Sendung: Freitag, 23. September 2011, Uhr

DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Der Widerstand gegen das Verschwinden oder Memory is appeti...
Author: Ruth Schräder
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DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler

Feature Der Widerstand gegen das Verschwinden oder Memory is appetite Von Grace Yoon Produktion: DLF 2011

Regie: Grace Yoon Sprecherin: Sprecher 1 Sprecher 2 :

Produktion: 12.09.-16.09.2011 – 09:00-16:20 Uhr in M2

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- unkorrigiertes Exemplar -

Sendung: Freitag, 23. September 2011, 20.10 - 21.00 Uhr

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Der Widerstand gegen das Verschwinden, oder Memory is appetite Von Grace Yoon

Komposition: Chor, Hubu al – Lahi / Wort -Montage Komposition A: Sprecherin und Sprecher 1 & 2: Erinnerung……Journal des Verschwindens, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Memory, ver……schwunden, aber nicht vergessen…..ver…gessen :II

Sprecher 2: Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie noch nicht ist

Sprecherin: Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb, weil er verschwunden ist

Sprecher 2: Wenn ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er schon tot ist

Sprecherin: Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie schon nicht mehr ist (Jean Baudrillard)

Sound-Montage / Verschuwundene töne OT Hartmut Geerken: Es gibt eine Postkarte von Heinz-Ludwig Friedlaender an seinen Vater, der in Paris lebte. Heinz-Ludwig Friedlaender war sieben Jahre in französischen Internierungslagern gefangen gehalten.

Sprecher 1: Hartmut Geerken, Autor, Musiker und Herausgeber

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OT Hartmut Geerken: Aus dieser Zeit in den Lagern gibt es sehr viele Postkarten an seine Eltern. Da schreibt er in einer Postkarte: „Betreffend die Maßnahmen des Verschwindens auch älterer Leute“. Das war eine euphemistische Umschreibung der Transporte, die damals von den Nazis organisiert wurden und die von Paris oder Drancy bei Paris direkt nach Auschwitz fuhren. Es wurden tausende von Kindern und Erwachsenen direkt von dort nach Auschwitz transportiert und dort ermordet. Heinz-Ludwig hat das nicht im Klartext geschrieben, sondern er sagte: „Betreffend die Maßnahmen des Verschwindens auch älterer Leute“

OT Elisabeth Kiderlen: Ich denke eigentlich, dass nichts verschwindet, das alles irgendwo aufgehoben wird in dem Nächsten, das kommt……

Sprecherin und Sprecher 1 & 2: Chor: Atmo Was verschwindet, bleiben Spuren…Spuren:II

OT Hartmut Geerken: Mit dem Nachlass von Friedlaender betreibe ich einen Widerstand gegen das Verschwinden. Ich verwalte ja den Nachlass von Friedlaender/Mynona seit einem halben Jahrhundert. Solomo Friedlaender Mynona, dieser deutschjüdische Philosoph, der vor dem zweiten Weltkrieg eine große Rolle im Kulturleben spielte in Berlin und 1933 vor den Barbaren flüchten musste.

OT:Dietrich Winzer: Ja, also wenn du sagst, der Widerstand gegen das Verschwinden, da kann man sich natürlich sehr schnell an die frühen Objekte erinnern, im wahrsten Sinn des Wortes, d. h. durch Wiedererinnern verschwundene Objekte wieder herzustellen suchen, das bedeutet eigentlich der Kampf gegen Verlusterfahrung und so ist der Widerstand gegen das Verschwinden von wichtigen oder existenziellen Beziehungen natürlich eine Arbeit, nicht nur also gegen das Vergessen, sondern

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auch gegen das Selbst verschwinden, also es ist eigentlich eine existenzielle Erinnerungsarbeit.

Sound-Montage 2 / Verschuwundene töne

OT.Almut Shlamit Bruckstein und andere: Memory is appetite :ll Memory is appetite :ll

Sprecherin: Erinnerung ist eine Voraussetzung aufgeklärter Kultur.

OT.Dietrich Winzer: Man könnte natürlich über den Appetit auch auf das momentane Bedürfnis im Hier und Jetzt zu sprechen kommen.

Sprecher 1: Dietrich Winzer, Psychologe OT.Dietrich Winzer: Dies könnte man auch - sozusagen in Anlehnung an die von Hegel entwickelte Phänomenologie des Geistes und daraus entstehende Wahrnehmungs- und damit auch Erinnerungstheorie in Verbindung setzen, damit, dass das Hier und Jetzt die Erinnerung bestimmt.

OT.Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Wie meine gegenwärtige Arbeit verbunden ist mit einer gewissen Aporie oder Schwierigkeit oder Tragik doch immer noch der jüdischen Geschichte, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und eigentlich würde ich sagen in der Welt.

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Sprecher 1: Almut Shulamit Bruckstein Coruh, Professorin für Jüdische Religionsphilosophie, Autorin und Kuratorin.

