Schulbuchverlage als treibende Kraft

Neue Rechtschreibung in 14 Bundesländern Kultusministerkonferenz: Wichtiges Etappenziel erreicht / Schulbuchverlage als treibende Kraft oll. FRANKFURT...
Author: Marie Kneller
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Neue Rechtschreibung in 14 Bundesländern Kultusministerkonferenz: Wichtiges Etappenziel erreicht / Schulbuchverlage als treibende Kraft oll. FRANKFURT, 31. Juli n 14 Bundesländern tritt an diesem Montag die neue Rechtschreibung in Kraft. Nur Bayern und Nordrhein-Westfalen haben die Übergangszeit verlängert. Die neuen Regeln werden in den Schulen weiter gelehrt, bisherige Schreibweisen werden aber nicht als Fehler gewertet. Sowohl die Kultusministerkonferenz (KMK) als auch die Ministerpräsidentenkonferenz hatten in ihren vergangenen Sitzungen das Inkrafttreten der Rechtschreibreform zum 1. August beschlossen. Gültig werden sollen die von den Kultusministern als „unstrittig“ bezeichneten Teile der Reform wie die Groß- und Kleinschreibung und die Laut-Buchstaben-Zuordnung, obwohl der Rat für deutsche Rechtschreibung bereits weitere Änderungen in diesen Bereichen angekündigt hat.

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In einer Erklärung der KMK zum Inkrafttreten der Reform heißt es, nun sei ein wichtiges Etappenziel erreicht. „Es bringt keinen Zugewinn, wenn der große Teil der Reform, der unstrittig ist, später in Kraft tritt“, sagte die Präsidentin der KMK, Brandenburgs Wissenschaftsministerin Wanka (CDU). Deutschland müsse an seine Abmachungen mit den übrigen deutschsprachigen Ländern denken. Ausgenommen sind die Teile der Reform, die der Rat überarbeitet. Das sind die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Worttrennung am Zeilenende und die Zeichensetzung. Weder die Beschlüsse der KMK noch der Ministerpräsidentenkonferenz haben rechtliche Bindungswirkung, nicht einmal für die Mitglieder dieser Gremien. Eine erhebliche Rolle sollen bei der Entscheidung der Kultusministerkonferenz die Schulbuchverbände gespielt haben. Dies gilt schon für die Einführung der Reform 1996. Sie geht zurück auf eine Vereinbarung mit Österreich, der Schweiz und anderen Ländern, die jedoch keine völkerrechtlich bindende Wirkung hat. Vielmehr handelt es sich nur um eine Absichtserklärung. Schon 1996 hatte der niedersächsische Kultusminister Wernstedt (SPD) als KMKPräsident gesagt: „Der von der KMK beschlossene Zeitplan ist im Einvernehmen mit den Schulbuchverlagen erarbeitet worden.“ Seit Beginn gilt Hessens Kultusministerium als Stütze der Schulbuchverleger. So sicherte der hessische Ministerpräsident Koch (CDU) den Verlagen ausdrücklich seine UnterSeite 1

stützung zu. Allerdings hat der frühere Besitzer des Verlags Moritz Diesterweg, Herbst, dieser Zeitung mit deutlicher Kritik an der Verbandsführung gesagt: „Wenn die Schulbuchverlage sich allesamt der Rechtschreibreform verweigert hätten, wäre es durchaus möglich gewesen, die Reform in einem früheren Stadium zu Fall zu bringen.“ Während der Verband der Schulbuchverlage den Ministern und der Öffentlichkeit mit zweistelligen Milliardenbeträgen für die Einführung der Reform drohten, verwiesen einzelne Schulbuchverleger auf die wirtschaftlichen Erfolge der Reform und meinten, weitere Änderungen steigerten den Absatz. Wieviel die Reform wirklich gekostet hat, läßt der VdS im Ungewissen. Darüber gibt es bisher keine glaubhaften Berechnungen, nur Vermutungen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) appellierte an den Rat für deutsche Rechtschreibung, den Reformgegnern gegenüber standfest zu bleiben. Mit Blick auf Bayern und Nordrhein-Westfalen sieht die GEW eine „bedenkliche Entwicklung und ein düsteres Kapitel des Föderalismus“. Es werde immer dringender, über eine Bundeskompetenz in wichtigen bildungspolitischen Fragen nachzudenken. Unterdessen ist die Zustimmung in der Bevölkerung weiter gesunken. Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach lehnen 61 Prozent der Bevölkerung die Reform ab, nur acht Prozent befürworten sie. 51 Prozent sehen auch keine Veranlassung, sich die neuen Regeln zu eigen zu machen. 41 Prozent wenden sie schon an, und sechs Prozent wollen es künftig tun. Im vorigen Jahr hatten sich noch 13 Prozent zustimmend und 49 Prozent ablehnend zur Rechtschreibreform geäußert. Während die Schulen und Verwaltungen in 14 deutschen Ländern und in ganz Österreich vom 1. August an nach den neuen Regeln korrigieren und schreiben, sollen sie in den Schweizer Verwaltungen noch nicht gelten, in den Schulen allerdings schon. Angesichts der öffentlichen Ablehnung und weiterer zu erwartender Änderungen hat sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung entschlossen, auch nach dem 1. August bei ihrer bisherigen Schreibweise zu bleiben und die Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung abzuwarten. Die Erfahrung mit sinnentstellenden Schreibweisen und der Einebnung inhaltlicher Feinheiten hatte diese Zeitung bewogen, am 1. August 2000 zur früheren Schreibweise zurückzukehren.

„Direkt generiert“ - Die Politik der Schulbuchverleger Theodor Ickler ie Einführung des Büchergeldes in Bayern ist ein Etappensieg des Verbandes der Schulbuchverlage (VdS Bildungsmedien). Dieser strebt seit vielen Jahren die Abschaffung der Lernmittelfreiheit an. Das Büchergeld eigentlich eine überteuerte Leihgebühr - ist für den Staat ein gutes Geschäft, denn es ist doppelt so hoch wie die bisherigen Ausgaben der Kultusministerien für Schulbücher. Der VdS-Vorsitzende sagte denn auch auf der HauptverSeite 2

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sammlung 2004 unverblümt: „Die Eltern erhalten wiederum nur alte Bücher, und das auch noch gegen relativ teures Geld.“ Erst wenn die Eltern jedes Jahr neue Bücher aus eigener Tasche bezahlen müssen, ist das Verbandsziel erreicht. Wie der VdS die öffentliche Diskussion steuert, beschreibt er so: „Bei den in der Öffentlichkeit verwendeten Zahlen zu den Schulbuchausgaben und der Ausstattungsmisere haben wir mittlerweile eine Monopolstellung erreicht. Selbst die Ministerien stützen sich bei ihren Aussagen auf unser Zahlenwerk. Damit haben wir die Berichterstattung über das Thema Lernmittelfreiheit stark beeinflußt: Journalisten haben zumindest erkannt, daß Elternkauf in vielen Bundesländern selbstverständlich ist. Es gibt auch direkte Belege dafür, daß unsere Arbeit einen Meinungswandel bei Medien erzeugen konnte: So hat die Frankfurter Rundschau kürzlich unter weidlicher Ausschlachtung unserer Hintergrundmaterialien auf einer ganzen Themenseite eine sozialdemokratische Position zur Lernmittelfreiheit entwickelt, die unserer Forderung nach einer einkommensabhängigen Regelung sehr nahe kommt.“ Und: „Direkt generiert haben wir eine breite Berichterstattung zu den rückläufigen öffentlichen Schulbuchausgaben.“ Der Verband kämpft mit allen Mitteln für die Durchsetzung der Rechtschreibreform. Als die F.A.Z. mit ihrer Rückkehr zur bewährten Orthographie das ganze Unternehmen in Gefahr brachte, intervenierte er aufs energischste und konnte berichten: „Wir haben also nicht allein auf die Kultusminister, sondern auch auf alle Ministerpräsidenten der Länder massiv eingewirkt und diese in die Öffentlichkeit gezwungen mit klaren und unmißverständlichen Erklärungen zu einer Reformumsetzung. Parallel dazu haben wir unsere alte Verbändeallianz erneut mobilisiert, nämlich Lehrer- und Elternorganisationen, die sich auch prompt auf unsere Seite stellten, die durch die F.A.Z. ausgelöste Diskussion als unnütz deklarierten, für eine Beibehaltung der Reform votierten und uns somit eine sehr wichtige politische wie mediale Schützenhilfe gaben“. Der Vorsitzende fügte hellsichtig hinzu: „Ich möchte nicht wissen, wie die Öffentlichkeit und unsere geneigten Kultusminister reagiert hätten, hätte sich die F.A.Z. vorab mit Spiegel, Focus und der Süddeutschen und vielleicht noch den Agenturen auf eine gemeinsame Attacke verabredet.“ Am 19. Februar 2004 mahnte der VdS alle Kultusminister und am 16. Juli 2004 die Ministerpräsidenten, den Kritikern der Rechtschreibreform kein Gehör zu schenken und die Debatte zu beenden. Als treueste Verbündete lobt der VdS die hessische Schulministerin Wolff, die er als „Meinungsführerin“ in Sachen Rechtschreibreform betrachtet. Sie war es auch, die zusammen mit ihrer Kollegin Schavan den „Rat für Rechtschreibung“ ins Leben rief, um die Reform gegen den Widerstand der Bevölkerung doch noch durchzusetzen. Als dessen Verhandlungen aus dem Ruder zu laufen drohten, wurde der VdS aufs neue aktiv und versucht seither, den Rat von weitergehenden Korrekturen der Reform abzuhalten. Aus der Amtschefskommission der Kultusministerien war zu erfahren, daß beim jüngsten Plan, Teile der Reform am Rat vorbei einzuführen, wiederum die Rücksicht auf die Schulbuchverlage eine Rolle spielte. Den wohlbegründeten Alleingang von Bayern und Nordrhein-Westfalen kritisierte der Verband mit der absurden Behauptung, kostenträchtige Vorbereitungen Seite 3

zur Umsetzung der ersten (von der Politik noch gar nicht gebilligten!) Ratsbeschlüsse seien bereits im Gange. Der verständliche Wunsch der Schulbuchverleger nach „Planungs- und Investitionssicherheit“ mutiert im Mund der willfährigen Politiker und ihres journalistischen Gefolges zur Tugend schülerfreundlicher „Verläßlichkeit“. Die Sprachrichtigkeit bleibt auf der Strecke. Der VdS gibt selbst zu: „Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Reform weiterhin ab.“ Doch die Interessen der Allgemeinheit haben keine Chance gegen den Durchsetzungswillen einer gut organisierten Lobby. Der Verfasser ist Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg und vertritt das PEN-Zentrum Deutschland im Rat für deutsche Rechtschreibung.

Fehler sind Ehrensache Wir pfeifen auf die Rechtschreibreform / Von Christian Meier

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ie Bilanz ist niederschmetternd. Auch neun Jahre nach dem Beschluß und der Einführung der neuen Schreibung an den Schulen ist die Mehrheit der Deutschen dagegen. Kaum ein ernstzunehmender Schriftsteller denkt daran, auf Neuschrieb umzustellen. In der Wissenschaft gilt ähnliches. Die literarischen und sehr viele andere Verlage veröffentlichen fast ausschließlich in bewährter Schreibung. Die Leopoldina, die Akademie unserer naturwissenschaftlichen Spitzenforscher, erklärt in ihren Hinweisen zur Manuskriptgestaltung: „Der Text soll den Regeln der traditionellen Rechtschreibung folgen.“ Nicht wenige Zeitungen und Zeitschriften folgen noch immer oder wieder den bewährten Regeln. In anderen herrscht das Durcheinander. Hausorthographien weichen voneinander ab, und außer der s-Schreibung wird keine Regel auch nur einigermaßen zuverlässig eingehalten. Nicht selten liest man Schreibungen, die noch unsinniger sind als die vorgeschriebenen: Im Zweifel wird offenbar die unsinnigste Möglichkeit gewählt; was immerhin implizit ein vernichtendes Urteil darstellt. Es klingt wie Hohn, ist aber vermutlich blanker Unkenntnis geschuldet, wenn Kultusministerinnen fordern, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum müsse bewahrt (!) werden. Genau umgekehrt verhält es sich: Wiederhergestellt muß sie werden. Dazu scheint sich jetzt endlich ein Weg zu öffnen. Unter der umsichtigen Leitung Hans Zehetmairs ist der von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingesetzte Rat für deutsche Rechtschreibung dabei, die umstrittenen Teile der „Reform“ noch einmal zu prüfen und gegebenenfalls neue Lösungen zu erarbeiten. Was er zur Getrennt- und Zusammenschreibung beschlossen hat, ist allgemein begrüßt worden. Allein anstatt nun abzuwarten, was dabei herauskommt, isoliert die KMK die Getrennt- und Zusammenschreibung und beschließt, alle anderen Teile der Reform vom heutigen 1. August an verbindlich zu machen, indem sie sie als unumstritten ausgibt. So fordere es die Verläßlichkeit. Seite 4

Dazu ist zweierlei zu bemerken: Erstens gehört es zu den Grundlagen der Demokratie, daß man anderes meinen kann als die Staatsmacht. Wo nun über bestimmte Materien in weiten Teilen der Bevölkerung verschiedene Meinungen herrschen, sind diese zweifellos umstritten. Wie im vorliegenden Fall etwa Groß-und Kleinschreibung, Silbentrennung, Laut-Buchstaben-Zuordnung oder die Drei-Konsonanten-Regel. Leugnet die Staatsmacht das unter dem Motto: was strittig ist, bestimme ich, so ist das - politisch gesehen - eine unerträgliche Anmaßung. Nicht die erste in dieser Geschichte, welche mit der Absicht begann, einer Sprachgemeinschaft Regeln des Schreibens zu diktieren. Aber wahrscheinlich wissen die Minister auch das nicht, so daß man ihnen höchstens Ignoranz ankreiden darf. Das zweite ist, daß sie meinen, die Verläßlichkeit verlange von ihnen die Inkraftsetzung der Regeln, wie sie sind. Wiederum klingt es wie Hohn. Für wie dumm muß man Schüler halten, wenn man ihnen, bei strenger Benotung, etwas als endgültig hinstellt, was aller Voraussicht nach in Kürze verändert wird? Um von zahlreichen inzwischen erfolgten, zwar geleugneten, aber im Duden handgreiflich vollzogenen Wiederherstellungen alter Schreibungen zu schweigen. Verläßlichkeit zeigen die Minister vielmehr nur darin, daß sie beratungsresistent einen Weg weiterverfolgen, von dem inzwischen längst abzusehen ist, daß er nicht zum Ziel führt. Und sie tun es mit allen Zwangsmitteln, die ihnen zu Gebote stehen, und mit Pressionen, an denen sich anscheinend auch Ministerpräsidenten beteiligen. In Österreich darf Literatur in bewährter Schreibung in der Schule nicht mehr benutzt werden. Offenbar ist es wichtiger, daß Kinder nicht im Lesen irritiert, als daß sie mit Werken von Grass, Enzensberger, Walser oder Jelinek vertraut werden. Auch Leihbüchereien sollen schon von dem Bazillus gesäubert worden sein. Wo so etwas dekretiert wird, pfeift man auf dem letzten Loch. Denn selbstverständlich begegnen die Schüler überall der bewährten Schreibung; in alten Schulbüchern, die noch im Gebrauch sind, wie in neuen Textsammlungen literarischer und historischer Art, da viele Autoren darauf bestehen, daß ihre Texte nicht umgestellt werden. Die Lehrer beherrschen die neuen Regeln nur unzulänglich (und man hat ja auch manchmal den Eindruck, daß sie Wichtigeres zu tun hätten). Schließlich: Kann, soll, darf man die Schüler von der Lektüre guter Zeitungen und von mehr als neunundneunzig Prozent der deutschsprachigen Literatur abkapseln? Diese Begegnung also müssen sie schon aushallen. Und man darf sie deswegen nicht eigens hysterisch machen. Wer meint, daran etwas ändern zu können, steht mit der Realität auf Kriegsfuß. Man kann sich fragen, warum so viele - gerade unter den Schriftstellern - sich dem Neuschrieb verweigern. Vielleicht aus Anhänglichkeit an Überholtes in reformbedürftiger Zeit? Genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist nicht zumutbar, grammatisch falsche Schreibungen („du hast ganz Recht“), das Auge verletzende Wortungetüme („Schlussszene“, „Programmmesse“) und sonstigen Schwachsinn („eine Hand voll Kultusminister“) zu übernehmen. Man müßte sonst nichts von Sprache verstehen. Und im übrigen: Ja, wir brauchen dringend Reform und Innovation. Aber sie müssen einen Sinn haben, sonst sind Seite 5

sie schlimmer als bloßes Beharren. Sie dürfen auch nicht, wie weite Teile dieser „Reform“, auf das frühe neunzehnte Jahrhundert zurückführen, denn der Neuschrieb ist überholt, nicht die bewährte Schreibung! Und sie sollten nicht so obrigkeitlich ansetzen wie dieser anders gar nicht denkbare Versuch, einer Sprachgemeinschaft von mehr als hundert Millionen grammatisch falsche Schreibungen und anderen Unsinn aufzuerlegen. Wie ist es zu erklären, daß unsere Kultusminister derart starr an der mißglückten Reform festhalten? Obwohl sie, spricht man sie einzeln, so uneinsichtig gar nicht sind. Sind sie zu weit von der Wirklichkeit entfernt? Gehen sie in keine Buchhandlung? Lesen sie keine Zeitungen, oder tun sie es nicht gründlich? Bekommen sie nur geschönte Befunde apportiert? „Wir stehen zu den Beschlüssen der KMK alles andere führt ins Chaos“, verlautet aus Potsdam. Warum um alles in der Welt wissen die Minister nicht, daß sie es sind, die das Chaos angerichtet haben und immer weiter nähren? Gerade acht Prozent der Deutschen sind nach letzten Umfrageergebnissen für den Neuschrieb. Landläufige Vernunft vermag dieses Rätsel nicht zu lösen. Man scheut sich in diesem doch einigermaßen demokratisch gesitteten Lande, überhaupt nur für möglich zu halten, was von den Behörden evident seit neun Jahren praktiziert wird. Der Tatbestand ist schlechterdings nicht zu fassen. Die einzig mögliche Antwort, die ich sehe, ist, daß die Minister in diesem Punkt ihre Urteilsfähigkeit jenen Ideologen und Betonköpfen überantwortet haben, die als Arbeitsgruppe Rechtschreibungsreform der KMK im verborgenen wirken. Unter diesen Umständen wird es für die, die nicht dem Diktat der Minister unterstehen, nicht nur ein großes Vergnügen, sondern geradezu eine Ehrensache sein, von heute an falsch, zu schreiben. Christian Meier, emeritierter Althistoriker an der Universität München, war von 1996 bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Beschädigtes Vertrauen Zum Artikel „Dem Sprachgebrauch folgen“ (F.A.Z. vom 28. Juli): Es gibt Politiker, die mein volles Vertrauen haben, zum Beispiel Bundespräsident Köhler. Aber vielen Politikern geht es letztlich nur darum, sich dort, wo die Macht wohnt, das Wohnrecht zu sichern. Mein Vertrauen in diese Politikerinnen und Politiker ist erloschen. Und nicht nur, daß mein Vertrauen in sie erloschen ist, auch mein Vertrauen in die Demokratie in Deutschland ist beschädigt. So viel Diktatur in der Demokratie, wie sie seit Einführung der Rechtschreibreform im Jahre 1996 auf dem Gebiet der Sprache ausgeübt worden ist, habe ich nicht für möglich gehalten. Wenn sich Inkompetenz oder Skrupellosigkeit mit Macht paart - und das ist keine Frage einer bestimmten Partei -, ist jede Gesellschaft in Gefahr. Reiner Kunze, Obernzell

Union und Klassenkampf Zum Beschluß, die Rechtschreibreform in Kraft zu setzen: Zur „Reform“ selbst muß man nichts mehr sagen, aber vielleicht daran erinSeite 6

nern, wie dieser letzte vieler Reformversuche entstand. 1972 erschienen in Hessen die Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht. Sie waren hochpolitisch und klassenkämpferisch. Hochdeutsch und Schriftsprache galten als „Herrschaftswissen“. Für Kinder, die keinen „elaborierten Code“ sprachen, wollte man die Orthographie vereinfachen und der mündlichen Kommunikationsfähigkeit den Vorrang geben. Vor diesem Hintergrund setzte man gleichgesinnte Sprachtheoretiker an die Durchführung der Reform, keine Lehrer, Journalisten oder Schriftsteller, also Praktiker Wurden gefragt. Die Eltern wehrten sich gegen die Rahmenrichtlinien, die flächendeckende Gesamtschule und die Anfänge der Rechtschreibreform. Die rote Landesregierung wurde abgewählt. Deshalb ist es mir völlig unverständlich, daß es Ministerpräsidenten und Kultusminister in CDU-regierten Ländern gibt, die diese auf Klassenkampf basierende Reform unterstützen. Jutta Rasor, Frankfurt am Main

Freie Sprachentwicklung Zum Inkrafttreten der Rechtschreibreform äußert sich die „Lausitzer Rundschau“: „Die Rechtschreibreform ist da. Ab Montag wird nicht alles anders geschrieben, aber einiges schon. An manches haben wir uns gewöhnt, anderes werden wir uns noch aneignen müssen. Freilich wurde der Sprache Gewalt angetan, als sich die Politik ihrer annahm. Sie hatte sich damit eine Aufgabe gestellt, die etwa der gleicht, am Kabinettstisch die Geburtenzuwächse in unserem Volk begünstigen zu wollen. Das eine geht so wenig wie das andere. Es ist nun dringend zu wünschen, daß man ab 1. August der Sprache Luft zum Atmen läßt. Sie ist ein lebendiger Organismus mit der Kraft zur Selbstorganisation und -entwicklung. Es wird sich dann zeigen, wie wir in zän Jaren schreiben, weil wir so schreiben wollen.“

Der akzentfreie Geschmack Die mißglückte französische Rechtschreibreform und die deutsche Kultusministerkonferenz / Von Heike Schmoll

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s ist kein Geheimnis mehr, daß sich kaum ein Kultusminister in Deutschland je für die Rechtschreibreform interessiert hat. Der zuständige Beamte bei der Kultusministerkonferenz, Ministerialrat Stillemunkes, kann um so zügelloser agieren. Anscheinend versprachen sich einige Verantwortliche in Ministerien eine wachsende Akzeptanz für die deutsche Reform dadurch, daß sie den Eindruck erweckten, in Frankreich habe sich die dortige Orthographiereform durchgesetzt. Sie verpflichteten die Französischlehrer dazu, eine neue französische Rechtschreibung im Unterricht zu befolgen, die nicht einmal in Frankreich gilt. Sowohl der Bremer Senator für Bildung und Wissenschaft als auch das rheinland-pfälzische sowie das schleswig-holsteinische Kultusministerium haben ein entsprechendes Rundschreiben an die FranzösischSeite 7

lehrer verschickt. Im Wortlaut ähneln sie sich so stark, daß sie vermutlich vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz ausgehen. Tatsächlich hat das Journal officiel in Frankreich unter der Überschrift „Die Berichtigung der französischen Orthographie“ am 6. Dezember 1990 die Korrektur von etwa zweitausend französischen Wörtern angeordnet, nachdem sie von der Academie francaise angenommen worden war. Erarbeitet hatte sie der sogenannte „Hohe Rat der französischen Sprache“, den Mitterrand durch ein Dekret im Oktober 1989 einrichtete. Betroffen waren vor allem Akzentregeln, der nahezu völlige Verzicht auf den „accent circonflexe“ etwa bei „gout“ (Geschmack), „connaitre“ (kennen, kennenlernen) „aout“ (August) und anderen Wörtern. Außerdem sollten jene Wörter ihren Bindestrich verlieren, die als lexikalische Einheit verstanden werden, wie „va-nu-pieds“ (Habenichts). Aus „evenement“ (Ereignis) sollte der Aussprache wegen „evenement“ werden. In die Neuauflage einiger Wörterbücher wurden die neuen Schreibweisen auch aufgenommen. In der französischen Öffentlichkeit durchgesetzt haben sie sich bis heute nicht, doch deutsche Französischlehrer sollen sie im Unterricht befolgen uhd beide Schreibweisen gelten lassen. Die Begründung für die französischen Reformvorschläge gleicht den Anfängen der deutschen Rechtschreibreform in auffälliger Weise. Die Academie, die seit ihrer Gründung immer wieder versucht hatte, durch staatliche Verordnungen Einfluß zu nehmen, damit aber meistens scheiterte, obwohl sie relativ zurückhaltend agierte, und die Regierung wollten die neuen Schreibweisen 1990 im Schulunterricht durchsetzen, um den Schülern das Schreiben zu erleichtern. Allerdings hat die französische Akademie den Sprachgebrauch berücksichtigt - im Unterschied zur Zwischenstaatlichen Kommission. Trotzdem formierte sich der öffentliche Widerstand in Frankreich schneller, als die Reformer erwarten konnten. So sagte etwa der UDF-Abgeordnete Bayrou, er habe nie etwas von einer Reform der Rechtschreibung gehört. Sie sei vielmehr Sache einer Gruppe von Linguisten, die einige Freunde in der Regierung hätten. Nur knapp drei Wochen nach der Veröffentlichung der sprachlichen Eingriffe formierte sich die Vereinigung „Le Francais libre“, der Professoren, Schriftsteller und Journalisten angehörten. Für die Erhaltung des „circonflexe“ kämpfte eine eigene Gruppe. Der Kampf gegen die Reform wurde in Frankreich zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Die französische Akademie zog daraus im Januar 1991 die Konsequenz und trat den taktischen Rückzug an. Sie vermied es ausdrücklich, von „Verbesserungen“ zu sprechen, und erwähnte fortan nur noch Empfehlungen. Die Akademie war klug genug, sofort zu erkennen, daß eine Durchsetzung der Reform durch ministeriellen Erlaß nur die Akzeptanz schwächte. Auch der damalige Premierminister Rocard wollte nicht durch Gesetze in die Debatte eingreifen, bat aber die Erziehungsminister, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Verbesserungen künftig zu unterrichten“. Angesichts der deutschen Widerstände gegen frühere Reformversuche wurde in Paris zur Vorsicht gemahnt. Ein französischer Kommentator fügte hinzu, die Anordnung einer Rechtschreibreform per Dekret gebe es nur in Deutschland. Schon 1991 war Jean-Marie Zemb, Honorarprofessor des College de France, in einem genauen Vergleich beider Reformen zu der Einsicht gelangt, daß die französische LangSeite 8

samkeit und Besonnenheit bei der Rechtschreibreform wirkungsvoller sei als die autoritäre Verordnung von oben „a la Neuregelung allemande“. Das französische Erziehungsministerium verwendet die neuen Schreibweisen bis heute nicht, von sämtlichen Zeitungen und Verlagen werden sie ignoriert. Nur in Belgien und der Schweiz haben sie teilweise Anklang gefunden. Der „Larousse“, der „Petit/Grand Robert“, die beiden gängigen Wörterbücher, führen sie nur als Varianten auf, machen in den Wörterbuchartikeln jedoch keinen Gebrauch davon. Warum also sollten sich deutsche Französischlehrer darum scheren?

Nicht ohne langes „s“ Zum Leitartikel von Heike Schmoll „Dem Sprachgebrauch folgen“ und zur Agenturmeldung „Rechtschreibreform unbeliebt wie noch nie“ (F.A.Z. vom 28. Juli): Dank und Anerkennung den Herausgebern und der Redaktion für das Festhalten an der guten alten Rechtschreibung. Solange die F.A.Z. sich ihrer befleißigt, ist ihr mein Abonnement sicher. Frevel betreibt die geschätzte Zeitung in den Titelzeilen ihrer Kommentare allerdings an der guten alten Frakturschrift, indem sie sich seit einiger Zeit dem langen „s“ verweigert. Die deutsche Schrift, von den NS-Machthabern als vermeintliche „Schwabacher Judenletter“ mit Führerbefehl vom 3. Januar 1941 abgeschafft, lebt von ihrer S-Schreibung - weshalb mit ihr auch das Dummdeutsch 2005 nicht machbar ist: Verbiegungen wie „Schlussstrich“ ließen sich mit ihr nicht verwirklichen. Um so bedauerlicher ist es, daß die renommierteste deutsche Tageszeitung dem Mißstand Vorschub leistet, daß junge Deutsche alte Bücher nicht mehr lesen können. Durch die Unterscheidung zwischen rundem und langem „s“ sind „Wachstube“ und „Wachstube“ auch optisch zwei verschiedene Vokabeln. Die F.A.Z. sollte zur regelkonformen S-Schreibung zurückkehren - nicht zuletzt, um in ihrem Widerstand gegen die Rechtschreibreform glaubwürdig zu bleiben. Herbert Fischer, Unterschleißheim

Sprachgenauigkeit In der F.A.Z. vom 28. Juli schreibt Heike Schmoll in ihrem Leitartikel „Dem Sprachgebrauch folgen“: „Das Sprachbewußtsein der Schreiber und Leser zu schärfen, gehört seit Bestehen dieser Zeitung zu ihren Zielen.“ Nur einen Tag später lese ich in der F.A.Z. auf den Seiten eins und zwei: „Ein Geschäftsführer und drei leitende Angestellte ... sind gekündigt“; „Erst vor ein paar Tagen ... war der Sender in der Lage, den ehemaligen Sportchef zu kündigen“; oder wie läßt sich anders erklären, daß „der Produzent Frank Döhmann ... von seinem neuen Arbeitgeber ... gerade gekündigt wurde ...“ Aber nicht nur“ Michael Hanfeld, aus dessen Artikel „Nervöse Intendanten“ diese Zitate stammen, weiß offensichtlich nicht, daß man „jemandem“ kündigt, auch in der Rubrik „Jus News“ im Buch „Beruf und Chance“ der Ausgabe vom 23. Juli liest man, selbst auch leicht Seite 9

nervös werdend: „Darauf wurde sie fristlos gekündigt“ statt richtig „Darauf wurde ihr fristlos gekündigt’’. Es wäre schön, wenn Sie auch in diesem Falle, Ihren eigenen Ansprüchen gerecht werdend, beispielhaft richtiges Deutsch verbreiteten. Dabei könnten Sie auch gleich die häufig verwendete „DNA-Analyse“ korrigieren, denn im Deutschen heißt es Desoxyribonukleinsäure (DNS) und nicht, wie im Englischen, „acid“. Wer sich (vermutlich zu Recht) auf das Hocharabische beruft, wenn er, anders als alle anderen deutschen Publikationen, „Usama Bin Ladin“ statt „Osama Bin Laden“ schreibt, sollte sich im Falle des genetischen Informationsträgers nicht entblöden, sich auch des Deutschen bedienen. Professor Dr. Jörn W. Mundt, Ravensburg

Sueton wußte es besser In ihrem Leitartikel „Dem Sprachgebrauch folgen“ (F.A.Z. vom 28. Juli) wehrt sich Heike Schmoll erneut gegen die Arroganz und Anmaßung politischer Institutionen bei der sogenannten Rechtschreibreform. Sie schreibt: „Politische Einmischung in der Sprachregelung kann nur in einem Fiasko enden.“ Hier sei eine auf den römischen Schriftsteller Sueton zurückgehende Anekdote (de grammaticis 22) angeführt. Als der Philologe Marcus Pomponius Marcellus den Kaiser Tiberius rügte, er (der Kaiser) habe in seiner Rede ein Wort verwendet, das nicht lateinisch sei, da sei er (Marcellus) von dem Juristen Gaius Ateius Capito gefügt worden. Das beanstandete Wort sei sehr wohl lateinisch. Wenn aber nicht, dann werde es durch die Rede des Kaisers von nun an ein lateinisches Wort sein. Darauf habe sich Marcellus an den Kaiser gewandt und gesagt: „Einem Menschen kannst du, Caesar, das römische Bürgerrecht verleihen, einem Wort nicht.“ Albert Kaiser, Bergisch Gladbach

Ohnmacht Als gemeldet wurde, daß am 1. August die Rechtschreibreform beziehungsweise Teile davon verbindlich werden sollen, fühlte ich mich bedrückt, wütend, traurig und leider so ohnmächtig. Was würde die F.A.Z. machen? Heute lese ich Ihre Entscheidung, bei der guten Rechtschreibung zu bleiben - danke, vielen innigsten Dank! Danke für den herrlich formulierten und durchdachten Artikel von Heike Schmoll, danke für die seriöse Berichterstattung. Sie bewahren mir meine schrift- und sprachkulturelle Heimat. Ich werde im September meine Wahl stark danach richten, welche Partei verantwortungsbewußt mit der Rechtschreibung umgeht. Hildegard Heidecker, Hersbruck

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Ein wahres Trauerspiel Zum Beitrag des Historikers Christian Meier „Fehler sind Ehrensache“ (F.A.Z.Feuilleton vom 1. August) ist es mir ein Anliegen, folgendes zu bemerken: Das Thema ist ein wahres Trauerspiel. Es könnte auch als Groteske bezeichnet werden. Mich interessiert die „Reform“ schon lange nicht mehr. Schließlich kann man seine Zeit sinnvoller nutzen, als sie zu verplempern, indem man sich mit unverständlichen, grammatisch falschen Schreibungen auseinandersetzt. Bei derart Unausgegorenem überrascht es nicht, daß sich nur acht Prozent der Deutschen (wirklich so viele?) für die neuen Regeln aussprechen. Wenn ich trotzdem Papier und Bleistift zur Hand genommen habe, dann deshalb, weil mich der Aufsatz fasziniert hat. Welche Peinlichkeit kommt darin für die Kultusministerkonferenz zum Ausdruck. Da ich mit 66 Jahren nicht wie ein Schüler dem Diktat der nun geltenden Verordnung (mit Ausnahme von Bayern und Nordrhein-Westfalen) unterliege, schreibe ich selbstverständlich weiterhin so, wie ich es bei meinen verehrten Lehrern gelernt habe. Allerdings, und da erlaube ich mir, dem Autor zu widersprechen, nicht falsch, sondern richtig, Ehrensache. Martin G. Kniehase, Neu-Isenburg Mit langem S In dem Leserbrief von Herbert Fischer „Nicht ohne langes ,s’“, (F.A.Z. vom 3. August) äußert der Verfasser den Wunsch, daß die F.A.Z. wieder zur regelkonformen „s“- Schreibung in der Frakturschrift zurückkehrt. Diesen Wunsch unterstütze ich hiermit erneut. Auf meine eigene Anfrage vom 22. November 2004 bei der F.A.Z., warum das lange Fraktur-s in den Frakturüberschriften regelwidrig nicht mehr erscheine, wurde mir mitgeteilt, daß sich junge Leute beim Lesen der Frakturschrift schwertun. Sie können das lange s nicht vom f unterscheiden. Aus Gründen der Lesbarkeit sei daher auf die Verwendung des langen s verzichtet worden. Nach meiner Beobachtung gibt es aber noch einen anderen Grund. Schon lange vor der Umstellung mußte ich feststellen, daß die zuständigen Stellen bei der F.A.Z. ebenfalls Schwierigkeiten bei der Anwendung von langem und rundem s hatten. Das war nicht regelmäßig der Fall, kam aber immer wieder vor. Dr. Karsten Küspert, Langenfeld Kopfgeburt Zu „Fehler sind Ehrensache - Wir pfeifen auf die Rechtschreibreform“ von Christian Meier (F.A.Z.-Feuilleton vom 1. August): Herzlichen Glückwunsch zu diesem und vielen anderen Artikeln zum Thema Rechtschreibreform, die ich nur als schlimme Rechtschreibreform bezeichnen kann. Ich hoffe immer noch, daß es den gemeinsamen Bemühungen kompetenter Literaten, Wissenschaftler, Verlage und anderen gelingt, uns diese „Deform“ zu ersparen. Sie war von Anfang an die Kopfgeburt einiger Sonderlinge, die offensichtlich nach Ruhm trachteten. Das viele Geld, das sie bereits gekostet hat, wäre in Wissenschaft und Forschung besser angelegt gewesen und hätte hier Arbeitsplätze schaffen können. Wie schön wäre es, wenn die Kultusminister doch noch zur Einsicht kämen und zur Demokratie auch auf dem Gebiet unserer Sprache zurückfinden würden. Elfi Engels, Neu-Isenburg Seite 11

Bern verlängert Rechtschreibfrist oll. FRANKFURT, 11. September as Berner Kantonsparlament hat die Übergangsfrist für die Einführung der reformierten Rechtschreibung verlängert. Der Kanton hat sich damit Bayern und Nordrhein-Westfalen angeschlossen und das Moratorium verfügt, das Lehrer in der Schweiz und Deutschland gefordert hatten. Damit wurde die Konferenz der Erziehungsdirektoren der Schweiz, die ihren Sitz in Bern hat, in ihrer eigenen Heimat überstimmt. Der Berner Großrat Stalder von der FDP hatte im Juni eine Eingabe eingereicht und forderte, die Einführung der Rechtschreibreform zu stoppen. Die Kantonsregierung erfüllte die Forderung damals noch vor der Verhandlung im Kantonsparlament und verfügte das Moratorium für die Berner Schulen im Juni. Hätte das Kantonsparlament die Forderungen jetzt zurückgewiesen, hätte das Erziehungsdepartement Bern sein Moratorium aufheben müssen. Staatspolitische Klugheit und Aspekte der Rechtssicherheit geböten, mit der Einführung neuer Regelungen zu warten, bis Klarheit über den Umfang der Reform bestehe, so Stalder. Ausgerechnet jetzt, da der Rat für deutsche Rechtschreibung das Reformwerk umfassend überprüfe, solle es teilweise eingeführt werden, begründete Großrat Stalder seine Eingabe. In Deutschland weigerten sich die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen, die Reform einzuführen, in der Schweiz hätten Bundeskanzlei und Staatsschreiberkonferenz soeben beschlossen, mit der Einführung abzuwarten, bis der Rat für deutsche Rechtschreibung seine Arbeit abgeschlossen habe. Stalder sagte jetzt, wolle sich die Erziehungsdirektorenkonferenz nicht der „Lächerlichkeit aussetzen“, sei sie dringend eingeladen, die Einführung der Reform auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

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Zur Politikverdrossenheit Für Ihre standhafte Beibehaltung der bewährten Rechtschreibung möchte ich Ihnen sehr danken und Sie zu dieser Position beglückwünschen. Die unsägliche Rechtschreibreform und die dreiste Art und Weise, wie diese umgesetzt wird, tragen meines Erachtens erheblich zur Politikverdrossenheit und insgesamt eher depressiven Grundstimmung in diesem Land bei. Dr. med. Hans-Georg Olbrich, Dreieich

Beitrag verfaßt von Alexander Glück am 21.09.2005 Zitat: „Absicht des Rates ist durchaus die vollständige Einziehung bestimmter Neuschreibungen wie z. B. Leid tun. Seine Beschlüsse haben aber bekanntlich nur empfehlenden Charakter.“ (R. M.) Kürzlich gab es ein schönes „Spiel über Bande“: Die Rechtschreibreform habe verbindlich gemacht werden müssen, hieß es, damit sie durch ein Gericht für illegitim erklärt werden könne. Seite 12

Jetzt zeichnet sich wieder ein Spiel über Bande ab: Der Rat empfiehlt nur. Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus im Sinne der Reformgegner, würden die Potentatenzirkel die Regelungen entgegen diesen Empfehlungen ganz ignorant und starrsinnig per Ukas durchsetzen. Damit würden sich die Betreiber über alles hinwegsetzen: - über eine Volksabstimmung, - über alle Umfragen, - über alle Aufrufe von Wissenschaftlern usw., - über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die allgemeine Akzeptanz einfordert, - über die geschriebene Praxis der Literatur und Wissenschaft, - über zwei Urteile in der Causa Ahrens, - über den Beschluß des Deutschen Bundestags, daß der Staat nicht über Schreibweisen zu entscheiden hat, - schließlich sogar über die Fachempfehlungen des eigens dafür eingesetzten „Experten-“Rats! Ich finde, ein besseres Rezept für ein baldiges Scheitern der RR kann man sich doch überhaupt nicht denken! Wichtig ist nun die vollständige Negierung der Ratsbeschlüsse durch die MPK und die KMK, denn ein Einlenken würde zu einem Teilerfolg der Reformer führen. Dementsprechend müßte der Rat Empfehlungen aussprechen, die auch das Eingemachte berühren, also auch die Trennung von ck/kk und st sowie vor allem die symbolschwere Doppel-sSchreibung (die übrigens nicht wirklich kongruent zur Heyse’schen s-Schreibung ist). Die Zeit wird’s dann richten.

