Selbst schuld? Die Rolle von Schuld und Scham in der Sucht. Schuld und Scham sind moralische Begriffe

21.05.2017 4. Symposium der der bayerischen Bezirke 17. Mai 2017 Jüdisches Gemeindezentrum in München Hubert Burda-Saal Schuld und Scham sind morali...
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21.05.2017

4. Symposium der der bayerischen Bezirke 17. Mai 2017 Jüdisches Gemeindezentrum in München Hubert Burda-Saal

Schuld und Scham sind moralische Begriffe •

– Variable Kontexte sind z.B. Trink-/Konsumkulturen (permissiv, dysfunktional-permissiv, restriktiv-abstinent) – Zeitabhängigkeit: z.B. prohibitive und liberale Phasen der Bewertung

Neue Herausforderungen für die Suchtkrankenversorgung • •

Selbst schuld? Die Rolle von Schuld und Scham in der Sucht Vorsitzender der DHS Mitglied des Suchtausschusses der BDK a.D. Ärztlicher Direktor des Bezirksklinikums Wöllershof (medbo) a.D.



Das Urmodell von Schuld und Scham aus unserem



Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon eßt, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann auch davon, und er aß. (Genesis/Mose 3,4-6) (Quelle: Lutherbibel)

Beispiel: Das moralische Urteil „Süchtige sind selber schuld“ impliziert die Tatsachenfeststellung, dass Sucht keine schicksalhafte Krankheit ist sondern eine sittliche Verfehlung mit der „Anweisung“, dass sie sich schämen sollten und dass man sie stigmatisieren darf.

Das Ergebnis ist bekannt: Aus Schuld folgt Scham

„Tagebuch der kulturellen Evolution der Menschheit“, der Bibel (Schaik & Michel 2016) Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; 17aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. (Genesis/ 1. Mose 2,16-17)

Kriterien für moralische Urteile: gut und schlecht/böse Moralische Urteile – beruhen oft auf religiösen Grundsätzen oder - modern Menschenrechtsdefinitionen – können (natur)wissenschaftlich weder bewiesen noch widerlegt werden – bedingen praktische Anweisungen („das tut man“ oder „tut man nicht“) – enthalten oft verkappte/implizite Tatsachenfeststellungen (was wiederum eine Frage der Wissenschaft wäre!)

Dr. med. Heribert Fleischmann



Moral = Zeit-, Kultur- und Kontextabhängig („Sitten“), d.h. nicht absolut sondern relativ





Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; 17aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. (Genesis/ 1. Mose 2,16-17) Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon eßt, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann auch davon, und er aß.

• 7Da

wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze. •

(Genesis/ 1. Mose 3,4-7) (Quelle: Lutherbibel)

die „Super-Intelligenz“ als Menschheitstraum d.h. sein wollen wie Gott

Definition von „Scham“



Scham ist eine anerzogene (?) menschliche Unlustreaktion (sog. Schamgefühl), die sich häufig auf die Verletzung der Intimsphäre bezieht, daneben aber auch andere soziale Bereiche (Ansehen bzw. Geltung, Erfolg usw.) betreffen kann.



Grundlage der Scham ist das Bewusstsein, durch bestimmte Handlungen oder Äußerungen sozialen Erwartungen (!) nicht entsprochen bzw. gegen wichtige Normen oder Wertvorstellungen dieses Bereichs verstoßen zu haben

Die Champagner-Dusche, ein (atavistisches) Sieger-Ritual? Alkohol als Symbol für die Feier eines Erfolgs - mit dem sich die Gruppe identifiziert

Mit Alkohol feiert man Siege Sieger schämen sich nicht Sie erfüllen soziale Erwartungen

Quelle: Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 20, Mannheim 1981

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Alkohol und Macht – „soziales Schmiermittel“ Die Botschaft: „ich bin wie Du“ – stärkt die Gruppenkohäsion



Bilder von Honoratioren mit alkoholischen Getränken: Papst Benedikt, Seehofer, Ude, Gabriel, Obama, Holland, Putin, Frau Merkel

Alkohol-/Drogenkonsum – der Rausch auf dem Weg zum Menschen evolutionsbiologisch ein Vorteil?



