Seminar: Rechtsphilosophie

Universität Zürich Rechtswissenschaftliche Fakultät Seminar: Rechtsphilosophie Thema: Baruch de Spinozas Auseinandersetzung mit der Spätscholastik un...
Author: Martha Linden
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Universität Zürich Rechtswissenschaftliche Fakultät

Seminar: Rechtsphilosophie Thema: Baruch de Spinozas Auseinandersetzung mit der Spätscholastik und Hobbes‘ Staatstheorie zur Grundlegung eines modernen Staats- und Rechtsbegriffs

bei Prof. Dr. iur. Marcel Senn Dr. iur. Julia Hänni lic. iur. Timo Fenner

vorgelegt am 27. August 2014 von Peter Daniel Szabó Erlenstrasse 51 8832 Wollerau [email protected] 076/570‘59‘48 12-739-033 4. Semester Bachelor of Law 1

Inhaltsverzeichnis Literaturverzeichnis ...........................................................................................III 1 Einleitung ..........................................................................................................1 2 Einführung zu Baruch de Spinoza ....................................................................2 2.1 Spinozas Vita..............................................................................................2 2.2 Grosse Werke Spinozas und ihre Entstehung.............................................3 2.2.1 Theologisch-politischer Traktat ...........................................................3 2.2.2 Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt ........................................5 2.2.3 Politischer Traktat ................................................................................7 3 Alte Autoritäten: Spätscholastik und Rezeption Aristoteles‘ ...........................7 3.1 Scholastische Methode ...............................................................................7 3.2 Aristoteles‘ Wiederentdeckung und Spätscholastik ...................................8 4 Neue Autoritäten : mos geometricus und Naturrechtslehre ..............................9 4.1 Thomas Hobbes und mos geometricus .....................................................10 4.2 Selbsterhaltungsstreben bei Hobbes .........................................................10 4.3 Hobbes‘ Schlussfolgerungen ....................................................................10 5 Vermittlung zwischen alten und neuen Autoritäten: Baruch de Spinoza .......12 5.1 Aristoteles‘ Einfluss über die Spätscholastik auf Spinozas Gesellschaftsund Staatsverständnis .....................................................................................12 5.1.1 Organische Staatskonstruktion als aristotelisches Element ...............12 5.1.2 „libertas philosophandi“ statt Tugenderziehung als Staatszweck ....13 5.1.3 Auswirkungen auf das Recht bei Spinoza .........................................15 5.2 Abweichende Schlussfolgerungen zu Hobbes .........................................16 5.3 Neue Ideen Spinozas ................................................................................18 5.4 Selbsterhaltungsstreben bei Spinoza ........................................................18 6 Zusammenfassung ...........................................................................................19

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Literaturverzeichnis

DE SPINOZA, BARUCH, Ethica in ordine geometrica demonstrata (1675), in: BARTUSCHAT, WOLFGANG (Hg.), Baruch de Spinoza, sämtliche Werke, Bd. 2, Hamburg: Meiner, 2010 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 92) DE SPINOZA, BARUCH, Tractatus politicus, in BARTUSCHAT, WOLFGANG (Hg.), Baruch de Spinoza, sämtliche Werke, Bd. 5.2, Hamburg: Meiner, 2010 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 95 b) DE SPINOZA, BARUCH, Tractatus theologico-politicus, in BARTUSCHAT, WOLFGANG

(Hg.), Baruch de Spinoza, sämtliche Werke, Bd. 3, Hamburg: Meiner,

2012 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 93) HORN, CHRISTOPH; NESCHKE-HENTSCHKE, ADA (Hg.), Politischer Aristotelismus, Die Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart: J.B. Metzler, 2008 KINDER, HERMANN; HILGEMANN, WERNER; HERGT, MANFRED, dtv-Atlas Weltgeschichte, 3. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2006 MÜLLER, P. L., „Wilhelm II., Prinz von Oranien“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 1898, S. 155-159 [Onlinefassung]; auf: http://www.deutschebiographie.de/pnd119357577.html?anchor=adb [14. August 2014] NOAK, BETTINA, Politische Auffassungen im niederländischen Drama des 17. Jahrhunderts, Münster: Waxmann Verlag GmbH, 2002 (= Niederlande-Studien, Bd. 29) RUFFING, REINER, Einführung in die Geschichte der Philosophie, 2. Auflage, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2007 SENN, MARCEL, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, Zürich/St. Gallen: Dike, 2012 SENN, MARCEL (et al.), Rechtsgeschichte, 3. nachgeführte Auflage, Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 2012 III

VON

COLLANI,

CLAUDIA,

Biographie

von

Jan

de

Witt,

http://132.187.98.10:8080/encyclopedia/de/wittJan.pdf [14. August 2014], auf: http://encyclopedia.stochastikon.com/ [14. August 2014]

IV

1 Einleitung Der antike Philosoph Aristoteles und sein Werk waren und sind bis heute präsent in der Philosophie und verfügen über eine reiche Rezeptionsgeschichte. In dieser Arbeit liegt der Fokus auf seiner Rezeption durch den niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza im 17. Jahrhundert. Rund 2‘000 Jahre trennen die beiden Philosophen voneinander. Es soll nachfolgend gezeigt werden, wie Spinoza Elemente der aristotelischen Philosophie aufgreift und weiterentwickelt. Es geht dabei nicht um das gesamte Werk und sämtliche Ideen der beiden Philosophen, wofür diese Arbeit ohnehin zu kurz wäre. Es geht um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Philosophien unter Bezugnahme auf Recht und Staat. Zur Annäherung an die Materie Spinozas werden zunächst im Einführungskapitel seine Vita, seine drei grossen Werke und deren Entstehung behandelt. Im Anschluss daran folgt eine Betrachtung der Scholastik sowie der Wiederentdeckung und Rezeption von Aristoteles‘ Werk im Mittelalter, da diese die Rezeption Aristoteles‘ durch Spinoza erst möglich machten. Noch vor Spinoza wird ein Kapitel seinem Zeitgenossen Thomas Hobbes gewidmet. Der englische Philosoph soll als bekennender Anti-Aristoteliker den Kontrapunkt zu Aristoteles darstellen, um so Spinozas Philosophie und seine Haltung zu Aristoteles anschaulicher zu machen. Im letzten Kapitel geht es schliesslich um Spinozas Philosophie. Zunächst wird anhand des §15 im II. Kapitel des „Politischen Traktats“ der Bezug Spinozas auf Aristoteles über die Spätscholastik erörtert. Im Anschluss daran werden die Auswirkungen von Spinozas Staatskonstruktion und der „libertas philosophandi“ auf das Recht bei Spinoza betrachtet. Nachdem zuvor die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Aristoteles herausgearbeitet wurden, geschieht dasselbe in Bezug auf Thomas Hobbes. Dies soll dazu dienen, Spinozas Vermittlerstellung zwischen den beiden sehr entgegengesetzten Philosophien aufzuzeigen. Zum Schluss wird noch auf neue Ideen in Spinozas Philosophie eingegangen, insbesondere sein Verständnis vom auch bei Hobbes präsenten Selbsterhaltungsstreben. 1