Rechtschreibreform: Gericht stärkt Gegner Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg hat Gegner der Rechtschreibreform gestärkt. Das Gericht gab einer Schülerin aus Oldenburg teilweise Recht, die weiterhin alte Schreibweisen verwenden will, ohne sie in Klassenarbeiten als Fehler angestrichen zu bekommen. „Sie hat Anspruch darauf, daß in ihren Arbeiten die herkömmliche Rechtschreibung nicht beanstandet, das heißt als falsch gewertet wird“, heißt es in einem am Freitag veröffentlichten Beschluß des Gerichtes. Mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover war die Elftkläßlerin Josephine Ahrens aus Oldenburg im Juni gescheitert. Gegen dieses Urteil hat nun das OVG die Berufung zugelassen. Den Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur sofortigen Durchsetzung der Interessen der Schülerin lehnte das Gericht aber ab. Der Rechtstreit wird nun mit einer Verhandlung vor dem OVG fortgesetzt. Ein Termin dafür steht aber noch nicht fest. (AZ: 13 LA 209/05 und 13 MC 214/05). Seite 13

Die Schülerin aus Oldenburg habe durch die verbindliche Einführung der Reform „keine gravierenden Nachteile“ zu befürchten, urteilte der 13. Senat des OVG. Aus der Entscheidungsbegründung ergibt sich aber, daß die Lüneburger Richter eine Verlängerung der Übergangsfrist für richtig gehalten hätten. Die neue Rechtschreibung sei in der Gesellschaft nicht akzeptiert. „Es ist tatsächlich nicht offen erkennbar, was derzeitiger Stand der Reform ist“, heißt es in der Entscheidung. Es dürfe sogar bezweifelt werden, daß die 2004 eingeführten Regeln den Lehrern geläufig sind. Das Urteil hat für andere Schüler allerdings keinerlei Auswirkungen, erläuterte ein Gerichtssprecher die Entscheidung. Die Rechtschreibreform hat bereits mehrfach Gerichte beschäftigt, überwiegend ergingen Urteile zu Gunsten der Reform. Josephine Ahrens hatte im Frühjahr 1998 vor dem Verwaltungsgericht Hannover für sich durchgesetzt, nach den alten Regeln unterrichtet zu werden. Diese Entscheidung hob das Oberverwaltungsgericht Lüneburg im Juni 2001 wieder auf. Die Welt

Frau Karin Pfeiffer schrieb: Antwort für Frau Angelika Fuchs: Sehr geehrte Frau Fuchs, ich habe sehr viel Verständnis für Ärger und Nöte der Lehrer. Doch möchte ich eins anmerken: Wir als kleiner Verlag sind, wie die meisten anderen Schulbuchverlage auch, nicht Nutznießer der Reformschreibung, sondern ebenfalls ihr Opfer - genau wie Schüler und Lehrer. Es sind in den vergangenen Jahren daran etliche Verlage zugrundegegangen, still und von den meisten unbemerkt. Wenn Sie von „Eigenmächtigkeit“ sprechen, dann trifft dieser Begriff allein auf eine sich als allmächtig gebärdende Kultusbehörde zu, die dem Volk wider Willen und völlig unnötig eine Schreibreform aufgenötigt hat, vorschnell Fakten schuf und jetzt aus der Sackgasse nicht mehr herausfindet. Auf die Zeitungsverlage, die jetzt in einem Verzweiflungsakt versuchen, sich von einer Schreibweise zu befreien, die in gehobenem Schriftdeutsch einfach nicht funktioniert, möchte ich nichts kommen lassen. Sie handeln so, weil sie nicht anders können. Sehr verehrte Frau Fuchs, Sie dürfen darauf vertrauen, daß die Orthographie, so wie sie ist, nicht erhalten bleiben wird. Wir müssen wieder zu einer einheitlichen, semantisch wie grammatikalisch richtigen und vor allem gut lesbaren Verschriftlichung zurückfinden. Die Sprache lebt, sie wird vom sprechenden Volk geformt und widersetzt sich daher amtlichen Zugriffen, wie man an der Geschichte der sogenannten Rechtschreibreform erleben kann. Das ganze war ein großer Bluff - teuer, ärgerlich, folgenschwer. Sie schreiben davon, daß Sie ein Buch in „alter“ Rechtschreibung gekauft hätten. Meinen Sie damit, daß dieses Buch aus dem Stolz Verlag stammt? Wir haben, wie die anderen Verlage auch, in den letzten Jahren alle Bücher in Reformschreibung publiziert. So ein Lager verschwindet nicht von heute auf Seite 14

morgen, und deshalb sind unsere Angebote in reformierter Rechtschreibung. Zu gern wüßte ich, welches Buch Sie meinen, es hört sich so an, als stamme es von uns. Gern erwarte ich Ihre diesbezüglich klärende Antwort! Mit freundlichen Grüßen Karin Pfeiffer-Stolz

Rat empfiehlt Änderungen der Rechtschreibreform Mehr Kommata setzen und bessere Trennungen Analphabet nicht mehr „Anal-phabet“ trennen MANNHEIM, 28. Oktober (dpa/ddp) er Rat für deutsche Rechtschreibung hat weitere Empfehlungen zur Korrektur der Rechtschreibreform in den Bereichen Silbentrennung und Kommasetzung beschlossen. Es werde keine Abtrennung von Einzelbuchstaben mehr geben, sagte der Ratsvorsitzende und frühere bayerische Kultusminister Zehetmair (CSU) am Freitag nach einer Sitzung des Gremiums in Mannheim. Als Beispiel nannte er die - nach der Rechtschreibreform erlaubte - Trennung der Wörter „E-sel“ und „A-bend“. Außerdem sollten „sinnentstellende Trennungen“ rückgängig gemacht werden. So solle Urin-stinkt nicht mehr „Urin-stinkt“ und Anal-phabet nicht mehr „Anal-phabet“ getrennt werden dürfen, sagte Zehetmair.

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Zudem schlage der Rat vor, wieder „mehr Kommata zu setzen“, damit „Sinneinheiten leichter durchschaubar“ werden. So solle etwa bei dem Satz „Der Mann schlug die Orgel, und seine Frau backte Kuchen“ nun zwingend das Komma gesetzt werden. Bei der Trennung von Wörtern mit einem „ck“ einigte sich der Rat laut Zehetmair darauf, die in der Rechtschreibreform gefundene Lösung beizubehalten. Es werde damit nicht wie früher eine Trennung in zwei „k“ geben, sondern eine Trennung vor dem „ck“, also beispielsweise in „Dackel“. Dies sei „kein großes Problem“ und kein „Drama“, sagte Zehetmair. Der Rat, der zum ersten Mal seit Einführung von Teilen der Rechtschreibreform am 1. August wieder tagte, will bei seiner Sitzung im November auch strittige Fragen der Groß- und Kleinschreibung behandeln. Hierzu sei eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, sagte Zehetmair. Läuft alles nach Plan, dann wird der Rechtschreibrat im Frühjahr nächsten Jahres seine Änderungsvorschläge für alle umstrittenen Teile der Rechtschreibreform vorlegen. Ziel ist es, zum Schuljahr 2006/07 das Regelwerk vollständig in Kraft setzen zu lassen. Bei der Sitzung an diesem Freitag in Mannheim sollte das Kapitel Silbentrennung abgeschlossen werden. Außerdem sollte über die Zeichensetzung gesprochen werden. Ein Beschluß hierzu ist für die darauf folgende Sitzung am 25. November geplant, der siebten und vorerst letzten Runde in diesem Jahr. Die größten Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem Kompromiß hatten die Seite 15

Fachleute schon bis zu ihrer letzten Sitzung vor der Sommerpause am 1. Juli gelöst: Für die Getrenntschreibung erarbeitete die aus Sprachwissenschaftlern und Praktikern bestehende Gruppe ein Konsenspapier. Geeinigt hatten sich die 39 Mitglieder darauf, daß sich die Schriftsprache wieder mehr nach dem Sprachgebrauch richten und damit wieder mehr zusammengeschrieben werden soll. In dem Gremium sitzen 18 Vertreter aus Deutschland, je 9 aus Österreich und der Schweiz sowie je einer aus Liechtenstein und der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol. Dazu kommt der Ratsvorsitzende Zehetmair.

Schwer zu lesen Zum Artikel „Auch die Groß- und Kleinschreibung“ von Heike Schmoll (F.A.Z. vom 31. Oktober): Es wäre auch im Hinblick auf die Zielsetzung der Rechtschreibreform viel gewonnen, wenn man die alte ss-Regelung wieder einführen würde. Leider wurde die alte ss-Regelung bisher unnötig kompliziert erklärt. Hier hilft ein Blick auf die typographischen Hintergründe der herkömmlichen Regelung: Danach ist ß eine lesefreundliche Schreibweise für ein untrennbares ss. Die Entscheidung, ob ss oder ß zu schreiben ist, läßt sich also leicht anhand der Silbengrenzen treffen: Liegt die Silbengrenze inmitten eines ss, schreibt man ss, sonst ß: fassen, aber Faß und Preußen. Da man beim Schreiben ohnehin im stillen silbenweise mitspricht, entspricht die alte ss-Regelung dem natürlichen Schreibvorgang. Bei der neuen ss-Regelung muß man beim Schreiben ständig innehalten und überlegen, ob der einem ss vorausgehende Vokal lang oder kurz ist, oder ob ein Diphthong vorliegt. Das ist unpraktisch und hat sich in der Praxis als fehlerträchtig erwiesen. Schließlich ist die alte Regelung lesefreundlicher. Typographien wissen, daß man beim Lesen nicht einzelne Buchstaben, sondern Wortkonturen erfaßt. Die für die Worterkennung entscheidende Information liegt in der Oberlänge, also dem Teil der Buchstaben, der über die „einstöckigen“ Kleinbuchstaben wie m oder o hinausragt. Durch die neue ss-Regelung wurden sehr viele Oberlängen eingeebnet. Das Lesen wird dadurch mühsamer und langsamer. Durch die fehlende Oberlänge sind vor allem „dass“ und „das“ so ähnlich geworden, daß der Leser leicht auf einen Holzweg gerät. Markus Gail, Schwalbach am Taunus

Die bösen Buben von Karin Pfeiffer-Stolz ertraulichkeit, Hinterzimmer ... genau dies ist der Punkt, an dem - hoffentlich bald - der ganze Reformbetrug zerbröseln wird. Mit welchem Recht wird hinter geschlossenen Türen über Sprache und Schrift einer Millionensprachgemeinschaft verhandelt, so als gehöre sie nur einer Handvoll Leuten? Welch ungeheure Anmaßung! Das ist, als ob sich eine verschworene Gruppe von Ärzten treffen und darüber entscheiden wollte, welche Krankheiten dem einzelnen Menschen künftig „erlaubt“ und welche „verboten“ seien, damit sich die Pharmafirmen auf eine lukrative Produktionslinie einstellen können. Da Seite 16

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lacht der liebe Gott! Der Sprache zu befehlen ist wie das Wetter machen wollen. Unglaublich, mit welch ignorant-schnoddriger Kungelei einige Wichtigtuer im Rat über Dinge abstimmen, die sie nichts angehen, von der sie nicht die Bohne verstehen, und die sie auch nicht festzulegen haben. Da kann man nur sagen: stimmt doch weiter ab, was ihr wollt! Wir, das Schreibvolk, kümmern uns nicht mehr darum! Immer mehr dürften heute erkennen, welcher Wahnsinn hinter dieser Pseudoreform steckt. Immer mehr werden sehen, daß es so nicht funktioniert. Da lese ich auf einer Packung für Hundefutter: „... hat eine speziell für kleine Hunde angepaßte Größe der Brocken.“ Drei Zeilen darüber steht: „Aus jahrelanger Erfahrung wissen wir, dass die gesündesten und schmackhaftesten Zutaten ...“ Die Herstellerfirma: Pedigree. Die Packung: aufwendiger Druck, aufwendig Werbung. Überall im Handel erhältlich. Oder: Ein großes Schuhgeschäft schickte mir neulich Werbepost. In der Firmenanschrift im Briefkopf „Straße“. Meine Adresse erscheint als „Strasse“. Die neue Kollektion sei da, mit freundlichen „Grüssen“. Manch ein „gebildeter“ Zeitgenosse bedankt sich immer häufiger „im Vorraus“. Mit der s-Schreibung geht es wild drunter und drüber. Früher hieß es: Sprich, wie du schreibst. Und so ist die Hochsprache entstanden. Heute arbeitet jeder sein Idiom in die Schrift ein, weil die Reformer ihm das eingeblasen (eingeblaßen) haben. Schreib, wie du sprichst. Das Ergebnis ist kreativ in jeder Hinsicht. So etwas sei unwichtig - man könne es doch „lesen“, meinen fortschrittliche Geister. Dazu ist in diesem Forum schon genügend gesagt worden. Man darf darauf setzen: Es werden immer mehr Zeitgenossen erkennen, wohin die sog. Rechtschreibreform auf lange Sicht führt. Die Mehrheit der Leute mag zwar träge sein, aber ganz so dumm sind die Vielen doch nicht. Die beim Lesen irritierenden „Pressspanplatten“ (panplatten) und „Essstörungen“ (törungen) werden niemals Gegenliebe beim Leser finden. Am großen „Recht haben“ stößt sich jeder gebildete Leser, wie man sich an einer Tischkante stößt. Es tut richtig weh, auch noch nach Jahren. Welche „Beweiße“ wären besser, als das Nichtfunktionieren der Reformschreibung in der täglichen Praxis? Wir kommen der Sache immer näher, je länger das Experiment andauert. Wir haben es satt, uns von einer selbsternannten „Expertengruppe“ an der Nase herumführen zu lassen, die doch nur ihre wirtschaftlichen Vorteile im Blick hat. Die Leser werden aufwachen und das ganze Theater um die Rechtschreibreform als das betrachten, was es ist: ein Treppenwitz. Schallendes Gelächter würde erlösend wirken. Dann könnten wir uns erleichtert abwenden und wieder zur normalen Schreibung übergehen. Noch ist das Wissen und Können dazu in der Gesellschaft vorhanden. Soll doch der Mannheimer Geheimbund weitere fünfzig Jahre nach eigenem Gusto an unserer Sprache „herumreformieren“ und wie bei Wahlen darüber abstimmen, was groß und was klein zu schreiben sei. Man sollte sich nicht mehr darum kümmern. Wen interessiert denn, was der sozialistisch angehauchte Rechtschreibrat beschließt, der sich in amtlich angemaßtem Größenwahn um Dinge kümmern will, die sich naturgemäß jeglicher Einmischung durch technokratische Manipulation entziehen. Seite 17

Dank gilt Herrn Ickler, der nach wie vor die Mühe auf sich nimmt, Licht in diese Verschwörungssache zu bringen. Wir wünschen ihm Kraft und Durchhaltevermögen. Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit. Einige Ratsmitglieder werden sich später einmal, wenn der Spuk vorüber ist - schämen müssen. Falls sie eines solchen Gefühls überhaupt mächtig sind.

Halbherzig 27. November 2005, oll olange der Rat für deutsche Rechtschreibung sich der Zweidrittelmehrheit der Reformbefürworter zu beugen hat, werden die grammatisch und phonetisch falschen Schreibweisen weiterbestehen. Je stärker der von der Kultusministerkonferenz (KMK) abermals ausgeübte Zeitdruck wird - der Rat soll bis Anfang März eine Beschlußvorlage fertigstellen -, desto pragmatischer müssen der Rat und sein Vorsitzender vorgehen. Dies zeigt sich besonders beim leidigen Kapitel der Groß- und Kleinschreibung, die von der KMK als unstrittig deklariert worden war. Ganz gleich, wie umfangreich die Überarbeitung dieses Kapitels ausfallen mag, ist schon jetzt sicher, daß falsche Schreibungen wie „morgen Abend“ erhalten bleiben. Denn die KMK hat in einer Schaltkonferenz mit dem Vorsitzenden des Rates, Zehetmair, darum gebeten, die Änderungen in überschaubarem Umfang zu halten. Wer im Rat das Sagen hat, zeigt sich daran, daß Zehetmair jetzt selbst darauf verweist, daß nicht „jedes Faß geöffnet“ werden kann. Wenn das nicht jetzt geschieht, wird es auch in Zukunft nicht geschehen, und die Überarbeitung der Reform bleibt halbherzig.

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F.A.Z.

Die Rechtschreibreform vermeidet nicht nur alte Fehler, indem sie sie kurzerhand zur Regel erklärt, sie produziert vor allem auch neue Fehler. Ein typisches Beispiel sind Doppel-s und ß, die Markenzeichen der beiden Lager im Orthographie-Streit: Ein doppelter Fehler, der zunehmend um sich greift, ist „ss“ selbst dort, wo es auch laut Schulschreibung nicht hingehört, nämlich nach langen Vokalen. Es wird aus drei Gründen in Kleinschreibung verwendet: 1. Dumme Mitläufer schreiben deshalb immer „ss“ statt „ß“, weil sie die „Regeln“ der Schulschreibung nicht verstanden haben und annehmen, es sei nun immer „ss“ statt „ß“ zu schreiben. 2. Ängstliche Mitläufer schreiben „ss“ aus Versehen und lauter Angst, durch ein richtiges „ß“ z. B. einen bösen Blick ihres Vorgesetzten zu kassieren. (Ein hochrangiger Beamter der Düsseldorfer Verwaltung hat es im Frühjahr 2001 fertiggebracht, ‘daß’ zuerst „daßss“ und kurz darauf „dassß“ zu schreiben.) Seite 18

3. Eine dritte Gruppe verfolgt in öffentlichkeitswirksamen Positionen offenbar das Ziel, in diesen Zeiten orthographischer Verwirrung das ss statt ß nach schweizerischem Vorbild überall durchzusetzen. Ab sofort kein langer Donnerstag mehr Aufgrund dem mangelnden Interesse schliessen wir nun auch Donnerstags um 18.30 Uhr.

Dauerhaft beenden Zur Glosse „Halbherzig“ von Heike Schmoll (F.A.Z. vom 28. November): Wenn Hans Zehetmair glaubt, man dürfe bei der Reform der Rechtschreibreform „nicht jedes Faß öffnen“, ist ihm beizupflichten. Ich gehe noch weiter: Alle Fässer können ungeöffnet bleiben, sofern man sie mit ihrem gesamten Inhalt auf dem Müll der Possengeschichte dauerhaft entsorgt. Die einfachste Lösung der ohne Veranlassung problematisierten Rechtschreibung besteht darin, zum Status quo ante zurückzukehren, und zwar bis zu jenem Ausgangspunkt, wo durch die unbemerkt gebliebene Hintertür die inkonsequent eingeführte ph=f-Schreibung durchschlüpfte. Dieses Durchschlagen des gordischen Knotens würde den Schulbuch- und Wörterbuchverlagen zum erneut lukrativen Auftrag verhelfen, den gesamten Neuschrieb-Bestand in seinen Dutzend inzwischen entstandenen Varianten zu drucken. Der F.A.Z. sei für ihre zumindest weitgehend herkömmlich gebliebene Schreibung gedankt. Nicht einmal die Springer-Verlage bleiben bewährten Schriftformen so treu und informieren ihr Publikum ähnlich ausführlich und zeitnah, wie dies in und durch die F.A.Z. geschieht. Kurt-Rolf Ronner, Berlin

Sprache und Menschenbild Die politischen Redenschreiber erinnern sich an ihre eigene Verantwortung Von Heike Schmoll

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hre Sprache ist ihr Geist, und ihr Geist ist ihre Sprache; man kann sich beides nicht identisch genug denken“, sagt Humboldt von den Völkern. Das heißt aber auch, daß die Barbarei der Sprache unweigerlich mit der Barbarei des Geistes einhergeht. Wer könnte das besser wissen als die politischen Redenschreiber? Gleichwohl zeigen die Reden, die landauf, landab vom Kommunalpolitiker bis zum Bundespräsidenten gehalten werden, nicht immer, daß sie von Redenschreibern verfaßt wurden, die sich dessen ganz bewußt waren. Mit wohlfeiler Sprachkritik wollte sich der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) bei seinem Kongreß zum Thema „Sprache und Menschenbild“ in Berlin trotzdem nicht begnügen. Nicht das traurige Lied vom Niedergang der Sprache solle angestimmt werden, es sei so alt und so fruchtlos, mahnte der Präsident des Verbandes, der frühere Redenschreiber Helmut Seite 19

Schmidts, Thilo von Trotha. Er berichtete aus dem Alltag eines Redenschreibers, der 90 Prozent seiner Kunden nur telefonisch kennt. Zehn, fünfzehn Reden habe er für sie geschrieben, er kenne sie trotzdem - es genüge ein Satz, er wisse nicht alles, aber oft das Wichtigste von einem Menschen. In ihrer Sprache offenbarten sie sich. „Was verrät es uns über einen jungen Mann, der seine Freundin liebevoll ,geile Schnitte’ nennt?“ fragte er. Wenn das Sprachkönnen das Denkvermögen begrenze, entscheide die Sprache über die Reformfähigkeit Deutschlands. Insofern hänge das Schicksal der Gesellschaft durchaus in Arnold Toynbees Sinne von einer schöpferischen Minderheit ab, zu der die Redenschreiber sich zählen. Noch verräterischer als solche Sprachäußerungen einer weit jenseits des Jugendalters gebräuchlichen Jugendsprache ist jedoch die allgemeine Sprachlosigkeit. Häufig sind es nicht mehr die sprachlichen Äußerungen selbst, sondern die Unfähigkeit, sich überhaupt zu artikulieren. Es sei das Schweigen über manche Dinge, die ihn so verzweifelt machten, sagte der ehemalige Redenschreiber Genschers und von Weizsäkkers, Generalkonsul a. D. Michael Engelhard, und nannte als Beispiel dafür das Schweigen der Öffentlichkeit nach der Veröffentlichung der Greueltaten von Abu Ghraib. Anstatt nachzufragen und Konsequenzen zu fordern, hätten auch Journalisten schlicht geschwiegen. In seinem Referat mit dem biblischen Motto „Deine Sprache verrät dich“ erinnerte er an sprachlich besonders verunglückte Sätze der jüngsten politischen Vergangenheit. So habe der neue Bundestagspräsident Lammert von der zukünftigen Berliner Regierung gesagt, das Parlament sei „sein“ (statt ihr) Auftraggeber. In Frankreich wäre ein Präsident der Assemblee Nationale nach einem solchen Lapsus erledigt, kommentierte Engelhard und bot ein zweites, noch unglücklicheres Beispiel. Es sei ein Fehler des Wahlkampfes gewesen, daß er rationale Erklärungen „nicht genügend mit Seelenschmalz abgefedert hätte“. Engelhard sieht solch einen Satz als Beleg dafür, daß die Bedeutung von Worten sich zunehmend ablöst. Das gilt auch für „kirre machen“ - umgangssprachlich als „verrückt machen“ benutzt und damit getrennt von der ursprünglichen Bedeutung, jemanden gefügig zu machen. Während es den Franzosen und Italienern immer noch gelungen sei, ein vernünftiges Verhältnis zur eigenen Sprache zu entwickeln, sei dies in Deutschland versäumt worden. Bei allem bildungsreformatorischen Gerede der jüngsten Vergangenheit habe er nie etwas von Sprache gehört, obwohl sie das höchste geistige Gut eines Volkes überhaupt sei, beklagte Engelhard. Als Folge sieht er das eigentliche Ziel aller Bildungspolitik darin, den Menschen zu seiner Sprache zu führen. Das sei nicht nur ein bildungspolitisches, sondern ein wahrhaft demokratisches Ziel. Wer seine eigene Sprache nicht finde, sei auf Nachplappern angewiesen und gerate unversehens in die Abhängigkeit von anderen. Die Erziehung zur eigenen Sprache sei die Erziehung zum demokratischen Bürger, sagte Engelhard und zitierte Hölderlins grundlegende Beschreibung menschlicher Verständigung: „Viel hat erfahren der Mensch, seit ein Gespräch wir sind und hören können.“ Weit entfernt von solchem auf Verständigung angelegtem Sprechen sind die typischen Feststellungen der Börsennachrichten wie „Die Kurse haben sich erholt“, „Der Ölpreis gab nach“, die „Aktien litten unter Gewinnmitnahmen“. Seite 20

Hier werden die wirklich Handelnden, die Spekulanten, nicht genannt. Diese Sprache schließe einige Menschen von der Kommunikation aus, sagte der Wissenschaftler für Organisationskommunikation Helmut Ebert aus Bonn. Wer als Führungskraft in einem Unternehmen Menschen behandele wie ein Objekt, verursache in seinem Betrieb hohe Kosten. Gelungene Führung verstehe sich immer als Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter. Ob es daran liegt, daß die Sprache vage wird, bevor die Wirtschaftszahlen schlechter werden?

Orthographischer Ungehorsam im Polderland In den Niederlanden wollen die meisten Zeitungen die neueste Rechtschreibreform boykottieren Von Andreas ROSS FRANKFURT, 19. Dezember en Holländern ist die Lust am Durchkreuzen obrigkeitlicher Pläne auch vier Jahre nach der Wiedererweckung ihrer politischen Geister durch den islam- und europafeindlichen Störenfried Pim Fortuyn noch nicht vergangen. Wenigstens möchte der Chefredakteur der Wochenzeitschrift Elsevier seine Beteiligung am Presseaufstand gegen die niederländische Rechtschreibreform verstanden wissen als jüngstes Kapitel im Volksaufruhr gegen die politische Klasse. Das vorherige Kapitel hatten die Niederländer am 2. Juni geschrieben, als sie dem Verfassungsvertrag der Europäischen Union stur ein „Nee“ entgegenschmetterten, schon allein, weil die Mehrheit im Parlament für das Vertragswerk so aufreizend groß war. „Die Bürger möchten über eine neue Rechtschreibung mitreden. Die Zeiten sind vorbei, als man etwas so Einschneidendes wie eine Orthographiereform von oben auferlegen konnte“, sagt Elsevier-Chefredakteur Joustra.

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Für die Aufständischen paßt es ins Bild, daß die Reform nach herkömmlicher Art im Land des Poldermodells abseits der Öffentlichkeit von einem Fachgremium ausgehandelt wurde. Verantwortlich dafür war die „Nederlandse Taalunie“, die Niederländische Sprachunion, in der die Haager Regierung mit der belgischen Region Randern und seit dem vorigen Jahr auch mit der einstigen südamerikanischen Kolonie Surinam zusammenarbeitet. Auch die Qualitätszeitungen Volkskrant, NRC Handelsblad und Trouw sowie die meisten politischen Wochenzeitschriften von Rang haben am Wochenende ihren Boykott gegen die Reform publik gemacht. Sie soll am 1. August des kommenden Jahres in Schulen und für Beamte verbindlich in Kraft treten. Im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Rundfunksender NOS mochte sich die auflagenstarke Tageszeitung De Telegraaf dem Aufruf zum orthographischen Ungehorsam zwar nicht anschließen. Doch auch sie ließ per Leitartikel wissen, die Taalunie solle noch einmal neu nachdenken und dabei auf die „Signale aus der Gesellschaft“ hören. Die christlich-demokratische Bildungsministerin Maria van der Hoeven hat entnervt auf den Medienboykott reagiert. Schließlich sei die Reform schon im Seite 21

April vorgestellt worden, und außerdem sei sie doch nur eine Reaktion auf die Nörgeleien nach der vorherigen Neufassung aus dem Jahr 1995. Damals hatten sich die Schreiber der Nation vor allem auf die berüchtigte Löwenzahnregel gestürzt. Dieses Gewächs nennt der Niederländer eigentlich Pferdeblume, bis 1995 mithin „paardenbloem“, doch dann wurde die Pflanze zur „paardebloem“, also gewissermaßen zum Löwezahn. Grund sollte vor zehn Jahren die von der Taalunie ersonnene Regel sein, daß zusammengesetzte Hauptwörter, deren erster Teil ein Tiername und deren zweiter ein Pflanzenname sei, ausnahmsweise kein Bindungs-n bekommen. Nun kennt das im Oktober neu erschienene kleine grüne Buch des Holländers, das „Groene Boekje“, welches die amtlichen Schreibweisen festlegt, wieder die „paardenbloem“. Doch mit dem neuerlichen Hinweis der Taalunie, die Änderungen bei lediglich knapp 1000 von etwa 100.000 holländischen Vokabeln folgten allesamt logischen Regeln, war kaum ein Holländer mehr zu beschwichtigen. Vielmehr herrscht Verwirrung angesichts einer Reform, die genauso viele Bindestriche einführt wie abschafft, die einst kleingeschriebenen Worten Großbuchstaben verleiht und anderen die hergebrachte Majuskel abnimmt, die gern aus „k“ ein „c“, aber ebenso gern aus „c“ ein „k“ macht. Nicht ausgeschlossen scheint, daß diesmal der Aufruhr auch das ansonsten eher unverdächtige calvinistische und katholische Milieu erfaßt, schließlich verlieren Worte wie „Christus“ oder „Allerheiligste“ ihre Großbuchstaben. Dafür wird die Mehrwertsteuer (bisher klein: btw) künftig mit drei Großbuchstaben bedacht.

Mit der Gabel gelöffelt Die Niederländer streiten um ihre Rechtschreibung

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eunruhigend vertraut klingen die Nachrichten aus den Niederlanden: Die führenden überregionalen Zeitungen de Volkskrant, NRC Handelsblad und Trouw, das Nachrichtenmagazin Elsevier sowie der öffentliche Rundfunk haben angekündigt, sich der Rechtschreibreform zu widersetzen, deren Vollzug für den 1. August 2006 vorgesehen ist. Die Regierung und die von ihr beauftragten Sprachwissenschaftler zeigen sich überrascht und bekräftigen ihre Absicht, an den gemeinsam gefaßten Beschlüssen festzuhalten. Die Boykottandrohung sei unverständlich, da die Reform nur einige „Anpassungen“ mit sich bringe und eine Reihe von Ausnahmen in der bisher gültigen Regelung bereinige. Im Interesse der Schüler müsse an ihr festgehalten werden. Vor gut zwei Monaten ist das neue „Grüne Büchlein“ erschienen, das mehr als tausend Seiten starke Manifest der institutionalisierten Sprachrevolution, als deren Führer ein emeritierter Professor amtiert. Mit der demonstrativen Gelassenheit eines Berufspolitikers hält Maarten van den Toorn der Medienfronde entgegen, daß der Zug abgefahren sei. Der Linguist beherrscht die Taktik der Sprachreformer aller Länder: Protest kommt stets zu spät, eine öffentliche Debatte ist immer schon längst überflüssig. Van den Toorn ist Vorsitzender der von der zwischenstaatlichen Sprachbehörde „Nederlandse Taalunie“ eingesetzten Arbeitsgruppe, welche die amtliche Rechtschreibung auf den neuesten Stand bringen sollte. Eine Reform stand ausdrückSeite 22

lich nicht auf dem Programm: Die letzte liegt erst zehn Jahre zurück und war heftig umkämpft. Trotzdem betreffen die jetzt vorgesehenen Änderungen immerhin knapp drei Prozent der im „Groene Boekje“ verzeichneten Einträge. Vorgesehen war lediglich ein Update: Weil die ehemalige niederländische Kolonie Surinam der „Taalunie“ beigetreten ist, muß das offizielle Wörterbuch erstmals einige nur dort übliche Wörter enthalten, zum Beispiel die niedliche Bezeichnung „handknie“ für Ellenbogen. Zu erfassen waren ferner neu eingebürgerte Fremdwörter („bastaardwoorden“) wie „tsunami“ oder „spamfilter“. Aber die Kommission wollte mehr. Die Tradition der Sprachplanung, an die sie in ihrer Arbeit anschließen konnte, reicht viele Jahrzehnte zurück. Aus „Duitschland“ und „philosophie“ sind schon vor langer Zeit „Duitsland“ und „filosofie“ geworden. Der Versuch, Kölnisch Wasser als „odeklonje“ zu bezeichnen, wurde 1972 immerhin zurückgeschlagen. Wer seine Suppe mit der Gabel löffeln wolle, begehe einen Fehler, schrieb damals Harry Mulisch in einer Kampfschrift wider die Reformer. Aber die machten ungerührt weiter, selbst da, wo sich große Widerstände auftaten. Das ist besonders beim Fugen-n der Fall: Ob es „heiligedag“ oder „heiligendag“ heißen müsse, ist mindestens so umstritten wie die Groß- oder Kleinschreibung von „nieuwjaar“. Strenggenommen handelt es sich natürlich um eine Frage der Morphologie, nicht der Orthographie: Als Karl Valentin den Plural „Semmelnknödeln“ forderte, war das ein Beitrag zur Wortbildungslehre. Die niederländischen Orthographen sehen sich gleichwohl befugt, den Wegfall des n in „gazellenoog“ und seine Einfügung in „giraffenhals“ anzuordnen. Ähnlich inkonsequent wird der „sociaal-democraat“ zum „sociaaldemocraat“, der „sociaal-psycholoog“ zum „sociaal psycholoog“. Der „co assistent“ wird zum „co-assistent“, aus „coeducatie“ wird „co educatie“. Auch auf den Gebieten Silbentrennung und Fremdwortintegration gibt es dubiose Erleichterungen: „Fran krijk“ muß nicht mehr als falsch angestrichen werden, und französische Wörter verlieren reihenweise Akzente. Selbst die christdemokratische Regierungspartei „Christen Democratisch Appel“ ist deshalb aufgefordert, ihren Namen zu ändern. Bei dieser Gelegenheit könnte sie sich dann den Apfel als neues Symbol wählen. Das Nebeneinander von kleinem „jood“ und großem „Palestijn“ sei oft als peinlich empfunden worden, meint die Kommission. Deshalb soll nun immer dann „Jood“ geschrieben werden, wenn von einem Angehörigen des jüdischen Volkes die Rede ist. Der religiöse Jude bleibt ein schlichter „jood“; geht er in die Synagoge, so besucht er die „jodenkerk“. Da aber der gelbe Stern rassistischen Kriterien gemäß ausgegeben wurde, muß es neu „Jodenster“ heißen. Harry Mulisch, von der Volkskrant zu den neuen Regeln befragt, hielt sich vornehm zurück und nannte sie schlicht Unsinn. Von Willkür und Wahnsinn spricht hingegen Gerard C. Molewijk, der sich als Historiker mit der Geschichte der niederländischen Rechtschreibung befaßt hat. Daß sein Verriß des „Grünen Büchleins“ vom NRC Handelsblad als Gastkommentar gedruckt wurde, gab im Oktober eine Vorahnung der jüngsten Ereignisse. Die niederländische Schriftsprache werde durch die periodisch wieSeite 23

derkehrenden staatlichen Eingriffe in einem Zustand der künstlichen Instabilität gehalten, so Molewijk mit Blick auf die Reformen von 1934, 1947,1955 und 1995. Sie sei bei der „Taalunie“ erwiesenermaßen nicht in guten Händen und müsse endlich ihren Benutzern zurückgegeben werden. Zustimmung hat diese Forderung nicht nur bei den Journalisten gefunden. Zur Stärkung ihrer Widerstandskräfte verwies ein ehemaliger Chefredakteur des führenden Wörterbuchverlags Van Dale am Montag auf das naheliegende deutsche Beispiel: Dort habe eine vergleichbare Rebellion gegen staatlich verordnete Sprachplanung ebenfalls Erfolg. Das allerdings ist noch nicht endgültig ausgemacht. REINHARD MARKNER

„Mißglückte Regelung“ In der Schweiz wächst die Kritik an der Rechtschreibreform oll. FRANKFURT, 24. Januar n der Schweiz wächst der Widerstand gegen die Rechtschreibreform. Heftig kritisiert wird auch die Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung. In einem offenen Brief an den Präsidenten der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Regierungsrat Stockung, weist der sogenannte Sprachkreis Deutsch den Präsidenten der Erziehungsdirektorenkonferenz (entspricht der Kultusministerkonferenz) darauf hin, daß die deutschen Kultusminister offen eingestehen, daß „die Rechtschreibreform falsch war“. Außerdem wird Unverständnis darüber geäußert, daß die „mißglückte Regelung“ jetzt nur einer eingeschränkten Überarbeitung unterzogen wird. Eine unbefangene Prüfung der ersten Empfehlungen des Rates für Rechtschreibung zeige, daß mit ihnen noch längst keine tragfähige Lösung gefunden sei. Besonderen Anstoß nehmen die Kritiker aus der Schweiz daran, daß für die Entscheidung über die Ratsempfehlungen kaum Zeit zur Verfügung steht und daß die Urheber der Reform im Rechtschreibrat Sitz und Stimme haben, um dort das eigene Werk zu überprüfen. Die Unterzeichner erinnern an die Kosten und verlangen einen „Marschhalt“. Sie fordern von der EDK eine echte Erklärung zu den Ratsempfehlungen, eine sprachwissenschaftliche Überprüfung des ganzen Regelwerks, die Auswechslung der Schweizer Delegation im Rat für Rechtschreibung und ein Moratorium, wie es der Kanton Bern verfügt hat. Die Absichtserklärung, welche die Schweiz 1996 unterzeichnet hat, verpflichte zu nichts. „Verpflichtet sind wir alle aber unserem Gemeinwesen, unseren Schülern und unserer ersten Landessprache.“

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Noch kritischer äußert sich der Schweizer Lehrerverband, der vor allem beklagt, daß der Vorsitzende und die große Ratsmehrheit die anstößigsten Fälle pragmatisch lösten und es unterließen, die Konsequenzen für das gesamte Regelwerk zu untersuchen. Auf diese Weise sei die „verunglückte Lösung zwar von den übelsten Unfugkonstruktionen befreit, gleichzeitig aber systematisch verschlimmbessert worden“. Außerdem habe der Rechtschreibrat nicht den Mut gehabt, die neuen Schreibweisen wieder abzuschaffen, sondern habe sie als Varianten erhalten. So vergrößerten die Vorschläge des Rates die Verwirrung und trügen dazu bei, den Respekt vor der Rechtschreibung weiter abzuSeite 24

bauen. Der Schweizer Lehrerverband weist deshalb die Vorschläge des Rates vollständig zurück und verlangt, die Pflege der Rechtschreibung grundlegend neu und dieses Mal professionell zu ordnen.

Halbherzig oll Auch wenn aus der Schweizer Kritik an der Rechtschreibreform und an der Arbeit des Rechtschreibrates der Unmut über deutsche Bevormundung spricht, trifft sie einen wahren Kern. Bei allen respektablen Entscheidungen des Rechtschreibrates sind viele seiner Vorschläge nicht mehr als faule Kompromisse. Warum konnten als falsch erkannte Schreibweisen nicht abgeschafft, warum mußten sie als Varianten erhalten bleiben? Wieso läßt sich der Vorsitzende des Rates zum wiederholten Male von der Kultusministerkonferenz unter Druck setzen und will bis Anfang März die Ergebnisse der Arbeit vorlegen? Mit der revidierten Getrennt- und Zusammenschreibung hat der Rat richtige Vorschläge gemacht, aber von einer vollständigen Überarbeitung und Korrektur kann nicht die Rede sein. Das Rechtschreibchaos ist inzwischen so groß, daß zu befürchten ist, daß die Verlage der Rechtschreibprogramme das letzte Wort haben und regeln, was der Rechtschreibrat nicht ordnen konnte. Denn wer die ehemaligen Urheber der Rechtschreibreform zur Korrektur ihrer eigenen Arbeit heranzieht, wird nichts anderes erwarten können als halbherzige Lösungen.