Aus der Perspektive der Individualselektion: Wir haben „Risikogene“, die die Wirkung von Alkohol abschwächen, d.h. wir müssen mehr trinken



Aus der Perspektive der Gruppenselektion: Trinken hilft Menschen mit bestimmten Genkonstellationen zur Stressreduktion. Robert Dudley: The Drunken Monkey. Why we drink and abuse alcohol. University of California Press, Berkeley 2014,

• •

Fühlt sich hier jemand schuldig? Sollten sie sich schämen? Nein, auch Sie erfüllen soziale Erwartungen

Frei (?) gewählter Konsum – aus evolutionsbiologischer Sicht Konsum/Rauscherleben als Überlebensvorteil der Gruppe?

"Wir nahmen Drogen, lange bevor wir Menschen wurden", schreibt der britische Kulturhistoriker Mike Jay in seinem Buch High Society. Es bedeutete einen evolutionären Vorteil, Vorratswirtschaft zu betreiben. Werden Früchte oder Säfte (z.B. in Kalebassen) aufbewahrt, so vergären sie. Der Besitz eines Enzyms, das den (eigentlich giftigen) Ethylalkohol abbaut (Alkoholdehydrogenase) macht den Genuss vergorener Lebensmittel möglich und erweitert das Nahrungsspektrum.

Alkohol-/Drogenabhängigkeit – ein evolutionsbiologischer Unfall, der die soziale Gruppe bedroht? Weniger Mitleid, weniger Hilfsbereitschaft, dafür der Wunsch nach sozialer Distanz

Zweckerwartungen an („freigewählten“) Suchtmittelkonsum • Positiv öffnende Wirkungen: Spaßhaben, Steigerung der Kontaktfreudigkeit, Glücksgefühle und Entspannung, Erwartung aufregender Erlebnisse, Rückgang sozialer Hemmungen



Bewältigung von Frust: Spannungsreduktion, Stressbewältigung, Selbstmedikation zur Regulierung negativer Affekte, Vergessen oder Verdrängung von Problemen



Neuroenhancement: Verbesserung der natürlichen Leistungsfähigkeit

Die stärkste Ablehnung unter den drei Krankheitsbildern Schizophrenie, Depression und Sucht erfahren nach wie vor die Menschen mit Alkoholabhängigkeit. 31 Prozent der Befragten wollen sie nicht als Nachbarn, 34 Prozent wollen sie nicht als Arbeitskollegen, 60 Prozent nicht im Freundeskreis und 61 Prozent nicht als Untermieter; diese Zahlen haben sich im Vergleich zu 1990 kaum verändert.

meist im kognitiven Bereiche, aber auch in der sozialen Kompetenz und Belastbarkeit, der Stimmungen und Emotionen

Weshalb Schuld und Scham und „selber schuld“, fragt man sich

Georg Schomerus Universitätsmedizin Greifswald. British Journal of Psychiatry 2011 Frankfurter Rundschau 17.3.2014

Einstellung der Bevölkerung Wir lieben den Alkoholkonsum - nicht den Alkoholkranken

Repräsentativbefragung der DHS 2001: Sucht ist eine • Charakterschwäche: 17% (Ältere > 60 Jahre 32%) • Selbstverschuldete, aber behandelbare Krankheit: 36% • Nicht behandelbare Krankheit: 5% •



Wir stellen fest: In unserer Gesellschaft eine paradoxe Situation bzw. ein “Ambivalenzkonflikt“ •

Der Konsum von Alltagsdrogen wie Tabak und Alkohol wird gesellschaftlich toleriert und bagatellisiert, ja vielfach sogar gefördert und erwartet (evolutionsbiologisch gesehen ein Gruppenvorteil?) und nicht als selbstschädigendes Verhalten problematisiert



Sucht ist dagegen nach Ansicht vieler Bürgerinnen und Bürger das Ergebnis eines schuldhaft selbstschädigenden Verhaltens. Suchtkranke, wie Raucher und Trinker sind demnach „selbst schuld“ an ihrer gesundheitlichen Verfassung.



Entsprechend moralisierend begegnet man ihnen mit Stereotypien, Klischees, Stigmatisierungen



Ihr Ansehen in der Bevölkerung ist niedriger als das psychisch Kranker (Schomerus 2011, Angermeyer et al. 1999).

Selber schuld?

