Scham Gesichter eines Affekts Vortrag bei der 19. Magdeburger Fachtagung zur Suchttherapie am 14.Mai 2014 Fachklinik Alte Ölmühle/Magdeburg Micha Hilgers © 2014 1

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Übersicht Vortrag

• Phänomenologische Aspekte der Scham • Scham, Schuld und Schuldgefühl • Entwicklungsfördernde versus pathologische Erscheinungsformen • Die moralischen Affekte (Cleckley 1941) • Die Gruppe der Schamgefühle • Technischer Umgang mit typischen Schamszenen 2

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Phänomenologische Aspekte der Scham

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Oder:

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Phänomenologische Aspekte der Scham I Situative Beispiele I

Situative Beispiele I • Versehentliche Begrüßung eines Fremden; • Morgendlicher Ausrutscher auf Glatteis; • Unfreiwillig komisches oder unerwidertes Liebesgeständnis; • Wortfindungsstörung (besonders bei Namen); • Verlegenheit angesichts großen Lobes; 6

Phänomenologie der Scham I Situative Beispiele II

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Situative Beispiele II • • • •

ungewolltes Erröten; peinlich-enthüllende Versprecher; Hänseleien; Körperscham (unverschlossene Toilette, offene Kleidung), Behinderung, Dysmorphophobie; • Sportunterricht, Tafel, Benotung, Demütigung; • übermäßige Selbstöffnung.

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Phänomenologie der Scham II Subjektpol

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Subjektpol - Objektpol Subjektpol (man schämt sich für etwas): • subjektiv oder objektiv wahrgenommene eigene (manchmal auch fremde) Schwäche, • einen Defekt, • einen Makel, • die Verletzung von Intimität oder der persönlichen Würde. 8

Phänomenologie der Scham III Objektpol

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Subjektpol - Objektpol Objektpol (man schämt sich vor jemandem): • vor den realen anderen (Zuschauern der Schamszene) und/oder • den verinnerlichten anderen (Zeugen der Scham); • besonders jedoch, wenn die inneren oder äußeren anderen bedeutsam sind: • Scham steigert sich mit der Anzahl der Zeugen und ihrer subjektiven Bedeutung (im Gegensatz zu Schuld). 9

Phänomenologie der Scham IV Selbsterleben

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Selbsterleben Scham geht mit einer Selbstentfremdung einher: • Man fühlt sich irritiert, verstört, in Frage gestellt, entfremdet, aus dem sozialen Kontext gerissen, isoliert, ausgegrenzt, wird sich selbst fremd; • Man schaut auf sich aus der Perspektive des realen oder imaginierten (verinnerlichten) anderen • Scham bewirkt eine Selbstdistanzierung: Man ist nicht, wofür man sich hielt, die anderen sind nicht so, wie man glaubte, die Umstände sind anders als vermutet (Broucek 1982, 1991). 10

Phänomenologie der Scham V Selbstaktualisierung I

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Selbstaktualisierung I Die der Scham innewohnende Entfremdung motiviert potentiell zu Erkenntnis und Selbstaktualisierung: • Scham ist per se kein pathologischer Affekt. Scham ist zwar immer „peinlich“, darum aber nicht notwendig destruktiv. • Solange Scham das Ich nicht überschwemmt und damit die Bewältigungsmechanismen überfordert, motiviert sie zur Ausbildung neuer, angemessenerer Konzepte vom Selbst, den anderen und der Umwelt. 11

Phänomenologie der Scham V Selbstaktualisierung II

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Selbstaktualisierung II Scham kann zu • besseren Leistungen (Kompetenzscham); • angemessenerem Umgang mit Selbstöffnung und Selbstverschlossenheit (Intimitätsscham) führen; • Emanzipationsbestrebungen motivieren, die aus besonders symbiotischen, Abhängigkeit fördernden Beziehungen herausführen (Abhängigkeitsscham). 12

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13 Masaccio, Die Vertreibung aus dem Paradies

