städte und ins Umland gewandert. Die Städte sind auf diese Weise über ihre Grenzen gewachsen. Unter den Familien, die in den Städten geblieben sind, sind heute besonders viele Migranten, von denen die meisten in traditionellen Ein-Verdiener-Haushalten leben, und viele arme Familien, darunter viele allein erziehende Mütter.

Die wenigsten erwerbstätigen Mütter und die niedrigsten Geburtenraten gibt es in den großen Städten und im Ballungskern an Rhein und Ruhr. Ein familienfreundliches Umfeld ist also nicht in erster Linie eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Mittelschichtfamilien haben die Städte trotz ihres guten Betreuungsangebots verlassen und sie sind in die Kreise, ins familienfreundliche Umland gezogen trotz der erwartbaren Engpässe in der Kinderbetreuung. Eine familienpolitisch höchst relevante, aber wenig

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

60

bearbeitete Forschungsfrage wäre die nach den informellen Arrangements, die Müttern in den Umlandregionen bei defizitärer Betreuungsinfrastruktur Erwerbsquoten ermöglichen, die zum Teil über 65 Prozent (bei hohen Pendlerquoten) erreichen.

In

diesem

Zusammenhang

wird

eine

weitere

Engführung

der

gegenwärtigen

familienpolitischen Diskurse in Deutschland deutlich. Die Probleme und Engpässe, die öffentlich thematisiert werden, sind in erster Linie die der familienorientierten Frauen (und Männer) in den mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft, und es sind vor allem die Probleme der ländlich-suburbanen Regionen im Umland der großen Städte und der bürgerlichen Viertel in den Städten.

Tatsächlich aber gibt es in unserer Gesellschaft schicht- und milieuspezifische Geschlechterordnungen. Die unteren Schichten und Menschen mit Migrationshintergrund sind in ihrer Lebensführung deutlich traditioneller als die mittleren und oberen Schichten (vgl. Helfferich u.a. 2004). Nach Jahrzehnten selektiver Migration und zunehmender Segregation der Bevölkerung nach Lebenslagen, Lebensformen und ethnischer Zugehörigkeit bilden sich diese gesellschaftlichen Differenzierungen in zunehmendem Maße räumlich ab. Das Umland der Städte und der ländliche Raum sind zur Familienzone der mobilen Mittelschicht geworden. Aus den großen Städten hingegen ist die Familie als Lebensform weitgehend verschwunden. Nur in einer kleinen Minderheit der Haushalte wachsen dort noch Kinder auf. Ihr Armutsrisiko ist hoch, und in wenigen Jahren wird etwa die

Hälfte

der

Kinder,

Migrationshintergrund haben.

Jugendlichen

und

jungen

Erwachsenen

dort

einen

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

61

Abbildung 5: Altersaufbau der deutschen und nicht deutschen Bevölkerung im Ruhrgebiet 2002

Quelle: ZEFIR-Datenbank, Individualdaten der Bevölkerungsstatistik: eigene Berechnung

Franz-Xaver Kaufmann hat vor zehn Jahren fünf Herausforderungen des Sozialstaats beschrieben. Er unterscheidet eine ökonomische (1), eine demografische (2), eine soziale (3), eine kulturelle (4) und eine internationale (5) Herausforderung am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Krise der öffentlichen Finanzen (1), der Geburtenrückgang und die Alterung der Bevölkerung (2), als krisenhaft empfundene Entwicklungen im Verhältnis der Generationen und in der Familie (3), das Schwinden sozialer und politischer Partizipation (4), die Probleme einer geregelten Zuwanderung und der Integration von Einwanderern (5) als Herausforderungen hat er in diesem Zusammenhang ohne Bezug auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den Regionen, Städten und Gemeinden thematisiert. Tatsächlich aber beschreiben diese fünf Herausforderungen, die zentralen Themen und die veränderten Rahmenbedingungen der kommunalen Politik in diesen Zeiten, und sie markieren Aufgaben einer lokalen Politik für Familien. Eine wichtige Voraussetzung, unter der örtliche Politik für Familien gelingen kann, ist die möglichst präzise Vermessung der örtlichen Lebensverhältnisse und die Implementierung passender (nämlich auf die Engpässe in der Lebenslage der Familien zugeschnittener) Hilfen. Kommunale Familienpolitik braucht deshalb kommunale Familienberichterstattung als feinkörniges Instrument einer Dauerbeobachtung der örtlichen Lebensverhältnisse von Kindern und Familien. Eine solche Berichterstattung muss integriert sein, Die kommenden Herausforderungen der kommunalen Sozialpolitik sind in hohem Maße interdependent.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

62

Eigentlich reden wir immer über dieselben Menschen und dieselben Stadtteile, wenn von alter und neuer Armut, Integrationsproblemen, Bildungsdefiziten, Infrastrukturmängeln, gesundheitlichen oder sozialen Problemen die Rede ist. Die medialen und politischen Diskurse werden freilich entlang von Ressortzuständigkeiten und auf unterschiedlichen Foren geführt.

In den Städten und Gemeinden wird diese Interdependenz sichtbar und real erfahrbar an der Segregation der Wohnbevölkerung mit einer Tendenz zur Entstehung verfestigter kumulierter Problemlagen in besonders benachteiligten Stadtteilen. Hier sind integrierte Strategien und Konzepte sozialer Kommunalpolitik gefragt, wie sie in den Projekten der Sozialen Stadt immer mehr modellhaft erprobt werden. Instrumente zur Diagnose lokaler Strukturen und Entwicklungen, wie das in NRW entwickelte Instrument kommunaler Familienberichterstattung, können helfen, Blindflug bei der Problembehandlung zu vermeiden. Kommunale Familienberichterstattung erlaubt die Identifikation von Stadtteilen und Milieus mit besonderem Handlungsbedarf, sie ermöglicht Evaluation der Wirkungen politischen Handelns, und sie ist nicht zuletzt ein wichtiges Instrument zur Aufklärung der Öffentlichkeit und zur Versachlichung der Debatten in den Kommunen, denn hier geht es mangels belastbarer Fakten nur zu oft um gefühlte Disparitäten 30 . Die aktuellen familienpolitischen Debatten werden eng in der Absicht, den Trend sinkender Geburtenzahlen umzukehren, geführt. Dabei konzentriert sich der Blick auf die Probleme der mittleren und oberen Schichten: Elterngeld und Vätermonate mögen für die deutschen Mittelschichten eventuell passende Anreize zur Überwindung der hohen Schwelle zum ersten Kind sein. Im Armutsmilieu der sozialen Unterschichten oder in Migrantenfamilien hingegen sind nicht zu wenige Kinder das Problem, sondern die Bedingungen, unter denen die (häufig vielen) Kinder aufwachsen und ihre schlechten Zukunftsperspektiven. Dazu zählen z.B. Bildungsarmut und schlechte Gesundheit. Für die Eltern der Unterschicht ist selten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf das Problem, vielmehr fehlt es ihnen an Jobs und an der nötigen Qualifikation.

Der Jugenddezernent einer Ruhrgebietsgroßstadt berichtet über Stadtteile, in denen die Kinder keinen arbeitenden Erwachsenen mehr kennen, und über Familien, in denen die schulpflichtigen Kinder als einzige morgens früh aufstehen müssen. Die kleinräumige 30

Gemeinsam mit der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung und fünf Modellkommunen hat das ZEFIR in den letzten fünf Jahren Informationssysteme entwickelt, die diese Funktion erfüllen. Weitere Informationen unter: www.kommaFF.de und www.familienberichterstattung.de.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

63

Auswertung der Schuleingangsuntersuchungen ergibt in der Nachbarstadt eine Streuung der Anteile vollkommen gesunder Lernanfänger von 15 Prozent in den ärmsten Stadtteilen im

Norden

(mit

einer

extremen

Häufung

von

z.B.

Übergewicht,

Körperkoordinationsstörungen und Sprachkompetenzdefiziten) bis nahe 80 Prozent in den bürgerlichen Vierteln im Süden, in den unteren Schichten und bei den Einwanderern. Die kleinräumige Verteilung der Sozialhilfedichten der Kinder unter sechs Jahren ergibt ein umgekehrtes Bild.

3. Segregation in den Städten – „Oberstadt“ und „Unterstadt“

In vielen großen Städten in Westdeutschland lebt inzwischen die Mehrheit der nachwachsenden Generation in den armen Stadtteilen mit hohen Ausländeranteilen. In der Innenstadt von Essen bezog 2003 jedes dritte Kind unter sieben Jahren Hilfe zum Lebensunterhalt. Im Kreis Kleve am Niederrhein dagegen nur jedes sechzigste. Das Armutsrisiko der Ausländer ist in allen Altersgruppen überall doppelt so hoch wie das der Deutschen.

In den armutssegregierten Stadtteilen wird infolge von Zu- und Fortzügen rein rechnerisch die Bevölkerung alle drei bis fünf Jahre einmal komplett ausgetauscht, im Stadtkern alle zwei Jahre. Damit im Zusammenhang sind die Niveaus lokaler sozialer Integration niedrig und das Ausmaß sozialer Isolation der Familien ist dort erheblich. Die meisten armen Leute in den Städten haben zwar Nachbarn, denen es kaum besser geht, aber sie kennen sie nicht bzw. haben keinen Kontakt mit ihnen.