37% der Grundsicherungsstellen der Arbeitsvermittlung halten eine Suchterkrankung nicht für einen Ausschlussgrund von Sanktionen bei der Wiedereingliederung (Henke et al. 2010)

52,5% der Bevölkerung sind der Meinung, dass man am ehesten bei der Behandlung Alkoholkranker sparen kann (Schomerus et al. 2006)]

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Was verstehen wir unter einer Alkoholabhängigkeit, was ist „Sucht“? – eine Krankheit mit Facetten



Individuelle (subjektive) Sicht [Betroffenenperspektive] – ein persönliches Versagen bei der Bewältigung einer gesellschaftlich gewünschten Fertigkeit, nämlich angemessen trinken zu können (moralischer Standpunkt aus eigener Überzeugung oder bei Übernahme einer verbreiteten gesellschaftlichen Überzeugung) – eine Krankheit



Medizinische Sicht [Professionelle Perspektive] – ein Syndrom im Sinne der ICD-10, d.h. Behandlungsbedarf – eine Funktionsstörung im Sinne der ICF, d.h. Rehabilitationsbedarf



Gesellschaftliche Sicht im Falle von Krankheit (Normative Festlegungen) [Beobachterperspektive]



Andere Sichtweisen (Justiz, Ökonomie, Soziologie, Psychologie etc.)

– ein Anspruch auf angemessene Leistungen aus den Versicherungssystemen (GKV, DRV, Arbeitslosenversicherung, Eingliederungshilfen etc.)

Was ist mit „Schuld“ gemeint? - eine Annäherung

1.

– etwas „falsches“ zu tun (z.B. ein Gesetz übertreten, ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Verhalten an den Tag legen, Gottes Gebot zu übertreten) – die Erkenntnis, etwas falsches zu tun, – das als falsch Erkannte vorsätzlich, also willentlich zu tun

D.h. das wirft die Frage auf, wie es mit der Erkenntnisfähigkeit und Willens- und Kontrollfähigkeit bei Alkoholkranken steht 2. Man kann schuldig werden – – –

3.









Antwort von neurodoc, … man muß schon sehr vorsichtig sein mit "selbstverschuldeten" Krankheiten. Der Begriff könnte ausgedehnt werden; ein Beispiel: Unfall mit vielen Verletzungen, monatelanger Aufenthalt, wenn man dann am Unfall schuld ist, das Reh hat ja niemand gesehen, ein Fussballer, der sich eine komplizierte Unterschenkelfraktur zuzieht, … Antwort von Kajjo, … Persönlich finde ich das völlig in Ordnung. Es ist im Gegenteil eine Frechheit, wenn die ganze Bevölkerung, also wir alle, dafür mitzahlen sollen, wenn einige wenige ihren eigenen Körper mutwillig ruinieren und gefährden. Dies sollte auf Drogen- und Alkoholprobleme ausgeweitet werden! Antwort von andreas48...Selbstverschuldet können in meinen Augen solche Sachen sein, wie Alkoholabhängigkeit oder Drogenabhängigkeit, da ich ja beide Sachen nicht einnehmen muss und mich niemand dazu zwang Antwort von schlossgeist … Unter selbstverschuldeter Krankheit verstehe ich z.B. ein gebrochenes Bein beim Skilaufen, eine Verstauchung nach einem Fußballspiel in der Freizeit oder ähnliches. usw.

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Sie gehen spazieren und werden von einem Auto überfahren? Sie gehen verkehrswidrig auf der Straße und werden von einem schnell fahrenden Auto angefahren Sie fahren mit dem Stadtbus zur Arbeit obwohl sie wissen, dass die Grippe grassiert und stecken sich an Sie leben ganz „normal“ und bekommen einen Bluthochdruck Sie werden geboren und haben eine Trisomie 21, ein FAS (fetales Alkoholsyndrom), eine Chorea Huntington, ein … Sie sind Nichtraucher, müssen aber Rauch-exponiert leben und bekommen ein Lungenkarzinom Sie haben einen Typ I-Diabetes?

„Fremdverschuldung“ ?, „Fremdschädigung“? Schicksal? - Weitere Aspekte?

Man kann schuldig werden in Bezug auf

… selber schuld …? – Was ist gemeint?

