Sigrid Tinz Die lieben Kleinen -

Unverkäufliche Leseprobe des Fischer Taschenbuch Verlages Sigrid Tinz Die lieben Kleinen und wie man sie entspannt groß bekommt Preis € (D) 9,95 SFR...
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Unverkäufliche Leseprobe des Fischer Taschenbuch Verlages

Sigrid Tinz

Die lieben Kleinen und wie man sie entspannt groß bekommt

Preis € (D) 9,95 SFR 18,60 (UVP) 208 Seiten, Broschur ISBN 978-3-596-17452-2 Fischer Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007

Schlaf, Kindlein, schlaf doch endlich

Eltern wirken oft wie gerädert. Das hat seinen Grund: Der Nachwuchs hält sie nachts auf Trab.

Es klingt vielleicht etwas hart. Aber am liebsten haben Mama und Papa ihre lieben Kleinen, wenn die endlich in den Betten liegen und schlummern. Das war so und das ist so, das wird so bleiben – davon zeugen schon die vielen Lieder über Sternlein, Lämmerlein und Männern im Mond, die dabei helfen sollen, diesen glückseligen Zustand zu erreichen. Auch Besuch, der den Nachwuchs bestaunen kommt, fragt spätestens nach »Wie süß« und »Wem sieht es denn nun ähnlich«: »Schläft es schon durch?« Nein, meistens nicht. Je nach Studie – denn in manchen zählt auch einmal Aufwachen als Durchschlafen – wacht rund ein Drittel der Babys und Kleinkinder nachts auf. Neugeborene fast immer, Kindergarten- und Schulkinder fast nie. Allerdings: Genau genommen schläft auch unser neugieriger Besucher nicht durch, die Eltern nicht, niemand. Ein Erwachsener wacht im Durchschnitt alle anderthalb Stunden auf, wenn ein Zyklus aus Tiefschlaf und Traumschlaf herum ist. Hindern ihn keine wilden Tiere, Einbrecher oder kalten Füße, nickt 39

er sofort wieder ein, ohne sich morgens daran zu erinnern. Dies scheinbare Durchschlafen beherrschen die ganz Kleinen noch nicht, sie schlafen weniger tief, träumen öfter und mehr – auch wenn kein seriöser Wissenschaftler entscheiden mag, ob sie tatsächlich und, wenn ja, was sie träumen oder ob ihr kleines Gehirn schlicht und einfach Reize verarbeitet und Nervenbahnen trainiert. Sie schlafen in jedem Falle sehr unruhig und wachen bis zu acht, neun, zehnmal pro Nacht kurz auf. Und meistens ist ihnen irgendetwas in dieser ihnen neuen Welt zu kalt, zu warm, zu laut, zu unheimlich oder ihre kleinen, schnell wachsenden Körper melden schlicht und einfach: Hunger. Außerdem muss sich ihre innere Uhr noch vom Bauch aufs Erdenleben umstellen, also auch darauf, dass es nachts dunkel ist, alle schlafen und keiner mit ihnen schmust und singt. Mit der Zeit schlafen sie regelmäßiger, die innere Uhr geht richtig und sie fühlen sich so sicher in ihrem Bett, dass sie ohne Mama, Milch und »La Le Lu« wieder ein- und damit durchschlafen. Diesem Prozess können Eltern ein wenig nachhelfen: mit einer Wärmflasche, einem nach Mama riechendem Schnuffelhemdchen und indem sie nachts tatsächlich nicht schmusen und singen und das Licht nicht anmachen. Rein organisch soll es nach sechs Monaten so weit sein. »Spätestens«, sagt so mancher Fachmann. »Seelisch«, so manch anderer, könne ein Kind das frühestens mit einem Jahr. Eltern wissen: Jedes Kind ist anders. Einar zum Beispiel war ein ruhiges, mit sich und seinen Patschhänden zufriedenes Kerlchen und schlummerte 40