OT.Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Das was für uns auch in der Kindheit und in der Jugend eine Inspiration gewesen ist, war eigentlich das kosmopolitische Judendtum, das weltoffene. Das was gesagt hat wir brauchen kein Territorium. Wir sprechen alle Sprachen der Welt. Wir binden uns nicht an eine Grenze der physischen Gegebenheiten. Und auch diese Idee, dass die Sehnsucht nach dem was noch kommt größer ist, als der Kompromiss mit der politischen Realität eines Staates..

Musik: Komposition Fragen, von Heinrich Heine

Sprecher 2: Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer Steht ein Jüngling-Mann, Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel, Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen: “O löst mir das Rätsel. Das qualvoll uralte Rätsel, Worüber schon manche Häupter gegrübelt, Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in Turban und schwarzem Barett, Perückenhäupter und tausend andere Arme schwitzende Menschenhäupter Sagt mir, was bedeutet der Mensch? Woher ist er gekommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?” Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel,

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Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken, Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt, Und ein Narr wartet auf Antwort.

Komposition: Wort-Montage…… Sound-Montage

OT.Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Also der Impuls, wo ich angefangen habe mich fremd zu fühlen, oder entfremdet in Jerusalem als Dozentin für jüdische Philosophie an der Hebräischen Universität, war der Moment, in dem Rabin ermordet wurde. Das war 1995 und die Schwierigkeit für mich war nicht nur die Brutalität des Attentats auch mit Auswirkung auf die gesamte Friedenspolitik innerhalb Israels, sondern vor allem, dass ich verstanden habe, dass es keine Möglichkeit gibt, innerhalb des Landes auf sichtbare Weise jüdisch zu sein, wenn das dann ganze Land mehr oder weniger eine Gewaltstruktur hat, die sich mit dieser jüdischen Kultur fest liiert hat. Das heißt, es gibt keine widerständige Kultur in demselben Gewand in dem die Gewalt den Status aufdrückt. Und das ist das, was ich prinzipiell verstanden habe. Insofern habe ich mich dann geöffnet für Angebote, die aus Frankfurt oder Berlin kamen. Das Absurde war, dass diejenigen, die mich eingeladen haben, insbesondere für die Martin Buber Professur in Frankfurt, es im Grunde so eine Art Alibi Professur war, etwas wieder gut zu machen mit sogenannten authentischen jüdischen Bewerbern, die dann in einem Zusammenhang standen auch der Wiedergutmachung der evangelischen Kirche. Man hat sehr viel Erinnerungsarbeit geteilt. Aber man hat sich nicht wirklich interessiert für Identisches – also für Kitsch natürlich, von Klezmer Musik bis hin zu jeder Art von jüdischer Folklore – aber die wirkliche Arbeit an der Differenz, also die Arbeit am Rabbinischen, am Halachischen, sozusagen am Rückgrat der jüdischen Tradition in Deutschland, da ist nichts passiert. Man hat ja in die Schul-Curriculi keine rabbinischen, talmudischen, irgendwie jüdischen Differenzen eingebaut, die einen jetzt daran erinnern könnten, dass das eben nicht eine jüdisch-

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christliche Kultur ist, sondern dass da ein Moment ist von Differenz. Wenn man sich mit Halacha beschäftigt hätte in den Schulen, dann wüsste man, dass Sharia und Halacha nicht weit voneinander entfernt sind.

Sound-Montage 2- / Verschuwundene töne

OT. Elisabeth Kiderlen: Ich habe in Isfahan im Iran unterrichtet. Die Studenten kommen zu einem und fragen, ob man das weiß, dass wir alle, Christen, Juden und Muslime alle einen gemeinsamen Abraham haben und darauf sind sie dann wiederum auch stolz, auf diese Nähe.

Sprecher 1: Elisabeth Kiderlen, Journalistin und Redakteurin des Magazins der Heinrich-Böll-Stiftung

OT. Elisabeth Kiderlen: Auch da ist es diese Mischung zwischen Misstrauen, Distanz zu Juden und Christen und gleichzeitig die Betonung des Gleichen, was haben wir denn gemeinsam. Es gibt die Ähnlichkeit, aber es wird die Differenz auch immer markiert. Das ist eine Frage der eigenen Identität, der eigenen Geschichte. Insofern gibt es immer mehrere Stränge, es ist dann ein Gewirr und dann wird immer wieder versucht, das Besondere und das Eigene festzuhalten, gegen alles andere. Solange die Religion eine Art zu leben war, gehörte sie einfach dazu, das war sozusagen ein kultureller Hintergrund auf den man agierte, mit den ganzen Ritualen und Festen. Erst wenn es dann politisiert wird, wenn es auf eine Differenz markiert wird, wenn es eine politische Religion ist, die sich gegen die Mächtigen erhebt, gegen die Christen oder gegen die Juden Front macht, oder gegen die Muslime, dann wird es was anderes, dann ist es nicht mehr eine Art zu leben, die etwas sehr Gutes hat, auch mit der Religion zusammen, sondern es wird dann alles zum Schlachtfeld.

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Komposition: Chor, Hubu al – Lahi / Sound-Montage / Verschuwundene töne

OT.Mira Beham: Jugoslawien war ein Vielvölkerstaat und man kann natürlich sagen, dass er in gewisser Weise auch kosmopolitisch war.