„Rechtschreibreform von Analphabeten für Analphabeten“ Die verheerenden Auswirkungen... ... spielen sich stillschweigend im Hintergrund ab und werden von der Öffentlichkeit kaum bemerkt. Bereits vor Inkrafttreten der Reform für Schulen und Behörden haben viele Schul- und Kinderbuchverlage auf die neue Schreibung umgestellt und dabei äußerst anmaßende Eingriffe in bestehende literarische Werke verübt. Neben den meist sofort ins Auge springenden ss-Korrekturen befleißigen sich die Schulbuchverlage offenbar primär im Weglassen von Satzzeichen, wohl um die Fortschrittlichkeit des Verlages zu zeigen und um auf diese billige Weise am Markt zu bleiben. Die rigorose und teilweise überzogene Übertragung der neuen Schreibung auf bestehende Literatur versetzt einen Autor wie Thomas Mann „... in die Klasse der Anfänger oder Stümper, denen man eine differenzierte Kommasetzung nicht zumuten möchte“. An Beispielen, die sich auf so einfache Weise finden lassen, läßt sich „zeigen, daß die Umsetzung der Rechtschreibreform in den Schulbüchern eine beispiellose intellektuelle und ästhetische Verwüstung nach sich zieht“. Seite 25

Und es ist doch fast ein Verbrechen, wenn ausgerechnet Kinder, also Schreibanfänger, die neue Suppe vorgesetzt bekommen und somit als Testpersonen und Überträger von Minderwissen mißbraucht werden. Kinder lernen erst einmal alles, was man ihnen zeigt. Sie sind zunächst unbedarft. Das macht sie kostbar, aber auch verwundbar. Woher sollen sie wissen, daß es viel bessere, klarere Möglichkeiten des Schreibens gibt? Ab dem Schuljahr 1997/1998 jedoch wird den Schülern die heute gültige Rechtschreibung vorsätzlich vorenthalten, offenbar damit der Staat die Regelungen allgemein erzwingen kann! Das ist eine Schande! Für den Erstkläßler ist die Neureglung sowieso völlig bedeutungslos, da bis auf das „ss“ kaum Änderungen relevant sind. In höheren Klassen lernen sie dann die „falschen Regeln“, und um so verheerender dürfte sich das in einigen Jahren auswirken, wenn sich dieser Schwachsinn dann durchsetzt.

Die Rechtschreibreform setzt sich nicht durch! „Nur kleine Geister fürchten kleine Bücher.“ Lion Feuchtwanger, aus: „Füchse im Weinberg“. Die Machtverhältnisse zwischen Befürwortern und Gegnern der Rechtschreibreform sind so enorm kraß, daß man sich wie beim berühmten Kampf gegen die Windmühlen fühlen mag und aufgeben möchte. Aber auch Windmühlen sind einem Zerfall ausgesetzt, vor allem dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Je mehr man sich mit der Reform auseinandersetzt, desto stärker wird das Erstaunen darüber, daß sich Vernunft einfach nicht durchzusetzen vermag, daß es dem unbedeutendsten Laien möglich ist, ein Reformwerk auseinanderzunehmen, welches Experten und Gelehrte in jahrelanger Arbeit zusammengebastelt haben. Ich frage mich oft, wie das sein kann. Hierzu Professor Peter Eisenberg: „Wenn man aber Sprache reformieren will, hätte man für viele spezielle Teilbereiche Spezialisten benötigt, z. B. für die Kommaregeln einen Syntaktiker, für die Silbentrennung einen Phonetiker, für die Getrennt- und Zusammenschreibung einen Morphologen. Solche Spezialisten waren (in der Kommission; Anmerkung d. A.) nicht vertreten.“ Ich zitiere. Es handelt sich dabei um eine Stellungnahme eines sachverständigen Experten zu einen Antrag der Volksinitiative Mecklenburg-Vorpommern: „Bei objektiver Bewertung und ohne vorgefaßten Unwillen erweist es sich, daß die eingeführte Neuregelung durchaus einen deutlichen Schritt in Richtung auf Systematisierung und Vereinfachung der Orthographie darstellt, der vor allem für die Schule erhebliche Vorteile bringt. Die Neureglung ist in dieser Hinsicht nicht nur der bisherigen überlegen, sie ist auch deutlich besser als ihr Ruf, in den sie durch die starken und weit überzogenen Vorwürfe ihrer Gegner geraten ist.“ ... „Wollen wir ... unseren Kindern die Ausbildungs- und Berufschancen in Deutschland durch eine mecklenburg-vorpommersche Rechtschreibung erschweren? Da man darauf eine akzeptable Antwort schuldig bleiben muß ..., kann dem Landtag nur dringend empfohlen werden, dem Antrag der Volksinitiative nicht zuzustimmen.“ Seite 26

Eine traurige „dringende“ Empfehlung! Für die These, daß „die Neureglung in dieser Hinsicht nicht nur der bisherigen (was?) überlegen“ ist, wäre der wissenschaftlich fundierte Beleg noch zu erbringen. Meine „akzeptable Antwort“ als Ingenieur ist dieser Aufsatz hier. Lehrer stellen inzwischen fest, daß die Fehlerquote an den Schulen zu- statt abnimmt. Die Schüler sind mit den vielen Ausnahmen des künstlichen Regelwerks offenbar überfordert oder werden vom Regelwerk in ihrer Entscheidungsfindung alleingelassen. Es ist vorstellbar, daß zu dieser Thematik in naher Zukunft wissenschaftliche Arbeiten entstehen werden. Trotz der überaus starken Lobby der Reformer und der Suggerierung durch die Medien, daß die Reform „gelaufen“ sei, ist abzusehen, daß sich die Rechtschreibreform langfristig nicht durchsetzen wird. Intelligente Schüler schreiben bereits heute wieder nach den „alten“ Regeln. Viele Deutschlehrer sehen sich genötigt und übernehmen die neuen Regeln nur widerwillig. Fachlehrer lassen es freigestellt, wie ihre Schüler außerhalb der Deutschstunde schreiben. Das Bundesministerium des Innern teilte dem Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e. V. im Schreiben vom 13. Oktober 1999 mit, daß „weder an Schulen noch in Verwaltungen... Sanktionen an die Anwendung der neuen und alten Rechtschreibung geknüpft“ sind. Damit solle die Bereitschaft gefördert werden, sich mit den neuen Regeln vertraut zu machen. Niemand kann rechtlich gezwungen werden, die neue Schreibung anzuwenden. Zum Zeitpunkt der Drucklegung existieren deutschlandweit ca. 50 Vereine und Initiativen gegen die Reform, und weitere sind in Gründung. Trotz der generellen Umstellung der Nachrichtenagenturen auf Neuschrieb am 1. August 1999 erscheinen viele Zeitungen und nahezu die gesamte Belletristik nach wie vor in der klassischen Schreibweise. Die Tatsache, daß selbst die Nachrichtenagenturen die Neuschreibung nur halbherzig umsetzen und ihr eigenes „abgeschwächtes“ Regelwerk kreiert haben, ist ein deutliches Indiz dafür, daß die neuen Regeln nicht brauchbar sind. Dem derzeitigen Schreibchaos setzt Prof. Theodor Ickler sein fast 500seitiges Nachschlagewerk Das Rechtschreibwörterbuch entgegen. Nur noch eines: Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Rechtschreibung vom 14. Juli 1998 ist dargestellt, daß der Neuschrieb an den Schulen nur dann zulässig sei, wenn mit Sicherheit zu erwarten ist, daß sie die allgemein übliche Rechtschreibung werden wird. Eine solche Erwartung ist spätestens seit August 2000 nicht mehr gegeben.

Faszinierend und rätselhaft an sehr alten Drucken ist die orthographische Varianz innerhalb eines Textes. Daß in Straßburg anders gedruckt wurde als in Breslau, ist ja nicht weiter verwunderlich. Aber die Praxis war eben auch an einem Ort, bei einer Offizin, bei einem Autor uneinheitlich, manchmal auf derselben Seite. Das kommt uns nun weniger seltsam vor als noch vor zehn Seite 27

Jahren. Inzwischen begegnen uns Texte, in denen dass neben muß steht. Ist die Norm erst einmal zerrüttet, wird schnell alles möglich, auch das zuvor geradezu Undenkbare. Woran man sieht, wie dünn das Eis ist, auf dem wir alle wandeln. Die Funktionstüchtigkeit gesellschaftlicher Systeme und Abläufe wird in erster Linie durch Selbstdisziplin der einzelnen garantiert: also dem ernsthaften sittlichen Bestreben, normgerecht zu handeln. Die Basis ist Freiwilligkeit. Auf Dauer kann das staatliche nicht erzwungen werden - in keinem Lebensbereich. Was allerdings „verordnet“ werden kann, ist Disziplinlosigkeit: Sie beginnt zu wuchern, wenn die Staatsmacht Eingriffe in natürliche Regulationsabläufe vornimmt durch Gesetze und Vorschriften, deren Stoßrichtung den inneren Lebensgesetzen zuwiderläuft. Vorschriften, die inkonsistent, unmoralisch, unverständlich oder schlicht unsinnig sind, lassen dem Menschen gar keine andere Wahl, als entweder „ungehorsam“ oder „undiszipliniert“ zu sein. Allein die chaotischen Folgen der sog. Rechtschreibreform zeigen, daß auf naive Weise gegen das natürliche Koordinatensystem der Sprache und damit gegen Kultur und Zivilisation verstoßen worden ist. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht.

Ja, die neue Getrenntschreibung ist ja so schön einfach! Statt wieviel müssen wir in der Schule wie viel schreiben; man schreibt nämlich immer getrennt! Doch bei genauerem Hinsehen (besonders in Mathematikbüchern) stößt man auf Wörter wie wievielmal, wievielprozentig. Solche Beispiele zeigen durchaus, wie oberflächlich die Rechtschreibreform gestrickt ist.

Die bewährte Rechtschreibung macht einen Unterschied zwischen Ding (Anfaßbarem: Haus, Baum, Hand, und Wenig- oder Nichtanfaßbarem: Luft, Freude, Hunger ...) einerseits und Nichtding (laufen, aber, während, zwei ...) andererseits. Dabei fand man es für die Lesegeschwindigkeit und Deutlichkeit eines Wortlautes besser, wenn Fürwörter (Nun habe ich hoffentlich es verstanden), Zahlwörter (Die beiden lernen fleißig ... Sie wurde elfte im Bundeswettbewerb ...) klein geschrieben werden (diese Regel verästelt sich dann wieder weiter: Am Satzanfang groß, Sie als Höflichkeitsanrede immer groß, Du, Deiner, Deins, Deine, Dein, Ihr, Euer, ... als Anrede im Briefen immer groß.) Auch die Verweise schreibt man klein, und das scheint mir günstig für die Deutlichkeit: Wir sprachen noch über dieses und jenes. Alles andere später. Dann geschah folgendes (dieses) ... aber: Das dann Folgende ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Eine einigermaßen brauchbare Regel also: Wenn Du folgendes durch dieses ersetzen kannst, dann schreibe klein. Ich schreibe mit ß; mit ss-Diktatur brauchen wir nicht gar so viel nachzudenken, denn da ist eh so ziemlich alles erlaubt. Seite 28

Großschreibung ist erwünscht für die Lesefreundlichkeit; denn schnelleres Lesen und Verstehen führt zum Erreichen von Lern- und Arbeitszielen und zum Erhalt von Arbeitsplätzen am teuren Hochtechnologiestandort Mitteleuropa. Großschreibung muß mit Grenzbereichen umgehen (z.B. Substantivierungen: der Abgeordnete), dafür gibt es Regeln und Überregeln; an der Grenzregelung bei folgendes läßt sich der Grenzbereich sehr schön erkennen. Der Neuschreib wirft die recht klar, verläßlich und lernbar geregelte Großschreibung über den Haufen und bietet statt dessen nichtlernbare EinzelfallBestimmungen, die sich nicht an die zum intuitiv richtigen Schreiben nötige Überregel halten.

Folglich werden wir uns an dem Versuch, auch noch den letzten Legastheniker in den Stand des Schriftgelehrten zu erheben, nicht beteiligen. Es darf doch nicht angehen, daß wir den heutigen Kindern und Lernwilligen ihre Fähigkeit zum Erlernen der deutschen Sprache absprechen, sie als lernfaul einstufen, für die Primitives gerade gut genug ist! Es ist unverantwortlich und moralisch nicht vertretbar, daß Millionen Erwachsene im öffentlichen Dienst genötigt werden, falsche und sinnentstellende Schreibgebilde zu fabrizieren. Offenbar versuchen hier einige Reformer, die Stilblüten ihrer eigenen Schreibschwäche und der unserer Erstkläßler in den Duden zwingen zu wollen. Anstatt daß sich die Reformer und die sich berufen fühlenden Politiker die so wichtige Frage stellen, warum denn immer mehr Kinder immer weniger in der Lage sind, richtig zu schreiben und zu formulieren, ja sich überhaupt sprachlich auszudrücken, suchen sie nach Wegen, die lästigen Fehler gewissermaßen zu legalisieren und den Anspruch dieser traurigen Realität anzupassen. Die „Reform“ beseitigt leserfreundliche Schreibungen und orientiert sich dabei an einem niedrigen Niveau. Man kann dieses Bestreben durchaus reaktionär nennen. Die Rechtschreibreform gehört auf eine gut geordnete Deponie, und dies so rasch wie möglich, damit nicht noch weiterer Schaden entsteht. Je mehr man sich mit der Reform auseinandersetzt, desto stärker wird das Erstaunen darüber, daß sich Vernunft einfach nicht durchzusetzen vermag, daß es dem unbedeutendsten Laien möglich ist, ein Reformwerk auseinanderzunehmen, welches Experten und Gelehrte in jahrelanger Arbeit zusammengebastelt haben.

Die Peinlichkeit, sich bewußt zu werden und eingestehen zu müssen, daß man sich für etwas Falsches, Dummes oder Schädliches engagiert (hat), ist Hauptantrieb zur aktiv betriebenen Realitätsverweigerung bis in die skurrilsten Höhen. Ein jeder Mitläufer hofft inbrünstig, der Kelch werde an ihm vorübergehen, es werde am Ende möglich, was in Wirklichkeit unmöglich ist. Seite 29

Nämlich, daß die Reformschreibe doch funktioniert. Irgendwie. Irgendwann. Und alles ward still. An anderer Stelle hat Theodor Ickler geschrieben, daß der Blödsinn von jenen mitgemacht wird, die aus Gründen der Selbsterhöhung und Angstabwehr „irgendwo dazugehören“ wollen. Dem ist vollends beizupflichten. Es mag wohl auch Verschwörungstendenzen geben, doch die wachsen erst dort, wo bereits ein Misthaufen aufgeschichtet wurde, von dem herunter die Verschwörer krähen können. Die Hauptursache für die Rechtschreibreform sind meiner Meinung nach in erster Linie Selbstüberschätzung, Allmachtsphantasien und Aktionismus der Reformer, deren Phantastereien politisch begünstigt, von „nützlichen Idioten“ aufgegriffen und verbreitet wurden, was bis heute der Fall ist. Skandalös dabei ist die Tatsache, daß sowohl unter den Verlegern, Journalisten und Pädagogen so willig mitgemacht wird. Weil „man dazugehören will“, faßt der Unsinn breiten Fuß. Dafür ist man sogar bereit, Rendite zu opfern siehe Verlage. Denn für die meisten Verlage ist diese Rechtschreibreform eine finanzielle Katastrophe. Und nicht nur das. Viele Verleger leiden im stillen darunter, ihre Bücher „verhunzen“ zu müssen. Aber man will ja dazugehören siehe oben. (Bei der Mode ist es doch nicht anders, oder? Freiwillig zwängen Modebewußte ihre Füße in Marterwerkzeuge, die Schuhen ähneln, stechen sich Metallstücke durch alle möglichen Körperöffnungen, tragen Hosen, die beim Gehen herunterrutschen und sich um die Füße wickeln und so weiter man will doch dazugehören, oder?) Die „Verschwörer“, falls es solche gibt, nutzen lediglich die Situation für ihre Ziele aus, sie haben das Spiel nicht angezettelt, gleichwohl freuen sie sich über die unerwartete Chance, die sich hier auftut. Als Trittbrettfahrer bringen sie ihre Ernte ein. Den Unsinn Reformschreibe werden wir schon wieder los. Aber erst dann, wenn der Karren an die Wand fährt. Und das wird er, zuverlässig. Karin Pfeiffer-Stolz

Keiner schreibt für sich allein. Wenn jemand was schreibt, dann sollen es andere lesen. Wenn jemand was Wichtiges schreibt, und das ist ja das Normale – sonst lohnt es nicht, dann sollen es viele lesen. Ausnahme von der Regel: das geheime Tagebuch, na klar. Einer schreibt – viele lesen, wieder so ein Herberger-Satz. Daraus folgt: jeder liest viel mehr als er schreibt. Vereinfachungen haben aus diesem völlig banalen Grunde dann den größten Effekt, wenn sie vorrangig den Lesern helfen. Schreiben heißt mitteilen – auch eine Banalität – und eine Mitteilung soll korrekt und vollständig ankommen. Es spricht, kurz gesagt, alles dafür und nichts dagegen, gute Schreibung als guten Dienst am Leser festzumachen. Darauf kommen wir noch zurück. Daraus machen wir ein Gesetz! Seite 30

Die Schrift ist zwar nicht alles… Wer etwas lesen will, kommt nicht damit aus, die Buchstaben zu kennen. Es genügt ferner auch noch nicht, nur die Wörter entziffern zu können. Der Sinn ist es, der rüberkommen soll, vom Autor zum Leser. Buchstaben und Wörter auf dem Papier sind Zeichenfolgen, sind abstrakte Symbole, mehr nicht! Austauschbare Symbole, und ein Austausch, eine andere Schreibweise, ändert kein Jota an der bezeichneten Sache. Also was soll’s, machen wir’s doch einfach, die Runderneuerung mit neuen Normbauteilen. Aber austauschen bedeutet umgewöhnen, und das spart man sich doch gerne! Es kostet den Menschen auch so schon Jahre seines Lebens, das verstehende Lesen zu lernen, auch wenn die ganze Zeit nichts reformiert wird. Gut, es sind die jungen Jahre, wo der Mensch eh genug Zeit hat. Im Ergebnis des Reformierens werden Leser heute konfrontiert mit mehr Schreibweisen als zuvor. Es reicht nicht, die „richtigen“ zu lernen, zusätzlich müssen die veralteten gelernt und als solche erkannt werden, um ihnen den Zutritt zum operativen Gedächtnis verwehren zu können. Das verstehende Lesen – so weiß man spätestens seit Pisa – darauf kommt’s an! Was der Autor auf’s Papier gekritzelt hat, ist ja eben immer nur eine höchst abstrakte Verschlüsselung seiner Gedanken, es sind nicht die Gedanken selbst. Würde er alles dem Leser persönlich vortragen, hätte der es sehr viel leichter. Für den Autor reicht es deshalb nicht, einfach nur ganz normal schreiben zu können, also die betreffenden Schuljahre nicht verfaulenzt zu haben. Sondern die Voraussetzung für verstehendes Lesen ist Wenn ein Text dem Auge gefällt, dann wird das wohl auch irgendwie etwas mit seiner Qualität zu tun haben. Der Rhythmus, die Betonungen, der Klang, die Lautstrukturen, die Satzmelodie – solche Eigenschaften der gesprochenen Sprache schlagen sich mindestens zu einem Teil auch im optischen Erscheinungsbild des Textes nieder. Eine Beziehung zwischen Optik und Akustik dürfte jedenfalls dann leichter hervortreten, wenn die Schreibung eng an der Lautung orientiert ist. Im Englischen hat die Schreibung z.B. nur ganz wenig mit der Aussprache zu tun. Englische Texte sind infolgedessen ein ziemlich glatter Wörtersee oder ein Wimbledon-Rasen, der dem Auge wenig bietet. Ganz anders die westslawischen und baltischen Sprachen. Da sehen gut geschriebene Texte mit gepflegtem Vokabular, die ein kundiger Sprecher wirkungsvoll vorlesen könnte, für das geübte Auge auch wirklich gut und interessant aus. Für das Deutsche trifft dies ebenfalls einigermaßen zu, und zwar trägt die Großschreibung der Hauptwörter dazu ihren besonderen Teil bei, der anderen Sprachen abgeht. In vielen Sprachen stören die Großbuchstaben beinahe, so selten treten sie auf. Ein Schreibstil, der kurze Sätze bevorzugt (Hemingway) wirkt dadurch aber im Englischen optisch auffälliger als im Deutschen. Das Auge gleitet ja nicht schlittschuhgleich über einen Text, es springt. Großbuchstaben bieten hilfreiche Haltepunkte, weil sie meistens Sinnstellen markieren. Gegen die minimalistische Ästhetik des englischen Rasens setzt deutscher Text, könnte man auch sagen, diejenige der Blumenwiese, wo aus dem bodendeckenden Minuskelgras überall reizvolle Majuskel-Gewächse sich emporrekSeite 31

ken und Umlaut-Blütenglöckchen läuten. Hätte das Englische eine wirklich phonetische Schreibung, die Sache könnte erfrischend anders aussehen: man hat da bekanntlich nicht fünf oder acht, sondern zwanzig vokalische Laute, eine Üppigkeit also, die die von der heutigen Schrift verleugnet wird. Britisches Understatement in Vollendung, oder wie soll man das nennen? Es war aber nicht immer so. Bis ins 18. Jh. schrieb man auch im Englischen die Hauptwörter groß. Keine Zwischenstaatliche Kommission schaffte dies ab, sondern die Druckereien, die auf dem Arbeitsmarkt zu wenige gute Setzer fanden und deshalb kurzerhand die Anforderungen (und vermutlich in der Folge die Bezahlung) senkten, ohne Rücksicht auf Verluste. Benjamin Franklin, selber gelernter Drucker, war erbost, als er die Korrekturfahne der neuen Verfassung in Kleinschrift vor sich sah. In der Nacht vor Druckbeginn stieg er in die Drukkerei ein und stellte, nein setzte, die Sache richtig. Bleibt noch das ck. Hier liegt keine Willkür oder Verschrobenheit vor. Das ck ist eine Verdopplung, nicht anders als ll, mm, nn, ss, tt usw. Nur wegen des etwas eleganteren Aussehens wird ck geschrieben. In anderen Sprachen, z.B. Italienisch, Finnisch oder Polnisch, wird deutlich auf eine getrennte Aussprache von Konsonantenpärchen geachtet. Bei sorgfältiger Intonation mit Betonung jedes Vokals bemerkt man auch im Deutschen das Vorhandensein einer Fuge zwischen den beiden Elementen, d.h. die Silbengrenze liegt immer dazwischen. Für das ck wurde deswegen irgendwann entschieden, es sei günstiger, bei Trennung das c durch k zu ersetzen, weil dann am Zeilenende sein wahrer Charakter besser erkennbar wird, auch wenn man den Anfang der nächsten Zeile noch nicht sieht. Wenn, andererseits, aber Zu-cker akzeptabel sein soll, wären aus genau demselben Grund Ha-mmer zulässig und Wo-lle. Wenn man es denn durchaus trennen will, dann gibt es für das ck wohl keine beste Lösung, jede hat ihre Nachteile. Zum Sonderfall des abgetrennten einzelnen Buchstaben ist zu sagen: wer am Zeilenende E- liest, kommt ins Straucheln. Es könnte –sel kommen, aber auch –ber oder manches andere. Überhaupt können die meisten Menschen nicht anders, sie müssen beim Lesen innerlich mitsprechen. (Im Altertum wurde grundsätzlich laut gelesen, auch wenn man allein war.) Da stört die Teilung eines Wortes immer ein wenig, aber wenn’s denn nicht anders geht, dann bitteschön in gut sprechbarer Weise.

Recht schreiben Von Wolfgang Steinbrecht Ein wesentlicher Grund für die Einführung der neuen Rechtschreibung, der von den Reformern und den ihnen willfährigen Kultusministern groß herausgestellt wurde, war, daß das Schreiben von nun an sehr viel leichter werden würde. In Testdiktaten wurde nachgewiesen, daß sich die Fehlerzahl rapide vermindere. Davon ist längst nicht mehr die Rede. Die Schüler machen die gleiche Menge Fehler wie eh und je. Die Vorsitzende des Bundeselternrats, Seite 32

Renate Hendricks, führt das auf eine größere Bedeutung von Rechtschreibung in der Schule zurück. Derartiger Unfug wird nicht nur so dahergeredet, sondern auch noch von dpa verbreitet. Rechtschreibung ist nicht für den Schreibenden entstanden, sondern für den Leser. Man schreibt, um dem Leser einen Inhalt mitzuteilen. Schreiben und Lesen stehen einander nicht symmetrisch gegenüber. Jeder von uns liest sehr viel mehr als er schreibt. Manche Menschen schreiben nach Abschluß ihrer Schulzeit so gut wie nicht mehr. Die moderne elektronische Datenübermittlung und das Telefon haben diesen Trend verstärkt. Bei dem auf einen Leser bezogenen Schreiben ist Lesefreundlichkeit gefordert. Es ist zum Beispiel nützlich, Wörter durch einen Abstand von anderen Wörtern kenntlich zu machen und sie immer auf die gleiche Weise zu schreiben. Es ist auch nützlich, Sinneinheiten durch eine Interpunktion zu segmentieren und dadurch für das Auge deutlicher hervortreten zu lassen. Nicht alles, was man hören kann, kann man auch schreiben. Diesen Mangel machen wir in der Schrift wenigstens teilweise wett, indem wir manches schreiben, was man nicht hören kann, zum Beispiel Großbuchstaben oder den funktionalen Unterschied zwischen „das“ und „daß“ (beziehungsweise „dass“). Die bis 1996 gültig gewesene Rechtschreibung war kein „Beamtenstreich von 1901“, wie es der Journalist Dieter E. Zimmer formuliert hat. Sie hat sich, analog zur Entwicklung der gesprochenen Sprache, im Laufe der Jahrhunderte durch die Schreibpraxis selbst entwickelt. In jeder historisch begründeten Rechtschreibung gibt es Ungereimtheiten. Aber im ganzen muß man über die von der „unsichtbaren Hand“ intuitiv gefundenen Tricks und Feinheiten staunen. Bei jedem Eingriff in ein solches Gebilde ist Vorsicht angesagt, damit nicht an einer unvermuteten Stelle mehr zu Bruch geht, als anderswo gewonnen wird. Ein auffälliges Merkmal der neuen Rechtschreibung ist die vermehrte Großschreibung - im Allgemeinen, des Weiteren, im Dunkeln tappen und so weiter , nachdem die Reformer zuvor eine lange Zeit auf die totale Kleinschreibung gesetzt hatten. Groß werden im Deutschen Substantive geschrieben. Substantive – wirkliche Substantive – sind „Gegenstände“, über die im Satz etwas ausgesagt wird. Man kann andere Wortarten durch sprachliche Operationen substantivieren und dadurch zum „Gegenstand“ der Rede machen (zum Beispiel: „Das Wandern ist des Müllers Lust“). Der Schreibende hat dabei nicht die formale grammatische Absicht, Substantive groß zu schreiben, sondern er hebt durch die Großschreibung für das Auge hervor, wovon er gerade spricht. Eine Reihe von Wendungen hat im Deutschen formale Merkmale von Substantiven, ohne indessen „Gegenstand“ der Rede zu sein: des öfteren, im übrigen und so weiter. Überwiegend ist das formale Merkmal der bestimmte Artikel. Es können aber auch ehemalige echte Substantive sein, deren ursprüngliche Bedeutung verblaßt ist, zum Beispiel: von seiten. Im Laufe der Entwicklung der modernen Rechtschreibung ist man mehr und mehr dazu übergegangen, diesen Typ von Scheinsubstantiven klein zu schreiben, was für die Textrezeption außerordentlich hilfreich war. Die Rechtschreibreform hat die Seite 33

Entwicklung wieder umgekehrt. Jetzt gilt in solchen Fällen die totale Großschreibung. Oder doch nicht ganz? Es soll geschrieben werden: Jung und Alt, von nah und fern, von nahem, Arm und Reich, durch dick und dünn, jenseits von gut und böse. Die reformierten Groß- und Kleinschreibungen sind manchmal überraschend. Richtig interessant wird es aber erst bei der Getrennt- und Zusammenschreibung. Aus bildungspolitischen Veröffentlichungen, die Verbandszeitschriften des Deutschen Philologenverbands und des Philologenverbands Niedersachsen inbegriffen, habe ich mir in einem Zeitraum von etwa sechs Wochen die folgenden authentischen Schreibweisen notiert: Input bestimmt, out-put orientiert, Prozess fokussiert, Schulform bezogene Lehrpläne, weiter führende Schulformen, da dies in der Sache nicht weiter führe, eine wohl begründete Tradition, schwer wiegende Veränderungen, allgemein bildend, extrem sozial abhängig, von vorn herein, selbst tätig, verständlicher Weise, es ist sicher zu stellen, zurück lassen, hervor bringen. Von diesen 16 Beispielen hätten nach der neuen Rechtschreibung acht zusammengeschrieben werden müssen. Weitere Fälle sind mindestens fraglich. „Schulformbezogen“ ist in den neuen Nachschlagewerken nicht notiert, aber auch das Wort „Schulform“ kommt weder im alten noch im neuen Duden vor. Es ist ein Fall, der sinngemäß entschieden werden muß. Da es zum Beispiel das Wort „leistungsbezogen“ gibt, sollte ein gebildeter Mensch die Unbefangenheit haben, auch von „schulformbezogenen Lehrplänen“ zu sprechen. Zusammengeschriebenes kam bei der gleichen Recherche in folgenden Verbindungen vor: flächendeckend, weitgehend, fachspezifisch, hierzulande, weiterführende Schulen, sogenannt, allgemeinbildend, abendfüllend, sozialschwache Familien, über die Öffnungsklauseln hinausgehend. Von diesen zehn Beispielen sind vier falsch oder jedenfalls nicht als mögliches Wort verzeichnet. Anders als mancher vermuten könnte, gehört „hierzulande“ nicht dazu. Es ist – nach Duden – neben „hier zu Lande“ eine zulässige Variante geblieben. Auf den ersten Blick fällt auf, daß sich die Beispiele zum Teil überschneiden. Zusammensetzungen werden mal so, mal so geschrieben. Das zeugt von einer latenten Unsicherheit gerade in diesem Bereich. Einerseits geht die Trennung von dem, was als ein Wort empfunden wird, dem Schreibenden gegen den Strich, so daß er unwillkürlich aus der sonst beachteten neuen Rechtschreibung ausbricht. Andererseits waltet Überanpassung. Es wird im vorauseilenden Gehorsam auch dort getrennt, wo es nicht sein sollte. Da schreibt jemand, daß „gegen das Schule schwänzen“ anzugehen sei. Im Eifer des Trennens wurde übersehen, daß „schwänzen“ nunmehr der Hauptsinnträger geworden ist und als substantiviertes Verb nach der alten und neuen Schreibung groß zu schreiben wäre. Die orthographische Wirklichkeit ist voll von solchen Gebilden. Das Nonplusultra ist der authentische Satz: „Diese Auffassung kann nicht auf Recht erhalten werden.“ Man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die Schreiber Gymnasiallehrer, Professoren, Bildungsjournalisten und Angehörige der Kultusbürokratie waren, Leute also, die man üblicherweise als gebildet bezeichnet. Wenn man zu diesem Problem Wörterbücher konsultiert, kommt man zusätzSeite 34

lich ins Schleudern. Der Duden etwa unterscheidet zwischen hochberühmt, hochintelligent, hochverehrt, hochwirksam und hoch achten, hoch geehrt, hoch stehend, hoch qualifiziert – als kleine Auswahl unter diesem Stichwort. Greift man gar zu mehreren Wörterbüchern, vergrößert sich die Vielfalt. Duden: allein selig machend, hoch begabt, wohl bekannt, wohltuend; Bertelsmann: allein seligmachend, hochbegabt, wohlbekannt, wohl tuend. Diese Beispiele stammen aus einer relativ frühen Phase der Rechtschreibreform. Zu dem Wirrwarr kommen noch die seither unauffällig – keine Reform der Reform! – vorgenommenen Korrekturen. Es gibt Vielfalt auch durch den Verlauf der Zeit. Wer auf dem jeweils letzten Stand sein will, kann ein Vermögen für Wörterbücher und die periodische Erneuerung des Rechtschreibprogramms für seinen PC ausgeben. Wenden wir uns nun der Welt der Druckerzeugnisse auf breiter Front zu. Hier hat sich die neue Rechtschreibung nicht dominant durchgesetzt. Es ist nicht zu erwarten, daß sich das ab 2005 ändern wird. Je nach Lesegewohnheiten kann man an Literatur geraten, die einen so gut wie total in die alte Rechtschreibung einbettet. Mindestens kann man sagen, daß die Deutschen auf eine unabsehbare Dauer ständig zwei Rechtschreibsysteme vor Augen haben werden, was die Sicherheit im Gebrauch nur eines Systems nicht gerade fördert. Bei der Lektüre der nach den neuen Regeln verfaßten Druckerzeugnisse stößt man keineswegs auf eine einheitliche Norm. Die neue ss/ß- Regelung haben sie alle. Sie ist gewissermaßen das Basismerkmal, wenn auch nicht immer fehlerlos. Überkompensationen vom Typ „heissen“, „aussen“, „Strasse“ sind durchaus verbreitet. Ansonsten ist Kreativität angesagt. Manche halten die neue Rechtschreibung geradezu beflissen ein, andere haben sich auf gemäßigte Varianten verschiedener Abstufungen geeinigt. Die neuen Regeln, die mehr fakultative Varianten zulassen als die alten, leisten dem Vorschub. Es ist möglich, im Rahmen der neuen Schreibung einem Druckerzeugnis ein gezielt reformiertes oder gemäßigt konservatives Flair zu verleihen. Das fällt besonders bei der Interpunktion auf. Die neuen Regeln sehen hier zwar prinzipiell eine Verminderung der Kommasetzung vor. Die alten Regeln sind aber nicht expressis verbis verboten. Sie sind nun ins Ermessen gestellt worden. Entsprechend ist in seriösen Zeitschriften zu beobachten, daß die neue Rechtschreibung konsequent mit der traditionellen Zeichensetzung verbunden wird – mit wohltuenden Folgen für die Lesbarkeit. Wie ist die Rechtschreibreform bei der Bevölkerung im ganzen angekommen? Dazu gibt es eine polis-Umfrage vom Juli 2003. 46 Prozent der Bürger halten die Reform für „alles in allem unverständlich“. 15 Prozent antworteten auf die Frage, ob die neue Rechtschreibung verständlich sei, mit „trifft voll und ganz zu“. 33 Prozent sagten: „trifft eher zu“. Eine höhere Verständlichkeit wird bei den 14- bis 34jährigen (55 Prozent), eine geringere bei den über 55jährigen (42 Prozent) angegeben. Der Eindruck der Verständlichkeit wächst mit der Höhe der Bildung: 42 Prozent bei Befragten mit Hauptschulabschluß, 48 Prozent bei Bürgern mit mittlerem Bildungsabschluß und 51 bei Abiturienten und Hochschulabsolventen. Seite 35

Es wurde auch nach der persönlichen Nutzung der neuen Rechtschreibung gefragt. Konsequent angewandt wird sie nur von einer Minderheit, von 22 Prozent der Deutschen. 24 Prozent bekannten sich „eher“ dazu, sie anzuwenden. 25 Prozent wenden sie „eher nicht“ an, 29 Prozent konsequent gar nicht. Auch hier steigt die Nutzung mit der Höhe der Bildung – von 30 Prozent bei Hauptschulabsolventen bis 51 Prozent bei Abiturienten und Hochschulabsolventen. Bei den Befragungswerten fällt auf, daß sich etwa die Hälfte der Bevölkerung in einer Grauzone einordnet, wenn sie die neue Rechtschreibung „eher“ oder „eher nicht“ benutzt. Was immer das im einzelnen bedeuten mag – es ist offensichtlich, daß die neue Schreibung wie ein dünner Firnis über der alten liegt und sich ganz eigentlich nicht durchgesetzt hat. Das mag aus der Lehrersicht ein wenig verwundern. Lehrer spielen eine Sonderrolle. Sie sind nicht nur von Amts wegen gehalten, die neue Rechtschreibung zu benutzen – das sind eine Reihe anderer Berufe auch –, sondern sie auch zu vermitteln und einzufordern. Das zwingt zu einer Umstellung, die bis ins Privatleben reicht. Es ist unökonomisch, für ein und dieselbe Sache zwei konkurrierende Regelsysteme auf Dauer aktiv zu halten. Es ist auch nicht ohne Einfluß, daß auf der Lehrerschaft generell ein großer Innovationsdruck liegt. Wer die neue Rechtschreibung benutzt, signalisiert, daß er nicht in einer konservativen Ecke verharren will. Aber auch dieses kann Firnis sein. Die eigentliche Akzeptanzfrage ist davon unberührt. Umfragen räumen ein, daß unter den Lehrern der weiterführenden Schulen die Resonanz auf die Rechtschreibreform „zurückhaltend“ gewesen sei. Ein einheitliches Meinungsbild zur Reform wird es in der Lehrerschaft kaum geben, weil die verschiedenen Fakultäten, die wir vertreten, zu einer unterschiedlichen Sensibilisierung gegenüber dem Phänomen Sprache führen. Die einen sind voll des bitteren Spotts über die Ungereimtheiten der Reform. Sie mokieren sich über Pseudoetymologien wie Quäntchen, Tollpatsch oder belämmert, das Hobby eines einzelnen Reformers, der diesen Unfug einer Sprachgemeinschaft von neunzig Millionen Menschen aufgedrückt hat, und sie fragen sich bei der Schreibung „Gämse“ (zu „Gams“), warum es die Henne nicht erwischt hat, die ja vom Hahn abgeleitet ist. Für andere sind Regeln Regeln, und sie begnügen sich damit, sie halt anzuwenden. Dennoch taucht die Frage auf, wie sich die Lehrerschaft langfristig auf die neue Rechtschreibung einstellen soll. Von Bedeutung sind dabei die prinzipiellen Regelungen wie die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung. Es ist deutlich geworden, daß es hier Ermessensspielräume gibt. Es ist unmöglich, derartiges über Einzelwortregelungen zu dekretieren. Im prinzipiellen Bereich gibt es immer unvorhergesehene Fälle, wo sinngemäß und nach Sprachgefühl entschieden werden muß. Die Zeiten der Verunsicherung werden vergehen. In der deutschen Sprachgemeinschaft mit ihren Millionen von kompetenten Schreibern wird sich das Bedürfnis verstärken, wieder zusammenzuschreiben, wenn man das Gefühl hat, man schreibe ein Wort, und klein zu schreiben, wenn man das Gefühl hat, man schreibe ein Wort, das kein Substantiv ist. Es ist kein Verstoß gegen die Weisungsbindung Seite 36

der Beamten, hier den Ermessensspielraum weit auszulegen. Als Gymnasiallehrer sind wir gehalten, unseren Lernstoff – und Rechtschreibung ist ein solcher – glaubwürdig zu begründen, und als Beamte sind wir verpflichtet, Schaden von der Gemeinschaft fernzuhalten. Gemeinschaft bedeutet auch Sprachgemeinschaft.

ANMERKUNGEN: Wolfgang Steinbrecht war Mitbegründer und jahrelanger 1. Vorsitzender des Fachverbandes der Russischlehrer. Bis 1978 förderte er als Landesfachberater die Entwicklung des Russischen in Niedersachsen entscheidend. Als Russischlehrer an der Goetheschule Hannover und Fachleiter für Russisch am Studienseminar Hannover II ging er 1992 in den Ruhestand. Er ist Autor des Lehrwerks „Russisch heute“, Mitherausgeber einer Oberstufen-Lektürereihe und Verfasser zahlreicher Schriften zur Methodik des Russischunterrichts, darunter des auch heute noch höchst aktuellen Bands „Kleines 1 x 1 des Russischunterrichts“. Steinbrecht verwendet abweichend von der Redaktion die traditionelle Orthographie. Es ist bezeichnend, daß erst ein pensionierter Kollege die Wahrheit sagt.