Erfahrungen

aus

unserer

Arbeit

an

zahlreichen

kommunalen

Familien-

und

Sozialberichten für Städte und Gemeinden in NRW zeigen, dass in den Städten die Adresse einer Familie, der ethnische Hintergrund und das Einkommen (in dieser Reihenfolge) immer noch die beste statistische Vorhersage für den Gesundheitszustand eines Kindes und für seine Bildungschancen ermöglichen. Für die Kinder der Stadtgesellschaft bedeutet das: Soziale Lage der Eltern, Migrationshintergrund und Wohnlage sind wichtige Determinanten ihrer Lebenschancen. Sie bestimmen den Wert der Eintrittskarten für gesellschaftliche Positionen. Kinder mit Migrationshintergrund und solche aus den (demografisch, ethnisch und sozial segregierten) armen Stadtteilen haben (im Wortsinn) schlechte Karten.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

64

Integration in einem sehr umfassenden nicht nur auf die Bewältigung der sozialen Folgen der Migration ausgerichteten Sinne ist also die sozialpolitische Herausforderung der Stadtgesellschaft und der Stadtpolitik. Es geht darum,

den Nachwuchs der

Stadtgesellschaft (gleichviel ob „einheimisch“ oder „zugewandert“) mit gesellschaftlichen Teilhabechancen auszustatten und ihm die Chance eines diskriminierungsfreien Zugangs zu

gesellschaftlichen

Positionen

zu

ermöglichen.

Gesellschaften

brauchen

Humanvermögen, also eine nachwachsende Generation, die mit Gesundheit und elementaren sozialen Kompetenzen und Motiven ausgestattet ist, um diese Gesellschaft als Erwachsene einmal fortzusetzen. Humanvermögen wird zuerst in Familien gebildet. In den großen Städten lebt heute die Mehrheit der Kinder und Familien in der „Unterstadt“. Umso fataler ist die Mittelschichtzentrierung der familienpolitischen Debatten auf Bundesebene und ihr fehlender kommunaler Bezug.

Abbildung 6: Nirgends ist es so wie im Durchschnitt – sozialräumliche Disparitäten in Oberhausen g

g

Ø

Die räumliche Konzentration armer und bildungsarmer Familien mit hohen Anteilen Zugewanderter in Stadtteilen mit verfestigten Problemlagen stellt eine nachhaltig wirksame massive Integrationsbarriere für die nachwachsende Generation dar. Sie ist nicht neu: Mit den Arbeiteranteilen von 1987 (in diesem Jahr gab es die letzte Volkszählung) lassen sich auch heute noch Bildungsbeteiligung, Bildungserfolg und Armutsquoten der Kinder in den Stadtteilen aller von uns untersuchten Städte verlässlich schätzen.

Fragt man nach aktuellen leicht verfügbaren sozialstatistischen Indikatoren auf Stadtteilebene, die in allen Städten (auch ohne familienpolitische Informationssysteme) die

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

65

kleinräumigen Unterschiede der Lebenslage, der Bildungschancen und der Lebensqualität von Kindern am besten vorhersagen können so findet man als besonders gute Prädiktoren (neben

der

Sozialhilfedichte

als

Armutsindikator)

die

Wahlbeteiligung

bei

der

Kommunalwahl und die Fluktuation der Bevölkerung: In den Stadtteilen mit segregierter Armut im Ruhrgebiet, von denen hier die Rede ist, lag die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2004 unter einem Drittel, und der Bevölkerungsumsatz pro Jahr (Zuzüge + Fortzüge + Umzüge) liegt in diesen Gebieten zwischen 30 Prozent und 60 Prozent. Diese Zusammenhänge klingen nur auf den ersten Blick paradox, und es wäre natürlich ein ökologischer Fehlschluss, wenn man daraus folgerte, dass zur Wahl zu gehen Einfluss auf die Gesundheit der Kinder hätte. (Allerdings bewegt sich ein Großteil der aktuellen familienpolitischen Diskurse auf eben diesem Niveau!). Auf den zweiten Blick aber wird deutlich: Der entscheidende Startvorteil der (wenigen) Kinder in den bürgerlichen Vierteln liegt in einem partizipationsfreundlichen Umfeld mit relativ stabilen sozialen Verhältnissen. Niedrige Wahlbeteiligung und hohe Fluktuation kennzeichnen die Kultur der „Unterstadt“, das Milieu der gestaltungspessimistischen, sozial isolierten und eher apathischresignativen neuen Unterschicht in den Städten.

4. Was tun?

Die Ziele lokaler Familienpolitik in der Unterstadt sind leicht zu bezeichnen: Herstellung von Chancengleichheit, Empowerment, Aktivierung und Förderung sozialer Integration in den benachteiligten Milieus. Im Bund-Länder-Programm Soziale Stadt sind Instrumente der nachhaltigen Förderung benachteiligter Gebiete entwickelt worden, auch wenn in diesem Programm Kinder und Familien oft eine untergeordnete Rolle spielen. Bislang gelangen nur wenige ausgewählte Gebiete in den Genuss der privilegierten Förderung als Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf, und dies auch nur befristet. Tatsächlich besteht „besonderer Entwicklungsbedarf“ überall dort, wo die nachwachsende Generation unter Bedingungen sozialer Benachteiligung und reduzierter Lebenschancen aufwächst. Hier sind besondere Anstrengungen gefragt, die Eltern einzubeziehen müssen. Eltern, die als Kinder nicht erfahren haben, was Kinder brauchen, sind allein oft überfordert. Kindertagesstätten und die Schulen im Stadtteil können als niedrigschwellige und multifunktionale Dienste eingesetzt ihre besondere Stärke zeigen. NRW ist auf dem Weg, mit dem Umbau dieser Tageseinrichtungen zu Familienzentren mit Beratungs- und Verweisungsfunktion, wichtige Schritte in dieser Richtung zu tun.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

66

Erst das bevölkerungspolitische Motiv (mehr Kinder!) hat der Familienpolitik in den letzten Jahren zu einer gewissen Konjunktur verholfen, auch wenn es jenes ist, das vermutlich kurzfristig gesehen am ehesten enttäuscht würde, wenn es zu einer Neuorientierung der familienbezogenen Politik käme (vgl. Strohmeier 2002). Eine auf die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf fixierte Familienpolitik löst die Probleme der Mittelschicht und sie kann längerfristig, vermittelt über eine andere „common culture“ (s. Abbildung 1) in diesem Milieu zur Entwicklung einer neuen Selbstverständlichkeit von Familie beitragen, in dem Maße, in dem es immer mehr jungen Männern und Frauen gelingt, Familie und Beruf erfolgreich zu kombinieren.

Es gibt aber wachsende Teile des Familiensektors unserer Gesellschaft, arme Familien und die Familien von Einwanderern in den Städten, die in städtischen Regionen bereits die Mehrheit der Familien ausmachen, die ganz andere Engpässe und Probleme in ihrer alltäglichen Lebensführung haben. Hier gilt es, Politik für Familien „integriert“ zu gestalten, und es geht um mehr als nur das, wofür der Jugend- oder der Sozialdezernent zuständig sind. In einigen armen Vierteln hat z.B. eine Verbesserung der Wohnungen und des Wohnumfeldes unter Beteiligung der Mieter Identifikation geschaffen und Leerstände und Fluktuation verringert, wovon mittelbar die soziale Integration der Bewohner profitiert hat. I

m Armutsmilieu ist oft eine solche Politik eine wirkungsvolle Familienpolitik, die ganz anders heißt und von anderen Akteuren veranstaltet wird. Damit kommen neben der öffentlichen Hand, den Arbeitgebern und den Wohlfahrtsverbänden, die üblicherweise zu den kommunalen familienpolitischen Akteuren gezählt werden, weitere Akteure, wie die Wohnungswirtschaft oder die Stadtentwicklung, ins Spiel. In einer von Franz-Xaver geprägten Sicht auf Familienpolitik ist das die wirkungsanalytische Perspektive – dieses Mal auf der lokalen Ebene.

Warum ( nicht ) Bevölkerungspolitik? – Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier

67

Literaturverzeichnis: Bertram,Hans/Allmendinger, Jutta/Fthenakis, Wassilios/Krüger, Helga/Meier-Graewe,Uta/Spiess, C. Katharina/Szydlik, Marc/Sachverständigenkommission (2006): Siebter Familienbericht der Bundesregierung. Familien zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin. Bundesministerium für Familie und Senioren (Hrsg.) (1994): Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht. Bonn. Helfferich, Cornelia/Klindworth, Heike/Wunderlich, Holger (2004): männer leben – Studie zu Lebensläufen und Familienplanung. Basisbericht. Köln. Kaufmann, Franz-Xaver (1990): Zukunft der Familie. München. Kaufmann, Franz-Xaver/Kujsten, Anton/Schulze, Hans-Joachim/Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg.) (1997): Family Life and Family Policies in Europe. Volume 1: Structures and Trends in the 1980s. Oxford. Rürup, Bert/Gruescu, Sandra (2005): Nachhaltige Familienpolitik. Aus Politik und Zeitgeschichte 23-24/2005. Schelsky, Helmut (1954): Der Irrtum eines Familienministers. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.06.54, Heft 130, S. 6 Strohmeier, Henrika/Strohmeier, Klaus Peter/Schulze, Hans-Joachim (2006): Familienpolitik und Familie in Europa. Düsseldorf. Strohmeier, Klaus Peter (2002): Family Policy - How does it work? In: Kaufmann, Franz-Xaver/Kuijsten, Anton C./Schulze, Hans-Joachim/Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg.): Family Life and Family Policies in Europe, Vol. II, „Problems and Issues in Comparative Perspective“. Oxford. S. 326–370.