Sprecher 1: Mira Beham, Aurorin, Diplomatin

OT.Mira Beham: Was Jugoslawien natürlich auch charakterisiert hat, war das Zusammenleben der Religionen, es stand geradezu symbolisch dafür, weil da die großen Weltreligionen auch immer ganz präsent waren: Judentum, Islam und Christentum. Was dann passiert ist, als Jugoslawien implodiert ist, war, dass diese Völker, die in Jugoslawien gelebt haben, sich über die Religionen definiert haben und dann die Religionen gegeneinander aufgebracht haben, aber im Grunde war es kein Religionskrieg, es war ein Aufteilungskrieg in einem zerfallenden Land. Da spielte eigentlich der Nationalismus die größte Rolle und nicht die Religion. Die Religion wurde sozusagen missbraucht, um politische Ziele zu erreichen und um die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Was in Jugoslawien passiert ist, dieses Benutzen oder Instrumentalisieren von Religionen um politische Ziele zu verfolgen, war im Nachhinein gesehen schon fast so etwas, wie ein Vorbote von dem, was später passiert ist, oder was jetzt auch immer noch passiert, das hat ja auch unter anderem zu dieser Definition beigetragen „Kampf der Kulturen“. Die definieren sich über Religionen. Das hat irgendwie in Jugoslawien angefangen. Danach erst kam der 11. September, und all die Entwicklungen, die wir jetzt haben, mit denen wir jetzt immer noch beschäftigt sind. In gewisser Weise war das so etwas wie ein Zeichen, ein Vorbote.

Musik-Montage: Balkan …………………Ort, Zeit, Menschen…….

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OT.Mira Beham: Man sagt ja, dass Jugoslawien verschwunden ist, in Wirklichkeit ist es politisch und auf den Landkarten der Welt verschwunden, aber wenn man mit den Leuten spricht, die das alte Jugoslawien noch erlebt haben, dann ist es natürlich immer noch vorhanden, es lebt in der Erinnerung der Leute weiter und nachdem Jugoslawien ja eigentlich implodiert ist, also durch den Krieg und durch Gewalt und Elend zerstört wurde, hat man von dem alten Jugoslawien eigentlich immer noch eine idealisierte Form. Es gibt eine neue Generation von jungen Menschen, die keine Erinnerung mehr an das alte Jugoslawien haben und für die verschwindet Jugoslawien immer mehr. Die, die das alte Jugoslawien erlebt haben, erinnern sich gerne daran.

Peter Handke Zitat Sprecher 2: Erinnerung hiess nicht: Was gewesen war, kehrte wieder; sondern: Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz. Wenn ich mich erinnerte, erfuhr ich: So war das Erlebnis, genau so!, und damit wurde mir dieses erst bewusst, benennbar, stimmhaft und spruchreif, und deshalb ist mir die Erinnerung kein beliebiges Zurückdenken, sondern ein Am-Werk-Sein, und das Werk der Erinnerung schreibt dem Erlebten seinen Platz zu, in der es am Leben haltenden Folge, der Erzählung, die immer wieder übergehen kann ins offene Erzählen, ins grössere Leben, in die Erfindung. (Peter Handke)

Sprecherin und Sprecher 1 & 2:”Empört Euch!” Komposition: "Indiginez-vous" Chor variation - Sound-Montage

OT.Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Der Widerstand gegen das Verschwinden ist ein Begriff einer meiner liebsten Freunde, der leider verstorbene Dieter Adelmann, ein Universalgelehrter, der in

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der Tradition der Wissenschaft des Judentums geforscht hat und Dieter Adelmann hat sein Leben lang ist er diesem Begriff des Widerstandes gegen das Verschwinden als eine Definition dessen, was Trauer ist. Trauer ist der Widerstand gegen das Verschwinden und das war seine große Arbeit an an dem Trauerspielbuch von Walter Benjamin, im Bezug auf die Arbeit an den kosmopolitischen jüdischen Traditionen. Es ehrt mich sehr und hätte ihn sehr gefreut, wenn er wüsste, dass das nicht nur in der Ausstellung „Taswir“ ein ganzen Raum bestimmt hat... also ein Raum war ja unter dem Motto “Trauer ist der Widerstand gegen das Verschwinden”. Das waren die Arbeiten von Parastou Forouhar, der iranischen Künstlerin. Und wenn er gewusst hätte, das es eine Rolle spielt, dieser Titel, das hätte ihn sehr gefreut.

OT. Parastou Forouhar: Zur Arbeit die ich zur Ausstellung "Taswir" im Martin-Gropius-Bau in Berlin gezeigt habe. Diese Animation basiert auf dem Denken von Hannah Arendt über das totalitäre System und wie dieses System die Zwischenräume der menschlichen Beziehung bestimmt,..…angelehnt an diesen Ideen habe ich die Animation gemacht und versucht zu zeigen, daß Ornament ein Teil meiner Kultur ist, hat auch, kann auch so eine Wirkung haben da es eine sehr schöne harmonische symetrische Oberfläche anbietet die eine Ausgewogenheit ausstrahlt und dahinter jeden möglichen Freiraum für Individualität nicht zulässt. Jede Individualität würde in so einem System wie eine Störung aussehn, dadurch wird es ausgeschlossen, sogar verschwinden. Das ist für mich eine sehr politische Herangehensweise an das Thema Ornament.