“Direkt generiert“ - Die Politik der Schulbuchverleger Von Theodor Ickler Die Einführung des Büchergeldes in Bayern ist ein Etappensieg des Verbandes der Schulbuchverlage (VdS Bildungsmedien). Dieser strebt seit vielen Jahren die Abschaffung der Lernmittelfreiheit an. Das Büchergeld - eigentlich eine überteuerte Leihgebühr - ist für den Staat ein gutes Geschäft, denn es ist doppelt so hoch wie die bisherigen Ausgaben der Kultusministerien für Schulbücher. Der VdS-Vorsitzende sagte denn auch auf der Hauptversammlung 2004 unverblümt: „Die Eltern erhalten wiederum nur alte Bücher, und das auch noch gegen relativ teures Geld.“ Erst wenn die Eltern jedes Jahr neue Bücher aus eigener Tasche bezahlen müssen, ist das Verbandsziel erreicht. Wie der VdS die öffentliche Diskussion steuert, beschreibt er so: „Bei den in der Öffentlichkeit verwendeten Zahlen zu den Schulbuchausgaben und der Ausstattungsmisere haben wir mittlerweile eine Monopolstellung erreicht. Selbst die Ministerien stützen sich bei ihren Aussagen auf unser Zahlenwerk. Damit haben wir die Berichterstattung über das Thema Lernmittelfreiheit stark beeinflußt: Journalisten haben zumindest erkannt, daß Elternkauf in vielen Bundesländern selbstverständlich ist. Es gibt auch direkte Belege dafür, daß unsere Arbeit einen Meinungswandel bei Medien erzeugen konnte: So hat die Frankfurter Rundschau kürzlich unter weidlicher Ausschlachtung unserer Hintergrundmaterialien auf einer ganzen Themenseite eine ,sozialdemokratische’ Position zur Lernmittelfreiheit entwickelt, die unserer Forderung nach einer einkommensabhängigen Regelung sehr nahe kommt.“ Und: „Direkt generiert haben wir eine breite Berichterstattung zu den rückläufigen öffentlichen Schulbuchausgaben.“

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Der Verband kämpft mit allen Mitteln für die Durchsetzung der Rechtschreibreform. Als die F.A.Z. mit ihrer Rückkehr zur bewährten Orthographie das ganze Unternehmen in Gefahr brachte, intervenierte er aufs energischste und konnte berichten: „Wir haben also nicht allein auf die Kultusminister, sondern auch auf alle Ministerpräsidenten der Länder massiv eingewirkt und diese in die Öffentlichkeit gezwungen mit klaren und unmißverständlichen Erklärungen zu einer Reformumsetzung. Parallel dazu haben wir unsere alte Verbändeallianz erneut mobilisiert, nämlich Lehrer- und Elternorganisationen, die sich auch prompt auf unsere Seite stellten, die durch die F.A.Z. ausgelöste Diskussion als unnütz deklarierten, für eine Beibehaltung der Reform votierten und uns somit eine sehr wichtige politische wie mediale Schützenhilfe gaben“. Der Vorsitzende fügte hellsichtig hinzu: „Ich möchte nicht wissen, wie die Öffentlichkeit und unsere geneigten Kultusminister reagiert hätten, hätte sich die F.A.Z. vorab mit Spiegel, Focus und der Süddeutschen und vielleicht noch den Agenturen auf eine gemeinsame Attacke verabredet.“ Am 19. Februar 2004 mahnte der VdS alle Kultusminister und am 16. Juli 2004 die Ministerpräsidenten, den Kritikern der Rechtschreibreform kein Gehör zu schenken und die Debatte zu beenden. Als treueste Verbündete lobt der VdS die hessische Schulministerin Wolff, die er als „Meinungsführerin“ in Sachen Rechtschreibreform betrachtet. Sie war es auch, die zusammen mit ihrer Kollegin Schavan den „Rat für Rechtschreibung“ ins Leben rief, um die Reform gegen den Widerstand der Bevölkerung doch noch durchzusetzen. Als dessen Verhandlungen aus dem Ruder zu laufen drohten, wurde der VdS aufs neue aktiv und versucht seither, den Rat von weitergehenden Korrekturen der Reform abzuhalten. Aus der Amtschefskommission der Kultusministerien war zu erfahren, daß beim jüngsten Plan, Teile der Reform am Rat vorbei einzuführen, wiederum die Rücksicht auf die Schulbuchverlage eine Rolle spielte. Den wohlbegründeten Alleingang von Bayern und Nordrhein-Westfalen kritisierte der Verband mit der absurden Behauptung, kostenträchtige Vorbereitungen zur Umsetzung der ersten (von der Politik noch gar nicht gebilligten!) Ratsbeschlüsse seien bereits im Gange. Der verständliche Wunsch der Schulbuchverleger nach „Planungs- und Investitionssicherheit“ mutiert im Mund der willfährigen Politiker und ihres journalistischen Gefolges zur Tugend schülerfreundlicher „Verläßlichkeit“. Die Sprachrichtigkeit bleibt auf der Strecke. Der VdS gibt selbst zu: „Die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Reform weiterhin ab.“ Doch die Interessen der Allgemeinheit haben keine Chance gegen den Durchsetzungswillen einer gut organisierten Lobby. Der Verfasser ist Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg und vertritt das PEN-Zentrum Deutschland im Rat für deutsche Rechtschreibung. F.A.Z.

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Das Ausbreiten von gleichgültigen und marginalen Beispielen wie Urin-stinkt dient nur der Ablenkung von der Untätigkeit auf viel wichtigeren Gebieten. Man kann auch sagen: Das Heranziehen von wenigen altbekannten Beispielen wie Urin-stinkt, die überhaupt nichts mit der Reform oder einer Revision der Reform zu tun haben, dient nur der Ablenkung von der Tatsache, daß man auf dem ganzen Gebiet der Reform nicht mehr durchblickt. Man interessiert sich nicht für die Reform, man hat Wichtigeres zu tun, sei mal Kultusminister oder Mitglied im Rat für Rechtschreibung oder Lehrer oder Journalist. Man beschäftigt sich so wenig wie möglich mit der Reform und blickt dann natürlich auch nicht mehr durch. Ich beziehe mich also nicht nur auf Hans Zehetmair, der das Beispiel auf der Pressekonferenz zum „Besten“ gab und der nach weiteren Beispielen für die neuen Erkenntnisse des Rates zur Silbentrennung suchte, wobei ihm einfach nichts einfallen wollte. Ich meine damit in erster Linie die Zeitungen. Am einfachsten ist es, eine schöne Propaganda durchzuhalten: „Wir sind es den Kindern schuldig, daß wir an der Reform so weit wie möglich festhalten“ oder so ähnlich. Oder, scheinbar bürgernah: „Wir können doch die Leser nicht mit Details oder Regeländerungen der Rechtschreibreform belästigen.“ Ein grober Irrtum. Was dabei herauskommt, ist genau, daß die Kinder und alle anderen permanent mit der Rechtschreibreform belästigt werden, gegen ihren Willen und ohne daß das etwas anderes bringen würde als Mühe und Verdruß. Die Zeitungen unterscheiden sich in ihrer Verantwortungslosigkeit überhaupt nicht von den Politikern, die sie so ausdauernd kritisieren. Wolfgang Wrase

Das Selbstverständliche und unsere Blindheit Was uns selbstverständlich erscheint, halten wir für unzerstörbar. Darin liegt eine große Gefahr. Ohne zu wissen, was wir tun, können wir das Selbstverständliche nachlässig behandeln oder gar für überflüssig halten. „Reformen“ sind in allen Lebensbereichen möglich, und meist sind sie nichts anderes als Experimente mit ungewissem Ausgang. Daß der Mensch nur als experimentierendes Wesen Fortschritte erzielen kann, ist klar. Daß er dabei etwas riskieren muß, unumgänglich. Daß es deshalb immer wieder experimentierende Menschen gibt, die aus Unkenntnis der tieferen Zusammenhänge Fundamente beschädigen, zeigt die Geschichte. Die sogenannte Rechtschreibreform ist dafür geradezu ein Prototyp. Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken – weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf.“ Dieser Gedankengang erhellt die Vorgänge um die Rechtschreibreform. Letztere ist vor allem das Ergebnis fehlender Einsicht. Das aber ist nicht alles. Denn Seite 39

fehlende Einsicht allein muß noch nicht zu zerstörerischem Handeln führen. Wäre das so, es gäbe das Menschengeschlecht nicht mehr. Im allgemeinen beseelt den Menschen eine intuitive Ehrfurcht vor grundlegenden Dingen. Er schreckt davor zurück, an den nicht durchschauten Fundamenten der Lebenserscheinungen zu rühren – mit gutem Grund, siehe Wittgenstein. Er ist sich also seiner Unwissenheit bewußt. Nur wo Hybris mit Anmaßung und eisernem Machtwillen (und der Möglichkeit, Macht auszuüben) gepaart ist, kann sich menschlicher Unverstand am Fundamentalen vergreifen. Sie wissen wirklich nicht, was sie tun. Und deshalb tun sie es guten Gewissens. Wie wir heute erkennen müssen, fehlen ihnen sowohl das nötige Fachwissen wie auch – nach den Maßstäben der Ethik – grundlegend positive soziale Eigenschaften. Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, den Widerstand gegen die Beschädigung und Zerstörung unserer Schriftkultur mit aller Kraft aufrechtzuerhalten. Karin Pfeiffer-Stolz

Buchverlage - ausgenommen die Bertelsmann-Mischpoke - scheinen zu verstehen, daß sie Produkte anbieten, die andere kaufen sollen. Und Kunden kaufen nur, wenn sie dafür etwas erhalten - in diesem Falle Lesevergnügen. Verleger und Redakteure wiederum hätten sich „dieser deutschen Hanswurstiade“ in vorauseilendem Gehorsam gebeugt. Die „Idiotie dieser verordneten Reform“ stehe seit langem fest, schreibt Enzensberger weiter. „Politisch bemerkenswert ist jedoch die Unbelehrbarkeit der ministerialen Ignoranten und die Feigheit derer, die ihnen auf die servilste Art und Weise gehorchen.“

Rechtschreibrat regelt Groß- und Kleinschreibung neu Anredepronomina werden groß geschrieben Zehetmair: Moderate Änderungen oll. MANNHEIM, 3. Februar er Rat für deutsche Rechtschreibung hat bei seiner letzten und achten Sitzung am Freitag mit einer Gegenstimme eines Didaktikers über Änderungen bei der Groß- und Kleinschreibung entschieden. Es ist jetzt also wieder nötig, „angst und bange machen“ sowie „bankrott gehen und pleite gehen“, aber auch „es nimmt mich wunder“ oder „not sein“ klein zu schreiben. Nach der Reform hätte „Bankrott gehen“ geschrieben werden müssen, nun wird wieder zwischen substantivischem und adjektivischem Gebrauch unterschieden. Wegen des gleitenden Sprachgebrauchs können „Unrecht haben/ Recht haben“ sowohl groß als auch klein geschrieben werden (recht haben und unrecht haben). Dies entspricht der bisherigen Entscheidungslinie des Rates, eher Varianten zuzulassen als ganz zu ändern.

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Die Anredepronomina „Du“/„Dein“ werden jetzt wieder groß geschrieben. Ohne moderate Schritte bei den Änderungen seien keine Zweidrittelmehrheiten mögSeite 40

lich, sagte der Vorsitzende des Rates, der frühere bayerische Wissenschaftsminister Zehetmair (CSU). Er selbst hätte das eine oder andere noch stärker geändert. Er sei aber zufrieden, bei der heterogenen Zusammensetzung des Rates überhaupt zu diesen Änderungen gelangt zu sein. Nun könne der Rat langsamer arbeiten, werde aber mit Sicherheit noch weitere Änderungen vornehmen. Die nächste Sitzung wird im September in Wien stattfinden. Geplant ist dort eine erste Rückschau auf die Sprachentwicklung. Es ist damit zu rechnen, daß die Kultusminister in ihrer Sitzung Anfang März die überarbeitete Reform zum Schuljahr 2006/2007 in Kraft setzen. Bis dahin will der Rat auch eine Wörterliste vorlegen, die dann als Maßstab für Lehrer und Behörden gilt. Nicht korrigiert wurden im Vorschlag der Arbeitsgruppe zur Groß- und Kleinschreibung Wendungen wie „heute Abend“, „Diät leben“, „im Allgemeinen“, „bei Weitem“, „alles Übrige“, „Letzterer“, „Verschiedenes“, „Ultima Ratio“, ausgespart wurden auch einige Zahlwörter und Pronomina. Darüber war zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Einigung zu erzielen. Der „Schwarze Kontinent“ wurde bisher überwiegend klein geschrieben, soll aber trotzdem nur noch groß geschrieben zulässig sein. Schon 1995 hatte es im bayerischen Kultusministerium einen Eklat gegeben, weil der Heilige Vater und die Letzte Ölung klein geschrieben werden sollten. In Bayern wurde beides fortan wieder groß geschrieben, weshalb bayerische Schüler im Unterschied zu den übrigen auch wieder „Erste Hilfe“ schreiben durften, ohne einen Fehler zu machen; in anderen Bundesländern wurden entsprechende Schreibweisen als veraltet angestrichen. Jetzt werden das „Hohe Haus“, das „Schwarze Brett“, „Erste Hilfe“ wieder groß geschrieben. Auch hier habe sich der Rat nach dem Sprachgebrauch gerichtet, erläuterte Zehetmair. Einige Wendungen mit eingegliedertem Objekt sind nach der jetzigen Regelung der Zusammenschreibung zugeschlagen, andere nicht. So soll es künftig „kopfstehen“ heißen, aber „Maß halten“, bisher war „maßhalten“ üblich. Die Entscheidungen seien willkürlich und nie vorhersehbar, sagt einer der Kritiker im Rat. Endgültig kann erst ein neues Wörterverzeichnis Aufschluß über diese und andere Fälle geben, das Anfang März vorliegen soll. Schon nach den dritten Wiener Gesprächen 1994 und später sind immer wieder umfassende Wörterverzeichnisse gefordert worden. Wenn die durchweg zu knappen Wortlisten dann erschienen, erwiesen sich viele Einträge als überraschend oder fragwürdig. Über Weihnachten hatten die Verbände Gelegenheit, ihre Voten einzureichen. Dabei haben die Verbände Stellung genommen, die zum großen Teil aber auch schon die Reform selbst mitentwickelt hatten. Es wundert daher nicht, daß sie weitgehend den Änderungen, an denen sie ebenfalls aktiv beteiligt waren, zustimmten. Denn die Autoren der meisten Voten sind Mitglieder des Rats, begutachten also ihr eigenes Werk. Der vom Fachverband Deutsch im Deutschen Germanistenverband in den Rat entsandte Fritz Tangermann ist gleichzeitig in der Berliner Schulverwaltung (Referat Qualitätsentwicklung) für die Durchsetzung der Reform in Berlin zuständig. Seite 41

Vorsichtig kritisch äußerte sich das Goethe-Institut zu einzelnen Regelungen wie „läuft eis“ oder „schwimmt Brust“, auch das Symposion Deutschdidaktik, das ausdrücklich bedauert, daß den besseren Vorschlägen der Arbeitsgruppe wegen der Zweidrittelmehrheit oftmals nicht gefolgt wurde. Rundheraus abgelehnt wurden die Überarbeitungen durch den Rat vom deutschen PEN-Club, der vom Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler im Rat vertreten wird. Die Nachrichtenagenturen in Deutschland haben keine Bedenken gegen die Änderungen, eine Ausnahme bildet die Schweizerische Depeschenagentur, die sich strikt ablehnend äußerte. Auch der Dachverband der Schweizer Lehrer lehnte die Vorschläge des Rates ab, weil „die verunglückte Lösung zwar von den übelsten Unfugkonstruktionen“ befreie, aber gleichzeitig systematisch „verschlimmbessert“ worden sei. Sollten die Änderungen durchgehen, müsse die Rechtschreibreform als gescheitert angesehen werden, meint der Lehrerverband. Die meisten Kritiker aus der Schweiz richten sich auch gegen die eigenen Ratsmitglieder, die als dogmatische Vertreter der Neuregelung gelten. Sie setzen sich für ein Moratorium ein und fordern eine grundlegende und unabhängige sprachwissenschaftliche Überarbeitung. Da die Kultusministerkonferenz die Stellungnahmen des Rates Anfang März ohnehin ohne weitere Diskussion annehmen will, werden die einzelnen Stellungnahmen jedoch kaum von entscheidender Bedeutung sein.

Von Rechtschreibfrieden noch keine Spur Von Heike Schmoll

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er die Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung nach einem Jahr bilanziert, wird feststellen müssen, daß die Verwirrung größer ist denn je. Die Idee eines Regelwerks der Orthographie ist faktisch aufgegeben worden, in der kurzen Zeit konnte nicht einmal der Versuch gemacht werden, vom Sprachgebrauch abgeleitete Regeln zu entwickeln, die dann in den Schulen als didaktische Hilfe dienen könnten. Klarheit schaffen werden erst die Wörterbuchredaktionen, die zum Beginn des neuen Schuljahrs vollkommen überarbeitete Wörterbücher vorlegen müssen. Erst dann wird sich zeigen, wie viele Varianten es gibt, wie unzählige vom Rat schlicht nicht bearbeitete Probleme gelöst werden, und am Ende wird womöglich das Windows-Programm pragmatisch entscheiden. Wer also glaubte, nach der vorläufig letzten Sitzung des Rates für deutsche Rechtschreibung sei der Rechtschreibfrieden eingekehrt, irrt gewaltig. Abstimmung unter Mehrzahl von Befürwortern Dem Vorsitzenden des Rates, dem früheren bayerischen Wissenschaftsminister Zehetmair (CSU), kann höchstens angelastet werden, daß er wiederholt dem Druck der Kultusminister nachgegeben hat; für die Zusammensetzung des Rates ist er nicht verantwortlich. Seiner geschickten Moderation ist zu verdanken, daß die Reformer zumindest ihre mageren Selbstkorrekturen leisteten. Seite 42

Da dem Rat die Aufgabe zugedacht war, die Durchsetzung der Reform zu gewährleisten, wurde er fast ausschließlich mit Reformbefürwortern besetzt, darunter sieben Mitglieder der zwölfköpfigen Zwischenstaatlichen Kommission, die nach deren Auflösung sitzen blieben: alle drei Schweizer, alle drei Österreicher, dazu der Deutsche Hoberg, der jegliche Änderung an der Reform für überflüssig hält. Die übrigen Mitglieder stammen zum Teil aus dem Beirat, den sich die Zwischenstaatliche Kommission selbst gewählt hat. Die Urheber der Rechtschreibreform waren also in der klaren Überzahl. „Kompromiß - aber vernünftig und gut” Der Duden verfügte über sieben, das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim über zwei Sitze. Es spielte eine wichtige Rolle. Im Statut des Rechtschreibrats war davon nicht die Rede, nur die Geschäftsstelle sollte hier ihren Sitz haben. Der Direktor des IDS übernahm die Leitung aller Arbeitsgruppen, traf Vorentscheidungen über deren Zusammensetzung und stellte ihre Vorschläge im Plenum vor. Die Geschäftsführerin, die keine Stimme im Rat hat, erarbeitet nun mit den Wörterbuchverlagen die Wörterliste, die den Kultusministern Anfang März vorliegen soll. Nach Auffassung einiger Ratsmitglieder hat sie allerdings ihre Kompetenzen überschritten, als sie die Arbeit des Rates nicht nur darstellte, sondern auch bewertete („Natürlich sind unsere Vorschläge ein Kompromiß - aber sie sind vernünftig und gut”). Gewaltsamer Eingriff, kein Sprachwandel Beauftragt worden war der Rat wie die Zwischenstaatliche Kommission laut Statut damit, die Schreibentwicklung und den Sprachwandel zu beobachten und Anpassungen des Regelwerks an diese Veränderungen vorzuschlagen. Beschäftigt war er im wesentlichen damit, die mißratene Neuregelung zumindest vom gröbsten Unfug zu befreien. Mit Sprachwandel oder gar Sprachentwicklung hatte das nichts zu tun, denn dieser vollzieht sich im Abstand von mehreren Jahrzehnten und nicht im Takt von sechs bis acht Wochen. Den Sprachwandel zu beobachten hieß eher, zu verfolgen, wie die Sprachgemeinschaft mit dem gewaltsamen Eingriff in die Sprache umgeht. Einflußreiche Medien auf dem Sonderweg Die Zustimmung zur Rechtschreibreform in der Bevölkerung ist inzwischen auf acht Prozent geschrumpft. Trotzdem werden die Zeitungen, die sich ihr verweigern, von den Reformbefürwortern im Rat weiter als „Krawallmacher” beschimpft. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht noch weiter: Sie macht ihre Zustimmung zur Reform in der Stellungnahme für die Kultusministerkonferenz (KMK) davon abhängig, ob vorher von den „maßgeblichen Printmedien verbindlich erklärt wurde, den dann vorhandenen vollständigen Regelstand (also auch die geänderte s-Schreibung) zu übernehmen”. Sollten einflußreiche Medien bei ihrem Sonderweg bleiben oder eine neuerliche Umstellung verweigern, wollten GEW und DGB der KMK davon abraten, den Empfehlungen des Rates zu folgen. Wem gegenüber sollten eigentlich unSeite 43

abhängige Zeitungen solche verbindlichen Erklärungen abgeben? Sie können doch nur erleichtert sein, wenn sie bei der bisherigen Schreibung geblieben sind und damit noch auf der Grundlage eines einigermaßen konsistenten Regelwerks stehen, denn niemand weiß zum jetzigen Zeitpunkt, wie die Reform der Reform eigentlich aussieht. Dazu ist zu vieles ungeklärt, zu wenig systematisch ausgeführt. Zuwenig Personal für sprachliche Sachfragen In den Ratssitzungen wurden seitenlange Arbeitsvorlagen Satz für Satz abgestimmt, so daß selbst Kenner der Materie am Ende nicht mehr wissen, was sie eigentlich beschlossen haben. Nur vier Sprachwissenschaftler saßen im Rat, dazu die drei Vertreter der Wörterbuchredaktionen (Duden, Bertelsmann, Wahrig). Wirklich beurteilen konnten also nur sieben von 39 Ratsmitgliedern die sprachlichen Sachfragen. Das sind viel zu wenige, auch wenn der Vorsitzende des Rates meint, es seien schon ein paar Professoren zuviel im Rat gewesen. Wer fragt, was der Rat geleistet hat, wird um eine negative Bilanz kaum herumkommen. Die weitgehende Wiederherstellung der früheren Getrennt- und Zusammenschreibung war noch von der Zwischenstaatlichen Kommission auf den Weg gebracht worden und fiel deshalb am ausführlichsten aus. Es bleibt der Beschluß, die Abtrennung einzelner Buchstaben wie in A-bend, Duschecke und Bi-omüll abgeschafft zu haben. Alle übrigen und durchweg punktuellen Änderungen bemänteln das vollständige Scheitern der Reform, provozieren nicht selten neue Schwierigkeiten oder erschöpfen sich in bloßer Formulierungsakrobatik. Korrektur auf absehbare Zeit nicht möglich Gewiß sah es aus, als widersetze sich der Rat der festgelegten Agenda der KMK dadurch, daß er die von den Kultusministern voreilig als „unstrittig” erklärte Groß- und Kleinschreibung auch auf die Änderungsliste setzte, sie aber nur teilweise korrigierte. Ungeklärt bleiben die gesamte vielkritisierte Laut-Buchstaben-Zuordnung, die unsäglichen Volksetymologien wie „belämmern” sowie weite Teile der Fremdwortschreibung. Dies gilt in eklatanter Weise für die Wiedergabe eines französischen -e, das zum Teil in ein deutsches -ee übertragen wird, manchmal aber auch nicht. Daß dem bayerischen Kultusminister, der schon jetzt ankündigte, die überarbeitete Reform auch in Bayern einzuführen, wirklich klar ist, was da auf Lehrer und Schüler zukommt, ist zu bezweifeln. Und ob bayerische

Die Ergebnisse des Rechtschreibe-Streits sind mager

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Schüler dann noch das Original der jüngsten Enzyklika des Papstes im Religionsunterricht lesen dürfen, ist nicht auszumachen, denn sie ist in alter Rechtschreibung verfaßt und weist nach dem Maßstab der Rechtschreibreform über 200 Fehler auf. Ist die halbfertige Überarbeitung erst einmal für die Schulen verbindlich, dürfte eine weitere Korrektur auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein. Wer sollte auch dazu bereit sein? Der Rat für deutsche Rechtschreibung wohl kaum. F.A.Z., 06.02.2006

Es sind einfach jämmerliche Gestalten, die sich mit immer neuen Verrenkungen an der "Rechtschreibreform" versuchen. Keiner von diesen weitgehend auf Steuerzahlers Kosten hochbezahlten Leuten hat das Rückgrat zu fordern: wir haben uns geirrt, werft die ganze "Reform" auf den Müll. Ernst-Markfried Kraatz

Wie recht hat leider Heike Schmoll: Die Rechtschreibreform ist auf ganzer Linie gescheitert. Hoffentlich bleiben die FAZ und andere Medien bei ihrer konsequenten Haltung, die sogenannte Reform weiterhin abzulehnen. Wie maßlos dumm und arrogant am grünen Tisch zunächst eine Reform und dann die Reform der Reform erdacht wurde, ist bezeichnend für die Schreibtischtäter in unseren Kultusministerien. Rationalen Argumenten der Sprachwissenschaft auf der einen Seite, wie Horchen auf das Verwenden der Sprache durch ihre Nutzer, nämlich Schriftsteller, Redakteure und ihre Leser auf der anderen Seite, verschließen sich diese sogenannten Reformer. Schlimmer noch: sie prangern das Vorgehen intelligenter Menschen gegen die Verstümmelung der Muttersprache als Reformunfähigkeit an. Meine sehr verehrten Damen und Herren in der KMK: Sie haben sich vergaloppiert. Unser Land lehnt Ihre Stümperei auf ganzer Linie ab, sie sollten daher geschlossen zurücktreten und Ihre Diplome, soweit vorhanden, zurückgeben! Damit würden Sie unserem Staat wie auch den Verlagen viel Geld ersparen, das dann für notwendige Reformen und Investitionen, nicht zuletzt im Bildungswesen, zur Verfügung stünde. Thomas von Gottberg

Auf halbem Wege oll Gewiß mag es manchen mit der Überarbeitung der Rechtschreibreform versöhnen, daß er wieder "Du" groß schreiben darf. Auch ist es richtig, daß nun nicht mehr das grammatisch falsche "Pleite gehen" obligatorisch ist. Doch auch hier bleibt der Rat für deutsche Rechtschreibung auf halbem Wege stehen. Denn es wurde nie erklärt, warum nun das ehemalige und logische "pleite gehen" nun nicht mehr zulässig sein soll. Statt dessen wird das pleitegehen irgendwie doch zur Bankrotterklärung des Rates, dessen Arbeit entscheidend daran krankt, daß die Kultusminister ihn fortwährend unter Druck setzen. Seite 45

Das Argument, den Schulen endlich Sicherheit zu verschaffen, ist vordergründig. Denn es steht außer Frage, daß der Rat künftig die frühere Aufgabe des Duden übernehmen wird, also die Beobachtung der Sprachentwicklung. Viele kleine Änderungen werden folgen. Wörterbücher und Schulbücher werden also weiterhin geändert, es ist erst das erste Etappenziel erreicht. Deshalb sollte sich noch niemand außer Schulen und Behörden bemüßigt fühlen, die Änderungsvorschläge des Rates verfrüht zu übernehmen. F.A.Z.

Politik als Gerede Von Andreas Platthaus

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er redet nicht alles mit in der Debatte um die Rechtschreibreform? Aber wer schreibt denn danach? Die Lehrer doch wohl, weil sie die neuen Regeln zu unterrichten haben. Die Schüler sicher, weil sie danach zu lernen haben. Die Sprachwissenschaftler vielleicht, weil sie diese Regeln erarbeitet haben. Staatsbedienstete, weil es ihnen befohlen wurde. Aber keine dieser Gruppen lebt vom geschriebenen Wort. Das aber tun Schriftsteller und Journalisten, die jedoch bei Reformbefürwortern sofort als reaktionäre Störenfriede gelten, wenn sie ihrem Unmut über die Reform Luft machen. Aber wie dem auch sei, von nun an wird erst einmal nur noch die Meinung einer weiteren Gruppe maßgeblich sein: die der Politiker, weil sie über die Reform zu entscheiden haben. Selbst die vorgeschlagene Einberufung eines Rats für deutsche Rechtschreibung, also einer weiteren jener typisch deutschen Kommissionen, wird wiederum nur auf Inititative der Kultusminister erfolgen. Damit soll Kompetenz simuliert werden, obwohl doch die Entscheidung weiter in Politikerhand liegt. Einer Gruppe ausgeliefert, die wenig davon versteht Ausgerechnet die Rechtschreibung ist jetzt einer Gruppe ausgeliefert, die wenig davon versteht. Bei ihr herrschen andere Interessen: Politiker betreiben einen Beruf, dessen Inhalt nach Max Webers bekannter Formulierung die Zukunft ist „und die Verantwortung vor ihr“. Deshalb wird von ihnen so gern das Leid der Schüler beschworen, als gäbe es kein Leid derjenigen, die nicht mehr zur Schule gehen oder, schlimmer, sie samt den neuen Regeln noch vor sich haben. „Mit dem Datum des Geburtsscheines bei Diskussionen überstochen zu werden, habe auch ich mir nie gefallen lassen“, wettert Weber in „Politik als Beruf“. Und fährt wenig später fort: „Nicht das Alter macht es. Aber allerdings: die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein.“ Das verstand Max Weber unter den Anforderungen des Politischen. Wann prüfen sich die Reformer? Rücksichtslosigkeit haben wir bei der Rechtschreibreform zur Genüge erlebt. Seite 46

Aber wo ist sie in Webers Sinne beim Blick auf die Realität sich selbst gegenüber geblieben? Zur Realität des heutigen Lebens gehört, daß Politiker - anders als zu Webers Zeiten - nicht mehr schriftbegabt sind. Wie sollten sie auch? Ihre Aufgabenbeschreibung ist nicht erst seit der „Medienkanzlerschaft“ Gerhard Schröders eine, die das Gerede und nicht mehr das Schreiben zum Mittelpunkt hat. Soll heißen: Was zählt, ist das gesprochene, nicht das geschriebene Wort. Das schlägt durch auf das Bild des Politikers: auf seines von der Welt und auf unseres von ihm. Im dritten Band von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“, die auf Wunsch der Erben des Fürsten nicht zu Lebzeiten von Kaiser Wilhelm II. veröffentlicht werden sollten und nach dessen Flucht nach Holland doch schon 1921 erschienen, findet sich ein aus vier Schreiben bestehender Briefwechsel zwischen dem damaligen Prinzen Wilhelm und dem Reichskanzler, der von Ende November 1887 bis Mitte Januar 1888 geführt wurde und zusammen siebzehn Druckseiten umfaßt. Allein Bismarcks Antwort auf die beiden ersten Schreiben Wilhelms ist mehr als acht Seiten lang und ist, abgesehen vom üblichen Zierat („Ew. Königliche Hoheit wollen mir huldreich verzeihn, daß ich Hochdero gnädige Schreiben ... noch nicht beantwortet habe“), ein Meisterstück der Stilistik wie der Präzision - bis hin zur höflichst formulierten Schroffheit, wo diese angebracht erscheint. Einst erfahren in der Kunst des Wortes Der Brief fügt sich aufs schönste in das große Memoirenwerk des greisen Bismarck ein, das zum Besten gehört, was in deutscher Sprache im neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden ist. Damals waren Politiker „hommes des lettres“, denn ihre Amtsführung bestand zu nicht unerheblichen Teilen in Notenwechseln mit in- und ausländischen Stellen, und je genauer und eleganter man sich da auszudrücken verstand, desto mehr Wirkung erzielten die Schreiben. Natürlich gab es Zuarbeiter in den Kanzleien und Ministerien - das zeigt nicht zuletzt die „Daily Telegraph“-Affäre von 1908, als ein Regierungsmitarbeiter mit dem Redigat eines Kaiser-Wilhelm-Interviews beauftragt war und diese Aufgabe reichlich sorglos erledigte. Doch die wichtigen Reden, Briefe und Stellungnahmen schrieben die Politiker damals selbst: Das gehörte zu ihrem Berufsverständnis. Und es machte sie erfahren in der Kunst des Wortes. Bücher wie die „Denkwürdigkeiten“ des Reichskanzlers Bernhard von Bülow, der 1909 demissionierte, oder die Memoiren seines 1932 entlassenen Nachfolgers Heinrich Brüning, die erst posthum 1970 erschienen, zeigen bei allem persönlichen Rechtfertigungsdrang einen an der Präzision der Kanzleisprache geschulten Stil, der sich mit der Wortgewandtheit geübter Debattenredner verbindet. Kann sich dagegen heute jemand ein wortmächtiges Buch aus der Feder eines aktuellen Politikers vorstellen - oder gar einen Briefwechsel von der literarischen Qualität der Bismarckschen Episteln? Die Aufgaben sind neu verteilt. Politiker müssen längst nicht mehr auf Eleganz oder Stil achten, sondern auf Schlagworte, damit sie fernsehgerechte „Statements“ abgeben können. Mündlichkeit ist heute zwar vorherrschendes Prinzip in der Politik, ohne daß dafür aber eine rhetorische Schulung in der Praxis erfolgte, wie sie früher durch die großen Parlamentsdebatten üblich Seite 47

war. Das Plenum hat gegenüber dem Fernsehpublikum als Adressat von politischen Willensbekundungen ausgedient, denn Wirkung erzielt man mit der kompetenten Kurzmitteilung, nicht mit jenem eloquenten Wortkunststück, das antike Rhetorikideale zum Ziel haben. Ihnen galt der Redner per se als „vir bonus“, als guter Mensch. Das setzte Bildung voraus. Heute, so hört man aus der Politikberatung, dürfe überhaupt nichts mehr vorausgesetzt werden, weder bei Mandatsträgern noch bei den Wählern. Hilflosigkeit, die im Gespräch durchgehen mag Äußerungen im Fernsehen beruhen deshalb auf heuristischen Verfahren, die sich aus Wortbaukästen bedienen, deren Einzelbegriffe oder Floskeln zu eindrucksvoll klingenden, aber semantisch verheerenden Gebilden zusammengesetzt werden. Das macht jedoch nichts, weil Sendezeit verfliegt und mit ihr das gesprochene Wort, während Lesezeit von grausamer Geduld ist. Erstaunlich, daß es überhaupt noch Politiker gibt, die es wagen, als Autoren statt allein als Interviewpartner aufzutreten. Im Gegensatz zu Frankreich gilt jedoch das eigene Buch - als Nachweis eines Sprach- und Argumentationsvermögens, das die engen Grenzen politischer Aktivität überschreitet - nicht als Pluspunkt in der Biographie eines deutschen Politikers. Hierzulande schreiben Politiker aus handfesten materiellen Interessen, und je populärer Thema und Sprache ausfallen, desto besser. Joschka Fischer beginnt sein 1999 erschienenes Buch „Mein langer Lauf zu mir selbst“ mit der erstaunlichen Banalität: „Die menschliche Zivilisation verfügt über viele Segnungen und gar manche Krankheiten, wobei die Segnungen - so meine ganz persönliche Meinung - per Saldo überwiegen.“ Wenn es schon als „ganz persönliche Meinung“ gelten muß, daß man dem Leben mehr positive als negative Seiten abgewinnen darf, dann nimmt Fischer sich entweder selbst zu wichtig, oder er hat bizarre Vorstellungen von der Lebenslust seiner Umgebung. Jedenfalls ist der erste Satz seines Buches eine Hilflosigkeit, die im Gespräch durchgehen mag, doch der intensiveren Überprüfung, die das Schriftliche dem Leser nun einmal ermöglicht, nicht standhält. Das letzte überzeugende Erinnerungsbuch Über Stil ist gar nicht erst zu reden. Helmut Kohl hebt im ersten Band seiner Memoiren an: „Ich bin ein klassisches Beispiel dafür, welchen Einfluß das Elternhaus hat.“ Als „klassisch“ nach heutigen Maßstäben erweist sich dieser Satz selbst, als Exempel für die unreflektierte Verwendung von Worthülsen und die Profanierung ästhetischer Kategorien. Immerhin aber hört man da noch eine authentisch klingende Stimme. Leider fehlt ihr der mörikehafte Klang eines Theodor Heuss, der in seinen Schriften einen Regionalismus zum Ausdruck gebracht hat, der bis hin zu den intellektuellen Bezugspersonen konsequent schwäbisch war. Darin bestand der große Reiz seiner Publikationen. Seit Carlo Schmid als bislang letzter deutscher Politiker 1979 ein auch stilistisch überzeugendes Erinnerungsbuch publizierte, das zur Gänze von ihm selbst verfaßt worden ist, haben sich seine prominenten Kollegen in die Hände von Ghostwritern begeben, die vielleicht genau wissen, was das große Publikum von einer Biographie erwartet, aber dadurch den berufsbedingten Abstand der angeblichen Verfasser zur Schriftsprache noch weiter vergrößern. Seite 48

Das delegierte Schreiben Wer schreibt heute überhaupt noch als Politiker Texte, die nicht sein Ministeroder Abgeordnetenbüro vorformuliert hätte? Johannes Rau galt als einer der wenigen Vertreter seines Standes, der noch höchstpersönlich zur Feder griff, oft sogar ohne Wissen seiner Mitarbeiter im Bundespräsidialamt. Die Vorstellung aber, daß etwa Horst Köhler und Gerhard Schröder einen gedankenreichen Briefwechsel führen könnten, ist aberwitzig. Wer nähme sich heute die Zeit dafür, wo doch ein Radio- oder Fernsehinterview die Botschaft vermeintlich schneller und deutlicher transportiert? Und das auch noch unter Anteilnahme des Publikums. Man mag es begrüßen, daß Politik heute so sehr der Öffentlichkeit zugewandt ist. Doch der Verlust des Persönlichen hat seine Nachteile, und diese liegen in der Lösung von der Schriftkultur, vom Akt des Schreibens. Kein Wunder also, daß in der Kultusministerkonferenz so sorglos mit Veränderungen sinnentstellender Art umgegangen worden ist. Die Politikersprache hat mit Rechtschreibung nichts zu tun, denn sie dient nur der Äußerung, nicht der Vertiefung. Deswegen sollte die Politik diesen Streit denen überlassen, die täglich mit der Schriftsprache zu tun haben. In einem Fernsehgespräch wird man ein modisches Erscheinungsbild ohne Risiko des Mißverständnisses als „wohlgekleidet“ beschreiben können. In der den Politikern vertrauten Domäne des Geredes gibt es keine negativen Auswirkungen der neuen Rechtschreibung. Aber man stelle sich die gleiche Äußerung in schriftlicher Form und nach den neuen Regeln vor. Wenn es um die Kompetenz der Teilnehmer an der wieder entflammten Debatte um die Rechtschreibung geht, muß gelten: Reden ist Silber, Schreiben ist Gold. F.A.Z.

„Rechtschreibrat unter Zeitdruck“ oll. FRANKFURT, 14. Februar ie im Statut des Rates für deutsche Rechtschreibung vorgesehene Anhörung zur Groß- und Kleinschreibung wird nicht stattfinden. Der Vorsitzende des Rates, der frühere bayerische Wissenschaftsminister Zehetmair (CSU), begründet den Verzicht mit Zeitnot und mit dem klaren „Votum des Rats in diesem Bereich, der sich bei einer Gegenstimme für die Empfehlung ausgesprochen hat“. Das Statut sieht jedoch nicht vor, daß die Anhörung nur dann stattfindet, wenn im Rat unsichere Mehrheiten herrschen. Schon bei den bisherigen Anhörungen hatten die Rechtschreibreformer im wesentlichen ihre eigene Arbeit für gut befunden, die einzige ablehnende Stellungnahme war vom Vertreter des PEN-Clubs vorgebracht worden. Außerdem hat der Bertelsmann-Verlag bestätigt, daß sein Nachschlagewerk „Wahrig“ „sehr zeitnah“ nach der Entscheidung der Kultusminister in einer Neuausgabe mit allen beschlossenen Änderungen erscheinen wird. Offenbar rechnet Bertelsmann damit, daß die Kultusminister die Vorschläge des Rates ohne Änderungen beschließen. Das erinnert an den Wiener Beschluß vor zehn Jahren, der unter-

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schrieben wurde, nachdem Bertelsmann schon gedruckt hatte. Einen Tag nach dem Beschluß, am 2. Juli 1996, lag der Wahrig in den Buchhandlungen aus. F.A.Z.