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Sie schneiden sich beim Brotschneiden in den Finger ? Sie fahren (riskant) Auto und fliegen aus der Kurve ? Sie machen gerne Drachenfliegen und stürzen ab? Sie rauchen und kriegen ein Lungenkarzinom ? Sie haben sich eine Tätowierung machen lassen und leiden darunter? Sie trinken Alkohol und kriegen eine Leberzirrhose ? Sie trinken Alkohol und werden abhängig? Sie trinken keinen Alkohol und nutzen eine möglicherweise vorhandene kardioprotektive oder stressprotektive Wirkung nicht? Sie trinken keinen Alkohol und entpuppen sich als „Spaßbremse“? Sie trinken keinen Alkohol und überwinden ihre Schüchternheit nicht? Sie machen Sport und kriegen Rückenschmerzen? Sie machen keinen Sport und kriegen Rückenschmerzen?

„Selbstschädigung“?, Unfall? Durch aktives Tun? Durch Unterlassen? – Was sind die Unterschiede?

Selbstverschuldet ? – oder …

• •

mit Absicht (siehe 1.), aber auch unabsichtlich (leichtfertiges bzw. fahrlässiges Verhalten) und „schuldlos schuldig“ (siehe die Ödipuskonstellation in der griechischen Tragödie)

– den anderen (hat in der Regel juristisch definierte Konsequenzen) – sich selbst („selbstverschuldete Krankheit“, „Selbstschädigung“, in der Regel nicht strafbar, außer bei Versicherungsbetrug)

Volkes Stimme im Blog – selbstverständlich "selbstverschuldete Krankheit“, aber durchaus differenzierend



Schuld – im moralischen Sinne - setzt voraus

Selbstverschuldet – oder? – noch ein Anlauf

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Sie exponieren sich übermäßig der Sonne/dem Sonnenstudio und bekommen ein Malignes Melanom Sie erliegen/folgen der gesellschaftlich propagierten Auffassung von Schönheit, exponieren sich … Sie töten (fahrlässig, absichtlich) ein Kind und bekommen im Laufe der Auseinandersetzung mit der Tat eine (reaktive) Depression Sie töten ein Kind im Zustand einer schweren Depression und bekommen im Laufe der Auseinandersetzung mit der Tat eine (reaktive) Depression Sie sind Maurer, leistungsorientiert, arbeiten Tag und Nacht, bauen nebenbei 3 Häuser, haben frühzeitig Arthrosen, müssen krankgeschrieben und schließlich frühberentet werden

Fremd- und Selbstverschulden – immer eindeutig zu trennen?

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Der Blick der Suchtkranken auf sich: nicht selten „selbst schuld“ und Selbststigmatisierung/Scham •







Worum geht es „eigentlich“? – ein Zwischenfazit

Suchtkranke haben – wie die Durchschnittsbevölkerung - oft ein „Willenskonzept“ statt ein Krankheitskonzept: wenn ich mich nur ausreichend anstrenge und wenn ich will, kann ich es überwinden (Selbstüberschätzung auf der Basis der Leugnung eines qualitativen Unterschieds zwischen Konsum/Rausch und Abhängigkeit) Wenn dieses Konzept versagt, dann kommt das „Selbstverschuldungs- und sekundär das Schamkonzept“ ins Spiel

Es geht um die Dialektik „Individuum und soziale Gruppe“

Scham- und Schuldgefühle sind schließlich sogar – ein Diagnostikum und – ein häufiges Therapiehindernis



Subjekt x: individuelle Freiheitsrechte, Selbstbestimmung (Autonomie) einschließlich Recht auf Selbstschädigung, aus subjektiver Sicht oft Selbstbeglückung (z.B. Selbstmanipulation des Befindens durch Drogen, auch „Neuroenhancement etc.)



∑ Subjekte (n): = Soziale Gruppe: gesamtgesellschaftliche Interessen der Solidargemeinschaft der Versicherten (Schutz vor unbegrenzter Vergesellschaftung des individuellen Risiko-/Schädigungsverhaltens)

Die „Schuld-Falle“ – eine Standardsituation im MI (Motivational Interview) die eine spezifische Intervention erfordert

Wie können wir die Attribuierung „selber schuld“ besser verstehen? - der weitere Fahrplan



Klärung der Definitionen – die deutsche Sprache! – das Demonstrativpronomen „selbst“ – der Begriff „Schuld“