OT.Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Parastou Forouhar ist die Tochter des Ehepaars Forouhar, die über lange Jahre ein Zentrum waren in Teheran für die liberale Widerstandsbewegung.

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Zuerst war es der Widerstand gegen den Shah. Deswegen waren sie auch involviert in die Revolution und dann war es natürlich auch der Widerstand gegen Khomeini und die politische jetzige Regierung. Und die Eltern von Parastou sind 98 in ihrem eigenen Hause vom iranischen Geheimdienst ermordet, erstochen worden. Bestialisch und politisch absichtlich, sozusagen von oben befohlen.

OT. Parastou Forouhar: Das bedeutete einen Einschnitt in meinem Leben, und seitdem versuche ich auf unterschiedlichen Ebenen mit diesem Thema des Verschwindens, des Tötens, zu arbeiten, auf politischer Ebene, aber auch auf künstlerischer Ebene, und wenn ich das zusammenfassen soll würde ich sagen, ich versuche gegen das Verschwinden, gegen das Vergessen, zu arbeiten um die Würde diesen Menschen, die so brutal aus dem Leben verschwunden sind, wieder zurückzuerobern. Sie nicht der Vergessenheit zu belassen sondern immer wieder in die Gegenwart zu holen.

Musik……………………………………………………………………………………… OT. Parastou Forouhar: Ich finde es wichtig dass wir an der politischen Substanz des Erinnerns arbeiten. Weil ich denke nicht das Erinnern ist etwas das mit Vergangenheit zu tun hat sondern es hat mit der Zukunft zu tun. Soweit wir nicht die Vergangenheit aufklären und Position beziehen wird auch die Zukunft davon bestimmt. Unsere Haltung kann einen Weg öffnen der anderes ist als was die versucht haben.

Musik- Sound-Montage

OT. Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Dieter Adelmann hat auch immer wieder betont, wie sehr die jüdischen Gelehrten der Wissenschaft des Judentums sich verbündet haben in ihrer Arbeit mit den

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islamischen Quellen, also mit den judä-arabischen und arabisch-islamischen Quellen. Und das diese Art von Widerstand gegenüber den Versuchen natürlich insbesondere der protestantischen theologischen Fakultäten, die immer sehr nah dran waren, der Vereinnahmung des jüdischen in so eine Art Rückbezug. Das was wir überkommen haben, das was wir ehemals waren und sozusagen die Einordnung in eine lineare Geschichte, wo dann doch die letzte Kultur, die christliche, die protestantische, die preußische, die Oberhand behält. Diesen Widerstand zu kultivieren, der gegenüber der Vereinnahmung, ist ja eine Geste, die weit über das religiöse jüdische hinausgeht. Es ist ja sozusagen eigentlich eine Geste des Widerstandes gegenüber der Vereinnahmung durch die Anderen. Diesen Widerständigkeit zu behalten halte ich für eine unglaublich wichtige Aufgabe, auch gerade im jetzigen politischen Diskurs.

OT. Hartmut Geerken: In letzter Zeit lese ich immer wieder in Zeitungen oder sehe im Fernsehen, dass unsere Politiker viel mehr Gewicht auf die jüdisch-christliche Tradition bei uns im Abendland legen. Das ist natürlich reine Geschichtssplitterung. Man müsste diese Politiker, die solche Afterweisheiten verbreiten nochmal in die Schule schicken, damit sie ein bisschen mehr über die Geschichte des Abendlandes erfahren würden. Der Islam war grundlegend wichtig für die Kultur des Abendlandes. Unsere Kultur basiert genauso auf der islamischen Kultur wie auf der jüdischen. Wenn heute ein Deutscher auf seine Armbanduhr schaut, dann sieht er immer auf arabische Zahlen. Die Ziffern sind arabisch. Sogar das Wort „Ziffer“ ist arabisch. Jeder Politiker, der auf seine Armbanduhr schaut, schaut auf eine islamische Tradition.

OT. Almut Shulamit Bruckstein Coruh: Und die Seiten haben ja längst gewechselt. Also heute ist es so, dass im Grunde genommen die Moderne, der Westen, eine absurde, jüdisch-christliche Liaison gefunden hat, auch politisch, die einen neuen Orientalen sich erschaffen hat, nämlich den Moslem als Anderen, als Fremden, als rückständig, als nicht