2 Einführung zu Baruch de Spinoza 2.1 Spinozas Vita

Baruch de Spinoza kam im November 1632 als Sohn eines Kaufmanns in Amsterdam zur Welt. Er stammte von portugiesischen Juden, den Marranen, ab, welche Ende des 16. Jahrhunderts durch die spanische Inquisition vertrieben wurden. Selbige wirkte sich auch auf die Niederlande aus, wo Spinoza sein Leben verbrachte. Die calvinistischen Niederlande erkämpften sich in einem 80 Jahre andauernden Konflikt von 1568 bis 1648 die Unabhängigkeit von Spanien, welche bereits 1581 verkündet wurde. Die darauffolgende liberale und religiös tolerante Gesinnung in den Niederlanden begünstigte das Wirken Spinozas sowie weiterer Philosophen und beeinflusste sein Werk, wie anschliessend gezeigt wird.1 Er lebte zunächst in Amsterdam, wo er in seiner Jugend intensiv jüdische Schriften studierte. Mit 23 Jahren wurde er aber aus seiner jüdischen Gemeinde ausgeschlossen, nachdem er einige Dogmen und Riten des jüdischen Glaubens abgelehnt hatte. Er hatte sich neben religiösen Texten auch mit RenaissancePhilosophie beschäftigt. Doch der Rationalist Descartes wurde bezüglich der Klarheit und Stringenz in seiner Philosophie zum Vorbild Spinozas.2 Später zog Spinoza nach Leiden und schliesslich nach Den Haag, wo er sich als Optiker seinen Lebensunterhalt verdiente. In dieser Zeit begann er mit der Arbeit an seinen drei grossen Werken, auf welche nachfolgend noch genauer eingegangen wird. 1673 bekam Spinoza, obwohl er kein Akademiker war, einen Ruf an die Universität Heidelberg. Trotz des guten Professorengehalts schlug er dieses Angebot aus, um denkerisch unabhängig zu bleiben.3 Aufgrund des Schleifens von Brillengläsern erkrankte Spinoza an Tuberkulose und starb im Februar 1677 im Alter von 45 Jahren. In seinem Haus in Den

1

RUFFING, S. 138 f., sowie KINDER/HILGEMANN/HERGT, S. 243-245. RUFFING, S. 138 f. 3 Ebd. S. 139. 2

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Haag wurden bis zu seinem Tod unveröffentlichte Schriften gefunden, darunter sein grösstes Werk „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“.4 2.2 Grosse Werke Spinozas und ihre Entstehung Spinozas drei bekannteste Werke sind der „Theologisch-politische Traktat“, die „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“ sowie der „Politische Traktat“. Nur der „Theologisch-politische Traktat“ erschien zu Lebzeiten Spinozas im Jahr 1670. Er unterbrach Spinozas Arbeit an der „Ethik“, an der er seit 1662 arbeitete. Dieses und der „Politische Traktat“ wurden posthum herausgegeben.5 2.2.1 Theologisch-politischer Traktat Die Niederlande wurden 1581 von Spanien unabhängig. Ihre Unabhängigkeit wurde später im Haager Frieden von 1648 bestätigt und anschliessend erlebten die Niederlande eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit, welche Spinoza mit der Verfassung des Staates verband. Die von ihm hoch geschätzte liberale und religiös tolerante Verfassung unter der Regentschaft Jan de Witts kam um 1670 durch das Haus Oranien und calvinistische Theologen in Bedrängnis. 6 Die Niederlande waren politisch zweigeteilt. Auf der einen Seite standen die Republikaner, welche die Interessen der gemässigt calvinistischen Kaufleute der Provinz Holland vertraten. Holland war die einflussreichste der sieben niederländischen Provinzen mit Den Haag als de facto Hauptstadt der Niederlande. Auf der anderen Seite standen die Oranier, welche die Institution der Statthalterschaft und das Haus Oranien unterstützten, das traditionell den Statthalter stellte. Diese vertraten die breite, tendenziell intolerante Masse.7 Der letzte Statthalter Wilhelm II. von Oranien starb 1650 und sein Sohn, der spätere Wilhelm III., war noch unmündig. 1653 wurde Jan de Witt, ein Republikaner, zum Grossen Ratspensionär und damit zum faktischen Ministerpräsidenten und Aussenminister der Republik gewählt. Die Zeit von 1650 bis zu sei4

RUFFING, S. 139, sowie SENN, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, S. 60. BARTUSCHAT, Bd. 2, S. VII. 6 KINDER/HILGEMANN/HERGT, S. 243-245. 7 VON COLLANI. 5