Zehetmair erfindet eine neue Textsorte: die Nichteinladung. Man schickt Verbänden einen Text zu und teilt ihnen zugleich mit, daß sie NICHT zu einer Stellungnahme eingeladen sind. Als Begründung gibt man an, daß erstens die Zeit zu knapp sei und zweitens ihre Stellungnahme angesichts der überwältigenden Einigkeit der Verfasser dieses Textes ohnehin keine Rolle spielen würde. Die Ausladung kann man noch nachvollziehen, weil sie eine vor Wochen angekündigte Einladung zurücknimmt. Die Begründung ist eine Unverschämtheit. Theodor Ickler

Wirtschaftsförderung Zum Brief „Wahre Tragödie“ von Leser Otto Freiherr Hiller von Gaertringen (F.A.Z. vom 13. Februar): Es ist anzunehmen, daß die Kultusminister der Länder sehr wohl wußten, was sie wollten, als sie im Rahmen der KMK, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist, eine „Rechtschreibreform“ initiierten. Es ging anfangs darum, notleidenden Schulbuchverlagen neue Auflagen zu schaffen, später um die Förderung der Softwareindustrie, also um handfeste wirtschaftliche Interessendurchsetzung auf dem Rücken der Schüler und Eltern. Die Bundesregierungen ließen den Zerfall der Einheitlichkeit der deutschen Sprache als wesentliches Merkmal einer deutschen Nation ungehindert fortschreiten. Siegfried Brauser, Deinigen

Schreck zur Morgenstunde Das war ein Schreck zur Morgenstunde, als ich in unserer Regionalzeitung die Meldung lesen mußte, Ihr Herausgeber Frank Schirrmacher sei jetzt bei der Rechtschreibung umgefallen. Mir blieb das Frühstücksbrötchen im Halse stekken, und der Kaffee schmeckte auch nicht mehr. Das durfte nicht wahr sein! Schirrmacher ergeht sich in Lobpreisungen über den „Kompromiß“ des Rechtschreibrates und kündigt an, die „alte“ Rechtschreibung aufgeben zu wollen. Und das nach all den schlauen Kommentaren und tiefsinnigen Analysen, die zu diesem Thema von Heike Schmoll unter anderem in der F.A.Z. erschienen waren. Auf dem Weg zum Kiosk habe ich dann schon mal nachgerechnet, was ich an Geld spare, wenn ich mir künftig Ihre Zeitung nicht mehr kaufe. Dann aber zum Glück das Dementi in einer kleinen Notiz auf der Titelseite. Können wir Leser nun also beruhigt sein? Oder war diese Zeitungsente vielleicht doch ein Versuchsballon, mit dem die Stimmung getestet werden sollte? In der Sache selbst ist eigentlich schon fast alles gesagt, aber die Lügen und Tricksereien der Rechtschreibreformer und ihrer politischen Hinterfrauen und -männer Seite 50

müssen immer wieder aufs neue offengelegt werden. Genauso skandalös wie die Reform selbst ist die Art und Weise ihrer politischen Durchsetzung. Darüber darf kein Gras wachsen. Eine Gewöhnung an den orthographischen Schwachsinn gibt es nicht und wird es nie geben. Und was den „Kompromiß“ des Rates betrifft: Natürlich ist das ein bißchen besser als gar nichts. Ansonsten hat diese Minimalveränderung nur Alibifunktion. Sie soll den renitenten Zeitungsverlagen eine goldene Brücke bauen, auf der sie bußfertig zur Umkehr schreiten können. Wieviel von dem Unfug soll denn weiterhin verbindlich sein - etwa „Hand voll“? Darauf sollten Sie auch künftig Ihre Aufmerksamkeit richten. Bitte widerstehen Sie auch dem unsinnigen „Argument“ hinsichtlich der armen Schulkinder. Mein Sohn geht in die fünfte Klasse, und er ist von Anfang an mit verschiedenen Orthographien aufgewachsen. In der Grundschule selbst wurde mit Arbeitsblättern unterrichtet, die in bewährter Orthographie, in Reformorthographie und in einer wüsten Mischung aus beiden gehalten waren. Es ist nicht die Schuld der F.A.Z., wenn hier Verwirrung eintritt. Grundschüler lesen nicht Ihr Blatt, und ältere Jahrgänge sollten ruhig eine Anschauung davon bekommen, wie die deutsche Sprache tatsächlich war und ist - und was von der Politik kaputtgemacht wurde. Hartwig Inatowitz, Hannover

Standhaft bleiben Heike Schmolls Einschätzung, daß der Rat für deutsche Rechtschreibung mit seinen Vorschlägen keinen Frieden schaffen werde („Mageres Ergebnis“, F.A.Z. vom 6. Februar), kann man nur zustimmen. Schaut man sich an, wie der Rat besetzt ist und was er geleistet hat, zeigt sich immer deutlicher, daß es bei seiner Arbeit nicht darum geht, die Schreibreform zu überarbeiten und die Bürger mit ihr zu versöhnen, sondern darum, der berechtigten Kritik an der Reform durch marginale Änderungen so weit die Spitze zu nehmen, daß sie hingenommen wird - und damit den Kultusministern die angemaßte Zuständigkeit für diesen Gegenstand erhalten bleibt. Ein Scheitern der Reform hätte nämlich den Verlust der Regelungsgewalt zur Folge, und genau das soll verhindert werden. Die Schreibreform ist eben nicht nur eine Reform, sondern auch eine Machtfrage. Es geht nicht allein darum, ob man Schiffahrt mit zwei oder drei „f“ schreibt, sondern auch darum, wer das bestimmt. Anders ist die Sturheit der Kultusminister und die Arroganz ihrer Hilfstruppen nicht zu erklären. Von der künftigen Arbeit des Rats ist deshalb nichts mehr zu erwarten. Um den Schreibgebrauch zu beobachten und das Regelwerk behutsam anzupassen, also die Arbeit zu verrichten, die knapp einhundert Jahre lang die Duden-Redaktion geleistet hat, ist er weder personell noch sachlich gerüstet. Er wird vielmehr auf die Zuarbeit des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache angewiesen sein, der Institution, in der die Reform entworfen wurde. Für die Zukunft heißt das nichts Gutes. Man kann daher nur hoffen, daß die Verlage und Printmedien, die bei der Qualitätsorthographie geblieben oder zu ihr zurückgekehrt sind, weiter standhaft bleiben. Karl-Erich Kreuter, Bonn Seite 51

Von wegen Staatsräson! Der Eiertanz der Kultusminister Christian Meier ie die Dinge mittlerweile stehen, sollte, wer sich nicht auf das Abfassen absurder Theaterstücke versteht, über die Rechtschreibreform eigentlich besser schweigen.

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Überall sieht man die potentiellen Leser abwinken. Genug, genug! Man gähnt! Ist nicht alles schon x-mal gesagt? In der Tat, es ist. Und inzwischen bezeugt die letzte Vorsitzende der KMK, Johanna Wanka, ja auch: "Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war." Willkommen im Club, könnten jene 61 Prozent der Deutschen sagen, die sich im Juli 2005 gegen das neue Regelwerk aussprachen (während es acht Prozent befürworteten). Somit läßt sich - die Ideologen der Reform mögen es verzeihen - wohl mit bestem Gewissen feststellen: Es war alles für die Katz. Was also hindert, den ganzen Zauber dahin zu expedieren, wo er hingehört, in den Orkus nämlich? Die Staatsräson. Nochmals Wanka, dem Spiegel gegenüber: „Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Gähnen hin, gähnen her, dazu muß denn doch etwas gesagt werden. Staatsräson ist doch wohl der Grundsatz, daß oberste Richtschnur für das staatliche Handeln die Verwirklichung des Staatswohls ist, gegebenenfalls ohne Rücksicht auf Recht und Sitte. Dieses Staatswohl kann kaum daran hängen, daß man statt Flußschiffahrt Flussschifffahrt schreibt. Es muß also etwas anderes gemeint sein. Wahrscheinlich liegt man nicht falsch mit der Vermutung, die Kultusminister glaubten, das Staatswohl verlange, daß keine Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkämen. Sie fürchten die Blamage, wenn sie die ganze Aktion abblasen, und sei es, indem sie eine wirklich gründliche Reform der Reform zuließen. Ganz im Sinne Machiavellis, der von der ragione di stato zwar noch nicht spricht, auf den sie aber der Sache nach mit gutem Grund zurückgeführt wird, versucht man es deshalb mit Täuschungen, die indes allzu fadenscheinig sind. Man setzt einen unabhängigen Rat für Rechtschreibung ein, dem auch Kritiker angehören sollen. Sieht gut aus, auch wenn er sich weit überwiegend aus Reformanhängern rekrutiert. Da doppelt genäht besser hält, verfügt man, daß er Beschlüsse nur mit Zweidrittelmehrheit fassen darf. Ein Aufwand wie bei verfassungsändernden Gesetzen. Und man führt den Rat eng am Gängelband der Termine. Immerhin lassen sich so einige der gröbsten Mängel der Reform beseitigen. Der nächste Akt folgt am 2./3. März. Da wird die KMK die Beschlüsse vermutlich absegnen. Und wird so tun, als ob damit alles gut wäre. Vielleicht glauben's die Leute ja. Hier aber muß die längst gelangweilte Mehrheit gewarnt werden: Der Rat hat zwar Verbesserungen beschlossen, aber keineswegs eine passable Lösung parat, die Aussicht hätte, daß sich dadurch eine halbwegs einheitliche Schreibung im Land wiederherstellen ließe. Oder soll man sich mit all den HalbheiSeite 52

ten und Versäumnissen des Rates abfinden? Daß zwar nicht mehr A-bort getrennt werden soll, aber all die unsinnigen Trennungen vom Typ Beg-riffe, Frust-ration bleiben? Daß die grammatisch höchst fragwürdigen Schreibungen vom Typ seit Langem, im Allgemeinen genausowenig nicht geändert werden sollen? Oder daß offenbar gar nicht daran gedacht ist, die skandalöse, schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Jacob Grimm kritisierte DreiKonsonantenschreibung wieder abzuschaffen, diese Ausgeburt deutscher Pedanterie (Kammmacher, Krepppapier. Schreibungen mit Trennungsstrich wie Brenn-Nessel oder Miss-Stand können doch wohl nicht die Lösung sein). Um von den belemmerten - pardon! belämmerten - unsinnigen Volksetymologien zu schweigen. Da möchte man Tolpatsch ja fast amtlich schreiben, um die Tollpatsche zu charakterisieren, die da am Werk waren. Wir haben inzwischen eine Demokratie. Wohl hat auch sie ihre Staatsräson. Aber die kann nicht darin bestehen, daß sechzehn Kultusminister - amtlich also noch immer: eine Hand voll - sich mit dem Staat verwechseln. Sie fordert keineswegs, daß sie die Mehrheit des Volkes für dumm verkaufen. Übrigens auch nicht, daß die Ministerpräsidenten, wie vorauszusehen, nichts Besseres wissen, als ihnen hinterherzulaufen. Die Staatsräson scheint mir im Gegenteil zu gebieten, daß die Kultusminister das praktizieren, was unser Staat so dringend nötig hat, nämlich Ehrlichkeit und Bereitschaft zu Reformen, vermutlich auch etwas Schneid. Es ist ja wohl auch ein akutes Problem, das verlorengegangene Vertrauen in die Politik zu restabilisieren. Im Sommer ist es zehn Jahre her, seit die Reform beschlossen, seit die Einheit unserer Schreibung mutwillig aufs Spiel gesetzt worden ist und seit sich die Minister ins Schlepptau einiger Ideologen, unter anderen in ihren Ministerien, begeben haben. Die „Reform“ hat sich längst nicht nur als falsch, sondern auch als erfolglos erwiesen. Die Beseitigung einiger grober Mängel wird daran nichts ändern. Die allgemeine Schreibvernunft ist stärker. Sie läßt sich auch nicht beirren. Daher sollte sich die KMK endlich dazu bequemen, das Steuer herumzuwerfen und ernsthaft, das heißt mit den geeigneten Ratgebern, auf Wege zu sinnen, die aus dem Schlamassel herausführen. Der Althistoriker Christian Meier war von 1996 bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. F.A.Z., 27. 2. 2006

Kuhhandel. Nicht empfehlenswert: Der Rat für deutsche Rechtschreibung Andreas Kilb ie Straße, in der die Berliner Vertretung des Bundeslandes SchleswigHolstein liegt, heißt „In den Ministergärten“. Nicht etwa, weil es dort, am südlichen Ende des Holocaust-Denkmals, so viele Gärten gäbe, von Denkmälern und sprudelnden Brunnen zu schweigen. Aber Minister und Ministerin-

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nen sieht man reichlich in den "Ministergärten", schon deshalb, weil auch die Landesvertretungen all der anderen Bundesländer hier liegen, an einer Art Hitzepunkt des deutschen Föderalismus. Die feierliche Übergabe der Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung an die Kultusministerkonferenz mußte aber unbedingt in der Vertretung Schleswig-Holsteins stattfinden, da die Kieler Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave zur Zeit gerade den Vorsitz der KMK innehat. Oder schreibt man "inne hat"? Dies zu klären und damit jene „Rechtschreibreform“ zu korrigieren, die man kaum noch ohne Anführungszeichen schreiben kann, war die Aufgabe des Rates und seines Vorsitzenden Hans Zehetmair gewesen. Nach der Übergabe seiner Vorschläge zur Reform der Reform wird man sagen müssen, daß er sie - zumindest nach Zehetmairs Maßstäben - halbwegs erfüllt hat, auch wenn damit längst nicht alles klar ist, was zu klären war. Rein formal war der Übergabeakt ein Erfolg. Die Fotografen bekamen ihr Bild vom freundlichen Händedruck des ehemaligen bayerischen Kultusministers und seiner schleswig-holsteinischen Kollegin, die Mappe mit den Empfehlungen des Rates sah imponierend aus, und Frau Erdsiek-Rave verkündete, als beendete sie einen dreißigjährigen mitteleuropäischen Wörterkrieg, den „Rechtschreibfrieden“ in Stadt und Land, das „friedliche Nebeneinander“ verschiedener Schreibungen deutscher Wörter. Es komme nun darauf an, „daß das Thema Rechtschreibung nicht einen so großen Raum einnimmt“ und die Schüler wieder für andere Dinge Zeit hätten, etwa Grammatik und Lesen, so ErdsiekRave, der es nicht schnell genug gehen konnte mit der orthographischen Pax Zehetmairana. Die Kultusministerkonferenz werde „voraussehbar“ am Donnerstag den Empfehlungen zustimmen, Unterrichtsmaterialien könnten „leicht angepaßt“ werden, auch Schulbücher müßten nicht sofort, sondern nur im üblichen Turnus neu gedruckt werden. Wäre die Rechtschreibreformtragödie ein Film, dann hätte Frau Erdsiek-Rave vermutlich auf dem Schlußtitel bestanden: „The End“. Aber das Ende der Reform kommt erst noch. Es ist nicht dick, eher dünn und kläglich, und es ist ersichtlich eine Übergangslösung, dem „lebendigen Sprachgebrauch“ unterworfen, wie sich Zehetmair und der neben ihm auf dem Podium der Pressekonferenz sitzende Direktor des Instuts für deutsche Sprache, Ludwig Eichinger, zu versichern beeilten. Es werde "eine Generation" (Eichinger) dauern, bis die neuen Regeln in der Bevölkerung angekommen seien. Der Rat für Rechtschreibung aber, für weitere fünf Jahre berufen, will jetzt „in ruhige Gewässer kommen“ (Zehetmair) und „peu à peu“ die Rechtschreibung den Schreibgewohnheiten anpassen. Er persönlich, sagte Zehetmair mit der ihm eigenen Bonhomie, sei überzeugt, daß sich das "Restaurant" gegen das "Restorant" durchsetzen werde. Was steht nun in den Empfehlungen des Rechtschreibrats? Zum Beispiel, daß Wortverbindungen wie "kennenlernen" und "kleinschneiden" auch "kennen lernen" und "klein schneiden" geschrieben werden können. Daß es "querlesen", aber "quer liegen" heißen muß. Daß "Freestyle" und "Hightech" zusammen, aber "Round Table" auseinander geschrieben wird. Daß "Leid tun" gestrichen wird, aber "Rad fahren" bleibt. So will es angeblich der "existierende Gebrauch", das "Akzentmuster", die Sprachpraxis. Wer aber definiert diese Praxis? Das Seite 54

waren, wie Zehetmair einräumte, die Mitglieder des Rates für Rechtschreibung: achtzehn Deutsche, je neun Österreicher und Schweizer, je ein Vertreter aus Südtirol und Liechtenstein. In strittigen Fragen wurde mit Zweidrittelmehrheit entschieden. Beim "Round Table" etwa gaben die Schweizer Stimmen den Ausschlag, und auch "kennen lernen" geht auf Schweizer Wünsche zurück. Es gab, mit anderen Worten, einen Kuhhandel um die deutsche Rechtschreibung, einen Interessenausgleich, wie er auch in anderen Kommissionen üblich ist. Damit hat der Rat den Geburtsfehler der Rechtschreibreform fortgeschrieben. Nicht die Sprachgemeinschaft, sondern ein supranationales Gremium hat festgelegt, wie die deutsche Sprache zu handhaben sei. Dessen Empfehlungen mögen von Fall zu Fall vernünftig sein, als Ganzes sind sie ein Unding, ein Octroi. Der lebendige Sprachgebrauch mag vielen Einflüssen unterworfen sein, aber er ist kein Gewächs, das sich im Garten züchten läßt. Auch in den Ministergärten nicht. F.A.Z., 28. 2. 2006

Rat für Rechtschreibung übergibt Empfehlungen löw. BERLIN, 27. Februar er Vorsitzende des Rats für deutsche Rechtschreibung, Zehetmair, hat in Berlin der Kultusministerkonferenz (KMK) Empfehlungen zur Überarbeitung der Rechtschreibreform übergeben. Gut ein Jahr nach der verbindlichen Einführung der Reform an den Schulen soll damit der Kritik an den Regelungen Rechnung getragen werden. KMK-Präsidentin Erdsiek-Rave sagte, sie hoffe, „daß wir jetzt zu einer verläßlichen Grundlage kommen" und daß die Regelungen „überall, wo gedruckt und geschrieben wird", Akzeptanz fänden. Sie rechne allerdings damit, daß es „eine Generation“ dauern werde, bis sich die Reformregeln durchsetzten; sie hoffe bis dahin auf ein „friedliches Nebeneinander". Zehetmair sagte, die Erwartungen von „Puristen“, die zur hergebrachten Schreibweise zurückkehren oder die Regeln von 1994 beibehalten wollten, seien nicht konsensfähig gewesen.

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Variantensalat: Warum die Reform der Rechtschreibreform scheitert Am morgigen Donnerstag werden unsere Kultusminister wohl ihr Plazet geben zu einer ersten Revision der Rechtschreibreform. Horst Haider Munske ast zehn Jahre nach deren Einführung wird sie in vielen Punkten korrigiert, gleichzeitig aber, nun ein Reformtorso mit abgeschlagener Nase, endgültig an allen deutschen Schulen als die einzig richtige Schreibung angeordnet.

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Darüber kommt keine Freude auf, keine Genugtuung bei den Kritikern, denen der Rat für Rechtschreibung schließlich in vielen Punkten recht gegeben hat, und kein Triumph bei den Reformvertretern, die ihr Werk nur mit Hängen und Würgen über die Runden gebracht haben. Nur eines teilen alle: die Ermattung über die lange Debatte und die Frustration über die Schreibverwirrung in den Schulen und in vielen Publikationen. Denn auch das ist schon gewiß: die lange Nachwirkung uneinheitlicher Schreibungen in Schul- und Jugendbüchern, in belletristischer und in Sachliteratur, vor allem aber in den langlebigen Wörterbüchern und Lexika deutscher Sprache. Dieser Schaden ist nicht mehr gutzumachen. Viele fragen sich heute: Wie konnte es bloß zu einer derartigen Beschädigung einer bewährten Norm kommen? Wer hat diese Reform eigentlich gewollt, wer hat sie so gewollt? Und mancher wird heute sagen: Was schert mich überhaupt die Rechtschreibung, das macht mein Computer. Hat am Ende die Digitalisierung unserer Kommunikation die hehren Motive der Rechtschreibreformer obsolet gemacht? Ein Rückblick ist nötig, um einen Ausblick auf die zukünftigen Aufgaben zu ermöglichen. Zwei Fragen drängen sich dabei auf: Warum fand und findet diese Reform so wenig Zustimmung bei den Betroffenen? Warum wurde sie deshalb nicht schon in den Anfängen korrigiert oder besser noch gänzlich aufgegeben? Liegt es an einer generellen Reformunfähigkeit unserer Gesellschaft? Sind die Fachleute schuld, oder wurden die Falschen gefragt? Ist es ideologische Verbohrtheit oder politische Unfähigkeit? Oder liegt es einfach am Phänomen Sprache? Einfache Antworten können hier nicht befriedigen. Denn weder kann man den beteiligten Kultusbeamten und ihren vorarbeitenden Sprachwissenschaftlern bösartige Absichten unterstellen noch ihre zahlreichen Kritiker als Oppositionsrabauken verteufeln. Zunächst muß man den Konflikt in der Sache und im Verfahren auseinanderhalten. In der Sache gelten folgende Erfahrungen: In den großen und traditionsreichen Sprachen Europas, im Englischen, Französischen und Deutschen, sind bisher alle Rechtschreibreformversuche am Widerstand der Betroffenen gescheitert. Mit der tradierten Orthographie verbindet sich das Bewußtsein kultureller Identität, deren Verletzung heftigste Reaktionen auslöst. Das hat auch die deutsche Debatte seit 1996 bestätigt. Auf einem anderen Blatt steht das Verfahren einer solchen Reform. Es ist langwierig und kompliziert - wegen der Vielzahl Beteiligter, Betroffener und wirtschaftlich Interessierter. Hinzu kommt, daß häufig mehrere Staaten mit ihren Nationalsprachen betroffen sind. Für das Deutsche haben erst jüngst Liechtenstein, Luxemburg, Belgien und Italien Anspruch auf Mitwirkung gestellt. Kernstück der hiesigen Reform war ein Nebeneinander vorbereitender Fachkommissionen und eigens eingerichteter Arbeitsgruppen aus Beamten der Kultusministerien. Diese stellten das Scharnier zur praktischen Durchsetzung dar. Zwei elementare Fehler haften ihrer Arbeit an: In den Fachkommissionen waren ausschließlich selbsternannte Reformer vertreten, kein einziger Kritiker, auch keine Mitglieder von Akademien und Verlagen, kein Lehrer, kein Schriftsteller, kein Journalist. Diesen Kommissionen fehlte von Anfang an die Seite 56

fachliche und im weiteren Sinne kulturelle Legitimation. Auch nachträgliche Anhörungen von Verbänden und Beiräten konnten diesen grundlegenden Mangel nicht heilen. Der zweite Punkt betrifft die politische Seite, den Herrschaftsanspruch der „Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder“ (KMK) über die deutsche Orthographie, getarnt als Fürsorge für die Schüler und den Rechtschreibunterricht, aber ohne jede parlamentarische Legitimation. Die KMK hat in allen Phasen der Vorbereitung und Durchführung die Richtung vorgegeben, den Zeitplan bestimmt, Ergebnisse akzeptiert oder verworfen. Und dies ohne Fachkompetenz, allein um einer schnellen Reform willen. Sie hat eine rechtzeitige Besinnung nach den ersten großen Protesten in den Jahren 1996 und 1997 verhindert, statt dessen die neuen Regeln überstürzt in den Schulen eingeführt. Sie hat noch zuletzt die einseitige Zusammensetzung des neuen Rates bestimmt, dessen Satzung erlassen, den Vorsitzenden ausgesucht die Ratsmitglieder durften bloß zustimmen - und schließlich verordnet, welche Bereiche der neuen Regeln überprüft werden dürfen. Frech erklärten sie den schwierigsten und umstrittensten Bereich der Groß- und Kleinschreibung für „unstrittig“. Solche Herrschaftsposen sind für vordemokratische Gesellschaften charakteristisch. Dies ist der eigentliche Skandal: daß eine so einschneidende Maßnahme wie die Rechtschreibreform als reiner Verwaltungsakt einer von der Verfassung nicht vorgesehenen Behörde möglich war, daß sich die beteiligten Kultusbeamten und Kultusminister jeglicher öffentlicher Debatte entzogen, nirgends Rechenschaft abgelegt haben. Nur eines hat ihnen schließlich Einhalt geboten: die Verweigerung der Presse, ihre Rückkehr zur bewährten Schreibung. Was ist jetzt zu tun? Kann endlich die große Friedenspfeife herumgereicht werden? Keineswegs. Denn der Rechtschreibrat hat gerade erst beginnen können, die übelsten Mängel auszubügeln. Er hat die richtige Richtung eingeschlagen: Beachtung des tatsächlichen Schreibgebrauchs, Rücksicht auf die Leser, Rücksicht auf die Sprachgemeinschaft. Wiederum geht es nun um die Sache und um das Verfahren. Bevor weitergebastelt wird an Details der Regeln, sollte eine gründliche Evaluierung der Rechtschreibreform erfolgen, und zwar durch externe Fachleute. Sicher werden die Kultusminister nicht verweigern, was sie den Schulen und Hochschulen laufend abverlangen. Solche Bewertung hat mehrere Dimensionen: zu begutachten wären Erfolg und Mißerfolg an den Schulen, das Verhalten der Printmedien, die zwischen Altschreibung, Neuschreibung und Hausorthographien schwanken, die Qualität und Konsequenz der Regeldarstellung und ihre Umsetzbarkeit in Wörterbüchern. Schließlich muß jetzt das ganze Reformverfahren der KMK offengelegt werden, damit die Fehler von gestern nicht morgen wiederholt werden. Man darf jetzt die KMK von der Aufgabe Rechtschreibreform entbinden. Sie ist kein legitimes Organ nationaler Sprachpolitik. Der Rat muß endlich unter der Führung von Hans Zehetmair selbständig handeln können. Erste und dringendste Aufgabe in der Sache ist die Lichtung des Variantensalats in der Rechtschreibung. Warum werden verkehrte Reformschreibungen wie ,Zeit raubend’, ,nichts sagend’, ,Schluss-Stand’, ,Hand voll’ weiter fortgeschleppt? Damit die Seite 57

Reformschreiber der ersten Stunde ihre verhunzten Bücher nicht makulieren müssen? Das ist ohnehin unvermeidlich. Wer vor zehn Jahren den schnellen Erfolg „in neuer Rechtschreibung“ gesucht hat, muß jetzt für verfehlte Geschäftspolitik zahlen. Dies ist heute wiederum zu bedenken, denn die Einheit der deutschen Rechtschreibung ist noch längst nicht wiederhergestellt. Der Verfasser lehrte Sprachwissenschaft und Mundartkunde an der Universität Erlangen-Nürnberg. F.A.Z., 1.3.2006

Beschlossen: Die Reform wird reformiert 02. März 2006 ie korrigierte Reform der deutschen Rechtschreibung ist unter Dach und Fach. Das teilte die Kultusministerkonferenz (KMK) am Donnerstag in Berlin mit. Die Regeln sollen zum neuen Schuljahr vom 1. August an umgesetzt werden.

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Die Kultusminister stimmte den Änderungsvorschlägen des Rats für deutsche Rechtschreibung zu. Die Empfehlungen bildeten eine „gute und tragfähige Grundlage für die Fortentwicklung der Rechtschreibung”, erklärte die KMK. Die Minister hoffen mit den jetzigen Änderungen auf ein Ende des jahrelangen Streits um die Reform. Die Änderungen betreffen Regelungen in der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Groß- und Kleinschreibung, der Zeichensetzung sowie der Worttrennung am Zeilenende. Die Konferenz der Kultusminister kündigte an, der Bundesregierung und den internationalen Partnern die gemeinsame Übernahme der Empfehlungen vorzuschlagen. KMK-Präsidentin Ute Erdsiek-Rave wurde bevollmächtigt, entsprechende Vereinbarungen zu unterzeichnen. Wieder einheitliche Regelungen Die brandenburgische Kultusministerin Johanna Wanka hatte es schon am Morgen als wahrscheinlich bezeichnet, daß die KMK die Vorschläge des extra zu diesem Zweck eingesetzten Rats für deutsche Rechtschreibung annehmen werde. Ein Jahr nach dem ursprünglich angestrebten Termin der verbindlichen Einführung der Reform sollen in allen deutschen Bundesländern wieder einheitliche Regeln gelten - allerdings wiederum mit einjähriger Übergangsfrist für die Änderungen der Änderungen. Die Schüler werden dann wieder neue Regeln pauken müssen - aber in begrenztem Umfang. Schließlich hat der Rechtschreibrat nur die umstrittensten Punkten geändert. Diese betreffen Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung am Zeilenende. So sollen etwa feststehende Begriffe wie „Große Koalition” oder „Gelbe Karte” wieder groß geschrieben werden. Auch das Anredepronomen „Du” im Brief darf wieder groß sein. Möglich sein sollen auch wieder die Schreibweisen eislaufen, kopfstehen, Seite 58

nottun und leidtun, falsch wird dagegen bei Worttrennungen die Abtrennung von Einzelvokalen am Wortanfang oder -ende wie E-sel oder Bi-omüll. In Bayern und NRW verbindlich Abzuwarten bleibt, ob der nunmehr bald zehn Jahre währende Streit um die Schreibweisen dann endlich beendet sein wird. Einige der Reformkritiker haben bereits ein Einlenken angekündigt oder zumindest signalisiert: So wollen auch Bayern und Nordrhein-Westfalen die nachgebesserte Reform nun verbindlich einführen. Beide Bundesländer waren im vergangenen August ausgeschert und hatten erklärt, sie wollten erst die Klärung der noch strittigen Schreibweisen abwarten. Vergangene Woche hatte zudem der Axel Springer Verlag mitgeteilt, man prüfe eine Abkehr von der alten Rechtschreibung, zu der der Verlag 2004 zurückgekehrt war. Springer begrüßte ausdrücklich die vom Rat vorgelegten Empfehlungen, nun werde geprüft, ob damit „eine einheitliche reformkonforme Rechtschreibung in den Zeitungen und Zeitschriften sowie den Onlinemedien des Verlages übernommen werden kann”. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die bereits seit 2000 wieder in bewährter Rechtschreibung schreibt, will die Kompromißvorschläge „sorgfältig prüfen”. Man werde die Beschlüsse der KMK abwarten und dann sehen, wie die neuen Ausgaben der Wörterbücher Duden und Wahrig aussähen, die für den Frühsommer angekündigt seien, sagt der Leiter des Literaturressorts, Hubert Spiegel. „Wir werden sehen, ob sie brauchbarer sind als die letzten Ausgaben und ob es wieder so viele Abweichungen zwischen den Wörterbüchern gibt.” Entschieden sei noch nichts. „Unaufgeregte Einführung des Kompromisses” Änderungen stehen aber natürlich auch für diejenigen ins Haus, die die Reform mitmachten. Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen, die auch einen Vertreter in den Rat für deutsche Rechtschreibung entsandten, hatten die Reform zum 1. August 1999 weitestgehend umgesetzt. Nach dem KMK-Beschluß wollen sie nun über die Änderungen beraten und ihre künftigen Schreibweisen festlegen. Einige der Änderungen gehen aber ohnehin in die Richtung der Agenturausnahmen. Der Dachverband der Schulbuchverlage weist darauf hin, daß keine neue Reform anstehe, sondern lediglich einzelne Änderungen am Regelwerk. „Es wird eine unaufgeregte Einführung des Kompromisses geben”, sagt Sprecher Rino Mikulic. Schulbücher müssen nicht eingestampft und zum 1. August neu aufgelegt werden. Zwar müßten die Sprachbücher „zügig geändert” werden, da aber in den Bundesländern momentan ohnehin einiges an Reformen für den Schulunterricht laufe, seien die Termine neuer Buchauflagen bereits entsprechend kalkuliert, erklärt Mikulic. „Wenn man jetzt auch noch die großen Zeitungsverlage mit ins Bott bekäme, wäre das natürlich gut und der Streit hoffentlich mal beendet.” Kritik wird nicht verstummen Auch Ludwig Eichinger vom Rat für deutsche Rechtschreibung hofft, daß nun endlich Ruhe einkehrt. Es sei klar, daß alle, die im Rat mitgearbeitet hätten, sich einem Kompromiß verpflichtet hätten, auch wenn jeder einzelne Seite 59

dabei Abstriche machen müsse, sagt der Direktor des Instituts für deutsche Sprache. Allerdings kehrte der wohl bekannteste Reformgegner Theodor Ickler, der im Rat mitgearbeitet hatte, diesem vergangene Woche demonstrativ den Rücken und bezeichnete die Korrekturvorschläge als völlig unzureichend. Ickler habe den Kompromißdruck wohl nicht mit sich vereinbaren können, sagt Eichinger. Auch die anderen in der Forschungsgruppe Deutsche Sprache zusammengeschlossenen Gegner der Reform sehen bei den Korrekturempfehlungen „schwere Mängel”. Und der Deutsche Elternverein forderte die Kultusminister auf, die alte Rechtschreibung an Schulen wieder zuzulassen. Die Kritik an der Reform wird somit wohl auch in Zukunft nicht verstummen. F.A.Z.

Überfällige Reform-Korrektur Matthias Kamann

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ie Floristin eröffnete „Gaby’s Blumenladen“, DaimlerChrysler führte die Doppelgroßschreibung ein, und 60 Jahre nach Kriegsende wurde „den Opfern gedacht“. Doch statt zu überlegen, wie solchem Sprachverfall zu wehren ist, haben ihn unsere Kultusminister sowie die in Österreich und der Schweiz sich für zuständig Erklärenden beschleunigt, indem sie einen bald 20 Jahre währenden Streit um die Rechtschreibreform führten. Gewohntes wurde verfremdet („Stängel“), Schwieriges durch Schwierigeres ersetzt („Leid tun“). Briefe sollte man unhöflicherweise an „dich“ richten. Und regelrecht beschädigt wurde das Deutsche, als die für unsere Sprache elementaren Wortverbindungen auseinandergerissen wurden („in der Schule sitzen bleiben“). Dies und die Kommatilgung („Er wäscht sich und Mutter, die kocht, ist in der Küche“) störten überdies den Lesefluß. Daß dieses Bürokratenmonstrum keinen Bestand haben konnte, versteht sich, ebenso, daß Schriftsteller und große Verlage zur alten Schreibung zurückkehrten. Freilich führte dies zu einer Zweiteilung der Schriftsprache, Schüler wie Lehrer wurden verunsichert. Wo früher in Zweifelsfällen bloß Unsicherheit bestand, herrschen Konfusion und Verzweiflung. Nun aber wollen die Kultusminister den vom Rat für deutsche Rechtschreibung gegebenen Empfehlungen zur Reformkorrektur folgen. Dies ist ein wichtiger Schritt zu bewahrenswerten Prinzipien der alten Schreibung. Jetzt ist zu prüfen, ob der Schritt ausreicht und ob Rechtschreibfrieden möglich ist, damit man sich den relevanten Sprachproblemen zuwenden kann. Den Schweizern indes scheint die Korrektur schon zu weit zu gehen. So bleibt zu befürchten, daß wir uns „wegen den Politikern“ noch länger mit den „unwichtigeren“ Themen befassen müssen. Die Welt, 3. März 2006 Seite 60

Richtig und falsch Hubert Spiegel

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ls diese Zeitung vor sechs Jahren von der reformierten zur bewährten Recht schreibung zurückkehrte, zog sie die Konsequenz aus der Erfahrung, die jeder machte, der eine Zeitlang die neuen Regeln befolgte. Die Reform hatte die deutsche Sprache beschädigt und den Reichtum und die Genauigkeit ihrer Ausdrucksmittel erheblich beeinträchtigt. Schriftsteller, Journalisten und viele andere, die sich gegen die Reform zur Wehr setzten, taten dies, um ihr Handwerkszeug zu verteidigen. Damals warfen Politiker dieser Zeitung vor, sie entfessele eine „Pseudodebatte“. Die neue Rechtschreibung, behaupteten die Kultusminister damals, sei wesentlich einfacher als die alte, eine Reform der Reform sei unnötig. Jetzt hat Brandenburgs Kultusministerin Wanka eingestanden, daß „die Rechtschreibreform falsch war“. Reformmängel, deren Existenz jahrelang geleugnet wurde, sollen nun als behoben gelten. All dies wird in einer Mischung aus Erleichterung und Überdruß gesagt. Man muß sich einmal ansehen, welche Formulierungen dabei gebraucht wurden. Die „eklatantesten Mißstände“ seien beseitigt, der „gröbste Unsinn“ und die „schlimmsten Fehler“ würden nun rückgängig gemacht. Das ist richtig und erfreulich. Wir sollen Spaghetti nicht länger ohne h schreiben, wir dürfen Kommata wieder so setzen, daß sie das Lesen erleichtern, und im wichtigen Bereich der Zusammenschreibung werden viele klassische Schreibweisen wieder in ihr altes Recht gesetzt. Das ist ein Erfolg der Reformgegner, über den sich jetzt auch die Reformer selbst zu freuen scheinen. Und doch geben die Erfolgsmeldungen zu denken. Der „gröbste Unsinn“ wurde revidiert. Aber wie steht es mit jenen Reformteilen, die nicht gröbster Unsinn, sondern nur grober oder feinkörniger Unsinn sind? Sie bleiben vorerst bestehen. Reichte die Zeit nicht? Oder will der Rat für Rechtschreibung es bei diesem Reformtorso belassen? Der Zeitdruck war groß, denn die Reform sollte unbedingt zum Sommer in Kraft treten. Am 1. August werden genau acht Jahre vergangen sein, seitdem die neue Rechtschreibung an den Schulen eingeführt wurde. Für Schüler und Lehrer war dies eine Zeit des Leidens. Ein Schüler, der in diesem Sommer sein Abitur macht, wurde 1993 eingeschult und lernte in der Grundschule, daß man das Wort „kennenlernen“ zusammenschreibt. Als er aufs Gymnasium wechselte, wechselte auch die Rechtschreibung. Nun sollte „kennenlernen“ aus zwei Wörtern bestehen. In den folgenden Jahren schrieb unser Gymnasiast das Wort auseinander, mußte aber feststellen, daß die meisten Menschen in seiner Umgebung und alle deutschen Schriftsteller „kennenlernen“ weiterhin zusammenschrieben. Wenn der Gymnasiast das Wort demnächst in der Abiturprüfung zusammenschreibt, ist das ein Rechtschreibfehler, der aber wenige Wochen später, nämlich nach dem 1. August, keiner mehr sein wird. Dann werden beide Schreibweisen erlaubt sein. Der Schüler muß seinem Lehrer seit Jahren Leid tun. Nach dem 1. August darf er ihm auch wieder leid tun. Seite 61

Der Rat für Rechtschreibung will zahllose klassische Varianten wieder zulassen und verspricht, daß es dadurch jedem wieder freigestellt ist, weitgehend der bewährten Rechtschreibung zu folgen. Das wird zu prüfen sein. Bewährte und neue Rechtschreibung sollen sich nicht länger ausschließen, sondern gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ist das eine salomonische Entscheidung? Nein, es ist nur die dürre Weisheit derjenigen, die nicht mehr wissen wollen, was falsch und was richtig ist. Die meisten Menschen lassen ihr Sprachgefühl über ihre Rechtschreibung entscheiden; sie mußten ohnmächtig erleben, wie dieses Sprachgefühl im ewigen Hin und Her der vergangenen Jahre verunsichert und beschädigt wurde. Diesen Schaden kann auch die Reform der Reform nicht beheben. F.A.Z., 3. 3. 2006