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integrierbar. Es ist für mich unglaublich interessant und auch gleichzeitig traurig zu sehen, wie die Adjektive des Ausschließens und der Ausgrenzung sich wiederholen. Die Juden in Deutschland und in Westeuropa haben vergessen, dass sie selber eigentlich der Inbegriff des Orientalen waren. Auch im Nahen Osten ist es natürlich ein europäisches, eigentlich ein koloniales Projekt. Die Ausgrenzung des Orientalischen auch nach Innen hin, dass es mehr oder weniger eine europäisch-orientalische Weltkonfrontation geworden ist, ist etwas, was sehr viel zu tun hat mit dem Moment der Selbstvergessenheit. Insofern ist es dass was ich meine, wenn ich sage, ich fühle mich oft in Deutschland doppelt verschleiert, weil dieses Gefühl, dass man eigentlich etwas mitbringt, was nicht integrierbar ist, sollte eigentlich etwas sein, was gefeiert werden könnte. Dieser Widerstand gegen die Integrierbarkeit ist doch etwas Kostbares. Dass das in Bezug auf die Fremdheit der jüdischen Traditionen so völlig übergangen wird, in einer sehr bösen Art und Weise in der öffentlichen Debatte, gegenüber den Muslimen, ist eine für mich unglaublich schockierende Selbstvergessenheit. Das ist mehr oder weniger eine Wiederholung und ein Duktus der Ausgrenzung. Da denke ich dass es unglaublich wichtig ist, was Navid Kermani und die anderen Kollegen und die Freunde zeigen konnten, ist mehr oder weniger ein gemeinsamer Widerstand gegenüber dieser völligen verflachenden Einordnung in Etwas, von dem man noch nicht einmal weiß, was das sein soll. Was soll denn dieser neue Deutsch Diskurs sein? Was ist denn das eigentlich? Was ist eigentlich diese christliche Kultur, wenn man damit nicht ganz bestimmte dogmatische Dinge meint? Es ist ja nicht so, dass die Idee von Liebe, Gerechtigkeit und Menschheit nur da exklusiv erfunden worden ist.

Komposition: Chor, Hubu al – Lahi / Sound-Montage / Verschuwundene töne

OT. Elisabeth Kiderlen: Wenn ich aus dem Iran zurückkomme, habe ich immer das Gefühl, hier spielt Religion eigentlich eher eine Rolle als Sehnsuchtsort, den man irgendwie nicht mehr erreichen kann. Mir geht’s ja auch so. Ich gehe gerne in Kirchen, ich gehe

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fast lieber in Moscheen, weil die einfach nicht diese schrecklichen Bilder von gequälten Menschen und Hölle haben, sondern dort ist es pur, abstrakt. Aber jedes mal denke ich, wie wär`s nicht schön eine Religion einfach wieder zu leben, in einer Form von Gemeinschaft. Wenn ich dann einen Schritt dahin mache, merke ich, ich kann es nicht. Ich kann mich dem immer mehr annähern, in dem Sinne dass ich historisch oder psychologisch oder philosophisch oder ästhetisch – ganz wichtig, die schönen Räume, die schöne Musik – mich damit auseinander setze, aber diesen Schritt zum Glauben, den bringe ich nicht mehr. Da scheint irgendetwas zerbrochen zu sein. Das ist mit unserer westlichen Aufklärung einfach zu schwer. Amerika ist ja z. B. ein sehr frommes Land, aber ich glaube Europa ist da eher von der Aufklärung sehr stark geprägt und deshalb sehr skeptisch. Es ist sehr schwierig zu irgendeiner Form von Glauben zurückzukehren. Aber irgendetwas sucht man ja doch. Da ist tatsächlich die Leichtigkeit des Glaubens verschwunden, ich glaube das ist für viele Menschen in Europa unwiederbringlich verschwunden. Es kehrt aber zurück als eine Frage der Ästhetik, des Wunsches nicht nach dem Abendmahl aber nach dem gemeinsamen Mahl. Irgendwie berührt die Frage der Religion immer mehr Leute und trotzdem ist was verschwunden, nämlich die Fähigkeit, wirklich zu glauben.

Musik: Chor, Worte / Montage

OT. Jenan Kouri: Ich komme aus Damaskus und lebe seit 30 Jahren in Deutschland. Ich bin griechisch-orthodox erzogen und ging in eine französische Klosterschule in der Altstadt von Damaskus, nicht weit von der kleinen Bäckerei vom Vater des syrischen Schriftstellers Rafik El Schami, in der Nähe von Bab Tuma. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück, in der ich mit Kindern aus verschiedenen Religionen in der Schule gelernt und gespielt habe.

Sprecher 1: Jenan Kouri, Nervenärztin

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OT. Jenan Kouri: Während meiner Schulzeit hatte ich zwei gute Freundinnen, Nada mit mohammedanischem Glauben und Rachele mit jüdischem Glauben. Ich habe unseren unterschiedlichen Umgang mit verschiedenen Dingen als angenehm und bereichernd empfunden. Ich erinnere mich an eine Szene in der die Mutter von Nada die körperbetonte Kleidung ihrer Tochter gegenüber den strengen Nonnen verteidigte. Dabei erzählte sie den Nonnen wie sie sich freue dass die Tochter dabei sei zu einer hübsche Frau zu werden und wie wichtig es für die Tochter sei, die weibliche Entfaltung nicht zu unterdrücken. Dabei war die Mutter selber verschleiert. Eine wichtige Szene bei meiner Freundin Rachele war, den Vater vom Studienwunsch der Tochter zu überzeugen. Sie wollte Pharmazie studieren. Wir standen uns immer bei, wenn es etwas wichtiges gab.