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nem Tod 1672 ging als „Erste Statthalterlose Zeit“ in die niederländische Geschichte ein.8 Jan de Witt, der eigentlich Mathematiker war, beförderte die wirtschaftliche und kulturelle Blüte der Niederlande, besserte die durch Kriege angeschlagene Staatskasse auf und förderte im Rahmen der „wahren Freiheit“ religiöse Toleranz und freies Denken. 1667 schaffte de Witt mit dem „Jahrhunderterlass“ das Statthalteramt ab und entmachtete damit das Haus Oranien, was zu Spannungen mit der Oranierpartei führte.9 Spinoza wollte mit der Streitschrift des „Theologisch-politischen Traktats“ gegen diese, seiner Meinung nach, schädlichen Tendenzen der Oranier gegen de Witt vorgehen. Der Traktat zeugte stellenweise, so Bartuschat, von Polemik und protestantische Theologen wie Jacob Thomasius aus Leipzig äusserten heftige Kritik am Werk.10 Spinozas Versuch, de Witts Regentschaft zu retten, scheiterte. Nachdem mehrere europäische Staaten der Niederlande im „Unglücksjahr“ 1672 den Krieg erklärten und mit einem Börsenkrach an der Amsterdamer Börse die Wirtschaft zusammenbrach, trat de Witt zurück. Er und sein Bruder Cornelis wurden im selben Jahr in Den Haag von einer wütenden Volksmenge getötet. Wilhelm III. und die Oranier kamen an die Macht.11 Inhaltlich teilt sich das Werk in zwei Hälften. Die erste Hälfte reicht bis zum XV. Kapitel und handelt von der Religion. Spinoza setzt sich dabei kritisch mit der Bibel auseinander, was zunächst zur Trennung der wahren von der historischen Religion führt.12 „Denn die Vernunft wie die Aussprüche der Apostel verkünden, dass das ewige Wort und der ewige Bund Gottes und die wahre Religion den

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VON COLLANI, sowie MÜLLER. VON COLLANI. 10 BARTUSCHAT, Bd. 3, S. XI-XV. 11 NOAK, S. 235. 12 BARTUSCHAT, Bd. 3, S. XX-XXIX. 9

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Herzen der Menschen, d.h. dem menschlichen Geist, von Gott her eingeschrieben sind und dass dies die wahre Urschrift Gottes ist, […]“13 Im XV. Kapitel vollzieht Spinoza die Trennung von Theologie und Philosophie: „[…] dass die Schrift nichts Philosophisches, sondern nur Frömmigkeit [i.S.v. Gehorsam] lehrt und dass ihr ganzer Inhalt der Fassungskraft und den vorgefassten Meinungen des damaligen Volkes angepasst wurde. […] Wer umgekehrt die Vernunft und mit ihr die Philosophie zur Magd der Theologie macht, muss die Vorurteile eines alten Volkes als göttliche Dinge ausgeben und den Geist mit ihnen besetzen und verblenden.“14 Am Ende des XV. Kapitels zeigt Spinoza schliesslich den Wert der Schrift für die Menschheit auf: „Da ausnahmslos alle gehorchen können und nur sehr wenige unter der Leitung der Vernunft zu einer tugendhaften Lebensführung gelangen […]“15 In den Kapiteln XVI-XX zur Politik zielt Spinoza auf die Beschreibung der optimalen Form einer Republik unter dem Prinzip des freien Denkens und Urteilens, der „libertas philosophandi“. Hintergründig schwingt da die liberale Verfassung de Witts mit.16 2.2.2 Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt Die „Ethik“ war eine Schrift, die im Zeichen der mos geometricus mit einem durchdachten System aus Axiomen und Lehrsätzen, sowie Erläuterungen entstanden war. In ihr zeigt Spinoza eine Welterklärung auf, welche Gott als unpersönlichen Ursprung der Natur darstellt, „[…] anders formuliert [als] eine Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, von denen jedes eine ewige und unendliche Essenz ausdrückt, […] [die] notwendigerweise [existiert].“17

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SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XII, Rn. 1. Ebd., Kap. XV, Rn. 1. 15 Ebd., Kap. XV, Rn. 10. 16 BARTUSCHAT, Bd. 3, S. XXIX-XXXVI. 17 SPINOZA, Ethica in ordine geometrica demonstrata, I. Teil, Lehrsatz 11. 14

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Spinoza verneint durch die Unpersönlichkeit Gottes die Vorstellung, Gott habe die Natur willentlich oder gar zum Nutzen der Menschheit erschaffen. Unvollkommenheit sieht Spinoza als blosse menschliche Einbildung an, „[…] weil die Gesetze der Natur so umfassend gewesen sind, dass sie ausreichten, alles hervorzubringen, was von einem unendlichen Verstand begriffen werden kann, […]“18 Zum Menschen gehört nebst seiner positiven Vernünftigkeit auch eine seiner Natur eigene Affektivität. Spinoza zeigt in der „Ethik“ den Weg, wie der Mensch seine Affekte kontrollieren bzw. hemmen kann. Dies geschieht für ihn durch den aktiven Gebrauch seiner Vernunft, die ihm Einsicht in die Affekte gibt. Diese sind für Spinoza nämlich zunächst Leidenschaften, von denen der Mensch getrieben wird. Er bezeichnet sie auch als „verworrene Ideen“.19 Wenn der Mensch nun eine klare Vorstellung von einem Affekt gewinnt, hört dieser auf, eine Leidenschaft zu sein und wird dadurch gehemmt. So schreibt Spinoza im Folgesatz zu Lehrsatz 3 im V. Teil der „Ethik“: „Je bekannter uns also ein Affekt ist, umso mehr ist er in unserer Gewalt und umso weniger erleidet der Geist etwas von ihm.“20 Diesen abstrakten Gedanken verdeutlicht Spinoza in der Anmerkung zu Lehrsatz 6 im V. Teil der „Ethik“ exemplarisch: „Wir sehen nämlich, dass die Trauer, irgendein Gut verloren zu haben, gemildert wird, sobald der Mensch, der es verloren hat, sich klar macht, dass dieses Gut auf keine Weise erhalten werden konnte.“21 Am Ende des fünften und letzten Kapitels „Von der Macht des Verstandes“ gesteht Spinoza, dass der Weg, den er in der „Ethik“ zur Glückseligkeit skizziert hat, ein anstrengender sei: „Aber alles, was vortrefflich ist, ist ebenso schwierig wie selten.“22

