BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 27.08.1999

Alpha-Forum-extra Goethe, der Naturforscher Professor Dr. Hendrik Birus, Professor Dr. Wolf Fehlhammer, Professor Dr. Otto Krätz und Klaus Podak im Gespräch mit Ulrike Leutheusser Leutheusser:

Grüß Gott, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich freue mich, dass Sie heute dabei sind, wenn Goethe-Experten verschiedener Fachrichtungen über Goethe als Naturforscher sprechen. Doch schauen wir uns zunächst einmal einen kleinen Film an. Filmeinblendung: Er wird sich mit ungeheuer vielem beschäftigen, wird alles mit allem zu verbinden suchen, das Tiefste und Geheimste ergründen wollen, um es doch als unerforschlich zu erklären. Goethes Selbstverständnis als Naturforscher bleibt zwar in vielem einer vergangenen Zeit verhaftet, seine Unbekümmertheit und Vorurteilslosigkeit beim Dichten wie beim Forschen weisen dagegen weit voraus. Der Mensch steht für Goethe im Mittelpunkt aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Und der Mensch, das ist erst einmal er selbst, sein eigenes Erleben und seine eigene Anschauung. Leutheusser: Zeit seines Lebens hat Goethe die Natur studiert, beschrieben, gezeichnet und erforscht. Herr Professor Birus, Sie sind Literaturwissenschaftler, eigentlich Komparatist, also vergleichender Literaturwissenschaftler: Sie beschäftigen sich schon viele Jahre lang mit Goethe, Sie haben auch Goethe-Werke herausgegeben wie z. B. den "West-östlichen Diwan" oder die ästhetischen Schriften. Warum war Goethe eigentlich so viel stolzer auf sein naturwissenschaftliches Werk als auf sein dichterisches? Das ist doch verwunderlich. Birus: Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Da kommt sicher mehreres zusammen. Das war zunächst einmal ganz sicher die Liebe zu einem Schmerzenskind. Bei seinen Dichtungen konnte er auch schlechte Kritiken gut wegstecken: Da wusste er einfach, dass er auf professioneller Ebene letztlich nicht angreifbar ist. Als Naturwissenschaftler war er dagegen immer ein Amateur und war infolgedessen sehr davon abhängig, wie denn die Fachkollegen darauf reagieren. Insofern war es ihm wichtig, dass er die "Farbenlehre" auch wirklich zustande gebracht hat. Er sprach von einem Befreiungstag, als er dieses Manuskript endlich los war. Ein anderer Grund ist, dass er im Gegensatz zu anderen bedeutenden Schriftstellern seiner Zeit kein freier Schriftsteller war. Er definierte sich nicht als solcher: Das Dichten war für ihn nicht so zentral, denn er war Jurist, er war Minister, er war Theaterdirektor. Insofern ist unsere Optik auf Goethe als den Dichter auch gar nicht seine eigene gewesen. Dazu kommt nun noch etwas Drittes: Er hatte zur Natur – auch über die Naturwissenschaften – durchaus ein religiöses Verhältnis. Seit er Spinozas Werk "Deus sive natura" gelesen hatte, also "Gott gleich Natur", beharrte er darauf, dass er, wie er es ebenfalls lateinisch ausdrückte, in "herbis et lapidibus", also in Kräutern und Steinen, Gott mindestens genauso nahe sei wie im Gottesdienst oder wenn er sich mit Philosophie beschäftigte – oder wenn er dichtete.

Leutheusser:

Krätz:

Leutheusser: Krätz:

Er hatte also eine fast religiöse Einstellung zur Natur, zu den Phänomenen der Natur, die er erforscht hat. Herr Professor Krätz, Sie sind Chemiker, Sie sind Hauptabteilungsleiter im "Deutschen Museum" in München, und Sie haben sich Zeit Ihres Lebens mit den großen Gestalten der Wissenschaft beschäftigt. Sie haben preisgekrönte Bücher geschrieben über Alexander von Humboldt, über Casanova als Liebhaber der Wissenschaften und über Goethe und die Naturwissenschaften. Goethe hat ja seine "Farbenlehre" bis zum letzten Tag seines Lebens sehr hoch geschätzt und sich intensiv mit ihr auseinander gesetzt. Warum gab es bei ihm eigentlich diese Hinwendung zum Licht, zu den Farben? Was hat Goethe daran fasziniert, und warum hat er mit einem fast religiösen Eifer Newton, seinen Widersacher, bekämpft? Das hat nach meinen Dafürhalten zwei Gründe. Zum einen waren die Farben, das Problem der Farben, vorgegeben durch seine jugendlichen Alchimiestudien, die ja auch einen ganz starken religiösen Hintergrund hatten. Das heißt, das Problem "Farbe" war für ihn auch ein alchimistisches, ja sogar ein religiöses Problem – was dann später ja auch eine große Gefahr für ihn wurde. Darüber hinaus hat er sich schon sehr früh im Zusammenhang mit Kunststudien mit der Farbe beschäftigt: z. B. mit der Frage, was das Kolorit eines Gemäldes eigentlich definiere. Die Schwierigkeiten, denen er sich gegenüber sah, bestanden darin, dass das ganze Forschungsgeschehen in dieser Zeit verhältnismäßig unklar war. Für uns verblüffend hat Goethe ja immer geglaubt, dass Farben aus dem Trüben entstehen würden: Das sei die Grunderscheinung der Farbentstehung schlechthin. Man kann von heute her zeigen, dass er für seine Zeit damit scheinbar durchaus richtig lag. Denn das waren die Jahre, in denen es den so genannten "Höhenrauch" gab, der in seinem Tagebuch von ihm ja auch oft beschrieben wird. Der Höhenrauch war eine rauchartige Luftverschmutzung dieser Zeit: entstanden durch Vulkanausbrüche in Indonesien und insbesondere durch gewaltige Waldbrände in Nordamerika. Das führte zu wunderschönen Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, sodass für ihn diese Annahme ganz einfach nahe lag. Die Gegnerschaft zu Newton ist, wenn Sie so wollen, aus naturwissenschaftlicher Sicht ein Unglücksfall. Wobei ich übrigens glaube, dass Goethe auf Newton nie so böse geworden wäre, wenn er gewusst hätte, dass auch Newton Alchimist war. Vermutlich war ihm das völlig unbekannt. Was ist denn der Unterschied zwischen einem Alchimisten und einem Chemiker? Ein Alchimist ist jemand, der zwar Chemisches treibt, dieses aber vor einem religiösen Hintergrund macht. Das heißt, Alchimie bedeutet, dass man in einer chemischen Reaktion – wobei der Ausdruck "chemisch" in diesem Zusammenhang gar nicht ganz richtig ist – das Widerspiegeln des Makrokosmos im Mikrokosmos sieht. Dazu gehören dann auch – jedenfalls beim klassischen Alchimisten – religiöse Handlungen, Lieder, eine bestimmte Tracht usw. Goethe war in seiner Jugend Anhänger einer pietistisch-alchimistischen Richtung gewesen. Wie gesagt, dass Newton auch Alchimist war, wusste er sicherlich nicht. Aber das Schlimme war, dass er meinte, er müsse Newton widerlegen. Etwas spöttisch könnte man sagen: Er trampelte auf Newtons Grab herum. Auf der anderen Seite war es aber so, dass er eine relativ schlechte mathematische Ausbildung hatte. Infolgedessen konnte er den Entwicklungen hin zu einer Wellentheorie des Lichtes, die zu seiner Zeit ja schon lief und auch schon sehr weit entwickelt war, nicht folgen: Dem stand er völlig verständnislos gegenüber. Gerechterweise muss man aber sagen, dass diejenigen Leute wie Young oder Arago, die damals schon die aus unserer heutigen Sicht richtige Wellentheorie des Lichtes hatten, auch nicht wussten, was da eigentlich schwingt: Dass das eine Welle ist, ist ja schön und gut – aber woraus besteht denn diese Welle? Hätte es Goethe fertig gebracht, Zeitgenossen,