Wir konnten an jedem Tag einkaufen, am Freitag waren die mohammedanischen Läden zu, am Samstag waren die jüdischen Geschäfte geschlossen und am Sonntag die christlichen. Und das ist bis jetzt so geblieben, so dass man eigentlich immer irgendwo in Damaskus einkaufen kann. Früh am Morgen ruft der Muezzin, danach kommen die ersten fliegenden Händler und preisen ihre Waren lautstark an, dann läuten die Glocken zum Gebet. Und wenn man durch die Altstadt geht, hört man, je nachdem in welchem Viertel man ist, den Gesang der jüdischen Gläubigen oder den Chor der Christen und das Gebetsgemurmel aus der Moschee. Diese Fülle an Farben und Tönen und Eindrücken, die wie ein Regenbogen in allen Farben schillert, fehlte mir sehr als ich hierher kam. Hier in den „zivilisierten“ Ländern verschwimmen die Grenzen der Kulturen und die Menschen orientieren sich mehr an suggerierten Bildern, wie zum Beispiel dem Konsum. Als Mensch wird man instrumentalisiert. Man hört zum Beispiel „Mohammedaner“ oder „Jude“ oder „Christ“ und die Medien liefern je nachdem bestimmte Klischees dazu. Für mich verbergen sich hinter diesen Klischees lebendige Menschen, mit denen ich eine bereichernde Zeit verleben durfte und die mir am Herzen liegen.

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Diese Erinnerungen leben in mir und helfen bei vielen Entscheidungen in meinem jetzigen Leben. Es ist immer wichtig den einzelnen Menschen zu sehen. Diese Erinnerungen sind wertvoll für mich, weil Sie mich mit geprägt haben. Sie verbinden sich mit den sinnlichen Eindrücken einer Zeit und einer Kultur. Das Anknüpfen an diese Gefühle sind der Widerstand gegen das Verschwinden der Erinnerungen. .

Musik: Tonleiter Cello und Chor OT. Jenan Kouri: Diese Lust miteinander zu sein und miteinander groß zu werden ist viel wichtiger als alles andere, das finde ich so schön. Meine Erinnerungen brauchen nicht zu verschwinden, weil die wirklich weiter existieren und man daran anknüpfen kann, mit den Menschen von damals. Jedesmal wenn ich nach Damaskus fliege erlebe ich das wieder und wieder und ich hoffe sehr, dass mein Kind das auch weiter erlebt und wieder hierherkommt und seine Freunden erzählen kann wie das interessante Zusammenleben dort ist.

Sound-Montage 3 / Verschuwundene töne / Sonnen chor

OT Hartmut Geerken: Ich bewahre Solomo Friedlaender Mynona vor dem Verschwinden. Das ist ein Bewahren von etwas und das Bewahren gehört genauso zu einem Phänomen, wie das Verschwinden. Denn das ist eine polaristische Angelegenheit. Das Schwingen oder Schweben zwischen Plus und Minus. Friedlaender war ein Polarist, aber er war auch ein Zentralist. Er versuchte, diese Pole, diese Extreme in sich zu vereinen und nannte das „Ich-Helio-Zentrum“. Er wollte also, dass die Sonne in seinem Inneren die Kraft hat, die sie auch astronomisch hat, nämlich dass alles, was von außen her an diese innere Sonne herankommt, sofort verbrennt. Man muss diese Extreme einfach in der Schwebe halten. Er nannte das „ contre balancement“, das Ausgleichen dieser Pole. Ich glaube, man kann nicht sagen, dass man das Verschwinden verhindern soll. Es

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ist auch gut, dass etwas verschwindet. Man braucht das unbedingt, um dieses contre balancement beizubehalten.

Sprecherin: Nachts / leg ich mich / in eine Urne / da wohnt / die verbrannte Welt / Am Morgen / seh ich die Sonne / und bin dankbar

(Rose Ausländer)

Komposition: Mediale…….Gedächtnisschwund, Sound-Montage

Sprecher 2: Das Fernsehen: jedes Bild vergeht darin ohne Wiederkehr. Die Kunst entgeht dem nicht. In ihren unzähligen gegenwärtigen Formen übt sie nur noch die Magie ihres Verschwindens aus und gibt blutleeren Lüsten Raum. ( Cool Memoires, Jean Baudrillard)

OT Mira Beham: Was mir zu dem Thema „Widerstand gegen das Verschwinden“ noch einfällt ist, dass das verschwindet, was nicht in unserem Bewusstsein ist oder in unserer Erinnerung, oder das, was sich nicht in unser Bewusstsein drängt. Ich glaube, dass da auch die Medien eine große Rolle spielen, die sozusagen so eine Art Gender Setting betreiben für unser Bewusstsein, also die uns daran erinnern, was wir glauben wissen zu müssen. Medien gehen ja natürlich unheimlich selektiv vor. Da gibt es Ereignisse in der Welt, da muss man noch nicht einmal weit weg gehen dazu, das passiert hier in unserer Gesellschaft, da gibt es Ereignisse oder Dinge, die einfach nicht da sind, weil sie nicht in den Medien vorkommen. Also was in den Medien nicht vorkommt, ist in gewisser Weise verschwunden aus unserem Bewusstsein oder unserem Wissen, aber es existiert trotzdem. Es gibt z. B. Kriege, die kaum in den Medien vorkommen, oder auch gesellschaftliche Zustände überall auf der Welt und die gibt es dann praktisch nicht. Es ist auf der anderen Seite natürlich schwierig, die richtige

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Auswahl zu treffen von Themen, die Medien ansprechen, aber da ist es auch die Frage, wie politisch gewollt so ein Selektionsprozess ist.