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

68

Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer Ressourcen einer orthodoxen Sozialethik. Anfragen an Ost und West Einleitung

„Wenn es gelingt, die tragenden Gedanken des Christentums im Horizont der Moderne neu auszulegen und plausibel zu machen, hat das Christentum eine Chance.“ 31 Dieser Satz stammt nicht – was gewiss nahe liegen würde – von einem Konzilstheologen, sondern von Franz-Xaver Kaufmann. Er markiert eines der dynamischsten Motive seines Denkens, nämlich die Aufbrüche und Gefährdungen des Konzils gesellschaftstheoretisch, sozialwissenschaftlich und immer auch philosophisch zu übersetzen. Wenn dieses Wort also nicht von einem Konzilstheologen stammt, so doch von einem Soziologen des Konzils: Franz-Xaver Kaufmann.

Wenn Sie, lieber, verehrter Herr Prof. Kaufmann, diesen „Horizont der Moderne“ immer wieder weit abgeschritten haben, so haben Sie zugleich, manchmal in gebotener Schärfe, an die Substanz des Christentums, an die Notwendigkeit authentischer Gottesrede erinnert. In dieser Polarität, der Grundspannung Ihres Denkens, bewegen sich meine Ausführungen zur Orthodoxen Sozialethik. Gemeint ist also so etwas wie ein theologischer Testfall für Franz-Xaver Kaufmanns Entwurf. Es kann allerdings nicht mehr als ein Versuch sein, eine Annäherung.

Die Ökumene leidet derzeit etwas unter ihrer dogmatischen Schlagseite. Die Fragen von Amt, Eucharistie, Papstamt sind unverzichtbar und wesentlich, aber sie scheinen mir doch ein wenig überakzentuiert. Darüber geraten die Fragen der fundamentaltheologischen Ökumene, nämlich der kulturellen Präsenz des Glauben und der sozialethischen Ökumene, also der gerechten und solidarischen Mitgestaltung der Welt, etwas ins Hintertreffen. Es ist mein Anliegen, einer solchen sozialethischen Ökumene zwischen Orthodoxie und westlichem Christentum eine Schneise zu schlagen.

31

Kaufmann/Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg 1987, S. 86

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

69

1. Stereotypen in der gegenseitigen Wahrnehmung

Es

gibt

nämlich

Schwierigkeiten:

Angesichts

der

jahrhundertelangen

Entfremdungsprozesse zwischen West und Ost überrascht es nicht, dass man einander nicht mehr kennt und versteht, vielmehr Stereotypen in der gegenseitigen Wahrnehmung vorherrschen. Hier seien nur einige, aber vermutlich zentrale verfestigte Vorurteile kommentarlos genannt. Die weiteren Ausführungen könnten deutlich machen, dass diese verbreiteten Auffassungen über den je anderen nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch sind, die Wirklichkeit komplexer und vielleicht auch komplizierter ist. 1.1 Über die Einstellung des Westens zur Orthodoxie sei eine Studie über die „Religionssoziologie des europäischen Ostens“ zitiert, die Alfred Müller-Armack 1959 vorgelegt hat. 32 Müller-Armack hat sich die Aufgabe gestellt, zu zeigen, „wie tief und umfassend die Wirkung der geistlichen Tradition der Ostkirche im staatlichen und wirtschaftlichen Leben ihrer Völker ist“. Da Erfahrungen aus der Analyse von Calvinismus, Luthertum und Katholizismus gezeigt hätten, „wie sich auf höchst realistischen Wegen geistliche Kräfte in Formen weltlicher Kultur umsetzen“, sei es der Mühe wert zu sehen, ob und inwiefern in der Tradition der orthodoxen Kirche die enge Beziehung zwischen Wirtschaft- und Glaubensgeschichte auch bestehe. Das Ergebnis seiner Studie ist, dass auch in der Ostkirche die Macht des Geistigen durchaus in Beziehung zu den wirtschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen stehe, jedoch eher hemmend denn fördernd. Die für den östlichen Menschen kennzeichnende mystische Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens, das „Erlebnis der unmittelbaren Transzendenz“, führe zur hingebungsvollen Versenkung „in eine strahlende, überirdische Welt, an der der Gläubige teilnimmt“. Es sei eine Religiosität, welche „den Triumph der Offenbarung über das irdische Leben“ feiert. Diese Unmittelbarkeit, „die gleichsam das Positive dieser Glaubenshaltung angibt“, hat aber nun, in ihr selbst noch nicht sichtbar vorhandene, aber von ihr bestimmte Konsequenzen: (1) Gleichgültigkeit „gegenüber einer Vermittlung und Sicherung des transzendenten Kontaktes durch den Verstand.“ Folge: Der Ostkirche fehle „einer der westlichen theologischen Spekulation entsprechende dauernde dankliche Auseinandersetzung mit den religiösen Zentralproblemen.“ Dies ermutige nicht zu einer breiteren geistigen Entfaltung. 32

Die nachfolgenden Zitate sind folgendem Aufsatz entnommen: A. K. Papaderos, Aspekte orthodoxer Sozialethik, S. 82 ff, in: Perspektiven ökumenischer Sozialethik, hrsg. von I. Gabriel u.a., Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 2005

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

(2) Die

unvermittelte

Transzendenz

70

finde

„ihren

Ausdruck

in

der

relativen

Bedeutungslosigkeit, die damit das Weltleben aus der Perspektive des Religiösen erhält“. 1.2 Seitens der Ostkirche wird häufig der westlichen Ethik (ohne Unterscheidung zwischen römisch-katholische und evangelisch) als wissenschaftlicher Disziplin u.a. die Verselbständigung gegenüber den anderen theologischen Disziplinen und der Kirche selbst vorgeworfen, der Rationalismus in seiner Ausprägung als Intellektualisierung des Glaubens und die Übernahme der Denkweise und der Methode der modernen Naturwissenschaften, wonach nur gelte, was mathematisch kalkulierbar und beweisbar sei. Die Sozialethik habe die eschatologische Erwartung dadurch geschwächt, dass sie oft philosophische, soziale, politische, ideologische und andere Kriterien, Prinzipien und Werte den theologischen vorziehe. Die Sozialethik verliere so ihre geistliche Potenz und sei geneigt, zu einer verweltlichten Sozialphilosophie oder Sozialwissenschaft zu werden. Häufig fällt dann das Wort vom Horizontalismus des westlichen Christentums, das sich weithin auf die sozialen und politischen Aktivitäten reduziere und die Gottbezogenheit vergessen habe. Nicht selten ist selbst in offiziellen Dokumenten zu lesen, es gelte in der Orthodoxie „die Problematik rationalistischer Begrifflichkeit zu vermeiden“. Weiter herrscht nach Meinung vieler orthodoxer Christen in breiten Kreisen des Westens vielfach Ignoranz gegenüber der Orthodoxie bzw. man habe von ihr ein verzerrtes Bild. Viele finden es enttäuschend und gar demütigend, „dass die Geschichte der Ostkirche immer ein wenig ein Stiefkind der europäischen Geschichtsschreibung gewesen ist. Wie die Geschichte Osteuropas überhaupt, so ist in ganz besonderem Maße die Geschichte der östlich-orthodoxen Kirche innerhalb der westlichen Geschichtsschreibung durch zahlreiche traditionelle Gesichtspunkte bestimmt gewesen, die sehr häufig den Charakter von unkontrollierten Vorurteilen und Ressentiments hatten und sehr stark durch affektive Impulse der Tagespolitik, d.h. bald durch eine politische Russophobie, bald durch eine übersteigerte Ostromantik bestimmt war.“ 33