Leutheusser:

Podak:

die sich der Wellentheorie zugewandt hatten, fair zu diskutieren, dann wäre seine "Farbenlehre" heute noch das große Buch schlechthin. Denn seit Goethe hat es niemand mehr gewagt, das Phänomen Farbe über alle Bereiche hinweg in einem Werk abzuhandeln. Das ist seither nicht mehr versucht worden und auch nicht mehr geglückt. Herr Podak, Sie sind Journalist, Sie sind Leiter der FeuilletonWochenendbeilage der "Süddeutschen Zeitung". Auch Sie haben sich sehr intensiv mit Goethe beschäftigt. Sie haben darüber hinaus auch Fernseherfahrung, denn Sie waren elf Jahre lang bei der ARD und produzierten dabei z. B. auch einen Film über Goethes Weimar, und Sie waren auch einmal bei Bertelsmann im publizistischen Bereich tätig. Sie haben sich also Goethe von verschiedenen Seiten genähert. In einem Ihrer Artikel haben Sie geschrieben: "Oh diese unglaubliche Vielfalt Goethes. Das ist etwas, das einen heute erschlägt." Wie erklären Sie sich eigentlich den Goethe-Boom, den wir jetzt haben? Liegt es daran, dass die Deutschen eine Identifikationsfigur brauchen? Ich glaube, dass der Goethe-Boom zum einen mit der Kulturindustrie zu tun hat: Sie braucht Futter, sie braucht Events, und auch die Verlage brauchen Ereignisse. Das erleben wir immer wieder. Im letzten Jahr hatten wir Fontane: Da haben wir Fontane gefeiert, und diesmal feiern wir Goethe. Im nächsten Jahr werden es Bach und Nietzsche sein. Das ist das eine. Es ist aber auch so, dass solche Events wie diese Gedenktage unser Verhältnis zur Geschichte ordnen. Denn es gibt für die Öffentlichkeit doch kaum Möglichkeiten, sich gemäß einem Programm mit großen geschichtlichen Figuren, von denen wir herkommen und denen wir viel verdanken, zu beschäftigen, wenn nicht dieses ein bisschen äußerliche Schema der runden Geburtstage oder Todestage vorgegeben wäre. Das ist das eine, das ist formal, das ist der äußerliche Rahmen. Das andere ist Goethe und die Deutschen: das Interesse der Deutschen an Goethe bzw. auch das Interesse Goethes an den Deutschen. Das Ganze hat ja einer sehr wechselhafte Geschichte, denn ein Deutschland in unserem Sinne gab es zu Goethes Zeiten ja noch gar nicht. Goethe hatte auch ein sehr distanziertes Verhältnis zu den Deutschen. Er sagte immer meine "lieben Deutschen". In den Gesprächen in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich ironisch und sehr distanziert auch mit dem Obrigkeitsdenken der Deutschen: wie z. B. die Polizei mit jungen Leuten umgeht usw. Da treten fast anarchisch-rebellische Züge zu Tage bei Goethe. Und die Deutschen selbst? Zunächst einmal suchten sie tatsächlich eine Identifikationsfigur: vor allem die junge Generation verhielt sich so. Das war damals diese so genannte Sturm- und Drangzeit. Dann setzen aber auch schon gleich die ersten Absetzungsbewegungen ein und kamen die ersten Kritiken auf: sicher auch von Neid bestimmt, aber auch von anderen Interessen motiviert. Später geht dann das Interesse an Goethe ganz zurück. Der Dichter des Bürgertums wird Schiller. 1859 war Schillers hundertster Geburtstag, und das war damals eine große Sache. Schiller ist zehn Jahre später geboren als Goethe, und darum treffen wir uns alle zusammen hier vielleicht in zehn Jahren wieder zu einer großen Schiller-Geburtstagsfeier. Goethes hundertster Geburtstag zehn Jahre vorher, also im Jahr 1849, war keine so große Sache gewesen. Danach zerfällt die ganze Geschichte dann aber auch. Mit der "Sophien-Ausgabe", der großen Weimarer Ausgabe in 143 Bänden, die Goethes Werk erst einmal fast vollständig erschlossen hat, wird Goethe zur Beute der Germanisten, zum größten Arbeitgeber der Germanistik. Die Germanistik trägt ja von ihrer Herkunft her - schon dieses Wort "Germanistik" sagt das bereits – einen nationalistischen Geburtsmakel mit sich herum. Die Germanistik versuchte nun, Goethe als Führer aufzubauen: Es gibt ja auch ein berühmtes Buch von Max Kommerell: "Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik". Insgesamt kann man dazu sagen: Das gelingt, das