Sprecher 2: Zivilcourage. Ein Wort, das bezeichnenderweise aus unserem Wörterschatz verschwunden ist. Wenn man einmal suchen würde, welche Worte da noch verschwunden sind, würde man wissen, was uns fehlt, an was es uns gebricht. (Hammerstein oder der Eigensinn, Hans Magnus Enzensberger)

OT Claudia Macias: „Haben und Sein“ ist für die heutige Zeit total wichtig. Zu erkennen, was ist Haben und was ist Sein.

Sprecher 1: Claudia Macias, Web-Designerin

OT Claudia Macias: Und wenn Haben und Sein nicht im Gleichgewicht sind, dann geht es dir schlecht, du fühlst dich schlecht, du fühlst dich im Ungleichgewicht. Haben ist etwas, was unsere heutige Zeit dominiert. Wir wollen alles haben. Wir wollen sogar die Zeit kaufen, wir versuchen alles zu haben. Wir machen Reisen, wir kaufen uns Erfahrungen, wir wollen sogar Kunstausstellungen haben, das ist quasi wie konsumieren. Wir sind aber viel zu wenig Sein. Das heißt, Sein bedeutet, sich hinzusetzen und drei Zeilen zu schreiben. Sein bedeutet Kunst erschaffen oder zu arbeiten. Wir arbeiten gerade nur nicht um zu Sein, sondern nur um des Habens willen, um am Ende des Monats ein Gehalt zu bekommen, um wieder nur etwas zu konsumieren. Ich finde Haben und Sein ist total im Ungleichgewicht. Ich finde, dass durch diese ganze Konsumwelt gerade das Sein verschwindet. Das ist etwas, worüber man sich jetzt mal länger Gedanken machen sollte und was man auch wieder ausgraben sollte.

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Vielleicht ist das der Widerstand gegen das Verschwinden, vielleicht wehre ich mich gegen das Verschwinden von Sein. Ich möchte nicht, dass das Sein aufgegeben wird, dass man es verliert und dass es verschwindet.

Musik-Atmo: Widerstand, Erinerung……:II

OT Elisabeth Kiderlen: Es ist mehr wie so ein Berg, der auf einem sitzt.......

Sprecherin und Sprecher 1 & 2: “Atmo Widerstand”:II ……………..dann ist verschwinden, verwehen, vergessen, verlieren – alles mit dieser Vorsilbe verändern – verlieben – Erinnerung – memories….

OT.Almut Shlamit Bruckstein und andere: Memory:ll Memory :ll Trauer ist der Widerstand gegen das verschwinden“

OT Montage Verschwundene Namen :ll Erinnerungs-Montage …………………………………………..+++++++++++++++++++……..+++++++++ ++++++++++++++ ………..+++………..+++++++++……++++++……. Sprecher 1: OT Edward Nachmann: Spanish Ich bin der Sohn eines während der argentinischen Militärdiktatur verschwundenen Schauspielers; ich engagiere mich in der Organisation „Hijos“, also „Söhne und Töchter Verschwundener“

Sprechr 2: Edward nachman, Radio Moderator

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Sprecher 1: OT Edward Nachmann: „HIJOS“ steht für die Organisation „Söhne/Töchter für die Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und das Schweigen.“ Als Menschenrechtsorganisation arbeiten wir seit 15 Jahren und haben sehr viel von den Müttern und Großmüttern der Plaza de Mayo gelernt.

Atmo montage: Verschwundene Namen :ll Erinnerungs-Montage ++++++++………+++++…..++++……………+…………+…….+……

Sprecherin: OT Mutter: “Jeden Donnerstag lesen wir auf der Plaza de Mayo die Namen unserer verschwundenen Angehörigen vor, all diese 34 Jahre haben wir gekämpft!

Musik: FM LaTribu

Sprecher 1 OT Edward Nachmann: Hier in Buenos Aires beim Sender FM LaTribu haben wir Kinder der Verschwundenen eine eigene Sendung. Sie heißt „la lucha que nos parió“, „Der Wiederstand, der uns hervorbrachte“. Diese Sendung wird seit mehr als elf Jahren jeden Freitag von 17.00 bis 18.00 Uhr ausgestrahlt.

Musik- Atmo Montage………..++++++……..+++++..+.++++………….

Sprecher 2: ………….das weben seiner Erinnerung die "Penelope-arbeit des Eingedenkens", auf die Gattin des Odysseus anspielend, die zehn Jahre auf ihn wartete und das Produkt ihrer Webstuhlarbeit immer wieder auflöste und immer neu begann.

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Oder sollte man nicht besser von einem "Penelope-werk des Vergessens" reden?