Stoiber: Reform jetzt viel vernünftiger BERLIN, 3. März Der bayerische Ministerpräsident Stoiber (CSU) hält die Reform der Rechtschreibreform, wie sie von den Kultusministern am Donnerstag beschlossen wurde, für „viel vernünftiger“ als die im vergangenen Jahr vorgesehenen Regeln. „Ich freue mich, daß frühere Unzulänglichkeiten verhindert wurden“, sagte Stoiber dieser Zeitung. Stoiber hielt dieses Ergebnis dem Vorgehen Bayerns und Nordrhein-Westfalens zugute, die im vergangenen Jahr die damalige Reform „nicht umgesetzt“ hätten. Das sei „die einzige Möglichkeit“ gewesen, daß der Rat für deutsche Rechtschreibung die Chance bekommen habe, Verbesserungen herbeizuführen. Die beiden Länder hatten zwar wie alle anderen die Reform an den Schulen eingeführt, hatten aber im vergangenen Jahr den Schritt aufgeschoben, „Fehler“ notenrelevant werden zu lassen, die durch die Anwendung der klassischen Schreibweise erzeugt werden. Bundestagspräsident Lammert (CDU) bezeichnete die Reform der Reform als „ein famoses Beispiel dafür, wie mühsam die Politik gelegentlich Lösungen für Probleme sucht, die sie selbst ohne Not geschaffen hat“. F.A.Z., 3. 3. 2006

Der Schaden ist angerichtet Zur Übernahme der Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung durch die Kultusministerkonferenz heißt es in der „Wilhelmshavener Zeitung’’’: „Die Mehrheit der Menschen hat längst mit Stiften und an Tastaturen abgestimmt: Sie verweigert einfach die Annahme der meisten neuen Schreibweisen. Fazit dieses Polit-Experiments ist, daß es lange nicht mehr ein so großes Tohuwabohu gegeben hat. Wenn der Kultusminister von Sachsen-Anhalt deshalb sagt, daß sich die Politik künftig aus der Rechtschreibung raushalten soll, ist ihm nur zuzustimmen. Die Erkenntnis kommt nur leider zu spät. Der Schaden ist angerichtet.“ Seite 62

Noch viel Unsinn Die „Augsburger Allgemeine“ meint zu der somit beschlossenen Reform der Rechtschreibreform: „Was nun? Zum Feiern ist kein Anlaß. Die vorliegende reformierte Reformschreibung bedarf weiterer Reform. Sie hat sich kompromißlerisch zu sehr in die Variantenschreibung geflüchtet. Sie transportiert noch viel Unsinn weiter wie gestern Morgen, im Allgemeinen, schnauzen und Stängel, ferner Trennungen wie Ins-tanz, die der Wortbildung ins Gesicht schlagen.“

Ein Kapitel Sprachgeschichte In der „Kölnischen Rundschau“ lesen wir: „Jetzt also, nach dem Scheitern eines achtjährigen Feldversuchs mit 100 Millionen Kandidaten, wollen die Kultusminister zur alten Tugend des Beobachtens und Beschreibens zurück - jedenfalls auf Teilgebieten. Auch das wird zu Ergebnissen führen, die Puristen schaudern lassen: Was oft genug falsch geschrieben wurde, so bereits die Praxis vor 1998, wird richtig. So entwickelt sich Sprache halt. Italienisch war irgendwann auch nur falsches Latein. Deshalb sollte man sich nicht zu sehr über den Tollpatsch ärgern, der als bleibendes Ergebnis der Reform behände sein Teeei ergreift: Eine zeitlos richtige Schreibung gibt es nicht, sondern nur eine geschichtlich gewachsene. Und zur Geschichte unserer Sprache, wenn auch nicht gerade zu deren schönsten Kapiteln, gehören auch die Reste der Rechtschreibreform.“

Der Maßstab Eine zweckmäßige einheitliche Orthographie muß den Ansprüchen von Viellesern und Vielschreibern genügen. Diese sind es, die letztlich über die Akzeptanz und den Gebrauch einer Schreibung bestimmen. Deshalb sollten jetzt alle Zeitungen, Zeitschriften und Verlage offene und ehrliche Umfragen unter ihren Lesern und Redakteuren/Autoren machen, welche Rechtschreibung sie bevorzugen. (Eine neue Allensbachumfrage wäre auch nicht schlecht.) Das Ergebnis dürfte wohl klar sein. Aber die Oberlehrer in manchen Verlagshäusern und Chefredakteurssesseln (z.B. Markwort) haben ein ähnliches Problem wie die Kultusminister, das der Gesichtswahrung. Wenn sie Charakter hätten, würden sie sich trotzdem einen Ruck geben, und der Spuk wäre in kürzester Teit vorbei. Die Reform befindet sich nach dem KMK-Beschluß ohnehin im Koma. Hier wäre Sterbehilfe kein moralisches Problem, das Begräbnis wäre ein stilles Freudenfest für alle gepeinigten Leser und Autoren. Auch die Reformbefürworter sehen doch inzwischen ein, daß ihre gutgemeinten pädagogischen Absichten nichts gefruchtet bzw. das Gegenteil bewirkt haben. Sonst zieht sich das Ganze nochmals zähe fünf bis zehn Jahre hin, denn es gibt halt keine richtige Rechtschreibung in der falschen, worauf schon öfters hingewiesen worden ist. jms Seite 63

LEHRSTÜCK AUS DEM TOLLHAUS von Fridolin M. Rüb ar es Ausdruck bayerischer Schlitzohrigkeit oder überkam den ehemaligen Kultusminister Hans Zehetmair gar ein Anflug von rabenschwarzem Humor, als er ausgerechnet den Rosenmontag wählte, um der Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Ute Erdsiek-Rave, die Vorschläge des Rechtschreibrates zu übergeben. Am Aschermittwoch war aber längst noch nicht alles vorbei, denn tags darauf beschloß die KMK diese mißratene Reform der unsäglichen Rechtschreibreform. Die Minister bezeichneten die Änderungen als gute und tragfähige Grundlage für die Fortentwicklung der Rechtschreibung. Zugleich äußerten sie die Hoffnung, dass auch die bisher kritisch eingestellten Teile der Öffentlichkeit die Nachbesserungen als Konsensangebot verstehen und die jetzt gültigen Regeln und Schreibweisen übernehmen. Insbesondere appellierten sie an alle Verlage und Publikationen, sich dem anzuschließen im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtschreibung.

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Mit diesem Appell zur Einheitlichkeit beweisen die Kultus-Gewaltigen einmal mehr, dass ihr Vorrat an unfreiwilliger politischer Hochkomik noch lange nicht erschöpft ist. Die von ihnen beschworene Einheitlichkeit der Rechtschreibung ist dank ihrer Reformitis nun Vergangenheit. Nun sind Beliebigkeit und Mißverständlichkeit angesagte, weil unzählige neue Schreibvarianten vorgesehen sind. Das betrifft vor allem den Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung. Hier wird zwar vielfach die bewährte herkömmliche Schreibung wieder erlaubt, aber nur neben der reformierten Form, quasi zähneknirschend von den Ideologen geduldet. So steht künftig schiefgehen neben schief gehen – das eine tat die Reform, das andere taten die Reformer. Und nichtssagend steht neben nichts sagend. Letzteres wäre diesbezüglich der irregeleiteten KMK zu empfehlen. Bereits vor der fatalen Entscheidung der KMK waren nämlich von mehreren Seiten Forderungen laut geworden, daß sich die Politik künftig aus der Rechtschreibregelung heraushalten solle. So erklärte Sachsen-Anhalts Kultusminister Jahn-Hendrik Olbertz, er stimme der nachgebesserten Reform auch deswegen zu, „weil damit der Gordische Knoten durchschlagen und vielleicht auch das Elend beendet ist“. Der Rechtschreibrat habe mit den Korrekturempfehlungen immerhin „eine ganze Menge Unsinn zurückgenommen“. Eine ganze Menge ist es zwar nicht, denn die könnte man hoch stapeln, hochstapeln tat dagegen Minister Olbertz, indem er Petitessen als Mengen deklarierte. Es kann ja wohl nicht als Großtat gelten, wenn die streng riechende Trennung „Urinstinkt“ zugunsten von „Ur-instinkt“ aus dem Südenregister gelöscht wird. Die Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS) nannte die Einigung einen Diktatfrieden, der die Einheitlichkeit der deutschen Sprache auch nicht mehr herstellen könne. Diese Reform werde genauso schnell veraltet sein, wie ihre Vorgängerinnen. Der FDP-Kulturpolitiker Hans-Joachim Otto traf den Nagel auf den Kopf, als er die Rechtschreibreform ein Fiasko nannte und einen schlagenden Beweis dafür, „daß der Staat sich an der Sprache nicht vergreifen darf“. Doch das tat er, und erfüllte damit den Tatbestand der Sprachvergewaltigung. Milliarden hat dieser Bankrott der Rechtschreibreform bereits gekostet. Dieses Seite 64

„Reform“ genannte Lehrstück aus dem politischen Tollhaus hat viele Tausende an Arbeitsstunden gefordert, hat in mehreren Schüben Berge von Büchern hervorgebracht, die binnen kurzer Zeit überholt waren. Die Reform hat nie die Unterstützung der Bevölkerung besessen. Sie war das dümmste und überflüssigste Unternehmen in der Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: ein gemeingefährlicher Akt. Starker Tobak? Nein, leider wahr! Denn Tatsache ist, daß diese „Reform“ der Rechtschreibung, an der die „Zwischenstaatliche Kommission“ über 20 Jahre lang gearbeitet hatte und die am Ende von den Kultusministern nun wie zu Feudalzeiten zwangsverordnet wurde, nur eines erreicht hat: Es gibt keine einheitliche deutsche Orthographie. Die Kommission hatte uns 1996 eine grandiose Reform versprochen mit Erleichterungen für alle – und das Gegenteil ist eingetreten. Die Reform hat in ein Chaos geführt. Für Ämter und Schulen wurden die neuen (mittlerweile überholten) Regeln bereits am 1. August 1998 verbindlich. Die Nachrichtenagenturen und die meisten Printmedien folgten ein Jahr später – allerdings in meist modifizierten Varianten. Und die Bürger? Wie Umfragen ergaben, schreiben 90 Prozent der Deutschen weiterhin nach den alten Regeln. Und von denen, die sich zu den neuen Schreibweisen bequemen, holt sich ein jeder das heraus, was ihm paßt. So ist dieses von Anfang an windschiefe Regelgebäude zu einem Steinbruch geworden, aus dem jeder raushackt, was ihm richtig erscheint. Doch die Kultusminister, die für diesen Sprachsalat verantwortlich sind, weil sie ein von Anfang an verpfuschtes, weil ideologisch befrachtetes Reformvorhaben sanktionierten, schalteten auf stur. Denn merke: Ein deutscher Kultusminister irrt nie und die Kultusministerkonferenz schon gleich gar nicht. Im Übrigen, so ließen die Kultusminister verlauten, lernten die Schüler ihre Rechtschreibung nun viel leichter. Was eine faustdicke Lüge ist, wie eine an der Uni Bielefeld abgeschlossene Studie belegt. Danach ist die Zahl der Rechtschreibfehler bei Kindern in der Grundschule mit der Einführung der Reform nicht gesunken, sondern gestiegen. Von den vielen Wörterbüchern, die seit 1996 geschrieben worden sind, ist nicht eines mit dem anderen identisch. Der Potsdamer Sprachprofessor Peter Eisenberg hat die Abweichungen in den Rechtschreibbüchern auf 8000 Fälle beziffert. Jedem neuen Versuch folgte seit 1996 innerhalb kürzester Frist eine Revision. Die in gutem Glauben an die Verbindlichkeit der neuen Schreibe gerade gekauften Wörterbücher wird man nun bald ebenso entsorgen müssen wie die teure Software. „Ich hoffe, Sie können wieder sehen, wenn wir uns wiedersehen“, sagte ein Journalist zum damaligen bayerischen Kultusminister Zehetmair, als die KMK sich 1995 anschickte den Reform-Unfug zu sanktionieren. Zehetmair stellte sich damals taub. Zu seiner Ehrenrettung sei aber gesagt, daß er – als bislang einziger der damals Verantwortlichen – heute freimütig eingesteht, daß man einen Fehler gemacht habe. Und in der Tat. Die Reform zeitigte zuweilen sogar Unsinn pur: Es macht zum Beispiel für das Opfer eines Überfalls (und für den Richter bei der UrteilsfinSeite 65

dung) sehr wohl einen Unterschied, ob ihn zwei Ganoven zusammengeschlagen oder zusammen geschlagen haben. Daß die fatale Getrenntschreibung auch für ausgemachte Peinlichkeiten gut ist, mußte auch der damalige Bundespräsident Johannes Rau erfahren, als er Deutschland als „gastfreies“ Land gelobt hatte und am nächsten Tag lesen mußte, er habe „Gast freies“ Land gesagt. Bleibt aus dem gesammelten Unfug der Schluß zu ziehen: Wenn die Kultusminister auf ihrer Reform „sitzen bleiben“, werden sie „sitzenbleiben“. Landshuter Zeitung, 04.03.2006

Politik solle sich aus der Rechtschreibung heraushalten - das wäre wunderbar. Ist das mit dem Aschermittwochscoup erreicht? Zitat: So erklärte Sachsen-Anhalts Kultusminister Jahn-Hendrik Olbertz, er stimme der nachgebesserten Reform auch deswegen zu, „weil damit der Gordische Knoten durchschlagen und vielleicht auch das Elend beendet ist“. Nun erkläre mir bitte einmal jemand, weshalb Zustimmung zu einem Beschluß ein Heraushalten ist: „Heraushalten“ wäre doch nur eine liberale Haltung, die den Menschen weder etwas verbindlich vorschreibt noch es untersagt. Wer unsinnige und erfundene Schreibweisen, wie geschehen, als verbindlich für Schulen und Ämter verordnet, hält sich eben gerade NICHT heraus, auch nicht künftig: gilt doch seine Order für die Zukunft! Tatsächlich ist die Zustimmung der Kultusminister eine Zementierung der Einmischung, der bisher locker in die Wand getriebene Nagel wird nun durch Dübel und Schraube ersetzt, das Schandmal ist fest verankert. Oder begreife ich da etwas falsch? Es wird ohnehin immer schwieriger, diese Vorgänge zu verstehen. Dies ist wieder einmal ein schönes Beispiel, wie man durch Rabulistik aus tatsächlicher Unfreiheit rhetorische Freiheit macht, aus tatsächlicher Ungerechtigkeit sozialen Frieden. Und alle fallen auf diesen Trick herein und jubeln. Macht mal jemand das den Journalisten begreiflich. Die sollen lieber handeln statt jammern! Karin Pfeiffer-Stolz

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Blauäugig Zu „Orthographie nach Zehetmair“ von Jürgen Kaube (26. Februar): Die von Ihnen angeführte Aussage von Herrn Zehetmair, man habe bei der Rechtschreibreform mitgemacht, obwohl man eigentlich nicht mochte, ist schlichtweg falsch. Er und auch der niedersächsische Kultusminister waren seinerzeit die Haupttreiber bei dieser unsäglichen Reform. Diesen Mann dann zum Vorsitzenden des Rates für deutsche Rechtschreibung zu berufen hieß, den Bock zum Gärtner zu machen. Allerdings wirkt die Kritik der FA.Z./F.A.S. an Zehetmair immer etwas blauäugig. Wurden ihm doch vor nicht allzu langer Zeit noch Lobeskränze geflochten. Jörg Reinwein, Frankfurt

Kunze wehrt sich gegen neue Rechtschreibung oll. FRANKFURT, 14. März er Schriftsteller Reiner Kunze hat sich erfolgreich gegen einen bayerischen Schulbuchverlag durchgesetzt, der seine Texte eigenmächtig in neue Rechtschreibung übertragen hatte. Der Verlag, der mehrfach einer Vorlage des Hessischen Kultusministeriums gefolgt war, das seinen Text eigenmächtig angepaßt hatte, wurde durch Abmahnung und durch eine Unterlassungserklärung bei Meidung einer Vertragsstrafe dazu verpflichtet, Kunzes Texte nur in der Originalfassung abzudrucken. In einer Erklärung Kunzes zu den jüngsten Beschlüssen der Kultusministerkonferenz heißt es, er werde „auch künftig all das zurückweisen, was das Sprachgefühl der Kinder, die intuitive, vom Regelwissen unabhängige Sprachkompetenz beschädigt und vom Rat für deutsche Rechtschreibung in seiner Mehrheit von Verursachern und Befürwortern des Reformskandals unkorrigiert gelassen oder zur Variante umgewidmet worden ist“.

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„Die Sprache kennt keine Kompromisse“ oll. FRANKFURT, 28. März ahlreiche Schriftsteller haben an die Ministerpräsidenten appelliert, an der bewährten Rechtschreibung festzuhalten. In einer Erklärung kündigten die überwiegend jungen Schriftsteller (unter anderen Daniel Kehlmann, Christian Kracht, Feridun Zaimoglu, Judith Hermann, Iris Hanika) an, daß sie ihre Bücher weiter in der traditionellen Rechtschreibung drucken lassen wollen. „Die Sprache kennt keine Kompromisse“, heißt es in der Erklärung. Der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, Zehetmair (CSU), sagte dieser Zeitung: Wenn die „Printmedien“ künftig im Falle mehrerer Möglichkeiten den bewährten Schreibweisen folgten, würden sich diese durchsetzen. Auch die Schulbuchverlage hätten angekündigt, so zu verfahren. Der Vertreter der Deutschen Presse-Agentur, Hein, schied auf eigenen Wunsch aus dem Rat für deutsche Rechtschreibung aus. Er hatte Kritiker der Reform als „Krawallmacher“ bezeichnet.

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Deutsche Schriftsteller halten an der alten Rechtschreibung fest „Sprache kennt keine Kompromisse“ / Gemeinsame Erklärung oll. FRANKFURT, 28. März urz vor der Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz über die Vorschläge des Rates für deutsche Rechtschreibung an diesem Donnerstag haben Schriftsteller und Rechtswissenschaftler sowie die Bayerische Akademie der Schönen Künste an die Ministerpräsidenten appelliert, an der bisherigen Rechtschreibung festzuhalten. In einer gemeinsamen Erklärung der Schriftsteller, die von Daniel Kehlmann, Christian Kracht, Feridun Zaimoglu, Judith Hermann, Iris Hanika und anderen unterzeichnet ist, bekräftigen die Dichter, ihre Bücher weiter in der bisherigen Schreibweise drucken zu lassen. Der Staat habe selbst ohne Not eine Situation hergestellt, in der er sich von der überlegenen Orthographie der gewachsenen und vitalen Schriftkultur provoziert fühlen müsse. Die Literatur werde ihm aus dieser Lage nicht heraushelfen. Sie werde sich um staatliche Vorgaben um so weniger scheren, als diese die Intelligenz des Lesers beleidigten und die Tradition obsolet machten. Von einem Rechtschreibfrieden könne also überhaupt nicht die Rede sein, noch weniger von einem Kompromiß. „Die Sprache kennt keine Kompromisse, jedenfalls nicht solche, wie sie in nichtöffentlichen Sitzungen seit über zwanzig Jahren zwischen ein paar Dutzend Didaktikern, Linguisten und Ministerialbeamten sowie Verbands- und Wirtschaftsvertretern ausgehandelt werden“, heißt es in der Erklärung.

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Die Bayerische Akademie der Schönen Künste appellierte an die Ministerpräsidenten, einem neu zu berufenden Rechtschreibrat die politische Unabhängigkeit und die nötige Zeit zu gewähren, die dazu erforderlich sind, das durch die „Anmaßung und Inkompetenz der Verantwortlichen angerichtete Chaos der deutschen Rechtschreibung“ zu beheben. Nach sorgsamer Prüfung der zu ratifizierenden Vorschläge des Rates stimme die Akademie mit den Kennern der deutschen Sprachgeschichte und Orthographie überein, daß die zur Befriedung empfohlenen Resultate des Rechtschreibrates in hohem Grade unbefriedigend seien. In Anbetracht des tendenziös besetzten Gremiums sei nichts anderes zu erwarten gewesen. Denn nach dem öffentlich erklärten Willen der Kultusminister gehe es bei der zur Genehmigung vorgelegten Reform der Reform der deutschen Rechtschreibung durchaus nicht um die Aufhebung der durch die Kultusministerkonferenz verursachten Verwilderung der deutschen Orthographie, sondern um ein „Exempel bundesrepublikanischer Staatsräson“. Rechtswissenschaftler haben unterdessen darauf hingewiesen, daß der „blamable Umgang“ mit der Rechtschreibung belege, daß die Kultusverwaltungen und die Organisation der Kultusministerkonferenz zu einer Belastung für das deutsche Bildungssystem geworden seien, die den Forderungen der Länder im Rahmen der Föderalismusreform nach einer Ausweitung der Bildungskompetenzen vollkommen zuwiderlaufe. Beim Verfassungsgericht in Karlsruhe ist unterdessen eine Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtschreibreform eingegangen. Seite 68

Der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, der frühere bayerische Wissenschaftsminister Zehetmair (CSU), hat im Gespräch mit dieser Zeitung abermals den von den Kultusministern ausgeübten Zeitdruck beklagt und auch eine partielle Unzufriedenheit mit dem Arbeitsergebnis des Rates zum Ausdruck gebracht. Es sei durchaus erlaubt, noch einmal die Schreibung von „Quäntchen“ und „behände“ zu ändern. Zwar sei schon viel dadurch erreicht worden, „den alten Betonköpfen das absolute Geltendmachen des Regelwerks umzustoßen“, doch müßten noch weitaus mehr Schreibweisen dem Sprachgebrauch des „unverbildeten Lesers folgen“. Wenn die „Printmedien“ im Falle mehrerer Möglichkeiten durchgängig den bewährten Schreibweisen folgten, würden sich diese durchsetzen. Auch die Schulbuchverlage hätten angekündigt, so zu verfahren. Er rechne fest damit, daß der Beschluß bei der Ministerpräsidentenkonferenz „durchlaufe“. Bestätigt hat Zehetmair auch, daß der Vertreter der Deutschen Presse-Agentur (dpa), Hein, auf eigenen Wunsch aus dem Rat ausgeschieden ist. Da er die Reformkritiker unter den Zeitungen im Rat als „Krawallmacher“ bezeichnet hatte, war der Druck auf ihn gewachsen. Hein sagte, er habe sich in der Wortwahl vergriffen und die Verantwortung für diese Äußerung übernommen. In den Rechtschreibrat wird von der dpa ein Nachfolger entsandt. Der Rat wird jedoch erst nach der Veröffentlichung der vollständigen Wörterlisten in den Wörterbüchern wieder tagen.

Ohne staatliche Vorschrift Heike Schmolls Glosse „Täuschungsmanöver“ (F.A.Z. vom 25. Februar) macht fassungslos. Auf in Hessen erworbener und stets erweiterter germanistischer Grundlage unterrichte ich seit 37 Jahren vor allem das Fach Deutsch, bilde fast genausolange Lehrer aus und bin Mitautor der aktuellen einschlägigen Lehrpläne für die Gymnasien des Landes. Und nun plötzlich Verfassungsfeind, weil ich einen Teil der Rechtschreibreform aus sprachwissenschaftlichen und didaktischen Gründen für verfehlt halte (wovon die Ausübung der pädagogischen Dienstpflichten unberührt ist)? Dies ist das zweite Mal in meiner Dienstzeit, daß eine Landesregierung (in trauter Eintracht mit den anderen) wissenschaftliche Grundlagen des Fachs Deutsch zu monopolisieren trachtet: Die Rahmenrichtlinien der siebziger Jahre denunzierten die Hochsprache als Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse und verordneten ihre partielle Abschaffung im Unterricht als emanzipatorische Tat. Auch damals gab es breite Unterstützung anderer „progressiver“ Bundesländer. Teilweise und für eine gewisse Zeit war das Vorhaben gelungen; an den Folgen (unter anderem Pisa) leidet die Schule noch heute. Schrecken diese Spuren nicht? Das Bundesverfassungsgericht hat dem Staat das Recht nicht bestritten, in seinen Einrichtungen Vorschriften zur Schreibung der deutschen Sprache zu erlassen. Er sollte - nicht nur aus wissenschaftlichen, sondern vor allem aus ethischen Gründen - auf dieses Recht verzichten, wenn es in den Bestand der Sprache mit all ihren unwägbaren Einwirkungen auf Gemüt und Weltsicht der Sprecher und Schreiber eingreift. Sprache gehört allen, und alle verändern sie. Wer sich gegen eine Ersatzvornahme dieses Veränderns durch Regierung und Verwaltung ausspricht, dient in besonderer Weise der Verfassung dem Grundgesetz und der Hessischen. Klaus Ruß, Bad Nauheim Seite 69

Rechtschreibung Ich bin sehr dankbar, daß gerade die jüngeren Schriftsteller bei der bewährten Rechtschreibung bleiben wollen. In der letzten Zeit habe ich sowieso nur noch Druckerzeugnisse gekauft, die auch diese Rechtschreibung beibehalten haben. GEO habe ich gekündigt, obwohl ich Abonnentin seit der ersten Ausgabe war. Den Leserbrief von Herrn Kleiner kann ich nicht ganz nachvollziehen. Wenn ich mich in einer Buchhandlung aufhalte, sehe ich nur sehr wenige Erzeugnisse aus der Feder von Ingenieuren. Ich möchte ja nicht polemisch werden, und jedem Menschen können Schreibfehler unterlaufen, aber dieser Brief ist eine Zumutung. Man kann doch wenigstens durchlesen, was man verzapft hat, bevor man es auf die Leser losläßt. Aber leider zeigen die Beitragskommentare allgemein keine große Sorgfalt in dieser Hinsicht. Ursula Lehmer

Schluß mit dieser Farce „Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt“ (Karl Kraus). Ein Tor, wer glaubt, sie beherrschen zu können. Das Verhalten der Obrigkeit und ihrer Vasallen schreit nach kollektivem Ungehorsam. Mögen sie beschließen, was sie wollen, ich schreibe wie bisher. In Zweifelsfällen ziehe ich meinen Duden in der 20. Auflage zu Rate mit dem Ergebnis, das zu schreiben, was ich meine. Diese Farce nährt lediglich meine Zweifel an der Reformfähigkeit diese Staates und bestätigt meinen Staatsverdruß. Deutschland hat besseres verdient. Volker Best

Was uns das sagen könnte Warum entscheidet eine Regierung, und noch dazu die des ‘Volkes der Dichter und Denker’, die seit Generationen vertraute Spracheregelung grundlegend zu reformieren? War es ein Wunsch des Volkes? War es dem zwanghaften Aktionismus profilsüchtiger Gestaltungsneurose geschuldet? Oder wurden hier entsprechend einflußreiche Interessensgruppen bedient? Wer profitierte davon, zu welchem Nutzen sollte eine sogenannte Vereinfachung der deutschen Sprache denn wem dienen? Sollten wir vielleicht zukünftig auch die Mathematik vereinfachen, da gibt es auch viele, die damit Schwierigkeiten haben. Tatsache ist, daß das Ganze den Steuerzahler einiges unnütz an Geld gekostet hat, bisher jede Menge Unordnung hinterließ und jetzt den Staat scheinbar auch noch dazu verführt, autoritär und eigensinnig dem Bürger seine freiheitlich-demokratisch verfaßte Macht zu demonstrieren. Da soll sich einer wundern, wenn nur noch jeder Zweite zum Wählen geht. Hätte es einen Bürgerentscheid zur Änderung der deutschen Rechtschreibung gegeben, das Bild wäre in jeder Hinsicht wohl ein anderes gewesen. Doch so etwas weiß unser derzeitiges parlamentarisches System bisher noch erfolgreich zu verhindern. ‘Warum, wie lange noch und zu welchem Nutzen?’ Wenn wir anfangen, solche Fragen öffentlich zu diskutieren, könnte es vielleicht gelingen, unser Land aus seiner derzeitigen Depression zu führen. Uwe Gartze Seite 70

Besser Maßhalten Nach dem die FAZ als erste sich aktiv von dem Unding Rechtschreibreform gelöst hatte, ist es erfreulich, daß immer mehr Literaten und Printmedien sich der Doktrin widersetzen. Die neuerlichen Vorschläge über getrennt-, zusammenschreiben gehen nicht weit genug. Unsere Sprache ist eine lebendige Sprache, die sich entwickelt. Man kann ihr nicht mit „Erziehungsmaßnahmen“ auf die Sprünge helfen. Sie will alleine wachsen. Und das tut sie seit Jahrhunderten und wird sich auch weiterhin allein entwickeln. Laßt ihr also freien Lauf und kehrt zurück auf den Stand vor jeder Reform - ausgenommen die von 1902, die erstmalig eine einheitliche Schriftsprache organisierte. Das war damals ein nötiger Schritt. Die jetzigen Reformen - mal hin, mal her - haben zu einem Chaos geführt. Keiner weiß mehr so recht, wie er schreiben soll - und so schreibt er wie er will, bestenfalls wie er es gelernt hat. Ich auch. Friedemann Claar

Deutscher Elternverein e.V. Der Vorsitzende des Bundesvorstands Dr. Ulrich G. Kliegis An die Ministerpräsidenten der Bundesländer Der Weg zum Rechtschreibfrieden Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr N.N., der Presse entnehmen wir, daß die Rechtschreibreform am 30. März 2006 abermals auf der Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz steht. Die Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung stellen bei näherer Betrachtung leider überhaupt nicht den Schlüssel zum von allen Beteiligten gewünschten „Rechtschreibfrieden“ dar. Selbst die Kommentare der Kultusminister (Sie kennen die Zitate) vermittelten nach deren letzter Konferenz ein Bild zerknirschten Überdrusses, weit entfernt von der früheren Überzeugung, richtig zu handeln. Das Gedicht vom Zauberlehrling liegt gedanklich nicht fern. Zu viele verbliebene schlimme Ungereimtheiten, neu hinzugekommene Vieldeutigkeiten - das Resultat der Ratsarbeit ähnelt eher einem Rumprobieren auf der Suche nach dem geringsten Widerstand als einer auf Gebrauchstauglichkeit hin entwickelten Lösung. In unseren Augen ist es nunmehr müßig, unseren Kindern, den Lehrern und letztlich auch Ihnen in Ihrem Amt in immer kürzeren Abständen noch weitere - ganz sicher zu erwartende - Änderungsvorschläge zuzumuten. Wir prophezeien hingegen, daß ein Rechtschreibfrieden, wie ihn auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz wünscht, an den Schulen und in der Gesellschaft unverzüglich eintreten wird, wenn die unglücklichen Erlasse, die die klassische Rechtschreibung an den Schulen als falsch diffamieren und diskriminieren, umgehend ersatzlos gestrichen werden. Es ist absurd, unpädagogisch und kinderfeindlich*, daß die - von verschwindend wenigen gewollten - Reformschreibweisen durchgeboxt werden sollen, indem unseren Kindern das Erlernen der weitestverbreiteten Orthographie per Rotstift und Klausuren- und Zeugnisnotendruck verboten wird. Seite 71

Vor wenigen Tagen haben wir eine bundesweite Unterschriftensammlung zur Untermauerung unserer Forderung nach der Wieder-Öffnung der Schulen für die klassische Rechtschreibung begonnen. Sie steht unter dem Motto „Klassisch schreiben heißt richtig schreiben.“Das muß auch an unseren Schulen so bleiben. Die klassische Rechtschreibung darf nicht falsch genannt werden! Ihr Gebrauch darf an den Schulen nicht als Fehler gewertet werden!**“ Schon jetzt übertrifft der Rücklauf alle Erwartungen. Einzelheiten finden Sie unter http://www.DeutscherElternverein.de. Der deutsche Literaturnobelpreisträger Günter Grass ist Erstunterzeichner unseres Aufrufs, mittlerweile haben u.a. auch Walter Kempowski, Harry Rowohlt und viele andere unterschrieben. Wir fühlen uns durch die Unterstützung dieser Berufenen, deren literarischer Erfolg auf dem Fundament der klassischen Schreibweisen steht und ohne diese nicht vorstellbar wäre, in der Richtigkeit unserer Denkrichtung bestätigt. Der Druck der Diffamierung und Diskriminierung der klassischen Rechtschreibung muß aus den Schulen und damit aus der Gesellschaft verschwinden, dann wird sich die weitere Entwicklung der Schriftsprache voraussichtlich wesentlich entspannter und konstruktiver als bisher gestalten lassen. Wir wollen dazu gerne unseren Teil beitragen. Erste Vorschläge dazu finden Sie in unserer Stellungnahme zu den Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung, die wir Ihnen schon mit unserem Schreiben vom 28. Februar 2006 zukommen ließen. Daher bitten wir Sie, bei Ihrer bevorstehenden Konferenz zu beschließen: Alle Erlasse der Kultusministerien, aufgrund derer die Schreibweisen aus der Zeit vor der Einführung der Rechtschreibreform in den Schulen als falsch oder überholt gekennzeichnet oder als Fehler gewertet werden, werden umgehend von allen deutschen Kultusministerien ersatzlos und unbefristet gestrichen und zurückgezogen. Mit der Einsetzung des Rates für deutsche Rechtschreibung haben Sie 2004 schon einmal gezeigt, daß Sie um die Entwicklung unserer Sprache besorgt sind und angemessen zu handeln wissen. Es liegt jetzt bei Ihnen, mit einer einzigen Entscheidung den Rechtschreibfrieden an den Schulen und in der Gesellschaft wiederherzustellen. Wir sind sicher, daß Ihnen der Respekt und der Beifall der ganz überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gewiß sein wird. Der Zeitpunkt könnte nicht günstiger sein. Mit freundlichen Grüßen Deutscher Elternverein e.V. Heikendorf, der 27. März 2006 *) Absurd: An den Schulen wird die Existenz und der alltägliche außerschulische Gebrauch der klassischen Rechtschreibung nicht nur geleugnet - ihre Anwendung in der Schule wird auch noch als Fehlleistung bestraft. Angesichts der Zulässigkeit unzähliger anderer neuer, unerprobter Regeln und der Seite 72

tatsächlichen gesellschaftlichen Akzeptanz der klassischen Rechtschreibung ist das absurd. Unpädagogisch: Nicht nur die Bücherschränke der Eltern, die Neuerscheinungs-Regale in den Buchläden, sondern auch die Lehrbuchbibliotheken der Schulen stehen voll von Werken, die in klassischer Rechtschreibung verfaßt und gedruckt wurden und werden. In den Augen der Schüler ist ein Lehrbuch Referenz für das objektiv Wahre, für das, was sie aus der Schule mit ins Leben nehmen sollen. Gleichzeitig wird ihnen jetzt beigebracht, daß das, was sie da lesen, falsch ist. Was soll ein Lehrer den Kindern nun nahebringen - daß der Lehrstoff oder der Roman eines Nobelpreisträgers falsch ist? Das ist unpädagogisch. Kinderfeindlich: Der unerklärliche Konflikt zwischen richtig und falsch, der sich dem Kind aus diesem Widerspruch (s.o.) darstellt, den es zwar nicht auflösen kann, der ihm aber immer wieder unvermeidbar begegnet, führt zu Unsicherheit, Angst und somit zu seelischem Druck und einer Beeichträchtigung seiner Lernfähigkeit. Das ist kinderfeindlich. **) Die zur Zeit gültigen Erlasse der meisten Kultusministerien schreiben vor, daß Schreibweisen, die nach klassischer Rechtschreibung richtig sind, aber von den reformierten Regeln abweichen, als Fehler gewertet werden.