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SPINOZA, Ethica in ordine geometrica demonstrata, I. Teil, Anhang. Ebd., V. Teil, Lehrsatz 3, sowie BARTUSCHAT, Bd. 2, S. VII-XVIII. 20 SPINOZA, Ethica in ordine geometrica demonstrata, V. Teil, Folgesatz zu Lehrsatz 3. 21 Ebd., V. Teil, Anmerkung zu Lehrsatz 6. 22 Ebd., V. Teil, Anmerkung zu Lehrsatz 42. 19

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2.2.3 Politischer Traktat

Das letzte Werk Spinozas, der „Politische Traktat“, blieb unvollendet. Der Philosoph starb während der Abfassung der voraussichtlich letzten Kapitel des Werks zur Demokratie. Der „Politische Traktat“ beginnt mit allgemeinen Darstellungen zu Staat und Recht. Danach werden optimale Formen von Monarchie und Aristokratie skizziert. Die Staatsformenlehre blieb aber aufgrund seines Todes unvollendet.23 Die „libertas philosophandi“ aus dem „Theologisch-politischen Traktat“ bleibt bedeutsam, wird jedoch durch die stark auf den Affekten basierenden Stabilitätsmechanismen zurückgedrängt, um die es im „Politischen Traktat“ unter anderem geht. Dies lässt sich wahrscheinlich auf Spinozas Scheitern im Kampf um den Erhalt der Regentschaft de Witts zurückführen. Das Volk erwartete damals etwas anderes als die „liberats philosophandi“, um die es Spinoza im „Theologisch-politischen Traktat“ gegangen war.24 3 Alte Autoritäten: Spätscholastik und Rezeption Aristoteles‘ 3.1 Scholastische Methode Die Scholastik war die wissenschaftliche Methode des Mittelalters. Das Ziel der Scholastiker war es, den christlichen Glauben in eine Gesamtsystematik zu überführen. Die antike Philosophie wurde aber der Theologie sowie ihrer christlichen Basisethik untergeordnet und diente ihr so dem Ausgleich von Gegensätzen zwischen offenbarten Glaubenssätzen und philosophischer Erkenntnis.25 Die dabei verwendete Methode war der mos italicus, welche auf der Dialektik beruhte, wie sie zum Beispiel der Theologe Thomas von Aquin bei seiner Rezeption des Aristoteles verwendete. Es wurde dabei über ein Problem ein

23

BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXII-XLIII, sowie SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XVI, Rn. 11. 24 BARTUSCHAT, WOLFGANG, Bd. 3, S. XXXV f. 25 RUFFING, S. 95 f.

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Streitgespräch geführt, bei dem Argumente ausgetauscht wurden, um schliesslich zu einer objektivierten Meinung, einer „opinio communis“ zu gelangen. Die Argumente wurden dabei mit (meist kirchlichen) Autoritäten wie dem Kirchenvater Augustinus untermauert. Die scholastische Methode war aufgrund ihrer argumentativen Struktur sehr überladen, was sie zeitintensiv machte.26 3.2 Aristoteles‘ Wiederentdeckung und Spätscholastik Die Wiederentdeckung des Aristoteles im Mittelalter war ein Prozess, der sich in drei Etappen unterteilen lässt. In die erste Etappe fallen Aristoteles‘ Schriften zur Logik. Streng genommen gingen diese gar nie verloren, sondern wurden in Form der Übersetzungen des Boethius über die Wirren am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter hinweg gelesen.27 In einer zweiten Etappe, welche im 11. Jahrhundert begann und im 12. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, fand zwischen dem lateinischen Westen und dem Orient ein grosser Wissenstransfer statt. Das Interesse galt dabei zunächst naturwissenschaftlichen und medizinischen Schriften. Aristoteles‘ Schriften, welche teilweise bis zur Übertragung ins Lateinische dreimal aufeinanderfolgend übersetzt wurden, erhielten noch keine herausgehobene Beachtung. Aristoteles ist erst „[…] [ein] Verfasser […] unter vielen und noch keineswegs ‚der Philosoph. ‘‘“28 Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beginnt man dank der Schriften von Avicenna und Averroes, das Werk Aristoteles‘ in einem ganzheitlichen System mit übergreifenden Prinzipien zu verstehen.29 In der dritten Etappe im 13. Jahrhundert wurde schliesslich Aristoteles‘ „Politik“ wiederentdeckt. Eine vollständige Übersetzung ins Lateinische aus der Feder Wilhelm von Moerbekes lag ab den 1260er Jahren vor. Anschliessend studierte Thomas von Aquin Aristoteles intensiv und prägte den Begriff des Men26

SENN, Rechtsgeschichte, S. 125-131. HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 54. 28 Ebd., S. 56. 29 Ebd., S. 54-57. 27

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schen als „animal sociale et rationale“ aus seiner Übersetzung von Aristoteles‘ Begriff des „zôon politikon“. 30 Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Noch kurz vor Thomas von Aquin rezipierte Albert der Grosse Aristoteles. Interessant daran ist das Schlusswort seines Kommentars zur „Politik“ Aristoteles‘: „Nach kurzen Flitterwochen glauben Theologie und Philosophie nunmehr zu merken, dass ihre Ehe ein Irrtum gewesen ist.“31 Albert der Grosse kam damit bereits 400 Jahre vor Spinoza im „Theologischpolitischen Traktat“ zur Einsicht, Philosophie und Theologie zu trennen und bahnte so der Politik den Weg zur Wiedergewinnung ihrer Selbständigkeit.32 Aristoteles‘ auf Gleichheit33 (der männlichen Polisbürger) ausgerichtete partikulare Gerechtigkeitslehre, sein Menschenbild und seine Politik fanden Eingang bei den Anhängern des Intellektualismus, welche den Vorrang des Intellekts vor den Willen propagierten.34 Die ins 16. und 17. Jahrhundert fallende Spätscholastik stellt den letzten Ausläufer dieser Strömung dar und setzte sich für die Beibehaltung des Gottesbezugs im Naturrecht ein, entgegen dem Immanenzprinzip in den Werken Hobbes‘ und später auch bei Spinoza.35 4 Neue Autoritäten : mos geometricus und Naturrechtslehre Durch die Konfessionalisierung und die unter ihrem Vorzeichen geführten Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts gerieten die Spätscholastik und ihre antisäkularen Ansichten in Verruf. Um das religiöse Konfliktpotential zu beseitigen, brauchte es eine immanente, naturgesetzliche Welterklärung.36