Leutheusser: Podak:

Leutheusser:

Podak:

misslingt, das wird kritisiert, und da werden auch andere Blicke versucht. So kommt ein recht buntes Bild zustande, das ständig wechselt. Wenn wir auf die heutige Situation schauen, auf den Zeitpunkt seines 250. Geburtstages, dann fallen zumindest mir zwei Dinge auf. Das eine ist eine außerordentlich solide wissenschaftliche Beschäftigung mit Goethe. Ich nenne da einige Ausgaben, die erschienen sind: die "Frankfurter Ausgabe" von Goethes Werken, die "Münchner Ausgabe", die soeben fertig geworden ist, und auch alles andere wie z. B. die beiden dickleibigen Bände um den "Westöstlichen Diwan" herum – das ist freilich nur eine Lektüre für Fachleute. Das Zweite ist, dass es in der populären Literatur zwar auch einige sehr gute Bücher gibt – Sigrid Damms "Christiane und Goethe" wäre hier sicherlich an erster Stelle zu nennen –, aber auch die Lust, an Goethe zu kratzen und zu mäkeln und zu deuteln und ihm ein Beinchen zu stellen und ihn zu ertappen und zu erwischen bei Dingen wie: War er ein guter Freund? War er ein treuer Mann? War er zuverlässig? War er zu obrigkeitshörig? War er als Minister zu streng? Hat er Todesurteile unterschrieben? Wie hielt er es mit den Universitäten? Ließ er Professoren und Studenten ausspionieren? Dabei habe ich immer das Gefühl, dass die Autoren solcher Bücher in eine selbst gestellte Falle laufen. Die Falle besteht darin, dass sie sich zuerst und ohne das zum Thema zu machen -, einen gewaltigen gibsernen Goethe aufbauen und behaupten, dies sei der überlieferte Goethe – was freilich überhaupt nicht stimmt –, um dann anzufangen, daran herumzukratzen und zu sagen: "Na ja, er war auch so ähnlich korrupt, schäbig, verführbar und unzuverlässig wie wir alle." Ist er heute noch eine Identifikationsfigur? Ich glaube, dass man das nur mehr individuell beantworten kann. Wenn ich es für mich individuell beantworten sollte, dann muss ich sagen: in Teilen, in kleinen Teilen, ist er das. Er hat uns ein großes und Respekt gebietendes Werk hinterlassen, das immer anregend ist und immer Spaß macht – in einigen Passagen ist es freilich manchmal auch langweilig, denn es kann bei 143 Bänden auch gar nicht anders sein. Aber man findet bei ihm immer irgendetwas Aufregendes. Das Aufregendste, das man finden kann, sind meiner Meinung nach Goethes Widersprüche. Er ist ständig er selbst und dann wieder ein anderer: Er wandelt sich, er widerspricht sich, er ist einmal wild und rebellisch und dann wieder staatstragend weise und von oben herab. Einmal ist er ein bisschen ironisch und dann auch wieder liebevoll emotional gegenüber einzelnen Gegenständen und Menschen. So ändert sich das ständig – und auch die Reaktionen der Menschen auf ihn verändern sich. Es gibt kaum Personen um ihn herum, die ein völlig ungebrochenes Verhältnis zu Goethe haben. Die Leute in seinem Umfeld spiegeln seine Vielfalt und seine Widersprüchlichkeit. Ich möchte trotzdem noch einmal zur "Farbenlehre" zurückkehren: Die "Farbenlehre" hat ja auch auf die Neuropsychologie und Neurophysiologie, auf die Farbpsychologie, eingewirkt. Können Sie dazu etwas sagen? Haben Sie sich damit auch beschäftigt? Ich möchte doch noch eine kleine Bemerkung machen zu der Tatsache, dass hier im Gespräch vorhin ein paar Mal das Wort "religiös" gefallen ist und Goethe zu Recht in Zusammenhang gerückt wird mit Spinozas Werk "Deus sive natura", also mit "Gott gleich Natur" bzw. "Gott wie die Natur". Man muss sich dabei natürlich schon auch vergegenwärtigen, dass das Bekenntnis zu Spinoza zu Goethes Zeiten Atheismus bedeutet hat: Das war das Abrücken von einem persönlichen Gott. Wenn man den Gott so verschwinden lässt, wenn man ihn sich so ausbreiten lässt über die Natur als die wesentliche Kraft, die alles zum Erscheinen bringt und sinnvoll zusammenhält, dann ist der persönliche Gott und auch der Christus am Kreuze verschwunden. Ich wollte das nur anmerken, damit hier kein irgendwie falscher Ton hineingerät so nach dem Motto, Goethe als

Leutheusser: Podak:

Leutheusser: Podak:

Leutheusser:

Fehlhammer:

Naturforscher sei eigentlich ein Theologe gewesen. Man kann das schon sagen, aber nur wenn man diese Erläuterungen mit hinzufügt. Wir sind nun schon mitten im Streitgespräch, aber ich würde Sie doch bitten, noch einmal kurz zur "Farbenlehre" zurückzukommen. Sehr grob ausgedrückt, kann man sagen, was die völlig unaufgebbare und von Newton herkommende Tradition der mechanischen Naturwissenschaft und dann des Elektromagnetismus usw. darstellt: Das ist die Objektivierung der Naturerscheinungen, sodass der Physiker das sieht, was sich in Zahlen ausdrücken lässt und was tanzende Zeiger ihm zeigen. Die Zeiger zeigen im Spektrum der elektromagnetischen Wellen, dass es ein ultraviolettes Licht gibt, das wir nicht sehen können – aber sehr wohl die Bienen –, und dass das ein Kontinuum ist. Beim Infrarot geht es dann schon über in die Hitze. Wir empfinden das eine als Hitze, das andere als Licht, und das Dritte sehen wir gar nicht mehr oder nehmen es nur als energiereiche Strahlung wahr, die Hautkrebs verursachen kann. Die Herren der tanzenden Zeiger: Das sind also die Physiker in Newtons Tradition. Wir müssen ihm dankbar sein dafür, denn sonst wäre es heute hier nicht so hell. Aber Goethe hat das Licht ja gar nicht gemessen, sondern... Richtig, nun gibt es auch noch eine andere Art, sich mit Licht und Farben zu beschäftigen, nämlich ganz einfach den eigenen Erfahrungen zu vertrauen. Viele von uns werden ja folgendes Phänomen kennen. Man nimmt ein Farbkästchen, macht einen farbigen Rahmen drum herum und schaut sich die Farbe des Farbkästchens an. Dann macht man einen andersfarbigen Rahmen um dieses Kästchen, und plötzlich sieht die Farbe in der Mitte anders aus. Das ist so, obwohl uns die Herren der tanzenden Zeiger mit ihren Messgeräten zeigen und sagen würden, dass das Licht, das aus diesem Farbkästchen kommt, genau die gleiche Wellenlänge hat wie vorhin beim anderen Rahmen. Aber wir sehen es eben nun einmal ein bisschen dunkler oder ein bisschen heller. Wir sehen auch manchmal Farbkonstanz, wo überhaupt keine vorhanden ist. Wie kommt das zustande? Das kommt deswegen zustande, weil das, was die Physiker gemessen haben, zu unserer Erfahrung nur werden kann, wenn es durch den kompliziertesten Apparat geht, den es im Universum gibt, nämlich durch das menschliche Gehirn. Vielleicht können wir hier einmal kurz unterbrechen, um dann später Herrn Krätz auch die Möglichkeit zu geben, darauf zu antworten. Ich möchte jetzt aber zunächst last but not least Herrn Professor Fehlhammer in die Runde einführen. Herr Professor Fehlhammer ist Generaldirektor des "Deutschen Museums" in München. Er ist Professor für anorganische Chemie und kann also mitreden, wenn es um die "Farbenlehre" geht. Er bereitet soeben selbst auch ein Event vor, ein Medienereignis zum 250. Geburtstag von Goethe: Er wird im "Deutschen Museum" eine große Ausstellung zur Naturforschung Goethes arrangieren. Wie kommt das? Ist Goethe für Sie im "Deutschen Museum" unter den Naturwissenschaftlern, die dort ausgestellt werden, auch einer, der Sie persönlich interessiert, oder wollen Sie Kunst und Wissenschaft zusammenbringen? Natürlich interessiert er mich. Ich kann mir die Antwort auf Ihre Frage leicht machen, indem ich zunächst sage, dass Goethe natürlich als Naturwissenschaftler oder als Naturforscher oder wie auch immer sicherlich in die Reihe unseres Klientels passt. Wenn wir eine Ausstellung zu Otto Lilienthal machen, wenn wir eine Ausstellung über Wolfgang Pauli machen Liebig hatte schon eine Ausstellung und wird demnächst wieder eine bekommen: Warum dann nicht auch eine über Goethe, wenn er doch das ist, was wir hier in der Runde hören, nämlich ein Tausendsassa, ein Könner auf allen Gebieten. Wenngleich ich doch auch sagen würde – wir haben auch das hier schon gehört –, dass er eigentlich doch nicht dieses

Leutheusser: Fehlhammer:

Leutheusser:

Fehlhammer:

Leutheusser: Fehlhammer:

Universalgenie in allen Feldern war, sondern hauptsächlich doch nur in der Poesie ein Genie gewesen ist. In den Naturwissenschaften ist er doch eher ein Dilettant geblieben. Ich würde das einmal so sagen wollen: Er war ein sehr liebenswürdiger Dilettant – aber ich würde dieses Wort vom Dilettanten hier tatsächlich so verwenden. Ich denke, dass man dann in der Tat danach fragen muss, warum wir ihn in diese Reihe stellen. Aber da gibt es eben auf der anderen Seite dieses Universalgenie, diesen Riesen, diesen Giganten, der alles andere mit transportiert: Da fällt doch ein Abglanz seiner poetischen Leistungen auch auf seine naturwissenschaftlichen Tätigkeiten, auf die Wetterbeobachtungen usw. Wir haben daher auch Grund, uns das anzusehen. Wir werden das auch so machen: Wir werden ihm also in unserer Bibliothekseingangshalle einen Gabentisch decken. Wir werden darauf 250 Kerzen oder Lichter drapieren und diesen Gabentisch wirklich reich decken. Da sollen all die ihm lieb gewordenen Dinge stehen, denn er ist nun einmal ein Mensch gewesen, der in Dingen dachte. Welche Dinge zum Beispiel? Goethes Wissen ist kein Wortwissen, habe ich einmal gelesen, sondern ein Wissen in Dingen. Und das floss ja auch zurück in seine Dichtung: Er weiß, worüber er spricht. Dinge sind eben all das, was in der Natur geschieht und was der Mensch daraus macht. Dazu gehört auch die Wissenschaft, die in seiner Zeit um ihn herum geschehen ist und die er auch selbst durchgeführt hat. Das muss man sich einmal vorstellen: ein Minister, der Wissenschaft treibt, ein Minister, der ins Labor seines Professors geht und sagt: "Machen wir doch einmal einen Versuch." Wäre es nicht hervorragend, wenn das auch noch heute jeder Wissenschaftsminister machen würde, um ganz einfach eine Nähe zur Forschung herstellen zu können? Das wäre wünschenswert. Es wäre wünschenswert, wenn Herr Schröder zu E. O. Fischer ins Labor gehen und sagen würde: "Machen wir mal ein paar neue Experimente und ein paar neue Komplexe." Ich würde aber doch noch ein paar Worte zu dieser Ausstellung sagen wollen, die bis März 2000 gehen soll. Wir haben seit neuestem eine witzige Konstellation: Wir haben nämlich den bei uns sitzenden Goethe etwas höher gesetzt, ihn nämlich im Juni um 13 Zentimeter höher auf Krenzheimer Muschelkalk gesetzt, weil er bis dato sehr unvorteilhaft niedrig gesessen war. Im Zuge dessen ist aber auch, wie ich meine, eine ziemliche "Gemeinheit" meines Hauptabteilungsleiters geschehen. Denn ihm gegenüber – ich nenne ihn einmal den "Steinernen Gast" – steht auf einem Sockel in Augenhöhe zu Goethe nicht mehr wie früher Gutenberg, sondern die Büste von Newton. Goethe sieht ihm also jetzt direkt ins Auge. Ich nehme an, dass dieses Diner, das wir ihm damit gedeckt haben, Goethe nicht sehr geschmeckt hätte. Was wird denn auf dem Gabentisch sein? Diese schönen Instrumente, die wir aus der "Bayerischen Akademie der Wissenschaften" bekommen haben. Damals hat man ja noch Experimente mit Instrumenten gemacht, die wirklich selbst kleine Kunstwerke waren. Das sind wirklich schöne Gerätschaften, um alles messen zu können, und Goethe hat ja alles gemessen: Er hat sich das Wetter angesehen, er hat elektrische Versuche gemacht, er hat mit Döbereinerschen Feuerzeugen experimentiert, er hat Anatomie betrieben, und deshalb wird man dort auch Gerippe und eine Anatomie-Präpariervorrichtung zu sehen bekommen. Dort wird all das stehen, was man sich an damals benutzen naturwissenschaftlichen Geräten vorstellen kann. Es wird auch noch ein weiterer Tisch gedeckt werden, auf dem wir das Essen und Trinken thematisieren. Man hat ja schon davon gehört, dass Goethe gar nicht ungern auch dem Alkohol zugesprochen hat. Die burgunderrote Decke ist