Zum Problem der impliziten Annahme, dass Abhängigkeit ein Versagen vor dem Leistungsideal ist



Zum menschlichen Bedürfnis nach Kausalattribuierung mit dem Risiko „Attribuierungsfehler“

Definition von „selbst“



„Selbst“ betont nachdrücklich, dass nur die im Bezugswort genannte Person oder Sache gemeint ist und nichts oder niemand anders



Selbstverschulden = eigenes Verschulden als Ursache von etwas, d.h. keine außerhalb der Person liegende Ursache

Verwendungsbeispiele • Etwas läuft ganz von selbst, es kommt ganz von selbst (d.h. ohne äußeren Anstoß) • Das muss er selbst wissen, (d.h. es ist seine ganz persönliche Sache) Quelle: Deutsches Wörterbuch in Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 32, Mannheim 1981

Problemfeld „eigenes Verschulden“ bzgl. • genetischer Ausstattung? • epigenetisch wirksamer Einflüsse mit der Folge der Plastizität des Phänotyps?

Selbststigmatisierung der Suchtkranken – eine Form der Projektion gesellschaftlichen Versagens?

Definition von „Schuld“

Aufschlussreich ist die etymologische Herleitung • ahd. = sculda; den gleichen Wortstamm hat das Verb sollen, ahd. = sculan = schuldig sein, sollen, müssen Bedeutungen von Schuld 1. Ursache von etwas Unangenehmen, Bösem oder eines Unglücks [eigene Ergänzung: Krankheit], das Verantwortlichsein, die Verantwortung dafür 2. Ein bestimmtes Verhalten, Handlung, Tat, womit jemand gegen sittliche Werte, Normen oder die rechtliche Ordnung verstößt; begangenes Unrecht, sittliches Versagen, strafbare Verfehlung 3. Jemanden etwas „schulden“, z.B. einen Geldbetrag, einen „Gefallen“, den jemand einem anderen schuldig ist (nach Nietzsche der „ökonomische“ Grundaspekt von Schuld, aus dem sich eine Pflicht des Debitors ableitet, nämlich das Geschuldete zurückzuzahlen, sonst lädt man weitere Schuld auf sich – bzw. das Recht des Kreditors auf „Rückzahlung“) ◘ [Anmerkung: Schuld Umgangssprachlich werdendass im Falle von Krankheit die Bedeutung 1 können, in kann auch bedeuten, wir am Mitmenschen schuldig werden im Sinne von [Krankheit alsLeben etwasoder Schlimmes] und Bedeutung 2 dem wirVerursachung durch unser Verhalten sein seine Lebenschancen beeinträchtigen] im Sinne von moralischem Versagen [ein Verhalten, das gegen Normen verstößt]

über das Demonstrativpronomen „selbst“ miteinander verknüpft Quelle: Deutsches Wörterbuch in Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 32, Mannheim 1981

Dreh- und Angelpunkt der Zuschreibung individueller Schuld ist der fundamentale

gesellschaftliche Anspruch „persönliche Leistung“ als Leitideal. Über Leistung werden verteilt: – – –

Materielle Sicherheit und Erfolg Gesellschaftliche Anerkennung Ansehen und Status

Abhängigkeit wird subtil als individuelles Versagen vor (dem Leistungsideal) begriffen • • • • •

Selbstbild bzw. die Selbstwahrnehmung: Erleben ist deprimierend und entwürdigend, Schamgefühle, ich habe versagt Fremdbild, Außenwahrnehmung: Verhalten ist Beschämung, Demütigung, Vorwurf Scham: Selbstachtung und Selbstwert sind beeinträchtigt Scham führt zur Entdeckungsangst, d.h. Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung, Furcht vor Bloßstellung und Verlust des Ansehens Entdeckungsangst verhindert rationale Entscheidungen, d.h. verhindert rechtzeitige Inanspruchnahme von Therapie, Krankheit wird in Kauf genommen, soziale Unterstützung wird eher zurückgewiesen (Selbstisolierung)

Fazit: ein gesellschaftliches Problem wird über diesen Mechanismus privatisiert

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Das menschliche Bedürfnis nach Kausalattribuierung – ein weiteres Erklärungsmodell

Attribuierungsfehler – Sicht des Beobachters und Sicht des Betroffenen

Kausalattribuierung beschreibt den Vorgang der Ursachenzuschreibung von eigenem oder fremden Verhalten (Individualebene)