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HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 57-62 und S. 92, sowie RUFFING, S. 104. ALBERT DER GROSSE, zitiert nach HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 73. 32 HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 73. 33 Ebd., S. 12 f. 34 SENN, Rechtsgeschichte, S. 113-116. 35 SENN, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, S. 57 f. 36 Ebd., S. 57 f. 31

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4.1 Thomas Hobbes und mos geometricus Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Engländer Thomas Hobbes. Er brach mit der Tradition der Scholastik und ersetzte dessen diskursive Methode durch eine naturwissenschaftliche: die mos geometricus. An die Stelle der Transzendenz, wie man sie bei der Entelechie Aristoteles‘ oder in der christlichen Idee Gottes findet, traten die Natur und ihre Gesetze, nach denen auch Menschen und Staaten funktionieren würden. Die Welterklärung sollte immanent erfolgen.37 4.2 Selbsterhaltungsstreben bei Hobbes In seinem Werk „de cive“ aus dem Jahr 1642 beschrieb Hobbes den Menschen im Naturzustand. Er verwendete dazu, wie später auch Spinoza, die naturrechtliche Figur des Selbsterhaltungsstrebens. Dieses leitete Hobbes aus dem Element der Bewegung ab, denn das Selbsterhaltungsstreben führt für Hobbes zu Machtstreben, welches ewig und ruhelos, also ständig in Bewegung ist. Dabei ist jedes Individuum im Naturzustand vollkommen frei und mächtig. Da der Mensch nach Hobbes seiner Natur gemäss aber nicht selbstgenügsam und ruhig ist, kommt es im Naturzustand ständig zu Konflikten zwischen den Individuen. Es herrscht ein chaotischer Kriegszustand, in welchem 38 „Der Mensch […] ein Wolf für den Menschen [ist].“39 4.3 Hobbes‘ Schlussfolgerungen Während Aristoteles den Menschen als „zôon politikon“ oder nach Thomas von Aquin als „animal sociale et rationale“ charakterisiert hat, welcher von Natur aus die Gesellschaft um ihrer selbst willen sucht und bildet, ist bei Hobbes ein rationaler Konstruktionsakt nötig, der auf eigennützigem Egoismus basiert.

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HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 256-262. Ebd., S. 263-271, sowie SENN, Rechtsgeschichte, S. 185-187. 39 HOBBES, zitiert nach HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 255. 38

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„Hobbes leugnet […] nicht, dass die Menschen unter dem Zwang ihrer Natur einander aufsuchen. Er hält nur dafür, dass die bürgerlichen Gesellschaften […] nicht blosse Zusammenkünfte, sondern Bündnisse [sind] zu deren Abschluss Treue und Verträge notwendig sind.“40 Dabei müssen sich alle Individuen durch unauflösbaren Vertrag ihres natürlichen Rechts gegenüber einer staatlichen Souveränität entäussern. Dies stellt für Hobbes einen rationalen Kunstgriff gegen die menschliche Natur dar, welche für den Erhalt des Menschen ein Problem darstellt. Die Gefahr des Menschen für seine Mitmenschen wird beseitigt, indem man ihn ohnmächtig macht. Er gibt seine zuvor unbeschränkte Freiheit für eine Sicherheit in Ohnmacht preis.41 „Der Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch – obgleich an Umfang und Kraft weit grösser als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht wird.“42 Die staatliche Souveränität tritt für Hobbes im „Leviathan“ von 1651 an die Stelle Gottes als „sterblicher Gott“, denn nur mit diesem kann man Verträge abschliessen. Der Souverän, sei es ein Monarch, sei es eine Versammlung, hält die Macht sowohl in weltlichen, wie auch in geistlichen Dingen in seinen Händen. Letzteres gerät in der Hobbes-Rezeption häufig in Vergessenheit. Durch sein Konzept des Gesellschaftsvertrags schafft und legitimiert Hobbes eine staatliche Souveränität, die sich als Stellvertreterin Gottes bezeichnen kann, ohne auf das Konzept des Gottesgnadentums zurückgreifen zu müssen.43 Der Souverän schafft Kraft seiner Autorität Gesetze und setzt sie durch. Er selbst hat eine absolute Stellung über dem Gesetz und kann sich selbst keine Pflichten auferlegen, da er sie jederzeit nach seinem Gutdünken wieder aufheben kann. Ob die von der Souveränität erlassenen Gesetzte auch vernünftig sind, spielte für Hobbes ebenso wenig eine Rolle, wie die Staatsform, obgleich er die Monarchie bevorzugt haben wird.44

40

HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 256. SENN, Rechtsgeschichte, S. 186 f., sowie RUFFING, S. 151-154. 42 HOBBES, zitiert nach RUFFING, S. 153. 43 SENN, Rechtsgeschichte, S. 186 f., sowie RUFFING, S. 151-154. 44 SENN, Rechtsgeschichte, S. 186 f., sowie RUFFING, S. 155. 41