Leutheusser: Birus:

Leutheusser: Krätz:

wohl hierfür auch ein wenig eine Assoziation. Das Ganze ist also etwas, das ich salopp einen Don-Giovanni-Schlussakt nenne – mit der Komtur auf der anderen Seite, was für Goethe meines Wissens nach sicher nicht das größte Vergnügen gewesen wäre. Das ist es, was wir in dieser Ausstellung bieten werden. Ich denke, sie ist sehr schön gelungen in dieser ansonsten nicht genutzten Bibliothekseingangshalle, die auch ihren eigenen architektonischen Reiz hat. Sie fragten aber auch danach, was mir Goethe persönlich bedeutet. Es ist hier ja schon vieles angesprochen worden, und ich selbst ging ja auch davon aus, dass uns der Abglanz, der von seiner dichterischen Leistung auf die Naturwissenschaft fällt, genügt, um das thematisieren zu können. Für mich selbst ist er eben ganz einfach der Größte, für mich ist einfach die Literatur Goethes, die Schlichtheit, die Einfachheit und – wie ich hinzufügen möchte – die Richtigkeit das Entscheidende. Ich würde sagen, an ihm kann man nicht vorbeigehen, und ich selbst bin auch immer wieder zu ihm zurückgekehrt. War Goethe ein Dilettant, Herr Birus? Das wird man qualifizieren müssen – genauso, wie das vorhin Herr Podak über das Religiöse in Goethes Naturforschungen gesagt hat. Ja, er war ein Dilettant, und er hätte sich auch dazu bekannt, dass er ein Dilettant ist, ein Amateur. Aber in der Hinsicht hat er sich auch stets gegen die Zunft, gegen den wissenschaftlichen Zunftzwang, wie er das nannte, verwahrt, dass sich nämlich nur diejenigen, die dazu bestellt und beamtet sind, über die Disziplinen der Naturwissenschaften äußern könnten. Aber er war andererseits doch nicht nur ein liebenswerter Dilettant, insofern er versucht hat, den Wissensstand in den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen seiner Zeit voll nachzuvollziehen, sodass er selbst dort, wo er kein produktiver Forscher war, mit den Forschern seiner Zeit doch in Dialog treten konnte. In dem einen Fall, nämlich bei der Entdeckung des Zwischenkieferknochens, hat er ja nun auch wirklich Forschungsgeschichte geschrieben. An noch einer weiteren Stelle würde ich vielleicht den Akzent ein wenig anders setzen als Herr Fehlhammer. Es ist sicher wahr, dass seine Dichtungen einen Abglanz werfen auf seine naturwissenschaftlichen Forschungen. Aber umgekehrt haben auch die Dichtungen von diesen naturwissenschaftlichen Forschungen unglaublich profitiert. Wenn er den "Faust II" nicht mehr hätte schreiben können - was ja von der damaligen Lebenserwartung her eigentlich das Normale gewesen wäre –, dann hätte man vielleicht sagen können, wie das z. B. auch T. S. Elliot getan hat, dass er in zu vielen Disziplinen herumdilettiert hat, statt sich auf sein eigentliches Metier als Dichter zu konzentrieren. Aber gerade dass er sich so selbstvergessen auf alle diese Disziplinen eingelassen hat, führte erst zu dieser Dichte des poetischen Textes meinetwegen beim "Faust II", wo der Vulkanismus und der Neptunismus in Bezug auf die Frage der Erdentstehung eine große Rolle spielen. Oder nehmen Sie die Wolkenlehre am Ende von "Faust II". Oder nehmen Sie die Theorie des Regenbogens am Anfang des gleichen Stücks. Man könnte noch viele solche Dinge nennen wie z. B. den Homunkulus. Insofern hat er als Dichter also auch davon profitiert, und insofern ist dann die Balance vielleicht doch wieder einigermaßen hergestellt. Herr Krätz, können Sie dem zustimmen? Ja, mit gewissen Einschränkungen. Man muss sich vor Augen halten, dass es das, was wir heute professionelle Forschung nennen würden, zur Zeit Goethes in Wirklichkeit gar nicht gegeben hat. Der damalige Hochschullehrer durfte forschen, wenn er denn wollte und wenn er geschickt genug war, die dazugehörigen Mittel aufzutreiben, aber er musste nicht. Die Konsequenz daraus war, dass z. B. die Hochschullehrer Goethes eine erstaunliche Vielfalt von ganz wunderlichen Fächerkombinationen gelesen haben. Die große Forschung zu dieser Zeit bestand eben in der

Leutheusser: Podak:

Leutheusser:

Birus:

Leutheusser:

Fehlhammer:

Arbeit und der Leistung von Dilettanten – was wir heute gerne vergessen. Nehmen Sie als klassisches Beispiel dafür eben Newton: Er war über weite Strecken seines Lebens Beamter der Münze und eben kein in die Hochschule integrierter Forscher. Sie möchten zu diesem Begriff des Dilettanten noch etwas sagen? Diesen abwertend gemeinten Gebrauch des Begriffs "Dilettant" kann man und muss man wohl doch erweitern. Denn "Dilettant" kommt ja von einem Wort, das "lieben" bedeutet. Der Dilettant ist nun einmal ein Liebhaber dessen, womit er sich beschäftigt. Man kann das ein wenig pathetisch sogar noch überhöhen, indem man sagt: Der Dilettant, wie Goethe ihn repräsentierte, hat zu seinen Gegenständen, in dem Fall also zu den Gegenständer der Natur, ein geradezu erotisches Verhältnis. Dieses erotische Verhältnis ist sowohl Chance wie auch Gefahr, denn der Liebende ist eben manchmal doch blind vor Liebe und wagt und mag harte Schnitte nicht, mag den Gegenstand, den er liebt, nicht verletzen, zerschneiden, analysieren oder auseinander nehmen. Herr Podak hat nun die Vorgehensweise Goethes mit seinen Worten sehr schön beschrieben, aber lassen wir doch einfach einmal Goethe selbst zu Wort kommen. Herr Birus, Sie haben eine Goethe-Ausgabe mitgebracht und können uns das vielleicht an einem Beispiel, an einem Gedicht, vortragen. Das Dilettantische und die Querverbindung zum gelebten und auch geliebten Leben spielt hier eine Rolle. Wir hatten vorhin ja schon über die "Farbenlehre" gesprochen: Goethe war z. B. am Phänomen des Regenbogens sein Leben lang interessiert und ist mit ihm auch lebenslang nicht recht fertig geworden, weil er sich eingestehen musste, dass Newton bei der Erklärung dieses Phänomens eigentlich doch eleganter und womöglich sogar einleuchtender ist. So schreibt er also ein Gedicht über den Regenbogen, das zugleich ein Liebesgedicht ist und seine Alterssituation in einem Atemzug mit thematisiert. Dieses Gedicht stammt aus dem "West-östlichen Diwan" und hat die Überschrift "Phänomen": "Wenn zu der Regenwand / Phöbus sich gattet, / Gleich steht ein Bogenrand / Farbig beschattet. / Im Nebel gleichen Kreis / Seh ich gezogen, / Zwar ist der Bogen weiß, / Doch Himmelsbogen. / So sollst du, muntrer Greis, / Dich nicht betrüben, / Sind gleich die Haare weiß, / Doch wirst du lieben." Die Ironie und auch die Distanz, die wir diesen letzten Versen entnehmen können, gibt uns nun vielleicht die Chance, Herr Fehlhammer, einmal über die Bedeutung Goethes in unserer wissenschaftlich-technischen Zeit zu sprechen. Wir können das Thema sicherlich nicht ganz umreißen, aber wir können vielleicht doch eine ganz bestimmte Frage stellen: Nützt es uns heute in einem Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Distanz, sich mit Goethe zu beschäftigen? Kann uns Goethe dabei helfen, unsere Technik heute besser zu verstehen, wenn wir an seine liebevolle Zuwendung zur Natur, an diesen Einklang von Natur und Wissenschaft denken? Ja, nur in dieser Hinsicht ist das meiner Ansicht nach gültig. Ich würde sagen, dass das je 50 Prozent ausmacht. Wir haben heute das Problem, die Wissenschaft und die Technik zu kommunizieren und Akzeptanzen zu finden. Das ist unsere heutige Hauptaufgabe, und "public understanding of science" ist das Schlagwort, das heute in aller Munde ist. Das hat sich das "Deutsche Museum" wirklich aufs Panier geschrieben. Goethe ist ja der Technik gegenüber außerordentlich ambivalent. Er ist eigentlich ängstlich ihr gegenüber, er mag Technik eigentlich nicht: Er lehnt z. B. Dampfmaschinen ab und hat auch Angst vor Dampfschiffen, denn die sind ihm zu groß, zu mächtig, zu laut und zu lärmend. Das ist also seine Sache nicht. Er unterscheidet sehr genau zwischen Technik hier und Wissenschaft

Leutheusser:

Podak:

dort, was man heute nicht immer so macht, denn der Übergang ist heute doch sehr fließend. Vieles bzw. alles soll heute ja in die Anwendung münden. Das war zu Goethes Zeit nicht so: Der Schnitt war ganz eindeutig. Seine Liebe zu den Naturwissenschaften haben wir soeben vernommen, und ich sehe das ganz genauso: In diesem Kreis ist sicherlich Einvernehmen darüber vorhanden, dass Goethe das alles mit großer Begeisterung betrieben hat und doch auch mit ziemlichem Erfolg. Darüber hinaus bin ich aber nicht der Meinung, dass man davon absehen kann, dass sein dichterisches Werk hier doch stark eingewirkt hat. Wenn ich mir etwa anhöre, dass er beinahe die UV-Strahlen entdeckt hätte, und so eine Aussage auch immer wieder transportiert wird, dann muss ich doch sagen: Stellen Sie sich vor, irgendein anderer Mensch hätte beinahe etwas entdeckt – das hätte diesem Menschen gar nichts gebracht, so ein Mensch würde damit niemals in die Literatur eingehen. Er hat es beinahe entdeckt: Bei Goethe jedoch ist das schon etwas. Was ich vor allem von Goethe übernehme und wovon ich hoffe, dass unsere kleine Ausstellung das auch transportiert und auch in die vielen anderen Dinge einfließt, die wir machen, ist die Begeisterungsfähigkeit, die wir der Jugend vermitteln möchten. Wir möchten dieses Begeistert-Sein vermitteln: dieses Herangehen an die Sache nicht mit großem Abstand, sondern dieses wirkliche Eintauchen und auch diese Liebe zu den Dingen. Das ist ja auch das Thema dieses Gesprächs, und da gebe ich Ihnen völlig Recht, Herr Birus, wenn Sie sagen, dass die Dichtung in dieser Qualität und vor diesem Hintergrundwissen nur deshalb erfolgen konnte, weil Goethe das eben sein Leben lang mit großem Nachdruck betrieben hat. Das sollte erkannt und über die Dichtung transportiert werden, die zum Teil doch sehr schwierig ist und vielleicht auch heute erst so richtig zugänglich wird. Denn "Faust II" ist nun einmal nicht jedermanns Sache, und die "Wahlverwandtschaften" lesen sich auch nicht so einfach. Aber man hat ein großes Vergnügen dabei, wenn man sich gerade die Chemie ansieht. Das ist ja nun unsere Spezialität, und da schaue ich auch gleich Herrn Krätz an: Die Chemie hat er ja am meisten geliebt, denn das war seine heimliche Geliebte, wie er an einer Stelle einmal geschrieben hat. Er hat sie wirklich mehr als alles andere geliebt. Ich denke, dass diese Metamorphosen, die dann ja auch in die Pflanzen- und Tierwelt einmünden, natürlich in der Chemie beheimatet sind. Er hat ja auch versucht, den Weg von der anorganischen Chemie – meinem Fach – in die organische Chemie selbst zu gehen, indem er einen Kieselstein in einer Schmelze von Ätznatron auflöste, auf das Ergebnis mit Metallionen draufging und dann diese "Bäume" erhielt. Das sind natürlich anorganische "Pflanzen", aber sie sehen aus wie organische Pflanzen. All das wollen wir zeigen: Das kann man mit Experimenten nachvollziehen, und Herr Krätz macht das wunderbar. Auch Professor Schwedt, der ab und zu in unseren Hörsaal kommt, macht das wunderbar. Wir würden solche Dinge selbstverständlich auch sonst "rüberbringen", aber wenn es Goethe war, der so etwas gemacht hat, dann ist das eben ein Quantensprung im Vergleich dazu, wenn das nur ein x-beliebiger anderer Mensch gemacht hätte. Goethe ist bei Ihnen also ganz lebendig. Er hat Ihnen quasi seine Experimente überlassen, und Sie führen sie sozusagen in einem goetheschen Sinne fort. Sehen Sie das auch so, Herr Podak? Ich glaube schon, dass wir uns kurz noch einmal mit der Frage beschäftigen sollten, was wir von Goethe lernen können. Ich glaube, wir sind Gott sei Dank aus dem Zeitalter heraus, wo wir ihn als eine Autorität nehmen, uns dieser Autorität unterwerfen, Sprüche von ihm auswendig lernen und sie als Lebensmaximen anwenden. Was wir lernen können, ist eine Haltung. Wir hatten das erotische Moment - dieses Die-Sachen-Lieben – schon genannt. Darüber hinaus ist diese zumindest ab und zu notwendige Rückkehr zu einem menschlichen Maß lehrreich. Denn wenn man Physik betreibt,

Leutheusser: Podak:

Leutheusser:

Krätz:

Leutheusser: Krätz:

kommt darin der Mensch nicht vor – und auch nicht das Verhältnis der Menschen zu den Ergebnissen dieser Forschung. Demgegenüber vergisst Goethe, dieser naturwissenschaftlich liebende Sinnenmensch, das menschliche Maß und das menschliche Verhältnis im Zusammenhang mit diesen Phänomenen nie. Das ist ja auch etwas, was an der Zeit ist und was sich an vielen Ecken regt, ohne dass der Name Goethe fällt. Wenn man es einmal ganz überspitzt ausdrücken möchte, dann könnte man Goethe unter diesem Gesichtspunkt einen Großvater der Ökologie nennen. Wie meinen Sie das, Herr Podak? Ist das Ihre Botschaft für das nächste Jahrhundert? Es ist vielleicht Goethes Botschaft, dass wir die Welt, die uns umgibt, als ein geordnetes Ganzes betrachten sollen, das in Wechselwirkung miteinander steht, und dass wir beachten müssen, was da passiert – und zwar als sinnlich mit dieser Welt mitlebende Menschen, die all das ja betrifft, was in der Natur, die wir so stark verändert haben, geschieht. So kompliziert muss man das meiner Meinung nach sehen und ausdrücken. Herr Krätz, Sie haben sich wie Goethe Zeit Ihres Lebens mit der Chemie beschäftigt: Ich nehme an, dass das auch Spuren in Ihrem Leben hinterlassen hat. Können Sie dem alten Goethe zustimmen, der einmal gesagt hat: "Hätte ich mich mit den Naturwissenschaften nicht abgegeben, so hätte ich die Menschen nie kennen gelernt." Ich glaube doch, dass Goethe da einen ganz anderen Ansatz hatte. Man muss das meiner Ansicht nach auch vor dem Hintergrund sehen, dass Goethe tatsächlich Alchimist war und er in den chemischen Reaktionen – das ist ja auch die Grundidee bei den "Wahlverwandtschaften" – ein Beispiel dafür sah, wie zwischenmenschliche Verhältnisse ablaufen und sich umlagern. Ich glaube schon, dass Goethe da einen anderen Ansatz hatte als jemand wie ich. Ich glaube aber auch, dass ihn dieser ständige Vergleich - übrigens nicht nur mit der Chemie, sondern auch mit biologischen Phänomenen – bei der Betrachtung und der Verarbeitung literarischer Figuren tatsächlich beflügelt hat. Man kann ja auch feststellen, dass er glaubte, dass dabei die Geologie mitspielt: Denn er war der Ansicht, dass sich eine literarische Figur auf Granit anders verhält als auf Sand und in einem Fichtenwald anders als auf der Düne des Lido – um das einmal so brutal auszudrücken. Ich glaube daher doch, dass sich seine Sichtweise auf diesem Gebiet von meiner unterscheidet. Goethes Bedeutung für das nächste Jahrhundert: Was würden Sie dann als Chemiker dazu – kurz und knapp – sagen? Das ist eine schwierige Frage, die Sie mir da stellen. Ich glaube, dass Goethe doch eine völlig andere Sicht der Dinge hatte. Für ihn war die Chemie und die chemischen Reaktionen eine Art von Modell für das Entwickeln und das Umlagern von zwischenmenschlichen Beziehungen – auch wieder mit einem etwas alchimistischen Hintergrund. Aber wenn ich ehrlich sagen darf, was mich am weitaus meisten an Goethe begeistert hat, dann ist das das Zusammenwirken von naturwissenschaftlicher Forschung und Lebensfreude. Wobei man sagen muss, dass er sich ja gelegentlich auch die erstaunlichsten Scherze geleistet hat. Wenn er über Anatomie redet, dann treibt er manchmal Scherze von einer Art, dass man sie hier in dieser Runde vor laufender Kamera nicht wiederholen sollte. Darüber hinaus hat mich auch immer seine Lebensfreude bei der anatomischen Arbeit fasziniert, wenn er z. B. einen Fisch fängt. Allein der Text "Auf meiner Wiese ist soeben ein Hecht gestrandet" ist doch ganz toll. Wenn er hergeht, diesen Fisch sezieren lässt und auf dessen Anatomie, auf dessen Gerippe und auf dessen Eingeweide zu sprechen kommt, wenn der beste Teil des Fisches von ihm für die Küche des Herzogs reserviert wird, der nächste Teil für seine eigene Familie und der dritte Teil für sich selbst, wenn er