Musik-Atmo: Erinnerung in einem Echtzeit-Medium, Eric Dolphy

OT. Hartmut Geerken: Eric Dolphy, dieser wunderbare Jazzmusiker, sagte einmal im Hinblick auf das Verschwinden: „When music is over, it's gone in the air and you'll never capture it again.“

OT.Johanna da Luz: Mein Professor Woider an der Uni in München kam aus Ungarn und hatte immer sehr tolle Geschichten bei seinen Vorlesungen und ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie er einmal erzählt hat, dass der Mensch zwei Leben hat.

Sprecher 1:Johanna da Luz, Ethnologin

OT.Johanna da Luz: Das erste Leben ist zu Ende, wenn jemand stirbt, das heißt, wenn der Körper geht und der zweite Tod ist der Tod durch das Vergessen. Das hat mich mein ganzes Leben lang beschäftigt. Das eine ist eben der physische Tod und dann der Tod, wenn man im Gedächtnis der Menschen nicht mehr existiert. Verschwinden……..

OT. Parastou Forouhar: Eine Arbeit die ich als Teil dieses Widerstand gegen das Verschwinden mache ist, dass ich jedes Jahr zum Todestag meiner Eltern dorthin zurückkehre wo sie gelebt, gearbeitet haben, aber auch ermordet worden sind, in dem Haus, und versuche dort die anderen auch daran zu erinnern dass diese Verbrechen dort passiert sind. Ein paar Jahre durfte ich eine Veranstaltung zur Ehrung meiner Eltern machen, ab dem fünften Jahr hat das Regime das verboten und das

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gesamte Areal rundrum wird verbarrikadiert, niemand darf an diesem Tag zu diesem Haus kommen. Aber ich finde das wichtig dass ich jedesmal hingehe und versuche daran zu erinnern.

Musik: +++++++++……………+……..Sound-Montage / Verschuwundene töne

OT.Dietrich Winzer: Auf jeden Fall ist die Hegel'sche Theorie des Erinnerns und auch die von Freud entwickelte Nachträglichkeitsidee im Erinnern eine sehr spannende Geschichte, weil sie natürlich darauf verweist, dass unser Erinnern ein aktiver Prozess ist, ein von aktuellen Bedürfnissen gesteuerter Prozess, der eben nicht dem einer Fotoplatte gleicht, sondern es ist im Grunde ein Neuentwurf der Vergangenheit durch das Hier und Jetzt und durch unseren Appetit, Habermas hätte gesagt, durch unsere Erkenntniss - Interessen. Es gibt eben diese dialektische Abhängigkeit von beidem und man kann aus der neueren neurobiologischen Forschung sogar davon ausgehen, dass sich selbst beim aktiven Erinnerungsprozess möglicherweise noch neue Bahnungen und synaptische Verbindungen ergeben, weil alles aktiv ist. Wir schaffen uns in gewisser Weise auch die Erinnerungen. Das entspricht z. B . auch dieser schönen Theorie von Mario Erdheim, dem Schweizer Psychoanalytiker, der viel über die Adoleszenz geschrieben hat und der aus der Nachträglichkeitstheorie von Freud in Bezug auf die Adoleszenz diesen schönen Begriff geprägt hat von „Avantgarde“, dass die Jugendlichen sich sozusagen in ihrer Art sich ihre eigene Biographie zusammenstellen und erinnern, eigentlich eine neue avantgardistische Wirklichkeit schaffen. In diesem schönen Gedanken der Avantgarde, die in der Adoleszenz erzeugt wird, wird durch das Erinnern deutlich, dass man sich nicht von der Vergangenheit der Menschheit erdrücken lassen muss als junger Mensch, sondern dass man die sich selektiv immer wieder neu schafft. Das ist eben die Aufgabe jeder neuen Generation, sich über dieses aktive Erinnern immer wieder neu zu schaffen. Die Menschheit schafft sich mit jeder Generation neu und damit auch ihre Erinnerung.

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Sprecherin: „Wir leben von nie bewußt gewordenen Erinnerungen.“ Was folgt daraus für ein Leben, das allein um der Erinnerung willen noch geführt wird? Vielleicht, dass mit jedem Zufallsblitz, der ins Dunkel des Vergessens fährt, die Freiheit gegenüber der „aufgezwungenen Betäubung“ des Existierenmüssens wächst.”

Schon sehr früh formuliert Ilse Aichinger, was für das Journal des Verschwindens bestimmend sein sollte: "Widerstand gegen das Verschwinden – und eine versteckte Lust daran. Das kommt einem meiner frühesten und stärksten Wünsche entgegen: dem eigenen Verschwinden, der Verborgenheit." Sprecherin und Sprecher 1 & 2: Musik - Montage: Flüstern: Dasein im Moment des Verschwindens…erinnerung

Sprecher 2: "Alles lebt ausschließlich auf der Grundlage seines Verschwindens, und wenn man die Dinge in aller Hellsichtigkeit interpretieren will, muß man es unter Berücksichtigung ihres Verschwindens tun…" Vielleicht sogar eine Kunst des Verschwindens. (Jean Baudrillard)

Sprecherin und Sprecher 1 & 2: Komposition A Erinnerung……Journal des Verschwindens, auf der Suche nach der ver…..lorenen Zeit, Memory, ver……schwunden, aber nich ver…gessen

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