Ministerpräsidentenentscheidung zugunsten des „Kompromisses“ löst Probleme nicht – Rechtschreibfriede erst nach Beseitigung der Mängel möglich Voraussichtlich werden die Ministerpräsidenten auf ihrer heutigen Konferenz die Reform der Rechtschreibreform einfach durchwinken. Der Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege (VRS) weist darauf hin, daß mit diesem angeblichen Kompromiß kein Rechtschreibfriede erreicht werden kann. Hans Zehetmair, Leiter des Rates für deutsche Rechtschreibung, hat diesen Kompromiß als politisch einzig mögliche Lösung verteidigt. Dies mag für die Verhältnisse im Rat zutreffen. Grammatikverstöße, Sinnentstellungen, willkürliche Unsystematik und erhöhte Fehlerzahlen an den Schulen erfordern eine andere Lösung: Rückkehr zu den bewährten Schreibweisen. Wenn die Politik darauf besteht, etwas für richtig zu erklären, was nach der Grammatik falsch ist, beweist dies, daß es falsch war, die Politik mit dieser Aufgabe zu betrauen. In der deutschen Sprachgemeinschaft lehnt eine überwältigende Mehrheit die Rechtschreibreform ab. Der Kompromiß im Rat, in dem Reformbefürworter die Mehrheit haben, ist demokratisch bedeutungslos. Die Unterschriftensammlung des Deutschen Elternvereins e. V., der Aufruf der 22 Bürgerinitiativen und der gestrige Appell von Schriftstellern, Rechtswissenschaftlern sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste an die Ministerpräsidenten bestätigen dies. Seite 73

Ein weiterer Aspekt sind die auch nach der Reform der Reform verbliebenen inneren Widersprüche, diese erfordern umfassende Korrekturen, schon deshalb kann die heutige Fassung nicht als Abschluß des Reformwerkes angesehen werden. Die Ministerpräsidenten haben es in der Hand, ob der Reformneubau weiterhin ein Sanierungsfall bleibt, oder ob mit der Rückkehr ins vertraute und vor allem funktionsfähige Heim der bewährten Schreibweisen Probleme und Widersprüche auf einen Schlag beseitigt werden. Was hindert die Ministerpräsidenten, das Volk zu vertreten, anstatt der Minderheit von unter 10 % der Reformbefürworter willfährig zu sein? Der VRS wendet sich entschieden gegen Manipulationen an der Sprache aus ideologischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen. Es ist einer Sprachkultur unwürdig, ständig künstlich Neuerungen einzuführen, nur um diese vermarkten zu können. Wer sich mit dem Gedanken an die Rückkehr zur klassischen Rechtschreibung nicht anfreunden mag und weiterhin meint, wir benötigten eine Aufsicht über die Entwicklung unserer Sprache, könnte doch mit uns zumindest darin übereinstimmen, daß diese Aufgabe in unabhängige Hände gelegt werden sollte, damit alle theoretischen und praktischen Aspekte Gehör und Berücksichtigung finden, sowie Entscheidungen ohne vorherrschenden Einfluß von Ideologie und Kommerz möglich werden. Pressemitteilung des Vereins für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e. V. (VRS) 30.03.2006

Es wäre eine Frechheit der Ministerpräsidenten! Insbesondere wäre es eine Frechheit auch von denjenigen Ministerpräsidenten, die uns bisher ihre Ablehnung der Rechtschreibreform vorgegaukelt haben. Die Frechheit dieser Amtsträger hat schon insgeheim dadurch begonnen, daß sie ihre Kultusminister vorgeschickt haben, um schon einmal probeweise die Rechtschreibreform abzustimmen. Sollten die Ministerpräsidenten es jedoch wagen, gegen den Willen der Bevölkerung den Kadaver abzustimmen, der jetzt noch von der Rechtschreibreform übrig ist, müssen sie sich auf einen Boykott und Widerstand aller Art von den Bürgern einrichten. Sie sollen nicht glauben, daß sie machen können, was sie wollen, sondern auf die Vernunft hören und nicht vergessen, daß sie als Listenplatzabgeordnete oder direkt gewählte Amtsträger nur einen vorübergehenden Auftrag haben, der sie nicht berechtigt, den Inquisitor zu spielen. Seite 74

Denn die Rechtschreibreform ist der absolute Schwachsinn einer völlig überflüssigen Verschwörerclique namens Kultusministerkonferenz. Rudolf Neuber

Die deutsche Sprache lebt! Eine Sprache ist ein lebendiges Etwas, das sich nicht um Regeln schert. Sie wächst natürlich und entwickelt sich zur Blüte wie eine Pflanze. Einer der Herausgeber des großen Webster Dictionary versicherte mir, seine Redaktion sei DEskriptiv, sie beschreibe nur, wie sich die Sprache entwickelt (im Gegensatz zum Duden, der PRAEskriptiv sei). Alle Versuche, eine Sprache behördlicherseits in strikte Formen zu gießen, sind von vornherein zum Scheitern verdammt, wie die dreihundertjährigen vergeblichen Anstrengungen der Academie Francaise verdeutlichen. Gerhard Dünnhaupt

Rechtschreibung Ich bin sehr dankbar, daß gerade die jüngeren Schriftsteller bei der bewährten Rechtschreibung bleiben wollen. In der letzten Zeit habe ich sowieso nur noch Druckerzeugnisse gekauft, die auch diese Rechtschreibung beibehalten haben. GEO habe ich gekündigt, obwohl ich Abonnentin seit der ersten Ausgabe war. Den Leserbrief von Herrn Kleiner kann ich nicht ganz nachvollziehen. Wenn ich mich in einer Buchhandlung aufhalte, sehe ich nur sehr wenige Erzeugnisse aus der Feder von Ingenieuren. Ich möchte ja nicht polemisch werden, und jedem Menschen können Schreibfehler unterlaufen, aber dieser Brief ist eine Zumutung. Man kann doch wenigstens durchlesen, was man verzapft hat, bevor man es auf die Leser losläßt. Aber leider zeigen die Beitragskommentare allgemein keine große Sorgfalt in dieser Hinsicht. Ursula Lehmer

Schluß mit dieser Farce „Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt“ (Karl Kraus). Ein Tor, wer glaubt, sie beherrschen zu können. Das Verhalten der Obrigkeit und ihrer Vasallen schreit nach kollektivem Ungehorsam. Mögen sie beschließen, was sie wollen, ich schreibe wie bisher. In Zweifelsfällen ziehe ich meinen Duden in der 20. Auflage zu Rate mit dem Ergebnis, das zu schreiben, was ich meine. Diese Farce nährt lediglich meine Zweifel an der Reformfähigkeit diese Staates und bestätigt meinen Staatsverdruß. Deutschland hat besseres verdient. Volker Best Seite 75

Ein Fiasko Der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ ist berufen worden, um die völlig mißglückte Rechtschreibreform von 1996 zu reformieren mit dem Ziel, „die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung . . . im unerläßlichen Umfang weiterzuentwickeln“. An diesen Zielen gemessen, ist er gescheitert. Zwar wurde ein Teil des groben Unfugs aus dem Jahr 1996 verhindert, aber der Preis dafür sind immer mehr Varianten – von einer einheitlichen Rechtschreibung kann keine Rede mehr sein. Warum die Neuschreibungen in der jetzt von den Ministerpräsidenten verabschiedeten Reform der Reform „unerläßlich“ sein sollen, bleibt das Geheimnis der Reformer. Für die Politik ging es nur noch darum, ein Projekt durchzuboxen, das irgendwann einmal begonnen wurde – niemand weiß oder versteht heute mehr, warum dies eigentlich geschah. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Wulff, beklagt „ein einziges Fiasko“ und will die Politik aus der Weiterentwicklung der Rechtschreibung künftig heraushalten. Das sind richtige Einsichten. Die einzig richtige Konsequenz daraus wäre allerdings gewesen, das ganze Unternehmen abzublasen. Günther Nonnenmacher

Weiß Zehetmair überhaupt noch, was er daherredet? Warum wird er nicht von Journalisten in die Zange genommen? Es ist anzunehmen, daß er weiß, was er will, und als Politiker richtet er seine Rede nach seinem Ziel aus. Und wie Sie wiederum richtig angemerkt haben, fühlt sich ein Politiker im Zweifelsfall für alles zuständig. Die Reform hat gezeigt, in welchem Zustand sich unser Staat befindet (nämlich im Zustand einer Demokratie nach Lesart der SED) – sie hat aber auch gezeigt, in welchem Zustand sich die ‘freie’ Presse befindet: Sie ist gleichgeschaltet. Als Korrektiv für eine Oligarchie von Gleicheren hat sie versagt. Theordor Ickler

Wie Schafe trotten sie alle den amtlich vorgeschriebenen Weg. Zwar blökt das eine oder andere gelegentlich wütend, aber hinterher trottet es in der gleichen Richtung weiter. Zehetmair erklärt unermüdlich, daß ein Großteil der Reform zurückgenommen sei, und der Blätterwald hallt es getreulich wider. Wir hier wissen, daß das in der Sache nicht stimmt, aber gegen das vielstimmige Unisono hat die Wahrheit keine Chance. Kein einziger nennenswerter Journalist hat sich getraut zu schreiben: „Halt, das stimmt ja überhaupt nicht! Nur in einem kleinen Teil hat die Politik ja überhaupt Änderungen zugelassen, und dort werden in Zukunft die bewährten Schreibungen allenfalls als Varianten erlaubt, das ‘neu Geschaffene’ aber keineswegs abgeschafft. Der Hauptteil durfte nach Weisung der Kultusminister nicht angetastet werden.“ Seite 76

Wenn ich den heutigen Meldungen glauben darf, wird sich selbst die bisher aufrichtige FAZ gegen ihre Leser entscheiden und dem Druck der Politik beugen. Wir Kinder haben damals unsere Eltern gefragt: Wie konnte das passieren? Warum haben denn alle mitgemacht, obwohl doch erkennbar war, daß der Weg ins Verderben führt? Jetzt weiß ich, warum. Die Mechanismen sind noch die gleichen. Deutschland ist und bleibt halt Obrigkeitsstaat. Martin Gerdes

Um die Sprache geht es doch schon längst nicht mehr. Es geht darum, das Volk untenzuhalten. Und daß das ausgerechnet im Bereich der Sprache geschieht, sollte einem zu denken geben. Und es wäre ja alles weit weniger katastrophal, wenn sich die Schulen einfach nicht drum kümmerten. Denn was der Lehrer nicht als falsch wertet, ist auch kein Fehler. Das könnte auch positiv genutzt werden. Aber in Deutschland ist ja jeder Kreidestrich ministeriell vorgeschrieben. Alles eben für Schildbürger. Und was der Führer sagt, ist immer richtig. Deshalb: Die Reform wird durchgesetzt, weil dann etwas durchgesetzt wird. Meckern darf der brave Bürger nicht, denn bei Preußens wird kein Widerstand geduldet -- Ausführung! Ich denke auch, daß sich die Fronten ab jetzt nur noch verhärten werden. Und auf meine Referendarzeit freue ich mich immer weniger. Denn da wird's Ärger geben, ich kann es nämlich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, Kindern wissentlich Falsches beizubringen. David Weiers

Unselige Reform Zur Rechtschreibreform und ihren Folgen: Am 26. Februar abends wurde ein Gespräch zwischen dem ehemaligen bayerischen Kultusminister und einem Journalisten vom Deutschlandfunk gesendet, in dem auch eine Zusammenfassung der Umstände besprochen wurde, die zu dieser unseligen Reform geführt haben. Der Wille, eine Reform zur vermeintlichen Vereinfachung der Rechtschreibung zu initiieren, hatte politische Gründe. Die Zusammensetzung der Kommissionen war politisch und nicht wissenschaftlich bestimmt. Die Ergebnisse der Beratungen blieben zunächst längere Zeit geheim. Wir sollten noch einmal nachdenken: Eine halbherzige Reform kann nicht stabil sein und bewirkt Verunsicherung und Beliebigkeit. Irrwege einzugestehen und zurückzugehen müßte uns möglich sein! Ökonomisch ist der Erhalt unserer Bibliotheken beziehungsweise unseres Buchbestandes gar nicht aufSeite 77

zuwiegen gegenüber einer Neueinrichtung dieser Institute beziehungsweise einem Neuaufbau dieses Bestandes. Unsere erkämpfte Lebenszeitverlängerung wird noch lange diejenigen unserer Mitbürger am Leben erhalten, die in der Lage sind, die alte Rechtschreibung zu beherrschen und damit ihre Bücher zu nutzen, Computer zu korrigieren und Freude an ihrer Sprache zu haben, um diese auch der jeweilig nächsten Generation ans Herz zu legen. Dr. med. Wendula Krackhardt, Überlingen

Orientierungshilfe und Mahnung Mit ihrer Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung im August 2000 hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung ganz erheblich dazu beigetragen, daß eine Revision der mißratenen Rechtschreibreform möglich wurde. Der Gewinn dieses beispielhaften Engagements darf jetzt nicht durch einen voreiligen Kompromiß verspielt werden. Die vom Rat für deutsche Rechtschreibung empfohlene und von den Kultusministern beschlossene Reform bringt zwar wesentliche Verbesserungen, löst die entscheidenden Probleme aber nur teilweise und läßt vieles ungeklärt. Als durch Zeitdruck erzwungenes Halbfertigprodukt ist sie lückenhaft und widersprüchlich und bietet keine solide Grundlage für verläßliche Wörterbücher. Neue Unsicherheit und Verwirrung ist damit vorprogrammiert. Sollte dieser unausgereifte Kompromiß jetzt verbindlich werden, dessen Mängel im Leitartikel von Hubert Spiegel „Richtig und falsch“ (F.A.Z. vom 4. März) klar analysiert wurden, so wird die Sprachgemeinschaft der Chance einer dauerhaft befriedigenden Lösung beraubt. Eine echte Wiederherstellung und Sicherung der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung wird für lange Zeit unmöglich. Um so wichtiger wird es nun, daß die F.A.Z. an der bewährten Rechtschreibung festhält – unabhängig von der Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Sprachgemeinschaft braucht dieses Beispiel einer vernünftigen Schreibung dringend als Orientierungshilfe und als Mahnung, den vorerst erzielten Kompromiß nicht als endgültig zu betrachten, sondern nachhaltig zu verbessern. Selbst die Schüler, denen angeblich der Anblick der bewährten Schreibweisen nicht mehr zugemutet werden darf, brauchen genau dies, um Bücher in klassischer Rechtschreibung auch künftig problemlos lesen zu können; verwirrt werden sie nicht nur durch die Fortexistenz der bewährten Schreibung, sondern durch die Undurchschaubarkeit der neuen Schreibregeln, die leider mit der Reform der Reform durch zahllose neue Spitzfindigkeiten und Widersprüche noch vermehrt wird. Das Eintreten der F.A.Z. für die bewährte Schreibung zeugte von Sprachbewußtsein und bildungspolitischer Verantwortung. Wir bitten die Herausgeber der F.A.Z. mit aller Dringlichkeit, sich in diesem vorblildlichen Engagement für die Sprachkultur nicht irremachen zu lassen. Professor Dr. Hans Maier, München Reiner Kunze, Obernzell-Erlau Ralph Giordano, Köln Hans Krieger, München F.A.Z., 27. 3. 2006, Briefe an die Herausgeber Seite 78

Verdüsterung Seltsames kommt aus dem Hause Springer. Im Sommer 2005 vertraute die KMK-Präsidentin Johanna Wanka dem Spiegel an: „Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Dabei wählte sie offenbar einen falschen Begriff, denn der Staat wäre wohl kaum in Gefahr, wenn die Rechtschreibreform zurückgenommen würde. Andere Politiker haben deutlicher gesagt, daß es in Wirklichkeit um das Prestige der Kultusminister geht, die keinen Fehler eingestehen wollen. Gleichwohl teilte der Chef des Axel Springer Verlags, Mathias Döpfner, im März 2006 in einem an viele Bürger versandten Brief mit: „Die mit Wirkung zum 1. August dieses Jahres von den Kultusministern beschlossene Verbindlichkeit der reformierten Rechtschreibung ist nach Aussagen der Politik der Staatsräson geschuldet. Damit steht die staatlich verordnete Reform unumkehrbar fest und die Axel Springer AG hat keine andere Möglichkeit, als dieser Reform zu folgen: Wir können langfristig nicht anders schreiben, als es Kinder in der Schule lernen.“ Aus der unvorsichtigen Bemerkung der Ministerin wird hier eine „Aussage der Politik“, und sie dient zur Begründung schicksalhafter Hinnahme der Reformschreibung – über deren Inhalt Anfang März noch sehr unklare Vorstellungen herrschten, denn die Wörterbücher, denen die letzte Revision einen weiten Spielraum eröffnet, lagen noch nicht vor, und die „Empfehlungen“ des Rates für deutsche Rechtschreibung, von den Politikern im Schnellverfahren unbesehen gebilligt, erschließen sich dem Verständnis nur sehr schwer. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Einführung der Reform an den Schulen nur unter der Bedingung für zulässig erklärt, daß sie in der Bevölkerung akzeptiert sei. Das ist sie auch 2006 nicht, aber die Zeitungsverlage stellen den Urteilsspruch geradezu auf den Kopf: Weil die Rechtschreibreform an den Schulen eingeführt ist, wollen sie ihrerseits nun wenigstens den äußeren Anschein der allgemeinen Akzeptanz schaffen. Die Geiselnahme an den Schülern funktioniert immer noch – zehn Jahre nach der vorfristigen Einführung der Reform an den Schulen. Die Nachrichtenagenturen unter Führung der Deutschen Presse-Agentur wollen wieder ihre Kunden befragen, wie sie es vor acht Jahren mit tendenziöser Fragestellung und zweifelhaften Ergebnissen schon einmal getan haben. Nur die Leser fragt niemand. So wird die Rechtschreibreform – oder was von ihr übrig ist – just zu dem Zeitpunkt durchgesetzt, da sie praktisch gar keine Verteidiger mehr hat, und als Begründung dient das kümmerlichste aller denkbaren Argumente: sie sei zwar ein Fehler, aber man wolle den Schulen die Unbequemlichkeit des nochmaligen Umlernens ersparen. Dabei werden gerade die neuen, zum drittenmal gründlich revidierten Wörterbücher vorbereitet, die Schul- und Kinderbücher werden folgen. Aber auch die revidierte Reform ist noch fehlerhaft genug, ein Ende der Debatte kann es daher vorläufig nicht geben. Seite 79

Wunderbar: Man will den Kindern ein erneutes Umlernen ersparen – und zwingt sie durch die Re-Reformen von 2004 und 2006 genau dazu. Noch Fragen? Jan-Martin Wagner

Den jetzigen Schülern sollen Zeitungen in klassischer Schreibweise nicht zumutbar sein. Diese Aussage ist umkehrbar: Weil sich die Reformschreibung jedes Jahr wieder mehr der klassischen Schreibung annähert, ist mit der gleichen Begründung den Schulabsoventen der vergangenen 10 Jahre die jetzige Reformschreibung nicht zumutbar. Diese Schüler sind die wirklichen „Leid Tragenden“ der Reform, denn sie sind als „Versuchskaninchen“ mißbraucht worden. Germanist

Die Aussagen Döpfners kommen einer Bankrotterklärung gleich. Stephan Lorse

Wenn wir etwas aus dem nunmehr zehnjährigen Siechtum lernen können, dann dies: Rechtschreibung gedeiht am besten, wenn man sie sich selbst überläßt. Sie entwickelt sich nach eigenen, nie ganz durchschauten und durchschaubaren Gesetzen. Das Scheitern der sogenannten Reform, letztlich einem Machbarkeitswahn geschuldet, hat gezeigt, daß jeder Eingriff nur ein außerordentlich komplexes Gefüge durcheinanderbringt. Kratzbaum

Weit entfernt von der Einheitlichkeit der Sprache Zur Rechtschreibreform: Zweifellos ist durch die jüngsten Beschlüsse der Kultusministerkonferenz unter ungeheurem Aufwand eine nicht unwesentliche Milderung der Neuschriebgroteske bewirkt worden. Doch ist es ebensowenig zu bezweifeln, daß eine einigermaßen tolerable Lösung damit noch nicht erreicht ist; eine Lösung, die Aussicht hat, einer neuen Einheitlichkeit der deutschen Schreibung den Weg zu bahnen. Vielerlei Unfug „gilt“ nach wie vor; bei Groß- und Kleinschreibung (Du hast ganz Recht), bei der Dreikonsonantenschreibung, den idiotischen Volksetymologien (um von den auch im neuen Beschluß nicht behobenen Mängeln bei Zeichensetzung und Silbentrennung zu schweigen): Wollen wir künftig Gussstahl oder Flussschifffahrt schreiben? Schneuzen Sie sich durch die Schnauze? Kurz nach Ihrer Rückumstellung schrieb die F.A.Z. das Wort Missstand groß auf eine ganze Seite — als Beleg dafür, daß es so nicht gehe. Soll es auf Ihren Seiten nun fröhliche Wiederkehr feiern? Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat seinerzeit einen Kompromißvorschlag erarbeitet, angesichts der Machtverhältnisse, in dem ausgeSeite 80

lotet worden ist, was zu ändern wäre, wenn es gälte, die Einheitlichkeit der deutschen Schreibung wiederherzustellen. Davon sind wir beim gegenwärtigen Stand noch weit entfernt. Es ist doch entweder Ignoranz oder Feigheit (oder beides), was den Spiegel zu der Ausflucht brachte, von der „neuen, weitgehend alten“ Schreibung zu sprechen. Nach allem, was ich höre, werden sich die meisten (und vor allem die herausragenden) Schriftsteller und Wissenschaftler auch weiterhin an die bewährte Rechtschreibung halten. Vom Gros der Schreiber ganz abzusehen (falls sie sich nicht einem Schreibprogramm anheimgeben). Ich halte es für sehr gefährlich, jetzt in den Chor derer einzustimmen, die meinen (oder zu meinen vorgeben), jetzt sei alles gut. Und ich finde die F.A.Z. hat eine besondere Verantwortung in dieser Frage, als die führende deutsche Tageszeitung und nach Ihrer frühzeitigen Rückumstellung. Wenn Sie jetzt den Pressionen, denen Sie sich vermutlich ausgesetzt sehen, nachgeben und einknicken, schrumpfen die Aussichten auf Wiederherstellung einer einigermaßen passablen und einheitlichen Schreibung, was die absehbare Zeit angeht — und der Prozeß der allmählichen Rückbildung, der ja ständig im Gange ist, verlängert sich weiter ins Unendliche. Professor Dr. Christian Meier, ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hohenschäftlarn

Es ist vielleicht unnötig, das hier noch zu erwähnen, aber die Notwendigkeit der Erkennung der Vokallänge in bestimmten Positionen ist ein neues Kriterium in der deutschen Sprache. Wie jeder weiß, besteht die Schwierigkeit beim Erlernen von Fremdsprachen darin, daß diese Sprachen für gewisse Dinge unterschiedliche Entscheidungskriterien haben (z.B. erhalten die Adjektive im Schwedischen Endungen in anderen Satzstellungen als dies im Deutschen der Fall ist - man sagt z.B. nicht „das Haus ist blau“, sondern „das Haus ist blaues“). Gerade diese Dinge sind es, die eine flüssige Beherrschung der jeweiligen Fremdsprache erschweren - weil das betreffende Kriterium ganz einfach nicht von Anfang an sozusagen „mit der Muttermilch“ aufgesogen wurde. Bei diesen Kriterien kann man schwerlich intuitiv reagieren, sondern muß jedesmal innehalten und nachdenken - was natürlich Zeit kostet und gelegentlich auch zur falschen Entscheidung führt - woran man dann den Nicht-Muttersprachler erkennt. Hier haben wir es nun mit einer Änderung der Kriterien in der Muttersprache zu tun, die aus vielen Deutschen sozusagen „Nicht-Muttersprachler“ macht. Nun könnte man sagen, wenn die Schüler dieses Kriterium von Anfang an lernen, sollte das kein Problem sein - aber der „vorschulische“ Spracherwerb war eben auch nicht auf die Erkennung von langen oder kurzen Vokalen in dieser Position abgestellt, daher die schlechten Resultate, die überall zu betrachten sind. Ich persönlich habe damit kein Problem, weil ich die „ß“-Schreibung gelernt habe, sonst würde ich als Süddeutsche ganz schön dumm dastehen - genau wie die heutigen Schüler (wäre vielleicht interessant festzustellen, in welchem Teil Deutschlands die meisten „ss“-Fehler gemacht werden). Ursula Morin Seite 81

Unfreiwilliges Beispiel Zu dem Witz von Greser & Lenz (F.A.Z. vom 6. April): Kaum zu glauben: Ausgerechnet die F.A.Z., das Sturmgeschütz der Reformgegner, liefert - wohl unfreiwillig? - ein Beispiel dafür, wie die Rechtschreibreform die Menschen verwirrt. In der Zeichnung von Greser & Lenz kommt ein „Wellness- und Spasstümpel“ vor. „Spaßtümpel“ heißt es sowohl nach bewährter als auch nach neuer Rechtschreibung, da nach langen Vokalen nach wie vor ein „ß“ benutzt wird. Eigentlich leicht zu merken. Weil viele Leute aber glauben, das „ß“ sei durch die Reform völlig abgeschafft worden, muß man in der Schriftsprache zunehmend degeneriertes Deutsch wie „viel Spass in der Schillerstrasse“ oder „mit freundlichen Grüssen“ ertragen - die Leute schreiben jetzt so, wie sie niemals reden würden. Andreas Hüske, Wiesbaden

Christian Meier distanziert sich mit Recht vom jetzt vorliegenden Kompromiß. Andererseits erwähnt er den Kompromißvorschlag der DASD immer noch in einer Weise, daß man glauben könnte, mit diesem Entwurf wäre etwas Besseres erreicht gewesen. Eisenberg weist jedoch mit Recht darauf hin, daß die „Empfehlungen“ schon ziemlich weitgehend dem Kompromißvorschlag entsprechen, der ja im wesentlichen von ihm stammte und eigentlich noch viel widersprüchlicher ist als die Empfehlungen des Rates. Es wäre an der Zeit, daß die DASD sich von ihrem Irrweg ebenso verabschiedete wie von der Suggestion der „Machtverhältnisse“, die es in Wirklichkeit nicht gibt und niemals gab. Inzwischen hat Hartmut von Hentigs Büchlein die Position der Akademie noch verworrener gemacht. So kann man keine richtige Schlagkraft entwikkeln. Theodor Ickler

Gleichgültigkeit Zum Thema Rechtschreibreform: Theodor Ickler, vor kurzem noch Mitglied im „Rat für deutsche Rechtschreibung“, gebührt Dank. Eindrucksvoll bestätigen seine Berichte, was zu befürchten war: Unsere Kultusbürokratie, getarnt hinter den Alibiveranstaltungen ihrer Spezialberater, ist drauf und dran, das Tüftelwerk der Schreibreform unaufgeräumt verbindlich zu machen. Zugeständnisse — die im Grund keine sind — können dabei nur um so gravierender wirken. Der verwirrende Kuddelmuddel von erlaubt und nicht erlaubt wird weder Lernende noch Lehrende ermutigen, sich an überlegtem Deutsch zu versuchen. So oder so ist doch nichts mehr wirklich falsch. Angestellte oder Beamte im öffentlichen Dienst, mit ganz „anderen Sorgen“ im Kopf, haben sich ohnehin weisungsgemäß und ohne Murren dem amtlichen Schreibreglement zu fügen. Deutsch wird — sagen wir’s im schönsten Modestil — „vernachlässigbar“. Bedrohliche Aussichten also: daß die verordnete orthographische Gleich-Gültigkeit mit der mentalen eine unheilige Allianz eingeht und tiefer noch als bisher in den Sumpf Seite 82

allgemeiner Sprachverschlampung führt, den es eigentlich auszutrocknen galt. Bleibt die Hoffnung, daß Literaten, die „exzellenten“! Hochschulen und — ganz wichtig — wachsame Journalisten sich vom Staat nicht entmündigen lassen und der Verlockung der ach so bequemen Mitmacherei widerstehen werden. Rüdiger Gensthaler, Frankfurt am Main

Unbelehrbare Politiker Seit längerer Zeit verfolge ich in Ihrer hervorragenden Tageszeitung die Entwicklung bezüglich der sogenannten Rechtschreibreform. Was hier geschieht, zählt in meinem Leben zu den schäbigsten Dingen, welche ich bisher erleben mußte. Wenn es eines Beweises bedurft hat, ob wir in einer Demokratie leben oder nicht, so ist für mich klar, daß wir hier im deutschsprachigen Raum keine haben. Alle vier Jahre bei einer Wahl ein Kreuz machen zu dürfen ist kein Beweis dafür, denn auch im kommunistischen Rußland oder in China darf man Kreuzchen am Wahlzettel machen. Es dürfte keinem Politiker entgangen sein, daß eine überwältigende Mehrheit gegen die Falschschreibung ist. Man müßte nun den verantwortlichen Politikern bei der kommenden Bundestagswahl, und mehr noch bei Landtagswahlen, einen demokratischen Denkzettel verpassen. Wenn Politiker bei der Sprachreform undemokratisch und unbelehrbar zu sein scheinen, dann werden sie das gleiche Fehlverhalten bei anderen wichtigen Dingen in unserem Leben an den Tag legen - das macht wirklich Angst. Für meine Begriffe ist jegliches Vertrauen in unsere Politiker geschwunden. Das betrifft bedauerlicherweise Politiker aller Richtungen. Dr. med. Christian Mitterdorfer, Gießhübl, Österreich

WEG MIT DEM DUMMDEUTSCH! Wir können sofort zurück zur bewährten Rechtschreibung. Worauf warten wir? Freie Menschen waren wir, als wir einen freien Willen hatten und unsere Gedanken exakt so aufschreiben und verstanden wissen konnten, wie sie gedacht waren. Das war einmal. Im Jahre 1996 hat uns eine kleine Clique aus Kultus und Kommerz die Pseudo-Rechtschreibreform aufs Auge gedrückt. Seitdem heißt es: Augen zu und durch. Tausende von Fehlern sind im Regelwerk enthalten und grassieren dadurch in der Presse, in den Schulen und in der Werbung. Dieser Nonsens hat keinerlei Erleichterung gebracht, nur neue Fehler. Aber es wehren sich noch zu wenige. Der freie Wille ist dem Zugzwang gewichen. Kaum ein Lektor kann von den schwachsinnigen Schreibweisen überzeugt sein, doch braucht jeder Aufträge, um seine Familie zu ernähren. So geht es auch Textern. Für aufwändige Messsysteme u.a. kann man zwar Alternativen finden – für mich bis heute der einzige Ausweg. Doch Wörter sind zum Verwenden da, nicht zum Vermeiden. Seite 83

Warum nehmen wir diesen Schwachsinn überhaupt hin? Da braucht nur jemand den Arm zu heben und „neue, amtliche Rechtschreibung“ zu rufen. Und schon gehen Beflissene ans Werk, stellen betriebliche und behördliche Rechtschreibungen um und gleichzeitig die Kritiker des Irrsinns als ewiggestrige Spinner hin. Wer so handelt, hat nicht begriffen, was wirklich mit unserer Sprache angestellt wurde – und künftig angestellt werden soll. Auf www.rechtschreibreform. com gibt es detaillierte Informationen. Tausende von Wörtern und damit unverzichtbare Differenzierungsmöglichkeiten sind 1996 aus dem deutschen Wortschatz verschwunden. Und es wird immer schlimmer. Nach dem jüngsten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung will man viele der damals eliminierten Wörter zwar wieder „erlauben“ (natürlich wieder ohne jede Legitimation), aber trotzdem bei den fehlerhaften Wörterbüchern bleiben. Und es wird unverdrossen weitergepfuscht: Shopp, Hitt, Stripp u.v.a. werden kommen, wenn wir nicht endlich den Mund aufmachen. Die Rechtschreibreform ist rechtswidrig als üble Geschäftemacherei auf unsere Kosten eingeführt worden und bis heute kein Gesetz, nur irreparabler Murks. Jeder kann über Nacht problemlos zur bewährten Rechtschreibung von 1995 zurückkehren. Sie funktioniert erstklassig – nicht nur bei den namhaften Schriftstellern und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Erleichterung bei allen wird groß sein. Bei den Schreibenden und bei den Lesenden. Uns fehlen zwar die Wörter, aber nicht die Worte. Freie Menschen sind wir auch heute. Johannes Faupel, 39, ist freier Autor und Texter in Frankfurt/Main

Wieder so wie früher Rechtschreibreform im Rückwärtsgang: „Dürfen“ wir nun doch einiges wieder richtig schreiben? Und wenn ja: Untertänigsten Dank, sehr verehrte Expertenkommissionsmitglieder, für Ihr gnädiges Entgegenkommen, einige von den Wörtern, die Sie erst kürzlich vernichtet haben, wieder schreiben zu „dürfen“. Das ist doch absurd: Da erfinden Leute, die von gutem Deutsch keine Ahnung haben, irgendwelchen Unsinn und erwarten dann, daß diejenigen, die diesen Unsinn aus guten Gründen nicht wollen, sich damit auseinandersetzen, kompromißbereit sind und sich vielleicht gar freuen, wenn plötzlich, ziellos und von kaum einem „Normalbürger“ überhaupt bemerkt, ein paar Wörter wieder so wie früher geschrieben werden „dürfen“. Traurig ist, daß man in dieser Angelegenheit mit sachlichen Argumenten faktisch nichts erreicht. Dabei läßt sich die ganze Reform schon von einem Laien wie mir, der also nicht Germanistik studiert hat, bis zur Nullinie auseinandernehmen: Ich will nach wie vor zwischen „greulich“ und „gräulich“ unterscheiden können, und ich lasse mir von niemandem ein „aufwändig“ oder gar eine „Aufwändung“ aufzwingen. Satzzeichen gehören gesetzt, wenn sie gebraucht Seite 84

werden. Das „Du“ schreibe ich in der Anredeform auch weiterhin groß, zumal die Begründung für die Kleinschreibung - unangebrachte Ehrfurcht - eine Farce ist. Und wenn ich viele „Dus“ habe, also ein „Ihr“, dann soll ich groß schreiben; hier hatten die „Experten“ offenbar einen Geistesblitz und gemerkt, daß das wegen der Mehrdeutigkeit dieses Pronomens tatsächlich nicht anders geht. Die so überaus populär gewordene, da Einfachheit suggerierende „ss“Regel - nach kurzem Vokal folgt „ss“ - braucht eine aufwendige Fallgruppenbeschreibung, um überhaupt als Regel bestehen zu können; Konstrukte wie „ich weiss“, „Ergebniss“ oder Masstab“ sind unzählig in Publikationen nachweisbar. Und ob ich „hochstapeln“ zusammen, oder auseinander schreiben muß, geht allein aus dem Kontext hervor und kann von niemandem reglementiert werden. Was ich noch immer nicht verstehe: Warum machen viele Zeitungen diesen ganzen Unfug mit? Diese „so genannte“ Zwischenstaatliche Kommission gehört abgeschafft und unsere herkömmliche Rechtschreibung wieder rehabilitiert. Alles andere ist Zeit- und Geldverschwendung; ein „Missstand“, und der ist „gräulich“, oder? Dr. Jürgen Langhans, Karlsruhe

„100 Prozent der lesenden Mitbürger verärgert“ - Rechtschreibreform Für Wolf Schneider sind neue Regeln nach wie vor „überflüssig wie ein Kropf“ Wolf Schneider: „Völlig bescheuerte“ Reform und „ekelhafte Gesinnung der Reformer“. Verlage und Redaktionen verfälschen die Rechtschreibung Wolf Schneiders.

VON REGINA JERICHOW Der Talkmaster und frühere Leiter der Hamburger Henri-Nannen-Journalistenschule war stets ein Kritiker der Reform. Mit seinen Ratgebern („Deutsch für Profis“) erzielte er eine Millionenauflage. Frage: Als die Rechtschreibreform 1994 gerade in der Planungsphase war, empfanden Sie sie schon als „Belästigung“. Fühlen Sie sich immer noch belästigt? Schneider: An meiner These hat sich nichts geändert: Jeder, der die Rechtschreibung ändern will, verärgert 100 Prozent seiner Mitbürger in ihrer Eigenschaft als Leser und 90 Prozent seiner Mitbürger in ihrer Eigenschaft als Schreiber. Die Schreiber, weil sie umlernen sollen, obwohl sie die Schule schon hinter sich haben, und die Leser, weil noch nie ein Leser darauf gewartet hat, daß beim Rhein das „h“ getilgt wird oder daß Bordeaux sich hinten mit „o“ schreibt. Die einzigen Menschen, die sich nicht ärgern, sind die Sechs- bis Zehnjährigen. Frage: Aber gerade die müssen sich mit dem Regelwerk beschäftigen . . . Schneider: Das ist eine winzige Minderheit der Mitmenschen. Für sie ist es im übrigen nicht einfacher geworden. Der häufigste Fehler, den Kinder machen – Seite 85

die grammatische Unterscheidung zwischen „das“ und „daß“ – fällt ihnen noch genauso schwer wie vor 100 Jahren, auch wenn „ß“ heute durch „ss“ ersetzt wird. Aber Kinder sollen sich schließlich ein bißchen plagen. Frage: Was stört Sie als Stillehrer der deutschen Sprache an der neuen Rechtschreibung am meisten? Schneider: Zunächst einmal die ekelhafte Gesinnung der Reformer. Die hätten uns einfach in Ruhe lassen sollen. Und dann sind es natürlich die Schriftbilder, die mir auffallen: Plötzlich wird „leid tun“ groß und „aufwendig“ mit „ä“ geschrieben, was ein besonderer Blödsinn ist, weil es von „aufwenden“ kommt. Wenn ich für einen Urlaub viel Geld aufgewendet habe, dann ist es ein aufwendiger Urlaub. Sonst würde man ja auch „denken“ mit „ä“ schreiben, weil es vom „Gedanken“ käme. En détail ist die Reform völlig bescheuert und en gros überflüssig wie ein Kropf. Frage: In regelmäßigen Abständen flammt der Protest gegen die Rechtschreibreform wieder auf. Hegen Sie die Hoffnung, daß sie womöglich noch scheitern könnte? Schneider: Das Durcheinander ist so riesig und das immer neue Aufbegehren von Akademien und Schriftstellern ist so gewaltig, daß man vielleicht doch noch eine Chance hat. Die Entscheidung für die Reform fiel damals mit den Nachrichtenagenturen, die das Regelwerk zu 90 Prozent übernommen haben. Das färbte auf die Zeitungen ab, und von da an bildete sich die deutsche Sprache um. Die Agenturen hätte man beeinflussen und unter Druck setzen können, wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung keinen Alleingang gemacht hätte. Leider findet die FAZ keine Nachfolger, aber es stänkern ja viele Instanzen in der angenehmsten Weise. Frage: Nun behaupten die Reformer, daß die neue Rechtschreibung im Alltag angekommen sei. Es scheint so, als hätten sich die meisten Menschen arrangiert. Schneider: Was heißt arrangiert? Kapituliert! Die lesen in der Zeitung doch nichts anderes. Frage: Sie hatten 1994 angekündigt, daß Sie die Rechtschreibreform boykottieren würden. Haben Sie sich an Ihr Versprechen gehalten? Schneider: Das ist nicht so einfach. Ich verwende sie selbstverständlich nicht, weder im privaten Umgang noch in meinen Manuskripten an Zeitungen und Verlage. Aber ich erlebe, daß die Verlage und Redaktionen die Rechtschreibung ändern. Nun könnte ich die höchste Barrikade erklimmen wie Günter Grass und mir das verbitten, aber eine solche Verhandlungsposition habe ich nicht. Ich bin also unter dem Druck, mich anders gedruckt zu sehen, als ich es möchte. Nordwest-Zeitung vom 10. April 2004 Seite 86

Aus dem Impressum der Abi-Zeitung des Städt. Gymnasiums Marsberg: „Wir haben uns bemüht, die alte Rechtschreibung zu verwenden, um ein Zeichen zu setzen gegen eine Schnapsidee, die selbst von den verantwortlichen Politikern nur noch aus Gründen der „Staatsraison“ aufrechterhalten wird. Es gibt im deutschsprachigen Raum keine Zeitung, die in der Lage ist, konsequentdie reformierte Schreibung zu benutzen - was daran liegen könnte, daß es keine eindeutige reformierte Schreibung gibt. Die meisten schreiben einfach irgendwie oder beschränken sich auf das Doppel-S. Übrigens ignorieren auch fast alle bedeutenden Schriftsteller (z.B. Grass, Jelinek, Enzensberger) die Reform, weil sie nach dem einhelligen Urteil der Fachwissenschaft völlig mißraten ist, den Schreibenden zu Grammatikfehlern zwingt und seine Ausdrucksmöglichkeiten einschränkt. Wir als mündige Bürger sehen keinen Grund, uns diesem staatlich verordneten Unfug zu unterwerfen. Es gibt außerhalb der Schulen keinen Grund dazu. Wenn jemand doch noch Schreibweisen der neuen Rechtschreibung in unserer Zeitung findet, so möge er großzügig darüber hinwegsehen. Wir haben die alte nie wirklich gelernt und kennen sie nur aus Büchern. Es kann sein, daß jemand ausdrücklich darauf bestanden hat, seinen Text in einer reformierten Schreibung abzudrucken. Darauf haben wir natürlich Rücksicht genommen und wir wollen auch kein Dogma daraus machen.“ Und das nach acht Jahren gymnasialer Schullaufbahn!