seit der ersten Nacht sieben Stunden am Stück. Der kleine Bruder Peter war unruhig, weinte viel, litt unter jedem neuen Zahn ganz fürchterlich und schläft auch heute als Zweijähriger noch wenig und schlecht. Seine Freundin Mona schläft nicht vor Mitternacht ein, Emma ist nachts oft wach, spielt oder schreit und für den bald dreijährigen Johannes beginnt sommers wie winters um halb fünf der Tag. In vielen Ländern der Erde geht man die Frage, wann Kinder in die Falle müssen, eher gelassen an. Ob in Asien, Ostafrika oder bei den Yupuama-Indianern in Venezuela: Die ganze Familie schläft zusammen und die Kleinen kommen ins Bett, wenn sie müde sind und nicht, weil es acht Uhr ist und gleich die Tagesschau beginnt. Ein- und Durchschlafstörungen, wie sie bei uns – wiederum je nach Umfrage – etwa zehn Prozent der kleinen Kinder haben, kennt man dort nicht. Natürlich gibt es überall Kinder, die schlecht schlafen. Beispielsweise, weil ein Schaf sie ins Bein gebissen hat. Und weil sie nicht eher wieder einschlafen können, bis Mama sie getröstet und Papa das Vieh mit dem Puppenbesen aus dem Fenster gejagt hat. Weil sie Schnupfen haben, Bauchschmerzen oder Zähne bekommen. Weil die Übergänge zwischen Wachzustand, Tief- und Traumschlaf noch nicht reibungslos klappen und sie durch die Wohnung wandeln. Oder weil sie Nachtschreck-Attacken haben und wenige Stunden nach dem Einschlafen loskreischen, schwitzen, sich winden und überhaupt nicht ansprechbar sind – meistens aber nach einigen Minuten seelenruhig wieder entschlummern und am nächsten Morgen von nichts wissen. 41

Manche Kinder schlafen auch dauerhaft schlecht, meist weil sie organisch krank sind und im Schlaf zu wenig Luft bekommen. Schlafmediziner erklären das so: »Bei jedem Menschen erschlaffen im Tiefschlaf die Muskeln, die Zunge rutscht nach hinten. Hat ein Kind zu große Mandeln oder Polypen oder ist es sehr dick, kann der Luftstrom dadurch ganz abbrechen und es muss immer wieder halb wach werden oder sich drehen und wenden, um nicht zu ersticken.« Dementsprechend gerädert wachen solche Kinder morgens auf und sind je nach Alter weinerlich, zappelig oder müde und schlecht in der Schule. Erstes Warnsignal für diese sogenannte Schlaf-Apnoe ist: schnarchen. Ein, zwei Nächte in einem Schlaflabor bringen meist eine sichere Diagnose. Kinder wie Mona oder Emma dagegen sind trotz ihrer Ein- und Durchschlafstörungen oft nicht einmal müde und schlecht gelaunt. Oft leiden nur die Eltern, zumindest deutlich mehr als ihre Kleinen. Zum einen, weil die Abende purer Stress sind und die Nächte zu kurz. Zum anderen, weil sich ihre Erwartungen vom zwölf Stunden süß schlummernden Nachwuchs und die Forderungen von Ärzten, Zeitschriften und anderen Ratgebern an ein Durchschnittsbaby nicht mit den Bedürfnissen und Eigenheiten eines jeden kleinen Individuums vereinbaren lassen und sie verunsichert sind. Krank sind Peter und Johannes, Mona und Emma aber nicht und sie sind auch keine kleinen Haustyrannen, die ihre Eltern erpressen und unbedingt jeden Abend ihre Grenzen testen wollen. Das heißt: keine Medikamente, nicht »extinktieren« – 42