Beispiel: Notlage einer Person auch in Fällen, in denen die in Not befindliche Person nicht an ihrer Notsituation Schuld hat, - hier z.B. Suchterkrankung



Es ist ein menschliches Bedürfnis, beobachtete Ereignisse auf eine mögliche Ursache zurückzuführen





Kausalattribuierung hat eine Strukturierungsfunktion, die Ereignissen eine Bedeutung gibt, die Ursachen erklärt und dadurch versucht, Ereignisse vorhersehbar/kontrollierbar/beinflussbar zu machen

der Beobachtende/Außenstehende (z.B. auch der Angehörige) kommt zu dem Ergebnis, dass der selbst daran Schuld hat und diese Situation daher selbst ändern kann (analog: „Er hat selbst Schuld wenn er keine Arbeit hat, denn jeder der arbeiten will, der bekommt auch eine Arbeit.“) d. h., er führt das Verhalten auf Charakteristika der Person zurück und vernachlässigt situative Aspekte, die einen Großteil der Verhaltensvarianz ausmachen.



Für den Betroffenen überwiegen dagegen meist die äußeren Umstände (die Situation am Arbeitsmarkt, die Gesellschaft im Allgemeinen, der Partner/in etc.).: er „externalisiert“. Der Beobachtete/Betroffene bewahrt so sein Selbstwertgefühl.

Kausalattribuierungen sind ein Ordnungsprinzip des menschlichen Zusammenlebens (Gruppenebene)

Eine Zusammenfassung zwischendurch

Kann Krankheit (allgemein) selbstverschuldet sein? •

Jemand/etwas [A] ist schuld an [B]: [B] = f([A]) •

Im Sinne von „ursächlich“ (juristisch zu unterscheiden sind fahrlässig und vorsätzlich, d.h. für einen eingetretenen Erfolg verantwortlich sein)



Im Sinne von „moralisch“ (eine Normverletzung absichtlich begehen oder billigend in Kauf nehmen)



Im Sinne von „gesundheitlich“ (selbstschädigendes Verhalten oder schicksalhafter Verlauf, z.B. genetisch, angeboren, fremdverschuldete Schädigung) = Krankheit

Krankheit aus medizinisch-biologischer Sicht = somatische Struktur und/oder Funktionsstörung (d.h. reduktionistische Sichtweise - deskriptives Krankheitsverständnis) – = individuelle Betrachtungsweise, die Frage der „Schuld“ stellt sich nur im Hinblick der naturwissenschaftlichen Ursachensuche



Der naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff wird ergänzt durch ein normatives Krankheitsverständnis (Einbeziehung von sozialen Normen, z.B. auf der Basis des SGB V und VI, aber auch Wertvorstellungen für die Therapie z.B. „notwendig“, „wirtschaftlich“ , sozialmedizinisch Recht auf AU, EU etc.)

SGB V § 52 Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden: (1) Haben sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen, kann die Krankenkasse sie an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen und zurückfordern. (2) Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine TAspekt ätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern

– = gesellschaftlicher (Summe der Individuen) Aspekt von Krankheit Selbstverschuldet wäre danach eine absichtlich oder fahrlässig selbst herbeigeführte Struktur- und/oder Funktionsstörung des Körpers

Sucht ist eine Krankheit, definiert als Struktur- und/oder Funktionsdefizit: Erkenntnisse der Neurobiologie

Verhaltensausrichtungs- und Bewertungssystem („Belohnungssystem“) Charakteristikum: Dopaminausschüttung im frontalen Neocortex, d.h. evolutionsbiologisch gesehen besonders wirksam beim Menschen • Motivationssystem oder besser Verhaltensausrichtungssystem („wanting“)

Kann die Krankheit „Sucht“ selbstverschuldet sein? -„Das Prinzip Verantwortung“ (Jonas 1979)



– evolutionäre primäre Verstärker: Essen, Trinken, Schlafen, Sex



Bewertungssystem („liking“) – Bewertung von Wahrnehmungen als „angenehm“ und „unangenehm“ oder für das Individuum „gut“ und „schlecht“