Eines dürfte diese knappe Skizze der Stereotypen in der gegenseitigen Wahrnehmung deutlich gemacht haben: Im Zeitalter des Ökumenismus und des Entstehens eines neuen Europa ist es mehr als dringend, aufeinander zuzugehen, aufeinander zu hören, Unverständnis und Missverständnisse endlich aufzuarbeiten und gemeinsam an einer ökumenischen Sozialethik in Theorie und Praxis zu arbeiten. 33

vgl. A. K. Papaderos, a.a.O., S. 57

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

71

2. Der orthodoxe Ansatz für das soziale Handeln der Kirche

2.1 Die Kirchenväter:

Die maßgeblichen Lehrer und Leiter der alten Kirche, die sog. Kirchenväter, sind in unmittelbarem Anschluss an das Neue Testament die privilegierten Zeugen der frühesten normativen Glaubenstradition. Das gilt für die ganze Kirche, die westliche wie die östliche. Aber es ist wichtig zu sehen, dass in der Orthodoxie die Kirchenväter eine gegenüber dem Westen um vieles gewichtigere Rolle spielen, sowohl in der Theologie wie auch in der Liturgie,

aber

auch

im

Umgang

mit

neuen

geschichtlichen

Situationen

und

Herausforderungen. Wie in der ganzen Geschichte der Orthodoxie so ist auch heute die Lehre der Kirchenväter aktuell, präsent und wirksam. Entsprechend ist die Art und Weise, wie die Kirchenväter mit ethischen und sozialen Fragen umgegangen sind, in der Orthodoxie maßgebend bis heute. Man kann orthodoxes Denken nur verstehen, wenn man das Denken der Kirchenväter begreift. Die Kirchenväter standen unter dem übermächtigen Eindruck des absolut Neuen, der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und der dadurch gewirkten Neuwerdung des Menschen und der Welt. Das prägte ihr ganzes Denken und Handeln. Das Fundament allen Handelns der Christen ist für sie die Wahrheit und Wirklichkeit Gottes. Das bedeutet, um es etwas zugespitzt zu formulieren: Für die Orthodoxie war und ist die heilige Tritinität das soziale Programm. 34 Die innertrinitarische Gemeinschaft (Koinonia) der drei göttlichen Personen zueinander und untereinander ist Vorbild und Quelle der Kraft für die zwischenmenschliche Koinonia in Kirche und Gesellschaft. Diese göttliche Gemeinschaft wird in dem patristisch-theologischen Begriff der Perichorese sowohl bei den Kirchenvätern als auch in der heutigen Theologie reflektiert. Gemeint ist das „gegenseitige Durchdringen und Einwohnen der drei Personen der Trinität“, als deren wechselseitiges

„Ineinanderschreiten“

(Pannenberg),

Gemeinschaft...

ohne

und

Unterordnung

als

Unterwerfung“.

die

„innigste

Diese

Form

der

innertrinitarischen

Relationen der Liebe und Gemeinschaft sind das Vorbild für jede echte menschliche Beziehung. Dies Beziehungsverhältnis soll im täglichen Miteinander der Menschen erfahren werden (Joh 17,21).

34

vgl. A.K. Papaderos, a.a.O., S. 39 ff.

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Ein weiterer grundlegender Begriff bei den Vätern und in der orthodoxen Theologie und Frömmigkeit ist die Theosis, die Vergöttlichung. In der orthodoxen Erlösungslehre und in der Ethik nimmt die Theosis einen zentralen Raum ein. Der hl. Athanasios (4. Jahrh.) hat diese Lehre christologisch-soteriologisch-anthropologisch in dem bekannten Satz zugespitzt: „Denn er, der Logos Gottes, wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden“. Dieser Begriff ist nicht ontologisch, sonder personal zu verstehen. Gemeint ist eine personale, innere Begegnung mit Gott, um die es in der Verkündigung, in der Liturgie und in der Seelsorge geht. Die Liebe zu Gott hält den Menschen auf ihn hin orientiert, bis die Theosis in seiner ganzen Fülle erfahren wird (1 Joh 3,2). Das Heilshandeln Gottes ist für sozialethisches Denken in der Orthodoxie grundlegend und zielführend – und das so sehr, dass schon – zumindest im Westen – der Eindruck entstehen kann, die Welt und die Gesellschaft würden in ihrer relativen Autonomie nicht recht wahrgenommen. Dieser Eindruck kann entstehen, wenn prominente orthodoxe Theologen etwa formulieren: Die heilige Trinität ist unser soziales Programm, Sozialethik ist die Umsetzung der Christologie, oder: „die Teilnahme am Tod und an der Auferstehung Christi bildet das Fundament und den Wegweiser der christlichen Ethik“. Wir werden auf diesen Punkt gleich noch zurückkommen. Aber es wäre ungerecht, wollte man der Orthodoxie – wie es häufig geschieht – so etwas wie Realitätsverweigerung oder Weltverneinung unterstellen. Dem widerspricht schon die zentrale Rolle, die die Notwendigkeit diakonischen Handelns der Kirche und der Christen als Konsequenz des Evangeliums in den Schriften der Kirchenväter spielt. Bei der Lektüre der Kirchenväter überrascht ja immer wieder, wie sehr ihre Sorge dem ganzen Menschen, zugleich aber auch der ganzen Menschheit galt. Sie verstanden diese Solidarität im Licht der christlichen Nächstenliebe wie in der eschatologischen Perspektive. Um zwei gegenwärtige orthodoxe Theologen zu zitieren: -

Der rumänische Professor für systematische Theologie, Valer Bel, resümiert die Vision

eines großen orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts, Dumitru Staniloae, 35 indem er schreibt: „Die christliche Hoffnung erwartet die endgültige Verwirklichung von Friede, Gerechtigkeit und Liebe in der Gemeinschaft allein von Gott. Erst die unmittelbare Herrschaft Gottes selber in seinem kommenden Reich setzt aller Ungerechtigkeit ein

35

Jürgen Moltmann bezeichnet Dumitru Staniloae als den „einflussreichsten und kreativsten orthodoxen Theologen der Gegenwart“, vergleicht ihn mit Karl Barth und Karl Rahner und nennt ihn „einen großen ökumenischen Theologen“, in: Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik (Geleitwort), 3 Bände, Benziger Verlag, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1985/1990/1995.

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Ende... Das Heil in Jesus Christus hat aber seinen Anfang schon in diesem Leben und vollendet sich im ewigen Reich Gottes. Soziales Engagement hat mit dem Reich Gottes zu tun, weil es mit Gerechtigkeit zu tun hat, die ja eine messianische Gabe, ein Gut des Gottesreiches ist, bzw. mit Ungerechtigkeit, der Ausdruck der Sünde, das Nein gegen Gott ist. Wenn die ersten Christen bekannten: Jesus Christus allein ist der Herr!, dann legten sie damit ein sozial-politisches Bekenntnis ab, das ihnen den Tod einbringen konnte... In der Tat, jedesmal, wenn die Kirche das Evangelium verkündigt, trägt sie auch ein gesellschaftliches Programm vor, das sich aus dem Evangelium ergibt. Die Kirche muss das Gesamte der menschlichen Existenz, einschließlich der sozialen Dimension, evangelisieren. Jesus Christus soll nicht über Seele und Kirche, sondern über die ganze menschliche Existenz, einschließlich der sozialen, herrschen. Er ist ja ein kosmischer Herr... Im sozialen Engagement um Gerechtigkeit und Versöhnung kommt die Liebe, die ihre gesellschaftliche und solidarische Dimension entdeckt hat, zum Ausdruck. Soziales Engagement ist in diesem Sinne eine Art, wenn auch nicht die einzige, anderen zu dienen. So verstandenes soziales Engagement zielt auf das Gemeinwohl, auf die Förderung von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Versöhnung, auf das Aufdecken von Korruption und Verletzung der Menschenrechte ab.“ 36 -

1986 verabschiedeten Vertreter aller orthodoxen Kirchen ein Dokument „Der Beitrag

der orthodoxen Kirche zur Verwirklichung des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Liebe zwischen den Völkern sowie zur Beseitigung der Rassen- und anderer Diskriminierungen“

37

, in dem es u.a. heißt: „...Gottes Wille, der auch heute nichts

anderes als das Heil des konkreten Menschen hier und jetzt zum Ziel hat, verpflichtet uns, den Menschen zu dienen und uns unmittelbar mit seinen konkreten Problemen auseinanderzusetzen. Getrennt von der diakonischen Sendung ist der Glaube an Christus sinnlos. Christsein bedeutet, Christus nachzufolgen und bereit zu sein, ihn im Schwachen, im Hungrigen und im Unterdrückten und allgemein in jedem Hilfsbedürftigen zu dienen. Jeder andere Versuch, Christus unter uns real gegenwärtig sehen zu wollen, ohne ihn in dem zu suchen, der unserer Hilfe bedarf, ist leere Ideologie.“

38

Die orthodoxe Kirche hält also sozialethisches Denken und Handeln vom Evangelium her für unabdingbar, ist aber äußerst besorgt, dass sozialethisches Handeln der Kirche und 36

Valer Bel, Soziales Engagement als Mission der Kirche, S. 98 f., in: Solidarität und Gerechtigkeit, hrsg. von Ingeborg Gabriel und Franz Gassner, Grünewald-Verlag 2007.

37 38

Deutsch in: Una Sancta 42 (1987), 15-24.

Zitiert nach: Grigorios Larentzakis, Orthodoxe Grundprinzipien menschlicher Koexistenz, in: Solidarität und Gerechtigkeit, hrsg. von I. Gabriel und F. Gassner, Grünewald-Verlag 2007, S. 174 ff.