wie sich das Schreienlassen vornehm nannte, als es modern war, damals, als Disziplin und Autorität die Säulen der Erziehung waren. Die Extinktionsmethode wirkt zwar, das haben Wissenschaftler in zahlreichen Studien belegt. Weil das Kind lernt, dass es sinnlos ist, seine Bedürfnisse durch Weinen zu äußern, wenn niemand darauf reagiert, und es schließlich aufgibt. Das ist reine Verhaltensbiologie und nennt sich Konditionieren. Hunde lernen so ihr »Sitz« und »Platz«. Ein Kind wird so aber nicht zu einem »guten Schläfer«, der sich zufrieden und geborgen ins Bett kuschelt und auch nachts beim kurzen Aufwachen alles in Ordnung findet und wieder einschlummert. Groß in Mode war und ist seit einigen Jahren das kontrollierte Schreienlassen. Auch danach haben Emma, Mona, Peter und Johannes einfach nur schlechte Gewohnheiten, die man ihnen mit ein bisschen Nervenstärke ganz leicht abgewöhnen kann, und zwar folgendermaßen: Das Kind wird ins Bett gebracht, die Eltern verlassen das Zimmer. »Macht das Kind Theater«, gehen die Eltern nach ein paar Minuten wieder hinein, reden kurz mit dem Kind, sollen sich aber zu keiner Zärtlichkeit erpressen lassen. Die Abstände werden von Mal zu Mal und von Tag zu Tag etwas länger. Für Bettverlasser, Aufwacher, Frühaufsteher oder Mittagsschlafverweigerer gilt die gleiche Prozedur, bis das gewünschte Verhalten erreicht ist, sprich, das Kind gelernt hat, alleine in seinem Bett ein- und durchzuschlafen. Auch wenn sich nächtliche Schreckgespenster von einer griff bereiten Flasche Monsterspray mehr beeindrucken lassen als von solchen Sanduhrmethoden – das kontrollierte Schreien43

lassen funktioniert oft. Aber ist das Kind dann ein guter Schläfer? So mancher Kinderpsychiater hält solche Behandlungspläne für viel zu ungenau. Stellte doch eine Studie unter Schulanfängern ein »multifaktorielles Bedingungsgefüge für Entwicklung und Aufrechterhaltung von Ein- und Durchschlafstörungen« fest. Vielleicht ist die Wohnung zu eng? Die Stimmung in der Familie schlecht? Das Kind einfach sehr quirlig und die Mutter sehr erschöpft? Oder umgekehrt? Die Oma schwer krank? Das abendliche Hunger- und Durstspiel ist vielleicht nur der unbeholfen ausgedrückte Wunsch, noch mehr Zeit mit Papa zu verbringen, der immer erst so spät abends nach Hause kommt? Oder alles zusammen? Und wenn sich das Kind beim Schlafengehen mehrfach übergeben muss, wenn es nur einschlafen kann, wenn es bei Papa auf dem Arm Tee nuckelt und dabei an Mamas Haaren spielt, wenn es alle paar Minuten wieder aufwacht, wenn es nachts um zwei das Haus zusammenbrüllt, weil es nicht seine Kleine-Eisbär-dvd sehen und dazu ein Leberwurstbrot essen darf: Eines haben alle Schlafstörungen gemeinsam, sie haben sich Schritt für Schritt eingeschlichen. Und genauso, meinen viele Familientherapeuten, Schritt für Schritt nämlich, müsse man das Problem auch beheben. Jede Familie habe dabei ihren eigenen Weg zu mehr Ruhe, Entspannung und besserem Schlaf – auf dem sie sich aber durchaus Hilfe holen sollte. Schlechtere Eltern sind Eltern solcher Kinder übrigens nicht. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass Kinder, die eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben, auch 44

häufiger Schlafstörungen haben. Hintergrund mag folgender sein: Kinder müssen sich von ihren Eltern trennen, wenn sie ins Bett gehen, und das mögen die meisten gar nicht so gerne, manchmal sind es übrigens auch die Eltern, die schlecht loslassen können. Kinder, die eine sichere Bindung zu ihren Eltern haben, wissen, dass diese auf ihre Ängste verständnisvoll reagieren werden, wenn es durch Nichteinschlafen oder Ständig-wieder-Aufwachen diese Trennung zu vermeiden versucht. Dass sie noch ein Liedchen singen werden, nochmal »Alles-istmüde« machen, noch ein Fläschchen Tee kochen. Manchmal hilft schon einfache Mathematik, wie bei Mona: Da gab es das Vormittagsnickerchen, das Monas Mutter nach ihrer morgendlichen Runde als Altenpflegerin gerne zum Duschen und Zeitunglesen nutzte, den Nachmittagsschlaf von zwei bis fünf und den gewünschten Nachtschlaf von neun bis sieben – macht fünfzehn Stunden. Für eine Zweijährige zu viel. Sogar Neugeborene schlafen im Schnitt nur rund sechzehn Stunden, häppchenweise auf den Tag verteilt, im ersten Lebensjahr sind es dreizehn bis vierzehn Stunden und dann wird es pro Lebensjahr etwa eine Stunde weniger. Die Lösung: den tatsächlichen Schlafbedarf feststellen, überlegen, wie es am besten in die Familie passt und dann das Kind viertelstundenweise umgewöhnen. Erfahrungsgemäß lassen sich Schlafenszeiten besser verschieben, wenn das Kind früher geweckt wird, am Morgen oder nach dem Mittagsschläfchen. Es abends einfach früher ins Bett zu stecken macht oft noch mehr Ärger. Manches Mal hilft schon ein überzeugtes Auftreten, 45