DD neurobiologische Veränderungen durch Toleranzentwicklung mit der Folge des Entzugssyndroms Sucht/Abhängigkeit ist zweifellos eine Krankheit im medizinischen Sinne und darüber hinaus im normativen Sinne



für Krankheit z.B. Sucht (BGH-Urteil 1968) gilt aufgrund sehr komplexer Ursache-Wirkungsbeziehungen in unserer Gesellschaft das Solidaritätsprinzip (Prinzip der Vergesellschaftung von Schäden) und nicht das Schuldprinzip – Der medizinische Krankheitsbegriff muss durch normative Festlegungen ergänzt werden, welche Störungen der körperlichen und seelischen Integrität Leistungen der Solidargemeinschaft der Versicherten zur Folge haben (z.B. partielle „Entsolidarisierung“ durch Änderungen in den SGB oder G-BA-Entscheidungen), aktuell z.B. „Behandlung von Folgeerkrankungen aufgrund nicht notwendiger medizinischer Eingriffe” wie Piercing, Tätowierungen, Schönheitsoperationen für riskantes Verhalten z.B. Folgen eines Suchtmittelkonsum trägt jeder Mensch Verantwortung (Prinzip der Eigenverantwortung und Haftung)

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Wie weit geht Verantwortung in Bezug auf Krankheit und Konsum/Rauscherleben •



Verantwortung für das eigene Tun (z.B. Suchen nach Rauscherleben) setzt Freiheit voraus; Freiheit beinhaltet auch das Risiko „Selbstschädigung“; Freiheitsrechte enden immer am Anderen; Freiheit bedeutet auch, zur Verantwortung gezogen zu werden, Exkulpieren ist eine Form der Entmündigung Krankheit entbindet das kranke Subjekt nicht von einer gesundheitsfördernden Handlungsweise, spätestens bei der Mitwirkung zur Gesundung.

(Rausch)Konsument oder süchtiger/abhängiger Konsument – das ist die differenzierende Frage!



Für süchtige Konsumenten gelten die Maßstäbe wie für jeden Kranken. Weder der medizinische noch der juristische noch der medizinisch-ethische Ansatz liefern Belege für ein vorwerfbares moralisches Versagen des Suchtkranken.



Der Alltags/Rauschkonsument (Rausch nicht im Sinne eines Intoxikationszustandes sondern des psychopathologischen Phänomens „anderer psychischer Bewusstseinszustand“) muss sich bewusst sein, dass er sich des Risikos des moralischen Versagens im Sinne der evolutionär verankerten Neigung zur Gruppenkohärenz aussetzt.

– Cave: „Infantilisierung“ des Betroffenen, dadurch, dass ihm die Fähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen und ggf. für fatale Folgen einzustehen, abgesprochen wird (Liessmann 2009) – Cave: Akzeptanz der weit verbreiteten Verantwortungsdelegation an Andere bei Auftreten von Schäden („schuld sind immer die Anderen“)



Freilich gilt es hier zwischen krankheitsbedingter Unfähigkeit zur Mitwirkung (Rückfall ist Bestandteil und Komplikation der Krankheit „Abhängigkeit“) und selbstschädigendem Verhalten im engeren Sinne fein zu differenzieren.

Fehlanpassung und (kulturelle) Dysevolution (Lieberman 2013) des Menschen beim Alkohol



Primaten sind wie die meisten Tiere insbesondere seit ca. 10 Mill. Jahren pharmakokinetisch (Enzymausstattung mit z.B. ADH4) und pharmakodynamisch (Dopaminausschüttung im zunehmenden frontalen Cortex) an den Konsum von Alkohol angepasst –

Fehlanpassung und (kulturelle) Dysevolution des Menschen beim Alkohol: ethische Konsequenz

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Endogene Alkoholproduktion ca. 1,7g/d (80kg), d.h. ca. 0,03 %o; Alkohol aufgrund

natürlicher Gärung z.B.1kg reife Bananen 6g, 100g Roggenbrot 0,34g, 1kg Sauerkraut 5g, 0,2l Apfelsaft 1g; Der frühe Konsum war umweltbedingt durch geringes Angebot und kulturell (rituelle Verwendung?) begrenzt