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der Christen sich verselbständigen und damit seinen entscheidend christlichen Heilsauftrag verraten könnte. So äußert sich der bereits zitierte Professor Bel: „Die Trennung zwischen der Evangelisierung und dem gesellschaftlichen Engagement der Christen, zwischen den Christen, die sich dem Gebet widmen und denjenigen, die in der Sozialarbeit in Namen Christi tätig sind, ist unbiblisch und schadet der Sendung der Kirche. In diesem Falle geht die christliche Sozialarbeit das Risiko ein, ein humanitärer Aktivismus ohne christliche Substanz, und der Gottesdienst eine private Zeremonie ohne nachwirkendes Interesse für die Nächsten zu werden.“ Und weiter: „Die Kirche und das soziale Gemeinwesen sind nicht zwei geschlossene, sondern zwei offene Räume, in denen sich der Christ bewegt. In der Kirche feiert und nährt er seinen Glauben, hört er das Wort Gottes, das ihn auf das Engagement für seine Brüder und Schwestern verweist. Im sozialen Gemeinwesen wirkt und handelt er an der Seite anderer und realisiert konkret Glauben, Gerechtigkeit, Versöhnung und Gemeinschaft. Über den einen wie über den anderen Raum spannt sich die Realität des Reiches Gottes, das – wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen – hier wie dort heranreift.“ 39

2.2 Die Liturgie Die Identität der Christen in den verschiedenen östlichen Traditionen wurzelt in der Feier des Gottesdienstes, in dem jahrhundertealte Traditionen bewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Entsprechend ist das ethische und sozialethische Denken und Handeln des orthodoxen Christen maßgeblich geprägt durch die Liturgie. Es ist sicher kein Zufall, dass die beiden Kirchenväter, deren Namen unzertrennlich mit dem Entstehen der Liturgien verbunden sind, Basilius der Große und Johannes Chrysostomos, die Grundlagen für eine orthodoxe Ethik und Soziallehre legten. Oder mit den Worten eines heutigen griechischen Theologen: „Die Teilnahme am Tod und an der Auferstehung Christi, die in der Kirche durch die Gnade des Heiligen Geistes verwirklicht wird, bildet das Fundament und den Wegweiser der christlichen Ethik“ (Mantzaridis 1998). Gewiss hat die Tatsache, dass orthodoxe Ethik maßgeblich in der Liturgie gründet, auch eine sehr pragmatische Erklärung: Durch Jahrhunderte war der Kirchenraum der einzige Versammlungsort der Gemeinde, weil ihm andere Räume – wie in der Zeit des Kommunismus – nicht zur Verfügung standen. Aber der entscheidende Grund liegt tiefer: Nicht so sehr die Dogmen, sondern vor allem der „gefeierte Glaube“, wie er in den Riten, 39

Valer Bel, vgl. Fußnote 6, S. 97 u. S. 100

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Gesängen und Gebeten der Liturgie zum Ausdruck kommt, prägt die Identität der Kirchen des christlichen Ostens. Die orthodoxe Kirche versteht sich nicht in erster Linie als lehrende Institution, sondern als betende Gemeinschaft. Aufgrund der identitätsstiftenden Bedeutung der Liturgie hat es in den östlichen Kirchen nur selten Liturgiereformen gegeben. Der Gottesdienst der Kirche gilt als sakrosankt, sodass Änderungen nur äußerst behutsam vorgenommen wurden und in der Regel nicht zu Streichungen, sondern zur Ergänzung neuer Elemente geführt haben. Auf diese Weise ist im Laufe der Jahrhunderte aus der einfachen Struktur des frühchristlichen Herrenmahls jenes komplexe Gebilde von Gebeten und Litaneien entstanden, das den Gottesdienst der östlichen Kirchen heute prägt. Was macht den Gottesdienst der Ostkirchen – auch für viele Menschen aus dem Westen – so anziehend? Es ist vermutlich die Art und Weise, wie die Liturgie gefeiert wird. Der Gottesdienst ist eine Art „heiliges Schauspiel“, in dem sich der Glanz des Himmels hier auf Erden wiederspiegelt. Eine Erzählung aus der altrussischen Nestor-Chronik, die zum Beginn des 12. Jahrhunderts in Kiew entstanden ist, verdeutlicht dies. Der Chronist berichtet, dass der Kiewer Großfürst Vladimir Boten in verschiedene Länder entsandte, um die Vorzüge der unterschiedlichen Religionen zu erforschen. Die Gesandten gingen zu den Bulgaren, die damals dem muslimischen Glauben anhingen, zu den Deutschen, um den Glauben der lateinischen Christen zu erforschen, schließlich zu den Griechen nach Konstantinopel. Als sie nach Kiew zurückkamen, erstatteten Sie dem Großfürsten folgenden Bericht: „Als wir zu den Bulgaren kamen, sahen wir uns an, wie sie sich im Tempel, d.h. in der Moschee verneigten, in dem sie ohne Gürtel stehen und nachdem man sich verneigt hat, setzt man sich und schaut hierhin und dorthin wie ein Besessener und Freude ist nicht bei ihnen, sondern Trübsinn und großer Gestank. Ihr Gesetz ist nicht gut. Und wir kamen zu den Deutschen und sahen sie in den Tempeln viele Gottesdienst halten, aber wir sahen keinerlei Schönheit. Und so kamen wir zu den Griechen und sie führten uns dahin, wo sie ihrem Gott dienten, und wir wissen nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde; denn auf Erden gibt es einen solchen Anblick nicht oder eine solche Schönheit; und wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass dort Gott bei den Menschen weilt.“ 40 Das Verschmelzen von Himmel und Erde, von dem die Abgesandten des Kiewer Großfürsten berichten, prägt den Gottesdienst der Ostkirche. Im byzantinischen Ritus trägt

40

Zitiert nach: L. Müller, Helden und Heilige aus russischer Frühzeit, München 1984, 38

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die Eucharistiefeier daher den Namen „Göttliche Liturgie“. Dies soll verdeutlichen, dass der Gottesdienst der Kirche nur Widerschein, Abglanz der himmlischen Liturgie ist. Der Gottesdienst ist nicht ein Dienst der Menschen für und vor Gott, sondern ein Dienst Gottes am Menschen. Gott offenbart sich im Gottesdienst als der menschenfreundliche, der die Sünde des Menschen vergibt und seine Krankheit heilt. In der Liturgie wird diese Frohbotschaft bild- und sinnenhaft dargestellt. Nach orthodoxer Auffassung ist jeder Gottesdienst

eine

Theophanie,

eine

Erscheinung

Gottes

in

dieser

Welt,

Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens hier und jetzt. Im Gottesdienst wird die Trennung zwischen Mensch und Gott durchbrochen. Jeder, der schon einmal an einer Feier der Göttlichen Liturgie teilgenommen hat, wird vermutlich bestätigen, dass dieser Gottesdienst etwas Erhabenes an sich hat, etwas, das den Menschen „zu Gott erhebt“ und ihn die Gegenwart Gottes in dieser Welt spüren lässt. Dieses „Etwas“ dürfte in der Sinnenhaftigkeit der ostkirchlichen Liturgie begründet liegen. Die Liturgie der Ostkirchen bezieht bewusst den ganzen Menschen ein, nicht nur den Verstand, der das verkündigte Wort Gottes zu erfassen versucht, sondern auch Auge, Ohr und auch den Geruchssinn. In der ostkirchlichen Liturgie werden alle Sinne angesprochen. Dieses Einbeziehen aller menschlichen Sinne in die Feier des Gottesdienstes macht deutlich, dass das Heil sich nicht nur auf das „Seelenheil“ beschränkt, sondern den ganzen Menschen einbezieht. In dieser ganzheitlichen Feier der Liturgie dürfte auch die Faszination gründen, die der Gottesdienst der Ostkirchen auf viele Menschen tatsächlich ausübt. In dieser Feier der Liturgie wird die Liebe Gottes zur Welt anschaulich, Seine Liebe zu der Welt, in die Er die Menschen sendet oder wie es ein neuerliches Dokument der Orthodoxie sagt: „Solange das Christentum... der Glaube an den Gott bleibt, dessen Sohn in dieser Welt Mensch geworden ist, muss das Leben der Welt, die Gott so sehr geliebt hat, im Mittelpunkt der Belange der Kirchen bleiben“ (Ciobotea 1984). Orthodoxe Theologen sprechen in diesem Zusammenhang gern von der „Liturgie nach der Liturgie“, um zu verdeutlichen, dass die Sorge für die Mitmenschen nicht ein sekundärer, von der Liturgie losgelöster Bereich der christlichen Glaubenspraxis ist, sondern eine logische Konsequenz der Liturgie und des orthodoxen Liturgieverständnisses. Liturgische Erfahrung formt persönliches Handeln Die „Liturgie nach der Liturgie“ zielt nach orthodoxem Verständnis auf eine Transformation der menschlichen Gesellschaft in eine Gemeinschaft, wie sie in der eucharistischen Gemeinschaft exemplarisch gelebt und gefeiert wird.

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Eines der sprechendsten Beispiele für die Verbindung von Liturgie und Ethik in der orthodoxen Kirche ist die Entscheidung des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. in der Konsequenz der Ersten Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in Basel mit dem

Thema

„Gerechtigkeit,

Frieden

und

Bewahrung

der

Schöpfung“.

