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Sozialer Wandel im Mittelalter Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen

Herausgegeben von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner

Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen 1994

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AUGUST NITSCHKE

Energie orientierten. - Da der Aspekt unterschiedlicher Energien hier nicht weiter behandelt werden soll, kann auf Folgen unserer Beobachtungen nicht näher eingegangen werden 43. Es ist auch so bereits möglich, die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchung zusammenzufassen: Einzelne Personen im achten, zwölften und fünfzehnten Jahrhundert nahmen einen Wandel in ihrer Gesellschaft wahr. Sie sahen - und deuteten - ihn jeweils anders, auch anders als wir. Die jeweilige Wahrnehmung - und die Deutung - ist dabei durch die Wechselwirkungen bedingt, denen die Menschen einer Gesellschaft - und auch wir innerhalb unserer Gesellschaft - ausgesetzt sind. In jeder dieser Wechse1wirkungen - das ging auch aus anderen Untersuchungen hervor - erfuhren die Menschen eine bestimmte Fortn der Energie: - Die Karolingerzeit sah die Menschen unter dem Einfluß Gottes, der früher mit den Propheten gesprochen und dann - bis zu seiner Kreuzigung - als Mensch gelebt hatte, wenn sie dessen Ertnahnungen folgten und weitere Personen ertnahnten. Sie erfuhren diesen Einfluß als eine von J esus ausgehende Kraft, die ihnen ertnöglichte, zu ermahnen und anderen zu verändern. In staufischer Zeit kamen die Kräfte, welche die Energie der Menschen vermehrten, ebenfalls aus deren Umgebung. Allerdings gingen sie nicht mehr von einer Person aus, die früher einmal gelebt hatte. Es wirkte vielmehr das Klima, die Wärme. Dies wurde als eine Kraft wahrgenommen, die bestimmte »Eigenschaften« verlieh, welche das Handeln eines Ritters, eines Kaufmannes oder eines Handwerkers prägten und jedem Angehörigen dieser Stände eine gehobene, dem Stand entsprechende gesellschaftliche Position sicherten. - Machiavelli ging es um die »Lebenskraft« des Staates. Diese stieg, wenn sich ihr ein Widerstand entgegensetzte. So forderte Machiavelli strenge Gesetze, welche die Menschen als Widerstand erfuhren. Die Lebenskraft schwächte sich nach dieser Auffassung, wenn der Mensch einfach das tun konnte, was seinen Interessen entsprach; er wurde darüber zum Egoisten. Diese »Lebenskraft« war zwar ebenfalls aus der Umgebung übertragbar, doch sie wirkte auch schon allein innerhalb des Menschen. Diese Ergebnisse zeigen: Für den modernen, an der Sozialgeschichte interessierten Historiker ist es durchaus von Nutzen, zu wissen, welche gesellschaftlichen Wandlungen in der Vergangenheit wahrgenommen wurden. Die Beschäftigung mit dieser Frage bringt ihm zweierlei Vorteile: Er erfährt, welche Wandlungen die Menschen in früheren Zeiten wahrnahmen und durch welche religiösen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Handlungen sie diese Veränderungen zu beeinflussen suchten. So kann er eine Gesellschaft nach ihren eigenen Kategorien darstellen. Er wird außerdem darauf aufmerksam, daß er neue Modelle benötigt, um - nach einer genauen Beschreibung der Wechselwirkungen, die in einer Gesellschaft dominieren - die Entstehung und den Wandel einer Gesellschaft zu erklären, die offensichtlich mit aer Energie zusammenhängen, an der die Menschen sich im Handeln orientieren. Daraus kann er schließen: Der Wandel scheint nicht nur von den wirtschaftlichen Interessen sozialer Gruppen, sondern auch von den Fortnen der Energie, über die eine Gesellschaft verfügt, und vom Zugang zu neuen Fortnen der Energie abzuhängen. Dergestalt kann die Beschreibung des gesellschaftlichen Wandels durch Autoren des Mittelalters und der Renaissance unsere Wahrnehrnungsweise erweitern und zu einer Verbesserung unseres eigenen Erklärungsmodells beitragen. 43 A. NI!~C~KE, Energy and Entropy. A Model for the Explanation of Social Change?, in: Journal of Non-EqUllibnan Thennodynamlcs 12 (1987), S. 78ff.; DERS., Körper in Bewegung, S. 358ff.; DERS., Die Mutigen in einem System. Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Köln, Weimar, Wien 1991 S.117ff., 126ff., 136ff., 173ff.