zum Beispiel bei Ulrikes Mittagsschlaf. Statt »Na, bist du ein bisschen müde, wollen wir dich mal ein Stündchen hinlegen« und stundenlangem Gejammer, heißt es seit ein paar Tagen: »So, jetzt lesen wir noch ein Buch.« Und dann ist Mittagspause. »Schlaf gut.« Erst meckerte Ulrike, jetzt plappert sie noch ein paar Minuten und fällt dann irgendwann um und schläft. Zwei Stunden am Stück. Hilfreich ist auch ein festes Abendritual. Das geht von Anfang an – auch wenn es einem Neugeborenen schnurzegal sein mag – und kann mitwachsen: Trinken, Baden, Schlafanzug anziehen, das immer gleiche Liedchen, später dann Zimmer aufräumen, allen Familienmitgliedern und Stofftieren »Gute Nacht« sagen, Singen, Schmusen, Lesen. Oder nochmal Kitzeln, Lachen und Toben. Oder Beten, oder den Tag besprechen. Regeln gibt es dabei keine: Ob das Kind in den Schlaf gestillt oder von Anfang an wach ins Bettchen gelegt wird, ob die Eltern rausgehen oder am Bett sitzen bleiben, bis das Kleine eingeschlafen ist, wenn Eltern und Kind zufrieden sind, können sie schlafen, wo, wann und wie sie wollen – auch wenn manch gestandener Schlafexperte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Und auch bestimmte Vorstellungen loszulassen hilft erstaunlich viel. Irgendwann war es den Eltern einfach nur noch egal, wann, wie und wo Manuel schläft. Hauptsache, er schläft. Seitdem der Anderthalbjährige nicht mehr in den Schlafsack muss und in sein nach den aktuellen Erkenntnissen zum plötzlichen Kindstod ausgestattetes Gitterbettchen – ohne Schaffell, Kissen und weiche Umrandung –, seitdem er sich mit Decken und 46

Stofftieren in eine Ecke seines Spielhäuschens kuscheln darf, legt er sich oft ganz von alleine schlafen. Und auch nachts schlurft er nur noch selten rüber ins Ehebett. Hilfreich wie immer ist auch ein verlässlicher Tagesablauf. Das heißt beim Thema Schlafen: möglichst immer zur gleichen Zeit – nicht punktgenau, aber ungefähr – und am gleichen Ort. Nicht mal im Maxi Cosi, mal in der Wippe, mal im Kinderwagen, mal auf dem Sofa. Ob Stubenwagen, Gitterbett oder bei den Eltern, das ist im Grunde egal. Letzteres ist allerdings die gängigste Variante und hat durchaus gewisse Vorteile: Viele Kinder brauchen für einen guten Schlaf (mehr als ein eigenes Zimmer) das Gefühl von Geborgenheit. Und wenn mal was ist, müssen sich die Eltern nur kurz rüberrollen und nicht in der Kälte nach den Puschen angeln. Manches Kind schläft aber auch lieber alleine. Manche Eltern auch. Besonders, wenn sie ihren ehelichen Pflichten nicht so gerne im quietschenden Stockbett im Kinderzimmer nachkommen. Unruhige Nächte wird es trotzdem immer mal geben. Wie bei Toni, der Zeit seines dreijährigen Lebens bei seinen Eltern im Bett schlief und mehrmals nachts wach wurde. Bis vor zwei Monaten, als er in den Kindergarten kam. Nach ein paar Tagen fühlte er sich als großer Mann, der sein eigenes Bett im eigenen Zimmer wollte. Auf die Frage, ob ihr Sohn durchschläft, können die Eltern jetzt zwar mit Ja antworten. Tonis Vater hat jetzt allerdings Einschlafstörungen – ihm fehlt sein warmer, an seinen Rücken gekuschelter Sohn.