Nach

entsprechenden Konsultationen innerhalb der Orthodoxie erklärte er den 1. September, der zugleich der Beginn des orthodoxen Kirchenjahres ist, zum Gebetstag für die Bewahrung der Schöpfung. Im Auftrag des Ökumenischen Patriarchats schuf ein AthosMönch eine der orthodoxen Tradition entsprechende Gebetsordnung mit Texten für den Abend- und Morgengottesdienst sowie für die Göttliche Liturgie für diesen neuen liturgischen Feiertag. In den liturgischen Texten für diesen Feiertag, die ganz in der Tradition der griechischen liturgischen Theologie formuliert sind, wird nicht nur die Herrlichkeit der Schöpfung gepriesen, sondern werden auch die Bedrohungen der Umwelt und die Gründe der ökologischen Krise thematisiert. Inzwischen wurden diese Gottesdienstordnungen in mehrere Sprachen übersetzt und sie werden, nicht nur im Bereich der orthodoxen Kirche, zunehmend rezipiert. Wenn man die große Bedeutung bedenkt, die der liturgischen Tradition in der orthodoxen Kirche zukommt, kann man erahnen, welch großen Einfluss ein solcher Gedenktag für die Bewusstseinsbildung in der orthodoxen Christenheit hat, die nun jeweils am Beginn des Kirchenjahres mit dieser Thematik konfrontiert wird. Übrigens hat der Ökumenische Patriarch zugleich den Dialog mit den Vertretern von Wissenschaft und Politik gesucht, die er zu mehreren Symposien eingeladen hat, um Wege zur Bewältigung der ökologischen Krise zu diskutieren.

2.3 Das Mönchtum

Die vom Denken der Kirchenväter geprägte Spiritualität, die in der orthodoxen Liturgie ihren so eindrucksvollen Ausdruck erfährt, insbesondere das Streben nach dem „Himmlischen“ und das Ablegen aller „irdischen Sorgen“ wird exemplarisch gelebt im Mönchtum. So verwundert es nicht, dass das christliche Mönchtum in der östlichen Christenheit entstanden ist, dort eine sehr große Entfaltung erfahren hat und bis heute eine im Westen kaum vorstellbare Prägekraft besitzt im Leben der orthodoxen Kirche und auch des einzelnen Christen. Bis heute ist die Praxis verbreitet, dass viele orthodoxe Christen aus allen sozialen Schichten regelmäßig einige Zeit in einem Kloster verbringen und mit diesem in Verbindung bleiben.

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Die Offenheit der orthodoxen Klöster insbesondere für rat- und hilfesuchende Menschen gehört zu ihrem Selbstverständnis. Die Sorge für die Armen und die Benachteiligten in der Gesellschaft spielt in den Gebeten eines orthodoxen Klosters eine zentrale Rolle. Viele orthodoxe Klöster waren und sind zugleich Anlaufstationen für die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, die dort mit dem Nötigsten versorgt werden. Und es überrascht dann nicht, dass in den orthodox geprägten Ländern wie Rumänien und Serbien die ersten sozialen Einrichtungen im Bereich der Klöster entstanden sind.

2.4 Zur sozialethischen Verkündigung und Praxis

Durch die intensiv erfahrene Liturgie, aber auch durch das hohe Ansehen und die Bedeutung der orthodoxen Klöster ist ein unverwechselbar orthodoxes Ethos entstanden, geprägt von einer tiefen Frömmigkeit, von einem Sehnen nach Gottunmittelbarkeit und von dem Bemühen, das eigene Denken und Handeln nach dem Evangelium auszurichten. Das Denken der Kirchenväter, immer wieder vermittelt durch die „Göttliche Liturgie“ und die Existenz und das Wirken der Klöster ist bis heute erstaunlich lebendig in den orthodox geprägten Gesellschaften, auch wenn die regelmäßige Teilnahme an der Liturgie mancherorts überraschend gering ist. In diesem Zusammenhang kann die Bedeutung der Ikonenfrömmigkeit kaum überschätzt werden. Die Ikonen – man findet sie in fast jedem orthodoxen Haus – vermitteln dem orthodoxen Christen göttliche Wirklichkeit und Identität. Für den orthodoxen Christen vermittelt eine Ikone die gleiche göttliche Offenbarung wie das biblische Wort. Es ist gleichrangig, ob die Kirche die ihr anvertraute Offenbarung ins Akustische (bei der Verkündigung des Evangeliums) oder ins Optische (in den Ikonen) übersetzt. Die Ikonen sind nicht primär „schön“, sondern „wahr“. Sie zeigen, dass die Verheißung Christi, den Menschen zu erneuern, auch eingehalten wird. Zu diesem orthodoxen Ethos gehört nun unabdingbar die Verpflichtung zur Nächstenliebe, insbesondere die Sorge um die Ausgegrenzten, aber auch die Verantwortung angesichts von Herausforderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei ist sich der orthodoxe Christ durchaus darüber im Klaren, dass es in allem darum geht, die Liebe Christi zu bezeugen und weiterzugeben. Daran erinnert eben vor allem die „Göttliche Liturgie“, aber immer wieder auch die Mahnung in Predigt und in Verlautbarungen der Synode, wie etwa in dieser: „Wir orthodoxen Christen, sowohl Kleriker und Laien, müssen ständig bestrebt sein, die Wirklichkeit Christi in unser Leben einfließen zu lassen, damit wir Gottes Liebe für die Menschen auf jede nur erdenkliche Weise zum Ausdruck bringen können: persönlich,

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sozial, kirchlich und politisch. In vielen Ländern der Welt mag unser christliches Handeln in sozialen und politischen Belangen in je neuen und sich verändernden Kontexten unterschiedlich zum Ausdruck kommen, aber sowohl Inspiration als auch Ziel unseres Handelns müssen stets die Verherrlichung Gottes durch die Erlösung des Menschen von Versklavung und Unterdrückung sein.“

41

Diakonische Arbeit gehört zum normalen Leben in der orthodoxen Kirchengemeinde. Dabei geht es zunächst um die Sorge um die Notdürftigen, aber auch um die Kranken und um nachbarschaftliche Hilfe in Notfällen. So hatte etwa die orthodoxe Pfarrgemeinde in Sarajevo- bis dies von den Kommunisten verboten wurde – zwei Ärzte vollzeitig bezahlt, die von den Bedürftigen der Stadt kostenlos in Anspruch genommen werden konnten. Somit gehen Verantwortung und Motivation für soziales Handeln von der liturgischen Gemeinde aus. Die vor allem im Russland des 19. Jahrhunderts tätigen Bruderschaften hatten ein ganzes Netz sozial-caritativer Einrichtungen, aber auch Schulen und Waisenhäuser errichtet. Während der kommunistischen Herrschaft ab 1917 wurden alle diese Einrichtungen nach und nach entweder verstaatlicht oder bewusst irgendwelchen anderen Nutzungszwecken zugeführt. Der orthodoxen Kirche Russlands war es strikt verboten, außerhalb der Mauern der nur wenigen Kirchen, die ihr zu Sowjetzeiten zur Verfügung standen, tätig zu werden – weder katechetisch noch sozial-caritativ. Die Errichtung diakonisch-sozialer Einrichtungen hat in der Orthodoxie durchaus Tradition. So entstanden unmittelbar neben der Hagia Sophia, wie besonders neben den größeren Klöstern, diakonische Anstalten wie Krankenhäuser mit angeschlossenen medizinischen Ausbildungsstätten, Alters- und Pflegeheime. Basileios der Große baute in Kapadokia größtenteils aus eigenen Mitteln Genesungsheime, Pilgerhospize, Wohnungen für Ärzte, Pfleger und Priester, Werkstätten für Handwerker, Stallungen, Scheunen usw. Ihm ging es um die Linderung von alltäglichen Nöten, aber er achtete in besonderer Weise auf die Unterdrückten und Rechtlosen, auf die Sklaven. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstehen z.B. in Russland, Bulgarien oder Rumänien erstaunliche diakonisch-soziale Initiativen, in der Krankenhausseelsorge, der Gefängnisseelsorge, in den Waisenhäusern und im Bemühen um die Straßenkinder in den osteuropäischen Metropolen.