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5 Vermittlung zwischen alten und neuen Autoritäten: Baruch de Spinoza Bei seinem Versuch einer immanenten Welterklärung brach Spinoza zwar wie Hobbes methodisch mit den alten Autoritäten, vertrat aber inhaltlich, wie später gezeigt wird, nicht dessen radikale Theorie des Gesellschaftsvertrags, sondern konnte für seine Konzeption von der menschlichen Natur und des Staates durchaus die Ansichten der Scholastiker bzw. Aristoteles‘ aufgreifen. 5.1 Aristoteles‘ Einfluss über die Spätscholastik auf Spinozas Gesellschaftsund Staatsverständnis In §15 des II. Kapitels des „Politischen Traktats“ nimmt Spinoza direkt zustimmenden Bezug auf die Scholastiker. 5.1.1 Organische Staatskonstruktion als aristotelisches Element Wie Hobbes geht Spinoza nicht von der aristotelischen Idee des Menschen als „animal sociale et rationale“, sondern von dessen Selbsterhaltungsstreben aus, allerdings mit einer ganz anderen Schlussfolgerung.45 Spinoza hat bei der Staatskonstruktion einen Mittelweg zwischen Aristoteles und Hobbes eingeschlagen. Auch bei Spinoza kann man entfernt von einer organischen Staatskonstruktion sprechen, da es vom Individuum zum Staat Zwischenstufen gibt, wie man sie bei Aristoteles kennt. Diese Zwischenstufen sind bei Aristoteles allerdings sehr konkret (Familie, Dorf)46, während Spinoza von bereits im Naturzustand sich bildenden Zweckbündnissen ausgeht, ohne diese näher zu beschreiben. Es gibt bei ihm aber auch keinen unauflösbaren Gesellschaftsvertrag hobbesianischer Art, der die Menschen ohnmächtig macht.47

45

BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XVII f. HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S.4. 47 SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. II, §15. 46

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Die Menschen kommen gemäss Spinoza aus einem Lernprozess der Vernunft auf die Idee, sich zu vergesellschaften und einer staatlichen Souveränität unterzuordnen.48 Dies tun sie „[…] in der Hoffnung auf ein grösseres Gut oder der Furcht vor einem grösseren Schaden, […]“49 Seines natürlichen Rechts kann sich nach Spinoza dabei niemand vollständig entäussern, da die Macht der staatlichen Souveränität gerade auf der Macht bzw. dem Naturrecht seiner Bürger aufbaut.50 „animal sociale et rationale“ Aristoteles

Hobbes

Mensch

Mensch

Selbsterhaltungsstreben Spinoza Naturzustand Mensch

Partnerschaft Zweckbündnisse (Gross-)Familie

Dorf Gesellschaftsvertrag Staat Vertrag über die Staatsform 5.1.2 „libertas philosophandi“ statt Tugenderziehung als Staatszweck Die „libertas philosophandi“ ist für Spinoza von grosser Bedeutung, da sie einmal zur Stabilität des Staates beiträgt und zum anderen eines jener natürlichen Rechte darstellt, die der Staat dem Individuum gar nicht nehmen kann. Das

48

BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XVII f., sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. II, §13. SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XVI, Rn. 6. 50 SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. III, §3. 49

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freie Denken und Urteilen, im weiteren Sinne auch das sich öffentlich Äussern bildet jene Aktivität der Bürger, die Spinoza als staatstragend ansieht.51 Die Gedanken der Bürger sind qua menschlicher Natur frei und kein Staat hat die Macht, ihnen diese Freiheit zu nehmen.52 Bezüglich Religion bedeutet dies jedoch nicht, dass der Staat bzw. der Souverän nicht den äusseren religiösen Kult festlegen kann. Religiöse Vorschriften hätten andernfalls gar keine Gesetzeskraft und aufgrund der Interpretierbarkeit religiöser Normen liefe der Souverän Gefahr, in seiner Souveränität von aufrührerischen Bürgern herausgefordert zu werden, die ihn als gottlos und damit illegitim hinstellen. Gesetze für den äusseren Gottesdienst stabilisieren daher den Staat.53 „libertas philosophandi“

sich öffentlich äussern

staatlich kontrollierbar

äusserer Gottesdienst

innerer Gottesdienst

denken urteilen unentziehbar

Bei Aristoteles steht dagegen eine Tugenderziehung im Vordergrund. Während Spinoza kein Erziehungsprogramm in seinen Werken vorgibt, beschreibt Aristoteles eine zwar nicht immer vom Staat durchgeführte, aber wenigstens staatlich kontrollierte Erziehung, die sich an der jeweiligen Staatsform orientiert.54 Aristoteles ging es dabei nur um den männlichen Bürger der Polis, nicht etwa

51

BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXIII f., sowie SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XX, insbesondere Rn. 16, sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. III, §8. 52 SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XX, Rn. 1, sowie Rn. 16. 53 Ebd., Kap. XIX Rn. 3, sowie Rn. 19. 54 HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 4 f.

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den Sklaven oder die Frau.55 Bei Spinoza geht es dagegen um den natürlichen Menschen, dessen natürliche Freiheit entscheidend wird. Tugenderziehung und „libertas philosophandi“

Aristoteles

an der Natur des Menschen Tugenderziehung

orientiert

männlicher Polisbürger

„libertas philosophandi“

Spinoza

Staat

zu bestimmter Staatsform hin erzogen

natürlicher Mensch Mensch

5.1.3 Auswirkungen auf das Recht bei Spinoza Es ist für Spinoza aufgrund des oben Gezeigten problematisch, wenn der Staat gegen jene unentziehbaren natürlichen Rechte wie die Freiheit des Denkens und Urteilens Gesetze erlassen will. Der Staat müsste hier befürchten, dass Teile der Bevölkerung aufbegehren, denn Bürger für ihre unentziehbaren Naturrechte zu bestrafen ist unmöglich und die Bevölkerung ist nicht ohnmächtig.56 Deshalb müssen Rechtsgesetze so beschaffen sein, dass die Bürger sie als eigene Gesetze ansehen, statt als äusseren Zwang. Folglich favorisiert Spinoza auch die Demokratie, weil sich die Bürger hier ihre Gesetze selbst geben und dies ihrem natürlichen Zustand am nächsten kommt.57 In der Monarchie und der Aristokratie bedarf es dagegen staatsorganisatorischer Kunstgriffe, um die Verinnerlichung der Gesetze durch die Bürger zu erreichen.58

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HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 7 f. BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXIX-XXXI, sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. III, §6-10, sowie SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XX, Rn. 16. 57 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXV-XL, sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. VIII, §3-7, Kap. IX, §14, sowie Kap. XI, §3, sowie SPINOZA, Tractatus theologico-politicus, Kap. XVI, Rn. 11. 58 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXII f., sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. VI, §5 und §15 ff., sowie Kap. VIII, §17 ff. 56