Molte rivoluzioni, molte novita. Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel der politischen Philosophie und 1m Urteil von städtischen Chronisten des späten Mittelalters VON ULRICH MEIER

Die Wirklichkeit des Menschen ist nicht unabhängig von dem, was er über sie denkt. Besonders im politischen Handeln von einzelnen und Gruppen hängt viel davon ab, was diese jeweils für möglich halten. Jemand, der Veränderungen in seiner Gesellschaft unter den Kategorien »Heil« und »Sünde« sieht, handelt anders als einer, der imstande ist, Alternativen abzuwägen und zur Grundlage rationaler Entscheidungen zu machen. Die begriffliche Erfassung gesellschaftlichen Wandels durch Zeitgenossen sagt gerade deshalb viel über deren potentielle Aktionsfähigkeit aus: Werden doch Handlungsspielräume nicht nur von objektiven, sondern ebensosehr von subjektiven Einschätzungen und konkreten Zukunftsentwürfen bestimmt. Im folgenden wollen wir Schriften spätmittelalterlicher Gelehrter und Chronisten nach zeitgenössischen Vorstellungen vom »Wandel der Herrschaftsfortnen« untersuchen 1. Das ist nicht einfach eine unzulässige Einengung oder gar Verfehlung des Themas »Wahrnehmung sozialen Wandels«. Einmal ist politischer Wandel häufig Ausdruck eines sozialen Wandels. Jede Veränderung der Verfassung bringt in der Regel andere soziale Gruppen zur Macht oder in politische Verantwortung. Und zum andern: Die Fähigkeit, verschiedene Herrschaftsformen zu denken, schärft die Beobachtung für gesellschaftliche Veränderungen

* Dieser

Aufsatz fußt auf zwei Vorträgen, die im Rahmen der Tagung in Bielefeld und Heidelberg gehalten worden sind. Im einen stand die Diskussion gesellschaftlichen Wandels in der politischen Theorie, im anderen die Wahrnehmung politischer Veränderungen in der Florentiner Stadtchronistik im Mittelpunkt. Beides ist nun unter gemeinsamen Fragestellungen und Leitmotiven, aber auch unter Hinzuziehung neuer Quellen, zum Gegenstand einer einzigen Abhandlung gemacht geworden. - Für die kritische Lektüre des Textes danke ich Jörg Rogge und Gerd Schwerhoff. 1 Vgl. Klaus SCHREINER, Sozialer Wandel im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung des späten Mittelalters, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Hans PATZE (Vorträge und Forschungen Bd.XXXI), Sigmaringen 1987, 5.237-286, bes. S.239ff. u. 5.269-285. Es handelt sich im folgenden um eine Geschichte der Wahrnehmung sozialen und politischen Wandels allgemein und nicht um eine Geschichte von »Revolutionen«; dazu vgl. das spannende Buch von Ferdinand SEIBT, Revolution in Europa. Ursprung undWege innerer Gewalt. München 1984. - Das Wort »Verfassung« gebrauchen wir im Sinne von »Herrschaftsordnung« (aristotelisch: taxis als »Ordnung des Staates hinsichtlich der verschiedenen Ämter« [pol. 1278b 10]). Davon deutlich abzuheben ist der Verfassungsbegriff des neuzeitlichen Konstitutionalismus: In ihm sind mitgedacht Rechte der Person, Teilung der staatlichen Funktionen oder Gewalten und die Idee, daß eine geschriebene »constitution« formell höherrangiges Recht darstellt; vgl. Gerald STOURZH, Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Zur Entwicklung in England und Nordamerika im 17. und 18.Jahrhundert, in: Fürst, Bürger, Mensch. Untersuchungen zu politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen im vorrevolutionären Europa, hgg. von Friedrich ENGEL-JANOSI, Grete KLlNGENSTEIN u. Heinrich LUTZ (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit Bd.2), München 1975, 5.97-122, hier S. 97f. (deutsche Zitate aus der Aristotelischen ,Politik< folgen der dtv-Ausgabe: Aristoteles, Politik. Übersetzt und hg. von Olof GIGON, München 1973).

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ULRICH MEIER

GESELLSCHAFTLICHER WANDEL

insgesamt und erweitert zugleich den Raum möglichen Agierens und Reagierens. Wenn sich, wie man in traditionalen Gemeinwesen häufig beobachtet, antizipierte Zukunft und gelebte Erfahrung weitgehend decken, bleibt in sozialen und politischen Krisen der Spielraum für produktive Lösungen gering. Allein die Kenntnis alternativer institutioneller Konzepte dagegen kann bereits Bewegung in festgefahrene Konflikclagen bringen. Aus der Spannung von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«, um eine glückliche Begriffsbildung von Reinhart Koselleck aufzugreifen, entsteht »vergangene Zukunft«2. Der Gedanke, daß zwischen dem politischen Weltbild vergesellschafteter Menschen und deren politischer Praxis ein enger Konnex besteht, ist nicht neu. Bernhard Varen (1622-1650) befaßt sich mit diesem Problem in der Einleitung zu seiner ,Descriptio regni Japoniae