41

Church’s Struggle 1975, 1, zitiert nach: A.K. Papaderos a.a.O., S. 79

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Besonders beeindruckend ist die diesbezügliche Entwicklung in Rumänien. 42 Nach den offiziellen Angaben des Patriarchats betreibt die orthodoxe Kirche in Rumänien 65 Waisenhäuser und Kinderheime, 25 Altenheime, 92 Armenküchen und Bäckereien, 33 Diagnose- und Behandlungszentren und 22 Hilfszentren für sich in Not befindende Familien. Aus der gleichen offiziellen Statistik geht hervor, dass die orthodoxe Kirche in Rumänien jährlich mehr als 270 000 Personen sozial beisteht. Die orthodoxe Kirche in Rumänien ist auch Partner in verschiedenen kurz- und langjährigen Projekten des Staates oder anderer Organisationen. Die Bandbreite erstreckt sich von Armutsreduktion und Verhinderung familiärer Gewalt bis zur Vorbeugung gegen Menschenhandel und Drogenkonsum, von Aids-Prävention bis zur sozialen Reintegration von unteren Schichten. In der gleichen Statistik ist zu lesen: Es gibt gegenwärtig in Rumänien 215 Krankenhauspriester, 98 Armeepriester, 39 Gefängnisseelsorger und 70 Priester, die in verschiedenen Sozialzentren tätig sind. Zunehmend entwickeln sich auch gewisse organisatorische Strukturen für die diakonische und soziale Arbeit. Aufgrund der besseren äußeren Rahmenbedingungen entstanden diese zunächst in der orthodoxen Diaspora im Westen: Seit 1992 gibt es auf Initiative der Konferenz der orthodoxen Bischöfe in Amerika das Hilfswerk „International Orthodox Christian Charities“ (IOCC). Im Jahr gründete die orthodoxe Kirche in Finnland eine vergleichbare Hilfsorganisation. Auch in den mehrheitlich orthodoxen Ländern Ost- und Südosteuropas sind in den 90er Jahren in vielen Patriarchatsverwaltungen entsprechende Abteilungen eingerichtet worden. Gewiss nicht alle, aber nicht wenige orthodoxe Diözesen sind im sozial-caritativen Bereich sehr engagiert. Allen diesen Initiativen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die christliche Botschaft das Verhältnis des Menschen zu Gott in unlösbare Einheit mit seinem Verhalten zu seinem Mitmenschen setzt. Die Wahrheit des Verhältnisses zu Gott bemisst sich an der Wahrheit des Verhältnisses zu den Mitmenschen. Das Gebet um das Kommen des Reiches und der weltverändernde Gehorsam unter dem Willen Gottes gehören darum in der Praxis untrennbar zusammen. Die liturgisch-sakramentale und doxologische Vorwegnahme des Reiches und der lebendige Widerstand gegen gottlose und unmenschliche Verhältnisse in der Geschichte sind aufeinander bezogen und bestärken sich gegenseitig. Es ist das Problem der orthodoxen Ethik: „Wie kann der Christenmensch der Ostkirche seine

42

Radu Preda, Sozialtheologie. Eine Herausforderung für die orthodoxe Kirche am Beispiel Rumäniens, in: Solidarität und Gerechtigkeit, hrsg. von I. Gabriel und F. Gassner, S. 109 ff.

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geistliche und seine weltliche Bürgerschaft wahrnehmen, ohne dass dadurch das eine oder das andere zu kurz kommt?“ 1986 haben, wie oben schon gesagt, Vertreter aller orthodoxen Kirchen als Vorbereitung auf die ausstehende gesamtorthodoxe Synode einen Text verabschiedet mit dem Titel: „Der Beitrag der orthodoxen Kirche zur Verwirklichung des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Liebe zwischen den Völkern sowie zur Beseitigung der Rassen- und anderer Diskriminierungen.“ Das Dokument hebt zunächst die Würde der menschlichen Person und den Wert der menschlichen Freiheit als grundlegende Prinzipien hervor, nimmt sodann zu den Fragen der Gerechtigkeit sowie der Solidarität unter den Völkern Stellung und mündet schließlich in der Aussage, dass die „prophetische Sendung“ der Orthodoxie darin bestehe, ein „Zeugnis der Liebe“ in der Diakonie zu geben. In seinem letzten Abschnitt formuliert das Dokument mit eindrücklichen Worten, wie aus Sicht der orthodoxen Theologie Glaubensinhalte und Glaubenszeugnis, Liturgie und Diakonie zusammenhängen: „Weil wir orthodoxen Christen Zugang zur Bedeutung des Heils haben, müssen wir uns dafür einsetzten, dass Krankheit, Angst und Unglück gemindert werden; weil wir Zugang zur Erfahrung des Friedens haben, darf uns das Fehlen des Friedens in der heutigen Gesellschaft nicht gleichgültig lassen; weil wir die Wohltaten der Gerechtigkeit Gottes erfahren haben, setzen wir uns ein für eine größere Gerechtigkeit in der Welt und für eine Überwindung jeder Unterdrückung; weil wir jeden Tag die Erfahrung der göttlichen Huld machen, setzen wir uns ein gegen jeden Fanatismus und jede Intoleranz unter den Menschen und Völkern; weil wir unermüdlich die Menschwerdung Gottes und die Verwirklichung des Menschen verkünden, setzen wir uns ein für die Verteidigung der Menschenrechte für alle Menschen und Völker; weil wir die von Gott geschenkte Freiheit erleben dank der Erlösungstat Christi, können wir ihren universalen Wert für alle Menschen und Völker besser verstehen; weil wir in der heiligen Eucharistie mit dem Leib und dem Blut des Herrn genährt werden, erleben wir die Notwendigkeit, die Gaben Gottes mit unseren Brüdern zu teilen, begreifen wir besser, was Hunger und Entbehrung bedeuten, und kämpfen wir für ihre Überwindung;

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

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weil wir einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten, wo absolute Gerechtigkeit herrschen wird, setzen wir uns hier und jetzt für die Wiedergeburt und Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft ein.“

43

3. Das Ringen um eine eigenständige orthodoxe Sozialethik

Eine der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik vergleichbare systematische Disziplin gibt es in der orthodoxen Kirche noch nicht. Die orthodoxe Theologie hat sich die Frage des Guten und des Gerechten immer nur im Kontext der Tugendlehre und des persönlichen spirituellen Weges gestellt. Die Frage, wie die Welt und die Gesellschaft insgesamt aussehen kann, soll oder muss, war als solche nicht Gegenstand des theologischen Diskurses. Viel wichtiger für die orthodoxe Art, ethische Themen anzusprechen, schien zu sein, wie sich der Mensch als Krönung der Schöpfung verhält, wie er seinem hohen Ursprung gerecht wird oder eben nicht. Das Gesellschaftliche wurde nur als Widerspiegelung des Persönlichen verstanden. Die Theologie der Person, des einzelnen, bestimmt die Theologie der Gemeinschaft und das persönliche Bestreben nach dem Heil stellt die Grundlage für das Ethische dar. Diese bevorzugte Stellung des einzelnen als Maß des Ethischen erklärt, warum die theologischen Texte der Kirchenväter sich mit den moralischen und sozialrelevanten Themen nur aus der Perspektive des persönlichen Heils beschäftigen. Sie sprechen nur selten das Thema der sozialen Ordnung als solche und für sich an und liefern dabei keinesfalls ein durchdachtes Konzept bezüglich der Gesellschaft. Weder die Kirchenväter noch die späteren gesamtorthodox rezipierten Theologen haben sich mit Fragen wie die der Macht oder der Gerechtigkeit gestellt. Angesichts der 450-jährigen Herrschaft der Osmanen bis ins 19. Jahrhundert hinein und der schwierigen Verhältnisse danach war der christliche Osten in der Neuzeit zunächst gar nicht in der Lage, Wissenschaft und damit auch die theologischen Disziplinen in der Art und Weise des Westens zu pflegen. Auch wurde man nicht direkt mit Phänomenen konfrontiert, mit denen sich das westliche Christentum auseinander zu setzen hatte (Renaissance,

Reformation

und

Gegenreformation,

Religionskriege,

Kolonisation,

Aufklärung, Französische Revolution, Industrialisierung). Weiterhin entstand im Osten nie ein Industrieproletariat im westlichen Sinne, sodass das soziale Problem in seinem modernen Sinn dort nie auftrat. 43

Vgl. Fußnote 8, G. Larentzakis, S. 189.

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Nach der Befreiung eines Teils von Griechenland von den Osmanen durch den Aufstand von 1821 und nach der Gründung des neugriechischen Staates 1832 wurde (von den Westmächten) der 16-jährige Sohn von Ludwig von Bayern als König von Griechenland eingesetzt, ein katholischer Christ. Er kam mit 3000 Beratern nach Griechenland. Professor Mauer, ein evangelischer Professor aus Bayern, war für die Organisierung der orthodoxen Kirche in Griechenland verantwortlich. Er bemühte sich, eine Landeskirche nach deutschem Muster zu gründen. Der 16-jährige König wurde das Oberhaupt der orthodoxen

königlich-nationalen

Kirche

Griechenlands.