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Gerechtigkeit ist dabei für Spinoza nur im Staat und nicht bereits im Naturzustand vorhanden. Erst anhand von Gesetzen lässt sich zwischen gerecht und ungerecht unterscheiden, wobei Spinoza Gerechtigkeit auf die „suum cuique tribuere“-Formel herunterbricht. Bei ihm steht diese weniger in Bezug auf materielle Güter (anders bei Aristoteles)59, sondern auf die „libertas philosophandi“ und die Affektivität der Bürger. Rechtsgesetze sind gerecht, wenn sie sich an diesen Eigenschaften der menschlichen Natur orientieren. Es können daher nur Handlungsäusserungen bestraft werden, da die Bestrafung rein gedanklicher Akte der „libertas philosophandi“ wider die menschliche Natur wäre.60 Gerechtigkeit

v.a. Verteilungsgerechtigkeit

Gesetzgebung orientiert

bei materiellen Gütern

sich an der menschlichen

Spinoza

„suum quicque tribuere“

Aristoteles

Natur

Berücksichtigung der „libertas philosophandi“ und der Affektivität

5.2 Abweichende Schlussfolgerungen zu Hobbes Methodisch und inhaltlich gibt es viele Punkte, in denen Hobbes und Spinoza durchaus übereinstimmen. Beide arbeiten mit der Methode der mos geometricus und gestehen den Individuen ein vorstaatliches natürliches Recht zu. Das Menschenbild der beiden geht jedoch auseinander. Dies lässt sich möglicherweise auf die historischen Hintergründe der beiden zurückführen. Hobbes lebte von 1588 bis 1679 und erlebte somit die Schrecken des 30jährigen Krieges und vor allem des englischen Bürgerkrieges mit, an dessen Ende, für die dama59

Aber auch bei Spinoza, SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. VI, §12, wobei hier die Gerechtigkeitsidee höchstens implizit angenommen werden kann. 60 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXIX f., sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. II, §23, sowie Kap. III, §7-8.

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lige Zeit skandalös, der englische König enthauptet wurde.61 Spinoza kam dagegen mitten im 30jährigen Krieg zur Welt und wird nur sein Ende wirklich aktiv wahrgenommen haben. Danach lebte er in einer liberalen und blühenden Handelsnation.62 Erst die Ereignisse um 1670, die ihn auch zur Abfassung des „Theologisch-politischen Traktats“ bewogen, rückten sein Menschenbild etwas ins Negative, was man nachfolgend im „Politischen Traktat“ feststellen konnte. Neben allem Positiven aus Spinozas Politiktheorie darf man folgende kritische Punkte nicht unerwähnt lassen: Spinoza entwickelte eine starre Typologie von Staatsformen, welche auf Stabilität ausgerichtet wurden, was sich aus ihren Organisationsstrukturen ergibt. Sie verfügen zwar über ein durchdachtes „Checks and Balances“-System, doch Spinoza versperrt seine Staatsformen gegenüber Transformationen, da er diese als friedensgefährdend für ein Volk ansieht, das sich an eine bestimmte Staatsform gewöhnt hat.63 Aufgrund dieser Typologie wird Spinoza aristotelische Mischverfassungen abgelehnt haben.64 Spinoza geht sogar, auf den von ihm geschätzten Machiavelli Bezug nehmend, so weit, dass der Staat bei den Bürgern zur Not lediglich den Anschein erregen soll, sie würden unter eigenem Recht leben, faktisch aber fremdgesteuert sind.65 Diese perfide Taktik steht zur „libertas philosophandi“ in keinem Widerspruch, da der Mensch in seinem Urteil immer noch frei bleibt. Im „Theologisch-politischen Traktat“ war für Spinoza noch die „libertas philosophandi“ zentral. Der hobbesianisch anmutende Aspekt der Stabilität taucht erst im „Politischen Traktat“ verstärkt auf.66

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RUFFING, S. 149-154. BARTUSCHAT, Bd. 3, S. XII f. 63 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXIV-XXXIX, sowie Fussnote 51. 64 HORN/NESCHKE-HENTSCHKE, S. 10 f. 65 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XLII, sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. I, §3, sowie Kap. X, §8. 66 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XXXIII f. 62

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5.3 Neue Ideen Spinozas Spinoza verwendet in der „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt“ sehr deutlich die mos geometricus, was bereits am Untertitel des Werks auffällt. In der Tat zeichnet sich die „Ethik“, mit den Worten Wolfgang Bartuschats, durch ein logisches „folgern“ und sachliches „folgen“ aus.67 Trotz einer Vielzahl nicht beweisbarer Axiome, auf welchen die „Ethik“ aufbaut, versucht Spinoza durch logische Verknüpfung und empirische Gehalte seine Erkenntnis als die richtige hinzustellen. Er will, insbesondere in Anmerkungen zu seinen Lehrsätzen, Vorurteile und andere Meinungen ausräumen.68 Das Ziel des Werks ist, wie das jeder Erkenntnislehre, die richtige Erkenntnis des Menschen von sich selbst und von Gott. Dies soll ihn unter Anleitung der Vernunft zum guten Leben führen. Dabei will Spinoza mit Blick auf die Wissenschaft mit der anthropomorphen Gottesvorstellung aufräumen. In Lehrsatz 32 des I. Teils richtet sich Spinoza implizit auch gegen die Voluntaristen, indem er einen unbedingt freien Willen Gottes verneint, denn dieser würde jegliche Objektivität in den Wissenschaften verunmöglichen. Gott ist bei Spinoza unpersönliche, unendliche und unbedingte Substanz, von dem aus die gesamte Natur, auch der Mensch, im Verfahren der Deduktion abgeleitet werden kann.69 5.4 Selbsterhaltungsstreben bei Spinoza Das Selbsterhaltungsstreben ist eine zentrale Figur in der Philosophie Spinozas, die er sowohl auf Menschen, als auch auf staatliche Gebilde anwendet, wie Machiavelli und Hobbes.70 Die Menschen arrangieren sich bereits im Naturzustand untereinander, sobald sie vernünftig feststellen, dass sie zusammen mehr Macht haben, als jeder für sich allein. Diese natürlichen Bündnisse bilden das Fundament für den Staat. 67