Eine systematische Nutzung dieser biologischen Ausstattung erfolgt seit der neolithischen Revolution, d.h. mit Beginn des Ackerbaus (weltweite Nutzung, unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen, in der Regel ebenfalls aufgrund der Produktionsbedingungen und der Verwendungsrechte begrenzt) Die kulturelle Evolution führte zur industriellen Produktion, Mit zunehmender Technisierung (Haltbarkeit, Mengen) und Liberalisierung des Umgangs (ubiquitäre Verfügbarkeit, Regelverlust) wuchs das Konsumausmaß über die durch natürliche Selektion erreichte Anpassung hinaus



Eine Zusammenfassung aus evolutionsbiologischer Sicht: unterschieden wird

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1. Natur: = „natürliche“ Natur/Evolution: Intuition, Bauchgefühl (genetisch verankert!), ausreichend für das Leben als Jäger und Sammler 2. Natur: = kulturelle Natur/Evolution: Traditionen, soziale Praktiken (Sitten, Speisegebote, Reinheitsgebote, Gebräuche, Manieren, Rituale 3. Natur: = Vernunftnatur (=kumulative kulturelle Evolution): kognitive Lösungen, Evidenzbasierung, sichert das Überleben großer Gemeinschaften durch Festlegung von Maximen, Praktiken, Institutionen, Gesetze und Förderung der Selbstdisziplin (gesund essen, Sport treiben, gute Vorsätze fassen, Gesetze und Vorschriften einhalten). – Diese Regeln können zur 2. Natur werden: kann Mismatch-Probleme schaffen indem Konflikte mit der 1. Natur entstehen dadurch dass „vernünftige“ Regeln unserer Intuition widersprechen. Adaptiert nach Schaik &Michel 2016, Richerson et al. 2013, Henrich 2016)

Das moralische Versagen liegt – nach evolutionsbiologischer Analyse - eher auf der Ebene der sozialen Gruppe: sie stellt dem Individuum unbegrenzt in hoher Qualität Alkohol zur Verfügung – mit dem Risiko der Abhängigkeitsentwicklung Konsequent wäre, eine Veränderung der Konsumverhältnisse in unserer Gesellschaft (Verantwortungsübernahme der sozialen Gruppe: Verhältnisprävention) herbeizuführen und nicht so sehr das (missglückte) Konsumverhalten des Individuums zu thematisieren (Verhaltensprävention), nämlich – Konsens bzgl. der Einschränkung der Produktion (z.B. hohe Besteuerung), der Distribution (z.B. staatliches Monopol) und individuellen Verfügbarkeit (z.B. keine Werbung, konsequenter Jugendschutz, Vorbildfunktion der Erwachsenen) – „Re-Ritualisierung“ des Konsums (Bindung an außergewöhnliche Ereignisse, Zeiten, Orte, Umstände) Aufklärung betroffener Individuen über potenzielle Risikogen-Belastungen (z.B. bei familiären Belastungen) statt Stigmatisierung und Ausgrenzung

Was bedeutet das für den Umgang mit Suchtstoffen

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1. Natur: Auf der Jäger- und Sammlerebene ist der Konsum von Suchtstoffen vorteilhaft da zusätzliche Ressource, das Risiko ist gering, keine Vorratshaltung, Treffen auf Suchtmittel eher zufällig 2. Natur: Nach Sesshaftwerdung werden Suchtstoffe, z.B. Alkohol systematisch produziert. Der Umgang mit ihnen wurde ritualisiert, d.h. dem Individuum weitgehend entzogen. Das Risiko wurde sozial kontrolliert. Es gab und gibt (moralische) Regeln und Gebräuche. 3. Natur: Durch kumulative kulturelle Evolution (Technologisierung) wurde die Verfügbarkeit zunehmend ubiquitär, die soziale Kontrolle funktioniert nicht mehr. – Das Regelsystem auf der Ebene der 2. Natur passt nicht auf das Konsumverhalten, das im Rahmen der kumulativen kulturellen Evolution möglich wurde mit zunehmenden Risiken, was nach den Regeln der 3. Natur als „Krankheit“ gilt (Dysevolution). – Das sekundär als 2. Natur verankerte Regelsystem, das nur für kontrollierten Konsum passt, steht zunehmend im Widerspruch zu unserer 1. Natur. Intuitiv befürworten wir Konsum und lehnen abhängige Konsumenten als „fremd“ ab.

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Vielen Dank für Ihre Geduld

Das Bezirksklinikum Wöllershof – mein langjähriger Arbeitsplatz

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