Leutheusser:

Birus:

Leutheusser:

Fehlhammer:

entscheidet, wie er diesen Fisch zubereiten will und welch tollen Wein er sich dazu wünscht, dann spricht daraus eine solche Lebensfreude, dass mich das immer fasziniert hat. Das hat mir, wie ich gestehen muss, eigentlich immer am meisten Spaß gemacht an ihm. Das hat mich als Vorbild schon auch beeindruckt: Ja, er war in dieser Hinsicht doch ein Vorbild für mich. Die Lebensfreude Goethes in der Wissenschaft, im Leben und auch in der Dichtung, die ja weiß Gott nicht trocken ist – wir haben vorhin schon dieses schöne Gedicht gehört: Was können Sie denn von Goethe lernen? Das ist auch für mich nicht leicht zu sagen. Mir scheint, dass wir gerade von Goethe als Naturwissenschaftler etwas lernen können – und dann bedenken, dass er das nicht nur als Naturwissenschaftler so betrieben hat. Ich meine damit Folgendes: Goethe stellte ja in seiner Jugend quasi die Verkörperung eines Originalgenies dar und erfüllte damit den Traum einer ganzen Generation. Dann wurde er gemeinsam mit Schiller fast so etwas wie ein Pädagoge der Nation, der versucht hat, im europäischen Maßstab eine ästhetische Erziehung der Deutschen einzuleiten. Man muss allerdings sagen, dass er mit diesem pädagogischen Programm in gewisser Weise gescheitert ist. Der alte Goethe hat dann gerade auch über den Hebel der Naturwissenschaften eine erstaunliche Transformation der Idee des Originalgenies vorgenommen: nämlich im Hinblick auf die kollektiven Arbeitsprozesse, wie sie in den Naturwissenschaften doch immer der Brauch sind. Wir finden im Alter bei ihm eine ganz erstaunliche Äußerung gegenüber dem Botaniker Soret. Goethe hat zu ihm gesagt – auf Französisch, aber ich übersetze es gleich einmal: "Was bin ich selbst? Und was habe ich getan? Ich habe all das gesammelt, nutzbar gemacht, was ich vernommen und beobachtet habe. Meine Werke sind genährt durch Tausende verschiedene Einzelwesen, von Dummköpfen und von Weisen, von geistreichen Menschen und von Narren. Die Kindheit, die Reifezeit und das Alter, sie alle haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Seinsweise angeboten. Ich habe oft die Ernte eingebracht, für die andere gesät hatten." Und nun kommt die Pointe: "Mein Werk ist das eines Kollektivwesens, und es trägt den Namen Goethe." Das heißt, er ist in seinen eigenen Augen nicht mehr der Schöpfer – und das verbindet man ansonsten ja mit dem Begriff des Genies –, sondern der Organisator, der Sammler, der etwas zu strukturieren vermochte, der aber darauf beharrte, dass das so strukturierte zu Recht seinen Namen trägt. So haben sowohl die Hefte zur Naturwissenschaft überhaupt und insbesondere zur Morphologie wie auch die Hefte über Kunst und Altertum zu Recht den Namen "von Goethe". Goethe ist, wie ich glaube, in diesem Sinne das letzte Universalgenie gewesen. Sie haben gerade zusammen mit einem Kollegen ein Buch dazu herausgegeben. Ein solches Universalgenie auszustellen, ist allerdings schwierig: Wir haben schon von dieser Ausstellung gehört, die jetzt für das "Deutsche Museum" produziert worden ist. Was würden Sie machen, Herr Fehlhammer, wenn Sie Goethe nun weiter ausstellen sollten? Würden Sie dann die Mineraliensammlung nehmen? Denn ich glaube, er hat über 18000 Steine gesammelt. Würden Sie also eine nächste Ausstellung zum Thema Mineralogie vorbereiten, oder ist Goethe für Sie nun damit abgeschlossen? Im März 2000 wird bei uns ein schönes Ereignis zu Ende gehen. Ich bin sicher, das wird ein großes und schönes Ereignis gewesen sein. Ich bin auch der Meinung, dass er uns weiterhin sehr viel in seiner Literatur sagt, aber ich denke auch, dass wir keine Chemie gemäß dem alten Goethe betreiben werden. Wir werden auch nicht jeden Dichter ausstellen: Schiller werden wir in zehn Jahren nicht machen – den mag ich nämlich nicht. Aber ich bin schon der Ansicht, dass wir mit der Kunst, die wir jetzt im Hause

Leutheusser:

haben, auch weiterhin immer wieder umgehen und auch viele Versionen und Möglichkeiten der Kunstinstallation verwenden werden, um Wissenschaft und Technik zu kommunizieren. Sicherlich war in diesem Zusammenhang die Ausstellung über Goethe eines der glanzvollsten Ereignisse. Wir haben über Goethe als Naturforscher gesprochen. Wir konnten nicht alle Gebiete diskutieren, sondern haben uns vor allem auf die "Farbenlehre" konzentriert. Aber wir haben doch auch festgestellt, dass in ihm, in seinem Leben, in seinem Werk und in seiner Naturforschung ein einheitliches Prinzip gewahrt ist, nämlich alles mit allem zu verknüpfen und als eins zu sehen. Vielleicht kann uns in dieser zerrissenen Zeit Goethe in dieser Hinsicht eine Orientierung geben. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

© Bayerischer Rundfunk