BARTUSCHAT, Bd. 2, S. XIII f. Ebd., S. XIV-XVII. 69 Ebd., S. IX-XII, sowie S. XVII f. 70 BARTUSCHAT, Bd. 5.2, S. XLII, sowie SPINOZA, Tractatus politicus, Kap. II, §23, sowie Kap. V, §1-3, sowie §5. 68

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Anders als bei Hobbes entsteht dieser durch vernünftige Notwendigkeit. Der Staat ist also nach der Logik Spinozas kein künstliches, sondern ein natürliches Gebilde, wenn er dem Selbsterhaltungsstreben der Individuen gerecht wird. Einzig die Wahl der Staatsform erfolgt mittels Vertrag.71 Dieses Selbsterhaltungsstreben kennt auch der Staat. Dieser versucht sich selbst zu erhalten und seine Macht zu mehren, indem er möglichst viele seiner Bürger in die Politik integriert, um so positive Rechtsgesetze zu erlassen, welche die Bürger als ihre eigenen erachten, anders formuliert, die ihrem natürlichen Selbsterhaltungsstreben nützen.72 6 Zusammenfassung Nachdem der Hauptteil der Arbeit nun abgeschlossen ist, stellt sich „sub specie aeternitatis“ die Frage nach dem Ergebnis. Da Spinoza in seinem Werk nie ausdrücklich auf Aristoteles Bezug nimmt, kann man sich bei der Frage nach seiner Rezeption durch Spinoza nur auf Indizien stützen. Aus dem §15 des II. Kapitels des „Politischen Traktats“ lässt sich grundsätzlich auf eine indirekte Rezeption Aristoteles‘ über die Scholastik schliessen. Wie im Kapitel zu den alten Autoritäten gezeigt wurde, haben sich die Scholastiker mit Aristoteles beschäftigt. Spätestens seit Mitte des 13. Jahrhunderts liegt auch seine „Politik“ in Lateinisch vor. Die Ähnlichkeit in der Staatskonstruktion bei Aristoteles und Spinoza, gepaart mit der Ablehnung dieser natürlichen Staatenbildung durch Hobbes, deuten auf eine Rezeption der Philosophie Aristoteles‘ hin. Ob Spinoza wusste, dass die scholastischen Ansichten, auf die er in seinem Werk Bezug nimmt, vermutlich aristotelischen Ursprungs waren, bleibt ungewiss. Er spricht im „Politischen Traktat“ lediglich von Scholastikern, erwähnt aber weder einen Autor, noch ein Werk. Hätte er sich beispielsweise ausdrücklich auf Thomas von Aquin bezogen, wäre eine Rezeption letztlich aristoteli-

71 72

Siehe Fussnoten 39-43. Siehe Fussnote 48.

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scher Ideen höchst wahrscheinlich. Dies wäre insofern Stoff für eine weitere Arbeit, in der es aber mehr um Quellenkunde als um philosophische Ideengeschichte ginge. Ansonsten scheinen Spinoza und Aristoteles kaum philosophische Ansichten miteinander zu teilen. Aristoteles geht es um Tugenden, wo es Spinoza um die Freiheit von Gedanken und Urteil geht. Spinoza bevorzugt die Demokratie und generell reine Staatsformen, während Aristoteles sich für Mischverfassungen verschiedener Staatsformen ausspricht. Da hatte Spinoza mit Hobbes mehr Gemeinsamkeiten und entwickelte nach der bitteren Erfahrung von 1672 Tendenzen, die ihn näher an seinen englischen Zeitgenossen heranführten. Galt noch im „Theologisch-politischen Traktat“ der Primat der „libertas philosophandi“, wird im „Politischen Traktat“ die Stabilität des Staates etwa gleich bedeutsam. Sein machiavellistischer Ansatz der Täuschung der Bürger durch den Staat, damit dieser seine Existenz sichern kann, ist eindrückliches Zeugnis seines Gesinnungswandels. Immerhin sieht Spinoza dies nur als ultima ratio vor. Letztlich waren Hobbes und Spinoza Zeitgenossen, beide äusserst radikal für ihre Zeit, aber es verwundert so gesehen weniger, dass sich ihre Philosophien bezüglich ihrer methodischen Vorgehensweise oder des vorstaatlichen natürlichen Rechts der Menschen ähneln. Auch stellten sich für einen Aristoteles zur Zeit der griechischen Stadtstaaten in der Antike teils ganz andere philosophische Fragen als für einen Hobbes oder Spinoza in ihren werdenden modernen Staaten zu Beginn der Neuzeit. Die historischen Umstände werden das Ihrige zur Einstellung der beiden Philosophen zu den Scholastikern und Aristoteles beigetragen haben. Hobbes konnte sich vermutlich aufgrund der Kriege, die er miterlebt hatte, nicht mit der mittelalterlichen Philosophie anfreunden. Diese hatte stets einen Gottesbezug und gerade die christliche Religion bzw. ihre Konfessionen waren ein Antreiber der Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert gewesen. Spinoza musste diese negativen Erfahrungen bis zur politischen Wende in den Niederlanden dagegen nicht ma20

chen und wird daher offener gegenüber den Ansichten der Scholastiker gewesen sein. Zum Schluss bleibt noch die Frage, wie sich die mutmassliche Rezeption von Aristoteles auf das Recht bei Spinoza ausgewirkt hat. Die organische Staatskonstruktion ist zwar rein von der Form her betrachtet aristotelisch, doch für Spinoza rührt diese nicht von der Idee des „zôon politikon“, sondern vom Selbsterhaltungsstreben her. Die Antwort ist daher nicht aristotelisch, aber simpel: Damit sich die Menschen zu einem Staat zusammenfinden, muss ihnen der Staat ein Recht bieten, dass ihrem Selbsterhaltungsstreben nützt, konkreter ausgedrückt, ihnen mehr Sicherheit und Freiheit bietet als der Naturzustand.

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