Die

1837

gegründete

neugriechische Universität Athen wie auch die Theologische Fakultät wurden nach deutschem Vorbild eingerichtet. Wer nicht in Deutschland studiert hatte, hatte keine Chance, Professor in Griechenland zu werden. So verstärkte sich die Tendenz, Fragen und Antworten aus dem Westen zu übernehmen. Es verwundert nicht, dass mehr und mehr der Verdacht aufkam, es sei eine theologische Entfremdung am Werk. Entsprechend macht sich deshalb seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Prozess des Umdenkens bemerkbar. Forschung und Lehre beginnen, sich auf die eigene Tradition und die eigenen brennenden Probleme zu konzentrieren. Die Rückbesinnung auf das biblisch-patristische Erbe als oberstes Postulat orthodoxer Theologie und damit auch Ethik führt derzeit zu zwei weitgehend divergierenden Positionen. Die eine sieht die Rückbesinnung sowohl als Selbstgenesung der orthodoxen Theologie wie auch als Aufgabe im Umgang mit anderen christlichen Traditionen. Sie geht davon aus, dass die Förderung der Reflektion über das einst gemeinsame Glaubenserbe der einen, ungeteilten Kirche die Voraussetzung bildet für die gegenseitige Verständigung, Annäherung und Zusammenarbeit sowohl der Kirchen wie auch der Theologie. Die andere Position sieht in diesem Letzteren eine aussichtslose Utopie mit Berufung auf alte Erfahrungen sowie auf ökumenische Enttäuschungen und zeigt sich nicht bereit, der nichtorthodoxen Theologie einen konsensfördernden Wert beizumessen. Diese zweite Position scheint den letzten Worten Geltung verleihen zu wollen, mit denen der ökumenische Patriarch Jeremias II. die Korrespondenz mit den Tübinger Theologen im 16. Jahrhundert abgebrochen hat: „Ihr hochweisen Deutschen! Geht nun euren Weg! Schreibt uns nicht mehr über Dogmen, sondern allein um der Freundschaft willen, wenn ihr das wollt. Lebt wohl!“ 44 Die Spannung zwischen diesen beiden Positionen charakterisiert gesamtorthodox immer noch das theologische Klima und weitgehend auch sowohl das pro- wie auch das antiökumenische Engagement. 44

Zitiert nach A.K. Papaderos, S. 56, vgl. Fußnote 2

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

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Inzwischen gibt es sehr gute Studien westlicher Gelehrter, welche die orthodoxe Vergangenheit

und

Gegenwart

objektiv

behandeln,

sowie

solcher

orthodoxer

Wissenschaftler, die den christlichen Westen frei von Vorurteilen darstellen. Dies trägt zur gegenseitigen Kenntnis und zum besseren Verständnis unter Christen in Ost und West bei. Leider finden aber die vorhandenen Erkenntnisse und wissenschaftlichen Studien in der kirchlichen Wirklichkeit und überhaupt in der Öffentlichkeit bisher zu wenig Beachtung. Ein hohes Maß an Unwissenheit, was die jeweils andere Kirche betrifft, ist selbst bei verantwortlichen Kirchenleuten nicht selten. Die Sprachbarriere reicht nicht aus, um dies Phänomen zu erklären. Trotz der ökumenischen Bewegung im letzten Jahrhundert bleiben offensichtlich bei vielen in West und Ost gegenseitige Vorurteile bestimmend. Es sind vor allem zwei Aspekte, die selbst kirchliche wie theologische Kreise im Osten bei ihrer Kritik am westlichen Christentum nicht nüchtern genug beurteilen, wie ein orthodoxer Theologe feststellt: Erstens, manches westliche Handeln und dessen Verständnis hat mit dem Nichtwissen zu tun und zweitens, dass man im Osten oft nur an die eigenen Heimsuchungen denkt, ohne den Leidensweg des westlichen Christentums ausreichend zu berücksichtigen. Die ziemlich zögernde Entfaltung der Ethik und der Sozialethik im orthodoxen Bereich hängt allerdings mit einer weiteren und komplexeren Problematik zusammen: Wert- und Normsysteme bzw. offizielle lehramtliche Soziallehren gehören nicht zur Tradition der orthodoxen Kirche. Man zeigt sich ungern bereit, durch kirchliche Verlautbarungen zu ethischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen das Leben der Gesellschaft oder der einzelnen Person unter Normen mit allgemeinem Geltungsanspruch zu stellen. Es gibt eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung gegenüber ethischen und sozialethischen Systemen regulierenden Charakters, schreibt ein orthodoxer Theologe. Das Fehlen von regelmäßigen offiziellen Stellungnahmen der gesamten Orthodoxie hat auch zu tun mit dem Mangel an für solche Aufgaben geeigneten Fachkräften, aber auch mit der Struktur der Orthodoxie, vor allem mit dem System der Autokephalie. Es gibt kein ständiges zentrales Lehr- oder Leitungsamt, das autorisiert wäre, sich auf panorthodoxer Basis zu dem einen oder anderen Thema offiziell zu äußern. Immerhin treffen sich seit einigen Jahren die Oberhäupter aller orthodoxer Kirchen viel häufiger als in der Vergangenheit und nehmen in ihren Botschaften auch zu aktuellen Fragen Stellung. Solche Texte sind zwar nicht verbindlich, aber sie stellen doch eine wichtige Stimme dar. Inzwischen gibt es nun zahlreiche orthodoxe Äußerungen, die eine systematischere Auseinandersetzung der Theologie der Ostkirche mit der heutigen Welt für notwendig und

Festvortrag – Altbischof Dr. Dr. h. c. Josef Homeyer

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richtig halten. So fordert der libanesische Metropolit Georges Khodr von Mont Liban die aktive soziale Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und die Aneignung einer neuen Sprache, die die Welt verstehen kann, „weil das Soziale einen integralen Teil der prophetischen Botschaft ausmacht“. Dennoch steht die orthodoxe Sozialethik noch ganz am Anfang, zumal es unter den orthodoxen Theologen noch keine einheitliche Meinung über die Notwendigkeit einer Sozialethik gibt. Hinzu kommt folgende Belastung: Sich auf die persönliche Ebene konzentrierend, hat der ethische Diskurs der orthodoxen Theologie die Eigendynamik der Gesellschaft, gleich ob im Westen oder im Osten, sehr oft mit dem Begriff der Säkularisierung umschrieben. Das hatte zur Folge, dass alles, was unter das Soziale fällt, einen schlechten Beigeschmack erhielt. Sich mit der Frage der Gesellschaft zu beschäftigen, war und ist für viele immer noch ein Zeichen dafür, eine „schwache“, d.h. eine nicht genügend geistliche Theologie zu betreiben. Aber es wächst dennoch die Zahl der sozialethisch arbeitenden Theologen. Sie nennen ihre Disziplin „Sozialtheologie“. Gemeinsam ist ihnen die Überzeugung, dass eine Rekonstruktion der patristischen Ethik wichtig und unverzichtbar ist, ebenso wie die Wahrnehmung und Deutung der „Zeichen der Zeit“. Eine Synthese zwischen den unaufgebbaren Inspirationen der Kirchenväter und der Sensibilität gegenüber der heutigen Gesellschaft und ihren Umwälzungen ist das, was eine Sozialtheologie aus der Sicht der orthodoxen

Tradition

nach

Meinung

dieser

Theologen

anstreben

sollte.

Diese

Sozialtheologen sind reserviert gegenüber einer induktiven sozialen Theologie, wie sie etwa vom griechischen Theologen Georgios Mantzaridis, dem Autor der bisher umfassendsten ethischen Synthese im orthodoxen Bereich beschrieben wird. Bei ihm heißt es: „Die orthodoxe Kirche (in Byzanz) durchdrängte mit ihrem Geist das soziale und wirtschaftliche Leben der orthodoxen Völker“, oder „der Geist der Kirche und das geistliche Leben ihrer Gläubigen ist die Kraft, die die ganze Welt verwandeln kann“. Danach wirkt die Kirche als Sauerteig mitten in der Gesellschaft, solange ihre Anhänger glaubhaft und überzeugend ihre Lehre leben. Der orthodoxe Gläubige ist der ethische Werbeträger der Orthodoxie. Sein Leben soll die beste Illustration der Lehre seiner Kirche sein. Demgegenüber fragt etwa der rumänische Sozialtheologe Radu Preda: „Kann aber nun diese Vorstellung einer orthodoxen Ethik.... wirklich etwas bewegen in einer postbyzantinischen

Ära,

gekennzeichnet

durch

Pluralität,

durch

Amnesie,

durch

Ersatzreligionen und das Aufkommen neuerer Heilsbewegungen? Ist es nicht zu einfach für eine orthodoxe Sozialtheologie zu behaupten, dort werden christliche Tugenden sein,

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wo diejenigen, die sie verkörpern, auch da sind? Ist es nicht zu gefährlich, geradezu selbstmörderisch, eine Ethik, die Prinzipien und Lebensformen des Christentums allein und einzig von der leiblichen Präsenz der Christen in der Wirtschaft, Politik oder in anderen Bereichen gesellschaftlicher Verantwortung abhängig zu machen?“ Der gleiche Autor beschließt seinen Aufsatz über „Sozialtheologie“ mit folgenden Worten: „Indem wir alle, Kirchen des Ostens und des Westens mit den gleichen oder ähnlichen Herausforderungen im Hause Europa konfrontiert sind, ergibt sich im Dialog und in der Gegenüberstellung der Problematik sozusagen eine ökumenische Ethik. Bei allen dogmatischen Differenzen, die nicht überspielt werden dürfen, sind die Quellen der katholischen Soziallehre oder der evangelischen Sozialethik in den ersten christlichen Jahrhunderten dieselben wie die der Orthodoxie. Wir haben also schon eine gemeinsame Grundlage, die wir ausschöpfen und für unsere Zeit als Gesellschaften und Kirchen relevant machen müssen.“ 45 Gegenwärtig bildet sich eine Arbeitsgruppe dieser orthodoxen Sozialtheologen, um gemeinsam eine systematische orthodoxe Sozialtheologie zu erarbeiten und das Gespräch mit der westlichen Sozialethik zu suchen.

45

Radu Preda a.a.O., S. 120 f und S. 131 f., vgl. Fußnote 12