Karlsruhe läßt Gegner der Rechtschreibreform abblitzen Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Klage eines Privatmannes nicht an: „Sie sind rechtlich vielmehr frei, wie bisher zu schreiben“ Die Rechtschreibreform wird wie geplant am 1. August in Deutschland verbindlich. Der Versuch eines Privatmanns, das neue Regelwerk mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auszuhebeln, ist gescheitert. Eine mit drei Richtern besetzte Kammer des höchsten Gerichts erklärte die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und nahm sie daher nicht zur Entscheidung an. Die Klage richtete sich gegen den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 2. und 3. März 2006, wonach ab dem 1. August 2006 die neuen Rechtschreibregeln verbindliche Grundlage des Unterrichts an allen Schulen sind. Die zuständige Kammer des Ersten Senats erklärte die Beschwerde aber für unzulässig, weil der Kläger eine Beeinträchtigung des Grundrechts auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit nicht dargelegt habe. Er greife mit dem Beschluß der Kultusministerkonferenz eine Entscheidung an, die keine unmittelbaren rechtlichen Auswirkungen habe, sondern der Umsetzung in den einzelnen Bundesländern bedürfe. Diese Umsetzungsakte betreffen nach Auffassung der Richter unmittelbar Schüler und gegebenenfalls Bedienstete staatlicher Behörden, die ebenfalls zur Beachtung der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Rechtschreibregeln verpflichtet werden. Seite 87

Nicht klageberechtigt sind demnach Personen außerhalb dieses Bereichs. Schließlich seien sie rechtlich nicht gehalten, die reformierte Schreibung zu verwenden. „Sie sind rechtlich vielmehr frei, wie bisher zu schreiben“, heißt es in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Daran ändere auch der Umstand nichts, daß der Beschluß der Kultusministerkonferenz einen Appell an alle Verlage und Publikationsorgane enthält, sich an die veränderten Rechtschreibregeln zu halten. In dem somit ab August verbindlichen Beschluß der Kultusminister sind auch die Korrekturen berücksichtigt worden, die der Rat für deutsche Rechtschreibung an den ursprünglichen Reformregeln vorgeschlagen hatte. Die Welt, 30. Mai 2006

Jedem, der noch hofft, irgendein Mächtiger in unserem Lande werde dafür sorgen, daß das Zerstörungswerk namens Rechtschreibreform gestoppt wird, möchte ich eine Lektüre empfehlen. Hans-Hermann Hoppe: Demokratie. Der Gott, der keiner ist. Edition Sonderwege bei Manuscriptum. Ich war vor einiger Zeit in Berlin bei einem Vortrag Herrn Prof. Hoppes und von seiner persönlichen Ausstrahlung beeindruckt. Der Fehler liegt nicht bei der Dummheit oder Geltungssucht der Politiker, Funktionäre oder Medienschaffenden, sondern er liegt im System, das es erlaubt, ja fördert, daß die verantwortungslose Seite menschlichen Handelns die ja zweifellos in jedem von uns auch vorhanden ist – sich ungehemmt entfalten kann. Es ist keinem einzigen Politiker möglich, die Reformkutsche zu stoppen. Es liegt nicht in ihrem persönlichen Interesse. Und jeder, der es versucht, wird wahrscheinlich sein Amt verlieren. Das System hat sich festgezurrt. Auch auf die träge, uninformierte und uninteressierte Masse darf man nicht hoffen. Sie folgt ihren Verführern, egal aus welcher Ecke sie stammen. Hauptsache, der Ball ist rund. Und doch gibt es Hoffnung: die Sezession. Eine geistige und verantwortungsvoll handelnde Elite muß sich zusammenschließen. Veränderungen sind stets nur von wenigen angestoßen worden – siehe auch die Rechtschreibreform! Was die sog. Rechtschreibreform betrifft, gibt es zwei Hoffnungen, auf die ich mich stütze: die erste ist, daß die Reformschreibung sich von innen her auflöst und zerstört, weil sie gegen die natürlich gewachsenen Sprachgesetze verstößt und somit auch gegen das in jedem Schreibenden vorhandene „Gefühl“ für richtig oder falsch. Die zweite Hoffnung begründet sich auf den Widerstand derjenigen, die schließlich erkennen mußten, daß die Reform nur ein Vehikel zur Durchsetzung von Machtgelüsten und wirtschaftlichen Vorteilen mißbraucht worden ist und weiter mißbraucht wird. Jenen, die heute auf der Bühne stehen und Volkes Meinung mit ihrer Propaganda formen, ging es niemals um die Sprache selbst. Daher ist auch jedes inhaltliche Diskutieren folgenlos gewesen. Unser Augenmerk muß sich jetzt auf die Zeit „danach“ richten: dieses Netzwerk kann die Zelle für einen Neubeginn sein! Karin Pfeiffer-Stolz Seite 88

Man muß ernsthaft befürchten, daß das Bemühen um die bewährte Rechtschreibung erfolglos bleibt. Es ist hierbei nicht die Eitelkeit mancher Politiker, die dem im Wege steht, sondern die pure Gleichgültigkeit der meisten Leute im deutschsprachigen Raum. Es interessiert sich einfach nur eine kleine Gruppe für eine gelungene Orthographie. Die große Mehrheit ist fest davon überzeugt, daß die deutsche Sprache ohnehin viel zu schwierig sei, um richtig schreiben zu können, und daß es Wichtigeres gebe. Argumente oder inhaltliche Überlegungen kümmern niemanden. Viele Menschen können alte und neue Rechtschreibung gar nicht unterscheiden. Hinauslaufen wird es somit auf eine ZweiKlassen-Gesellschaft: Die eine schreibt bar jeder Vernunft drauflos und macht Fehler, ohne es zu merken. Die andere einigt sich durch mediale und persönliche Kommunikation auf ein halbwegs einheitliches Gebilde, in dem Unsinn in der GZS, der Groß-/ Kleinschreibung und der Interpunktion weitgehend abgetragen wurde und die S-Regel (um ein paar populäre Irrtümer erweitert) Neuschrieb folgt. Nimmt man dann noch den Mist der SMS-Kürzel und -Ausdrücke hinzu, sieht wohl jeder für eine sinnvolle und einheitliche deutsche Schriftsprache schwarz. Noggel

Ich denke, die Rettung für die deutsche Sprache kann nur daher kommen, daß alle, die sie noch kennen und können, konsequent nach ihrem Sprachgefühl schreiben und sich von den neuen Wörterbüchern, die nur der Verwirrung desselben dienen, fernhalten. Immerhin ist die Schreibung nach der „Semantik“ ja bei der GZS wieder „erlaubt“, und was die GKS betrifft, muß man sich da eben auch danach richten, was man nun jeweils sagen möchte (in der Hoffnung, noch verstanden zu werden). Bei den Grammatikfehlern werde ich nicht mitmachen, ganz gleich, was im neuen Duden steht (den ich mir auch nicht kaufen werde, da ich „Wichtigeres“ zu tun habe). Gestern war in einem anderen Strang hier eine „Handreichung“ für Lehrer in Bayern herunterzuladen, wo diese Ärmsten der Armen darauf hingewiesen wurden, insbesondere das Nachschlagen in Wörterbüchern zu üben. In meiner Schulzeit wurde geübt, die Sprache so weit zu beherrschen, daß man notfalls auch ohne Wörterbuch auskommt. Bei Prüfungen durften wir keine Wörterbücher benutzen. Ich halte es immer noch für wesentlich bequemer, meinen Wortschatz mit mir im Kopf herumzutragen, als ständig mit dem Duden unter dem Arm herumzulaufen. Irgendwie erinnert das auch daran, daß man heutzutage das kleine Einmaleins nicht mehr zu beherrschen braucht, sondern statt dessen einen Taschenrechner mit in die Schule nehmen darf. Was soll nur aus den armen Schülern werden, wenn der Strom ausfällt, die Batterien leer sind oder der nächste Duden durch alle neuen Einträge a la „Erbsenzählerin“ so schwer wird, daß man ihn nicht mehr herumtragen kann? Ursula Morin Seite 89

Rechtschreibniveau seit den 60er Jahren extrem gesunken Ergebnisse einer Langzeitstudie Das Rechtschreibniveau ist in den letzten Jahrzehnten extrem gesunken. Das zeigt eine Langzeitstudie des Max-Planck-Instituts und der Universität Würzburg. Zwanzig Jahre lang beobachteten Forscher die Entwicklung von 200 Kindern. In dieser Woche wird die Studie unter dem Titel Logik - Die Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen zum ersten Mal präsentiert. Der Würzburger Psychologe und Leiter der Studie, Wolfgang Schneider, äußert sich in der ZEIT vorab zu den Ergebnissen: „Wir haben für die Jugendlichen ein Diktat aus den sechziger Jahren genommen. Würde man das Rechtschreibniveau der Schüler von damals zum Maßstab nehmen, wären drei Viertel der heutigen Kinder Legastheniker.“ Schneider führt diese Ergebnisse auf den heutigen Unterricht zurück, der auf Rechtschreibung weniger Wert lege. In der Schule sei es jedoch wichtig, die Kinder frühzeitig auf ein bestimmtes Leistungsniveau zu heben. Schneider fordert: „Wir müssen die frühe Phase des Lebens sehr viel ernster nehmen ... Geschieht das nicht, scheinen die Pfade des Lebens ziemlich vorbestimmt.“ Wie sehr zum Beispiel die ersten Grundschuljahre das spätere Leben prägten, zeige sich insbesondere bei der Rechtschreibung: „Obwohl die Kinder auf unterschiedliche Schulen gehen, unterschiedliche Lehrer haben, veränderten sich die Unterschiede in den Rechtschreibkompetenzen so gut wie gar nicht. Wer mit sieben Jahren mehr Fehler als die anderen machte, machte auch mit 23 noch mehr Fehler.“ Von ein paar altbildungsbürgerlichen Haushalten abgesehen kümmern sich kaum noch Eltern um die Rechtschreibleistung ihrer Sprößlinge. Früher wurde zu Hause geübt, in der Schule Förderunterricht angeboten und privat Nachhilfe organisiert. Heute guckt man Fernsehen und macht Ballerspiele am Rechner. Das ist zuvorderst ein gesellschaftliches Malheur, das genauso Schwachmatiker in anderen Schulfächern hervorbringt. Bei der Rechtschreibung wird es nur deutlicher, weil im Alltag eben mehr geschrieben wird als chemisch experimentiert. Und was ich an e-Mail- und SMS-Katastrophen lese... Personalabteilungen können Bewerbungsmappen von Schulabgängern (auch und gerade Abiturienten) vorlegen, bei denen die Zahl der Wörter kaum über der der Fehler liegt. Hans-Dieter von Wehbergen

Man benötigt keine langatmigen Untersuchungen und Diktatvergleiche (über die Jahrzehnte hinweg), um herauszufinden, daß die Rechtschreibfähigkeiten in den zurückliegenden 60 Jahren entscheidend nachgelassen haben. Es genügen ein bißchen Geschichtswissen (vor rund 60 Jahren war Kriegsende) und ein paar wache Sinne. Mit bloßem Auge wird man erkennen (in Büchern, Zeitungen, Bildschirmtexten...), daß selbst Erwachsene einen Motivationsverlust Seite 90

erlitten haben. Sie schreiben deshalb nicht mehr ausdrucksstark und ergebnisorientiert. Norbert Schäbler

Ich glaube, von Wilhelm von Humboldt stammt die Erkenntnis, daß die Sprache das Denken befördert. Deshalb wundert es mich nicht, daß die alten Griechen tiefgründiger denken konnten als die alten Römer. Eine Sprache, die bedeutungsunterscheidende Varianten anbietet, zwingt den Schreiber zum genauen Denken, was er aussagen will, damit er verstanden wird. Dieses „damit er verstanden wird“ fehlt bei der „Rechtschreibvereinfachung“. Germanist

„Holt den Huber aus dem Zuber“ (leichte Abwandlung einer 68er-Studentenparole) „Wenn Schüler dauerhaft Schwierigkeiten bei der Lösung von spezifischen Problemen haben, dann ist es erfolgversprechender, das Problem selbst zu beseitigen, anstatt die Schwierigkeiten und spezifischen Mängel von Schülern zu beheben.“ Dieser Leitsatz scheint nach der „Bildungsrevolution“ der 68er für die Kultusministerkonferenz zur obersten Priorität geworden zu sein, denn alle Lehrplanrevisionen der zurückliegenden 40 Jahre beurkunden diese Beschönigungstaktik. Sämtliche schulischen Fachbereiche haben mittlerweile der besonderen KMK-Problemlösungsstrategie Tribut zollen müssen. Ein Beharren auf Bildungsinhalten - wie seinerzeit unter dem bayerischen Kultusminister Huber - gibt es nicht mehr. Z.B. die Mathematik: Als ich Anfang der 80er Jahre eine neunte Jahrgangsstufe der Hauptschule unterrichtete, beinhaltete der Mathematiklehrplan noch Aufgaben aus dem Fachbereich Geometrie, in denen der Schüler sowohl sein räumliches Vorstellungsvermögen als auch seine Fähigkeiten des abstrakten Denkens unter Beweis stellen mußte. Schüler und Lehrer wagten sich seinerzeit mit relativ großem Erfolg an das Berechnen von Pyramiden- und Kegelstümpfen und sogar an das rechnerische Erfassen von Kugeln und Kugelsegmenten heran. Zehn Jahre später waren diese Aufgabenbereiche aus dem Lehrplan gestrichen, und als Motiv für die Streichung dieses vertiefenden Lernangebotes sind zu vermuten: zum einen das Aufbegehren der Elternschaft zum anderen das Einkniggen der Lehrergewerkschaften Das Kultusministerium selbst mußte im wesentlichen nur das Ende des schwelenden Konfliktes abwarten, um einen an der Basis zustande gekommenen Kompromiß absegnen und regulieren zu können. Logischerweise wurde der Problembereich entfernt, denn das zog Positives nach sich: In diesem Bereich konnten keine Fehler mehr gemacht werden. Also alles bestens im Schulbereich: Kein Streit, keine Fehler ... Mein Kommentar dazu: ... kein Niveau – „Pisa!“ Norbert Schäbler Seite 91

Zahlreiche Widersprüche Der neue Duden unterläuft vielfach die Beschlüsse des Rechtschreibrates MANNHEIM, 21. Juli n diesem Samstag wird die 24. Auflage des Rechtschreibdudens vorgestellt. Während der Duden bis zur Rechtschreibreform Sprachentwicklung beobachtet und in seinen Nachschlagewerken nachvollzogen hat, werden in dieser Auflage zum erstenmal klare Empfehlungen gegeben. Der Leiter der Duden-Redaktion, Matthias Wermke, ist der Überzeugung, damit einen „wichtigen Beitrag zur Vereinheitlichung der neuen Rechtschreibung zu leisten“. Die sogenannten Empfehlungen, die vor allem bei der Getrennt- und Zusammenschreibung häufig nicht den Beschlüssen des Rates für deutsche Rechtschreibung folgen, sind gelb unterlegt und als solche erkennbar. Zu Recht stellt Wermke im Gespräch mit dieser Zeitung fest, daß es noch nie so viele Varianten gab.

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„Wir wollen diese Varianten nicht so stehenlassen“, begründet er die 3000 Empfehlungen des Duden und verweist darauf, daß der Rat kein Regelwerk beschlossen habe. Doch damit ist eine sprachbeobachtende Rolle des Rechtschreibrates ausgeschlossen. Er sollte ursprünglich nachvollziehen, was sich im Schreibgebrauch der kommenden Jahre unter den Schreibern durchsetzt. Nun hat die Duden-Redaktion versucht, das Ergebnis im voraus festzulegen. Offenkundig geht es darum, die Absichten der Reformer doch noch durchzusetzen. Wer die Beschlüsse des Rates für deutsche Rechtschreibung kennt, wird leicht feststellen, daß sich der Duden in der Mehrzahl aller Fälle wenig darum kümmert, obwohl Redaktionsleiter Wermke im Rat mitgearbeitet hat. Wer sich die Duden-Orthographie zu eigen macht, muß wissen, daß er sich damit nicht auf der Grundlage der Beschlüsse des Rechtschreibrates bewegt. Denn der Rat hat es immer als wichtigsten Erfolg seiner Arbeit betrachtet, eine Vielzahl durchtrennter Wörter wieder zusammengefügt zu haben (bekanntmachen, halbtot). Dazu zählt auch die häufig genannte Unterscheidung zwischen „sitzenbleiben“ in der Schule und auf dem Stuhl „sitzen bleiben“. Das sei eine Privatmeinung des Vorsitzenden, sie entspreche nicht dem Rechtschreibrat, war bei der Duden-Redaktion zu hören. Zehetmair sagte dazu, wenn der Duden so argumentiere, weiche er nicht nur vom Rechtschreibrat ab, sondern schreibe auch falsch. Der Duden empfiehlt etwa bei der Getrennt- und Zusammenschreibung von Verben immer die Getrenntschreibung. „Die Grundregel, nach der zwei Verben getrennt geschrieben werden, ist so eindeutig und einfach, daß wir ihre Anwendung auch bei übertragenem Gebrauch empfehlen.“ Diese von der Duden-Redaktion offenbar in der Annahme formulierte Regel, daß einfache Regeln das Erlernen der Orthographie erleichterten, hat erhebliche Auswirkungen auf die Wörterliste. Beispiele dafür sind „hängen bleiben“, „sitzen bleiben“, „kleben bleiben“, „laufen lassen“, „spazieren gehen“, „springen lassen“, „verloren geben“, „wissen lassen“. Dasselbe gilt aber auch für die Verbindung von Adjektiv und Verb, bei der die Getrenntschreibung fast durchgehend empfohlen wird. Allerdings wird diese selbst im Duden nicht immer konsequent durchgehalten: „frei machen“ steht Seite 92

neben „freikratzen“, „nichtssagend“ neben „nichts ahnend“, „Leben spendend“ neben „todbringend“, „wohlriechend“ neben „übel riechend“. Während „alleinerziehend“ zusammengeschrieben werden soll, will die Duden-Redaktion „allein selig machend“ getrennt schreiben, während „allgemeinbildend“ ebenfalls in einem Wort empfohlen wird, soll „allgemein verständlich“ in zwei Worten geschrieben werden. Im neuen Duden finden sich viele Widersprüche. Offenbar haben weder der Vorsitzende des Rechtschreibrates, Zehetmair, noch andere Ratsmitglieder von den Entscheidungen der Duden-Redaktion gewußt. Kritik am neuen Duden äußerte etwa ein österreichisches Ratsmitglied, das den Rechtschreibrat aufforderte, öffentlich zu erklären, daß er seine Absichten im Duden nicht wiedergegeben sehe. Jedenfalls trifft Zehetmairs Zusage an Zeitungen und Verlage, es werde eine Art „Hausorthographie von der Stange“ geben, nicht zu, wenn es darum geht, die Beschlüsse des Rates zu verwirklichen. Ob sich die Duden-Empfehlungen gegen die unvollständigen Reparaturversuche des Rates durchsetzen, hängt entscheidend davon ab, welche Orthographie Eingang in die automatischen Schreibhilfen, in Korrekturprogramme findet. Der Springer-Verlag, der schon zum 1. August umstellt, und die Süddeutsche Zeitung werden nicht den Beschlüssen des Rates, sondern den Vorschlägen der Duden-Redaktion folgen und damit reformhöriger schreiben denn je. Die Beschlüsse des Rates jedoch sind laut Beschluß der Kultusminister vom 2. März dieses Jahres vom 1. August an verbindliche Grundlage des Unterrichts an den Schulen. Das gültige Wörterverzeichnis sei im Internet zugänglich, hieß es damals bei der Kultusministerkonferenz (KMK). Bis zum 31. Juli 2007 werden Schreibweisen, die durch die Neuregelung (Arbeit des Rechtschreibrates) überholt sind, nicht als Fehler markiert und bewertet. „In Zweifelsfällen werden Wörterbücher zugrunde gelegt“, heißt es dazu im Beschluß der KMK. Doch die Auswahl des in den Schulen benutzten Wörterbuchs wird zu einem Politikum. Denn mit der Wahl des Wörterbuchs ist die Entscheidung für eine eher am Rechtschreibrat angelehnte Schreibweise (Wahrig) oder eine dem Willen der Rechtschreibreformer folgende Orthographie (Duden) verbunden. Vor allem die Deutschlehrer sind nicht zu beneiden. Weder im neuen Duden noch im Wahrig werden sie die 1996 eingeführten und dann - teilweise klammheimlich in neuen Auflagen - korrigierten und bis 2004 geltenden Schreibweisen finden. Sie wurden in den Schulen zehn Jahre lang gelehrt. Diese Episode der Rechtschreibgeschichte wird ebenso totgeschwiegen wie die Entlassung der Zwischenstaatlichen Kommission. Die Lehrer sind deshalb darauf angewiesen, vorhergehende Wörterbücher (Duden in 23. Auflage oder Vorgänger des Wahrig) zu konsultieren, um in der Übergangsfrist zutreffend zu korrigieren. Noch nie war der Variantenreichtum in der deutschen Rechtschreibung so groß wie nach der Reform der Reform, die daran krankt, daß der Rechtschreibrat seine Arbeit nicht abschließen konnte und etwa das wichtige Kapitel der „LautBuchstaben-Zuordnung“ nicht abhandelte. Für Rechtschreibanfänger und Ausländer, die sich tatsächlich dazu entschlossen haben, Deutsch zu lernen, berSeite 93

gen die Varianten kaum lösbare Schwierigkeiten. Denn die Beherrschung der Rechtschreibung gründete schon immer auf Analogiebildung. Dieses Prinzip versagt völlig, zumal niemand mehr weiß, welche Rechtschreibung nun gilt. Die des Rates, die des Duden, die des Wahrig? Das Rechtschreibwörterbuch „Wahrig“ bildet die von den Kultusministern verordnete Schulorthographie und damit auch die Beschlüsse des Rechtschreibrates zuverlässiger ab als der Duden. Bei der Frage, wie zusammengesetzte Verben geschrieben werden, entscheidet sich die Redaktion des Wahrig eher für die Zusammenschreibung als für zwei Worte, das gilt übrigens für zweihundert Fälle, die selbst vor der Reform nicht in einem Wort geschrieben wurden (spielenlassen, platzenlassen, setzenlassen, steigenlassen, vermissen lassen). Aber auch der Wahrig kann die halbherzigen Schritte des Rates nicht besser machen, als sie sind. Jetzt rächt sich, daß der Rat sich nicht auf Empfehlungen einigen konnte und von der KMK unter Zeitdruck gesetzt wurde. Die Auslegung der Beispiele war den Wörterbuchredaktionen überlassen. Abweichungen waren deshalb unausweichlich. Die Arbeit des Rates ist auf Wunsch der Kultusminister nur unterbrochen worden, von einem Abschluß kann keine Rede sein, vielmehr hat der Vorsitzende wiederholt angekündigt, der Rat werde sich weiter mit strittigen Bereichen befassen. Im September findet die nächste Ratssitzung in München statt. Heike Schmoll

Die Grundzüge der deutschen Rechtschreibung waren immer sehr einfach zu begreifen. Das vermeintliche Chaos von 1991 haben die Reformwilligen nur an einer Handvoll immergleicher Beispiele (radfahren, Autofahren) verdeutlichen können. Das Auskämmen des Dudens (ohne substantiellen Eingriff in die üblichen Schreibweisen) wäre ein Leichtes gewesen, hätte aber die eigentlichen Ziele der Reformer unerreichbar gemacht. Man sollte nicht so tun, als habe bis in die 90er Jahre ein Notstand geherrscht, wo es bloß um ein paar Unzulänglichkeiten eines Wörterbuchs ging. Es waren ja auch gar nicht diese kleinen Haarspaltereien, die den Reformern das Motiv lieferten. Angriffsziel war die Großschreibung, und nebenbei verfolgte Augst seine bekannte Liebhaberei. Theodor Ickler

Rechtschreibungsrecht von Carlos A. Gebauer s gibt Themen, zu denen ist alles gesagt. Die Reform der deutschen Recht schreibung gehört - scheinbar - dazu. Gerade diese Reform hat uns aber unbemerkt auch ganz neue rechtsstaatliche Erkenntnisse darüber verschafft, was wahre Folgerichtigkeit ist.

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So hieß es zunächst, daß folgerichtig sei, dem Känguruh sein „h“ zu nehmen, damit es - sozusagen von hinten - aussehe wie ein Gnu. Zugleich aber wurde der Kuh ihr „h“ gelassen. Früher hätte man das nicht folgerichtig genannt. Jetzt ist das anders: Eine kleine Stange ist kein Stengel mehr, sondern ein frecher Stängel. Trotzdem soll der Redner Sprache sprechen, nicht sprächen. Mit dem nötigen politischen Willen also kann der totale Rechtsstaat seine juristischen Gesetze federleicht über die Gesetze der Logik erheben. Und weil bekanntlich gerade Ausnahmen stets die Regel bestätigen, läßt sich auch jede noch so offenliegende Inkonsequenz als heiligende Bestätigung der Regel feiern. Streng logisch. In ähnlich rasant-argumentativer Logik verteidigte zuletzt ein Namenloser die Rechtschreibungsreform deswegen als bestandswürdig, weil sie doch eigentlich nur für Behörden und Schulen verbindlich sei. Jeder andere könne weiterhin orthographisch treiben, was er wolle. Bis dahin war mir unbekannt, daß die Geltung einer Regel damit verteidigt werden kann, im Grunde gelte sie eigentlich kaum. Spätestens mit diesem Satz wurde aber die kulturell-ästhetische Diskussion auch zu einer manifest juristischen. Denn: Was ist eigentlich, wenn ein Schüler im Diktat ein „Känguru greulich“ findet und genau deswegen sitzenbleibt? Wenn nicht mehr die Menschen einer Kulturgemeinschaft selbst über ihre Buchstaben entscheiden, sondern ihr Gesetzgeber, dann können wir eines sicher als nächstes erwarten: Ein Staat, der alle seine Gesetze leidenschaftlich gerne ändert, anpaßt, modifiziert und modernisiert, der wird selbstverständlich absehbar versucht sein, auch die Schreibweisen unserer Worte Jahr um Jahr neu zu justieren. Parteien werden nächtelang um Kompromisse ringen, wenn es gilt, die ausländerfreundlichste Variante des Wortes „Haimorrhoide“ zu bestimmen und die „Oberschine“ kann deutsch-französische Diplomatenkorps wochenlang beschäftigen. Jahr für Jahr werden dann neue Gesetzblätter und hieraus destillierte Duden Schulen neu diktieren, was in dieser Saison wie zu schreiben ist. So grotesk oder absurd diese Spekulationen wirken mögen, eines sind sie: Folgerichtig! Warum? Ganz einfach. Kein Berufsstand beherrscht unsere Parlamente mehr, als der des Lehrers. Für jeden dieser Lehrer ist es geradezu eine Solidaritätspflicht gegenüber anderen Berufen, bald - genau wie Juristen jedes Jahr neu nach der einschlägigen Vorschrift fahnden zu müssen. Man halte jede Wette: Der gesetzlich verordnete Zwang zum jährlichen Dudenkauf wird zuletzt noch als beschäftigungspolitisch wertvoller Beitrag für die Buchindustrie gewertet werden. Spätestens dann wird wirklich alles zum Thema Rechtschreibung gesagt sein. Und das Parlament kann sich endlich anderen drängenden Gesetzesvorhaben widmen. Vielleicht dem Betonungs- und Aussprachegesetz. Oder der Verordnung über den Gebrauch von Eßbesteck.

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Was der Journalismus bislang zum Thema beigetragen - bzw. nicht beigetragen - hat, ist in der Tat haarsträubend. Ein Beispiel für ein falsches Beispiel: Die Nachrichtenagentur dpa behauptete über Jahre hinweg, wer ab diesem oder jenem 1. August das Wort „aufwendig“ nicht mit „ä“ schreibe, mache einen Fehler. Die Redaktion hatte offensichtlich die grundlegende Arbeitstechnik vernachlässigt, Informationen „gegenzuchecken“, in diesem Fall vulgo, einmal in einem Wörterbuch nachzugucken. Und nicht einmal das wäre hier nötig gewesen, ein Blick in die eigene Hausorthographie von 1999 hätte es auch getan. Dort steht nicht nur drin, daß es sich bei aufwendig/aufwändig um Varianten handelt, sondern auch, daß die Agenturen sich auf die mit „e“ festgelegt hatten. Solche Fehlleistungen unterbieten das branchenübliche Niveau dermaßen kraß, daß sie sich kaum mehr als genuin journalistisch erklären lassen, sondern nur als Bestandteil des Gesamtphänomens Rechtschreibreform. Es hat halt niemand so genau hingeschaut, sei es, um keine unangenehmen Entdekkungen machen zu müssen, sei es, weil die Reform das Rechtschreiben ja erleichtert: Wer sowieso schon Bescheid weiß, muß sich dann nicht noch eigens informieren. Daß in einer derart von der Mischung aus selbstgewählter Ignoranz und Propaganda bestimmten Öffentlichkeit bis auf ein paar Fachleute fast alle gelegentlich mit falschen Beispielen operieren, darf niemanden wundern. Ein starkes Stück ist es freilich, wenn Leute, welche die Situation maßgeblich eingebrockt haben, aus der allgemeinen Unkenntnis selektiv ein Argument gegen diejenigen zu schmieden versuchen, die ihre Suppe nicht mitauslöffeln wollen. Die damit einhergehende Beweislastumkehr impliziert den Anspruch, beachtet zu werden. Das ist gewiß einmal ein liebenswert-menschlicher Zug der Reformer, zugleich aber nur eine andere Erscheinungsform ihrer Zudringlichkeit. Deshalb hat Reich-Ranicki schon ganz recht, wenn er erklärt, die Reformregeln nicht kennen zu müssen, um sie ablehnen zu dürfen. Um nicht mißverstanden zu werden: Es wäre natürlich besser gewesen, wenn schon, dann unangreifbare Beispiele anzuführen. Und sicher ist es richtig, sich mit den Reformern und ihrem Projekt detailliert auseinanderzusetzen. Aber nicht, weil sie das verdient hätten, sondern weil es der einzige Weg ist, sie wieder loszuwerden. Urs Bärlein

1999 war die Hörzu diejenige Zeitschrift, die sich mit Abstand am nachdrücklichsten über die Kritiker der Rechtschreibreform lustig machte. Die Kritiker seien ausschließlich Leute, die nicht bereit seien, einmal etwas Neues auszuprobieren, usw. In diesem Stil ging der Artikel über fast eine halbe Seite. 2004 war die Hörzu die einzige Zeitschrift des Springer-Verlags, die völlig kommentarlos auf die bewährte Rechtschreibung rückumstellte. Leserbriefe, die zu diesem Thema mit Sicherheit in nicht geringer Zahl ankamen, wurden nicht veröffentlicht. Seite 96

2006 spielt die Hörzu nun den Vorreiter bei der abermaligen Umstellung auf die sogenannte »neue Rechtschreibung«. Die Redaktion kündigt an, sich genau an die Empfehlungen des Dudens halten zu wollen. Damit übernimmt sie aber auch diejenigen Schreibungen, die 2004 der Anlaß zur Rückumstellung auf die bewährte Orthographie waren, 2006 korrigiert wurden, aber vom neuen Duden nicht empfohlen werden. Eine Durchsicht der neuen Hörzu führt schnell zur Erkenntnis, daß sich die Orthographie des Springer-Verlags kaum bis gar nicht von der Rechtschreibung unterscheidet, die dort von 1999 bis 2004 praktiziert wurde und von der der Verlag schließlich aus guten Gründen Abstand nahm. Die Argumentation der Redaktion, das Schlimmste sei nun korrigiert und man könne die Neuschreibung deswegen übernehmen, wird hierdurch sofort ad absurdum geführt. In der neuen Hörzu findet man somit wieder Tipp, 20-Jährige, Fritteuse, Schifffahrt, sogar acht Mal (!), hingegen jedesmal und einmal bei dem der Mann schwerverletzt wurde und vieles andere mehr. Mehr kann ich erst sagen, wenn ich den neuen Duden durchsehen kann. Dieser scheint aber - dies ist inzwischen klar - in den meisten Fällen möglichst »neuschreibliche« Varianten zu empfehlen. Von den Korrekturmaßnahmen des Rates, die den Verlag angeblich überzeugt hätten, will Springer also nicht einmal Gebrauch machen. Die Dudenredaktion achtet nach ihrem Debakel von 2004 nun sehr darauf, daß die Buchhandlungen die Neuauflage nicht vor dem 22. Juli vertreiben. 2004 konnte ich den neuen Duden in einer Buchhandlung zwei Wochen vor dem offiziellen Erscheinen entdecken: Ein Exemplar lag dort offen auf dem Boden und war anscheinend »vom Laster gefallen«. Diese Chance ließ ich mir selbstverständlich nicht entgehen. In anderen Läden war ähnliches zu beobachten. Dies ist 2006 leider nicht mehr der Fall. Christian Dörner

Erster August Christian Meier er erste August, einstmals im Gedächtnis der Deutschen als Beginn des Ersten Weltkriegs, ist seit 1998 ein Datum, an dem die Rechtschreib“reform“ sei es an der Schule eingeführt (1998), sei es von Zeitungen übernommen (1999), sei es von Zeitungen verabschiedet (2000) wird.

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2005 wurden die meisten der neuen Schreibungen für die Schulen verbindlich gemacht. Jetzt geschieht dies mit dem Rest. Und auch der Springerverlag stellt wieder einmal um. Die Bilanz der „Reform“ ist niederschmetternd. Geht man in eine Buchhandlung und treibt sich dort nicht gerade unter Schuloder Kochbüchern herum, sondern unter Schriftstellern und Gelehrten, so Seite 97

findet man nach wie vor überwiegend die bewährte Schreibung, und es ist nicht abzusehen, daß sich daran so bald etwas ändert. Eigentlich sollte die „Reform“ inzwischen weniger anstößig geworden sein. So hatte es sich jedenfalls der Vorsitzende des Rats für Rechtschreibung, Hans Zehetmair, vorgenommen. Einiges, so die Getrennt- und Zusammenschreibung, hat er ja auch verändert. Anderes, so die Groß- und Kleinschreibung, steht noch aus. Und zweifellos harren noch haarsträubende Mißgriffe wie die Drei-Konsonanten-Regelung (Flussschifffahrt, Schlammmassen etc.), die vor 150 Jahren dank Jacob Grimm schon einmal abgeschafft wurden, sowie die „belämmerten“ Volksetymologien ihrer Revision. Man hätte darauf warten können. Denn der Beschluß der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 30. November/ 1. Dezember 1995 sieht ausdrücklich vor: „Sollte sich herausstellen, daß die Übergangsfrist zu großzügig oder zu eng bemessen ist, wird eine Veränderung der Frist durch die KMK in Aussicht genommen.“ Rückblickend wird deutlich, welch raffiniertes Manöver da über die Bühne gegangen ist. Man ersetzt die bisherige Kommission durch eine neue, wobei zahlreiche Mitglieder der alten auch in der neuen sitzen. Man trifft Vorsorge, daß die Mehrheit aus Reformanhängern besteht. Um deren Position noch besser abzusichern, müssen Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Um gelten zu können, müssen sie dann noch von der KMK gebilligt werden. So können einige besonders anstößige Gravamina behoben werden - als erster Schritt zur Reform der Reform. Der Ratsvorsitzende läßt sich auf einen weiteren Trick ein. Es wird verfügt, Anfang März müsse klar sein, was nun gilt; strittig sei nur die Getrennt- und Zusammenschreibung, und die ist geregelt. (Womit die Minister gut demokratisch nicht nur darüber „verfügen“, was gilt, sondern auch darüber, was strittig ist.) So wird die unvollständige „Reform der Reform“ zum Ganzen gemacht. Der Ratsvorsitzende und etwa die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, auf die er sich unwidersprochen in aller Öffentlichkeit beruft, merken gar nicht, daß der erste schon der letzte Schritt sein soll, soweit es nach den Ministern geht. Und sie wissen natürlich auch nicht, daß die beschlossenen Änderungen im jetzt erscheinenden Duden zum Teil schon wieder zurückgenommen werden. Der Ratsvorsitzende, der offenbar doch weniger ein reuiger Sünder als ein, wie landesüblich, wenig couragierter Politiker ist, kann erklären, was er will. Die Zeichen sind eindeutig: Soweit es nach den Ministern geht, soll die Schreibung so, wie sie jetzt ist, bleiben. Gleichwohl entblödet er sich nicht, überall herumzuschreiben und herumzutelefonieren, damit alle Zeitungen und alle Schriftsteller sich künftig darauf einlassen. Die Akademie versucht Schadensbegrenzung, beschließt am 11. Mai eine kurze Resolution: „Die inzwischen erfolgte Reform der Rechtschreib,reform’ ist zwar zu begrüßen. Doch enthält die neue Schreibung noch so viele gravierende Mängel, daß auf ihrer Basis die Wiederherstellung einer überwiegend einSeite 98

heitlichen Schreibung nicht gelingen kann. Es empfiehlt sich daher keineswegs, diese durchaus unbefriedigende Lösung als die längerfristig gültige anzusehen. Es würden dadurch die notwendigen weiteren Reformen sehr erschwert.“ Da nun aber die vorliegende Version der „Reform“ die endgültige sein soll, besteht gar keine Aussicht darauf, daß die Einheitlichkeit der deutschen Schreibung in absehbarer Zeit sich wieder einstellen wird. Weithin werden die alten und, wie deren Erklärung zeigt, die wichtigsten jungen Schriftsteller wie die meisten Wissenschaftler an der bewährten Schreibung festhalten. Und ohnehin werden noch lange 99 Prozent der deutschen Literatur ihren Lesern in dieser Schreibung erscheinen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Begründung seiner, gelinde gesagt: nicht unproblematischen Entscheidung zur „Reform“ 1998 erklärt, „nach derzeitigem Kenntnisstand“ sei die ministerielle „Prognose, daß die Rechtschreibreform die notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde“, nicht zu beanstanden. Was immer es für Kenntnisse hatte: An prognostischer Kapazität hat es offenkundig gehapert. Aber eben wegen der fortgesetzten Beratungsresistenz und Unbelehrbarkeit der Minister ist ganz ausgeschlossen, daß diese Schreibung, so wie sie ist, sich durchsetzen wird. Der Rat für Rechtschreibung muß, auch wenn es nicht genehm ist, seine Arbeit wiederaufnehmen oder durch einen anderen Rat ersetzt werden. Ganz an der Wissenschaft und ganz an Schriftstellern, Gelehrten und der Mehrheit der Schreiber kann man solche Schreibung auf die Dauer nicht behaupten. Es wird also immer wieder neue Umstellungen geben, immer wieder neue völlig überflüssige Kosten und Arbeit - bis am Ende vielleicht doch eine Schreibung sich herausstellt, die Zukunft hat. Der Verfasser ist Althistoriker und ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. F.A.Z., 21. 7. 2006

Derselbe Unsinn wie bei halb herrscht unter den Verben mit wieder-. Hier werden, in gleichfalls irreführendem Schwarzdruck, als sei das im Duden schon immer so gewesen, die unterschiedlich betonten Ausdrücke wiedereröffnen (das Geschäft wird wiedereröffnet) und wieder eröffnen (wieder wurde ein Geschäft eröffnet) als bloße Schreibvarianten nebeneinandergestellt. Ein Kasten offenbart den Irrtum in aller Deutlichkeit, und dabei unterläuft noch der Fehler, wiedereinführen als vermeintliche Neuschreibung rot auszuzeichnen, während es im laufenden Verzeichnis schwarz angeführt ist. Andererseits werden wieder einfallen und wieder tun ausschließlich in neuer Getrenntschreibung zugelassen, sicherlich zu Unrecht. Kurzum, die seit 1996 herrschende Verwirrung um die mit wieder- zusammengesetzten Verben ist immer noch nicht behoben. Es ist unmöglich, hier in aller Kürze die ganze Fülle des Unsinnigen wiederzugeben; wer den neuen Duden schon besitzt, sollte sich die entsprechende Doppelseite genauer ansehen. Theodor Ickler Seite 99

Die Revision der RSR wird bekanntlich weder im Bundesanzeiger noch in den Amtsblättern der Kultusministerien veröffentlicht. Es wird nur auf die herunterladbare Datei vom Rechtschreibrat verwiesen und allenfalls eine knappe Übersicht über die Änderungen gegeben. So auch im hessischen Amtsblatt. Der Erlaß selbst (vom 18. Mai 2006) kann heruntergeladen werden. Er „erledigt“, wie es heißt, den Erlaß vom 14. Juli 2005. Das bedeutet also, daß es nach zehn Monaten schon wieder eine neue Rechtschreibung gibt. Im erläuternden Text dazu wird wieder und wieder zur Beschwichtigung der Lehrer gesagt, daß die bisherigen Reformschreibweisen gültig bleiben. Allerdings muß der Verfasser (Stillemunkes vermutlich) dann doch zugeben, daß einiges sich erheblich ändert. Und sehr beruhigend klingt es auch nicht, daß es bei der Zusammenschreibung von Verben mit Partikeln bleibt, daß sich aber die Liste der Partikeln geändert habe ... „Künftig kann man in privaten Briefen das Anredepronomen du/ihr und die entsprechenden Possessivpronomina auch großschreiben.“ Was geht den Staat die Schreibweise in „privaten Briefen“ an?

„Adjektive und Substantive in festen Verbindungen Hier geht es nur um die Fälle, bei denen es sich nicht um Eigennamen handelt. Es bleibt bei der Kleinschreibung des Adjektivs, also das neue Jahr, das autogene Training, die höhere Mathematik. Bisherige Schreibweisen bleiben gültig. Jedoch ist die Großschreibung zulässig, wenn diese Verbindung eine neue idiomatisierte Bedeutung hat, also z. B. das schwarze/Schwarze Brett, der blaue/Blaue Brief.“ Aber das ist praktisch immer der Fall, weil die „feste Verbindung“ gerade wegen der besonderen Bedeutung fest geworden ist. Die höhere Mathematik ist auch nicht einfach höher als eine andere usw. Ministerielle Erlasse, die sich um Einzelheiten bestimmter Schreibweisen kümmern, sind eine Textsorte ganz eigener Art. Sie wirken fremd innerhalb des sonstigen Amtsblatt-Stoffs, und man hat beim Lesen das leise Gefühl, daß irgend etwas nicht ganz stimmt in diesem unserem Lande. Übrigens haben die Schulbuchverlage sich beeilt, zur Revision die Übungen bereitzustellen. In einem Arbeitsheft von Westermann/Schroedel/Diesterweg werden die Kinder zuerst aufgefordert, eine Postkarte zu schreiben und den Lückentext mit klein geschriebenen Anredeformen auszufüllen. Dann folgt die Aufforderung: „Schreibe die Postkarte noch einmal auf. Schreibe diesmal die Anredepronomen groß. - Wie gefällt dir die Postkarte besser? Wenn die Pronomen du, dein usw. klein- oder großgeschrieben sind? Warum?“ (Man beachte, daß die Verfasser die Pronomina immer klein schreiben! Dadurch soll wohl den Kindern dies als das Normale eingebleut werden.)

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