Phänomenologie der Scham VI Affektausdruck

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Affektausdruck I Im Gegensatz zu anderen Primär- oder angeborenen Affekten hat Scham keinen eindeutigen interkulturellen Gesichts-, Mimik- oder Gestikausdruck. Erscheinungsformen können sein: • Erröten, Erblassen, Unruhe, Versteinern/Erstarren; • Kopf senken, Kopf wegdrehen, Gesicht verbergen, Weglaufen; • Lachen, Lächeln, Verstummen oder Logorrhöe 14

Phänomenologie der Scham VI Affektausdruck

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Affektausdruck II • Kontraphobisch: Kopf in den Nacken werfen, Arroganz in Haltung und Auftreten, Verlachen anderer, Unverschämtheit, Distanzlosigkeit (auch bei Fehlen von Scham); • Zornesausbrüche („shame-rage“), Gewalt, Demütigungen, Hohn, Zynismus; • Sozialphobie, generelle Vermeidungshaltung (antizipatorische Schamangst).

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Phänomenologie der Scham VI Affektabwehr

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Affektabwehr • Leugnung; • Verkehrung ins Gegenteil: Beschämung anderer, Größenideen über das Selbst; • Somatisierung; • Dissoziation; • Suchtmittelabusus; • Aggression: Wut, Gewalt, Zynismus; • Generalisierte Schamangst: Sozialphobie; • Zwang statt Kreativität (mit dem Risiko der Beschämung). 16

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Phänomenologie der Scham VI Affektbewältigung

Affektbewältigung, Coping • • • • •

Akzeptanz, Standing; Selbstveränderung; Milderung strenger Über-Ich-Instanzen; Empörung gegen äußere Beschämung; Humor.

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Phänomenologie der Scham VI Affektdefizit, -defekt. Hypothrophie

Affektdefizit, Hypothrophie Folgen des Fehlens von Scham (bzw. der moralischen Affekte): • Dissozialität/Antisozialität (hist. Psychopathie, Soziopathie), Kriminalität; • Histrionische Persönlichkeit; • Distanzminderung, Distanzlosigkeit; • Unverschämtheit, Arroganz, Mangel an Empathie; • Exhibitionismus; • Größenideen, pathologischer Narzissmus; • Somatisierung. 18

Phänomenologie der Scham VII

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Affektüberschwemmung, Affektregulationsstörung, Hyperthrophie von Scham

Affektüberschwemmung, Affektregulationsstörung, Hyperthrophie von Scham I Folgen übermäßigen Schamerlebens:

• Soziale Phobie, chronische Schamangst und Schamvermeidung; • Distanziertheit, Kontaktvermeidung, Rückzug; • Mutismus, leises Sprechen, Verstummen in der Öffentlichkeit; • Generalisierte Hemmung; 19

Phänomenologie der Scham VII

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Affektüberschwemmung, Affektregulationsstörung, Hyperthrophie von Scham

Affektüberschwemmung, Affektregulationsstörung, Hyperthrophie von Scham II

• Skrupolösität, vermindertes Selbstwertgefühl, Selbstverachtung, Selbstverletzung, Suizidalität; • Narzisstische Krisen; • Hohes Leistungs- und Anspruchsdenken gegenüber dem Selbst; • Somatisierung. 20

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Die Gruppe der Schamaffekte

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Die Gruppe der Schamaffekte

1. Existentielle Scham 2. Kompetenzscham 3. Intimitätsscham 4. Schande 5. Idealitätsscham 6. Abhängigkeitsscham 7. Ödipale Scham 8. Scham-Schuld-Dilemmata 22

Die Gruppe der Schamaffekte Existentielle Scham

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1. Existentielle Scham a. Das Gefühl, als Person grundsätzlich unerwünscht oder mit einem Makel behaftet zu sein (zum Beispiel bei ungewollten Kindern oder Kindern, die nach Wunsch der Eltern ein anderes Geschlecht hätten haben sollen). Scham, die sich auf die eigene Körperlichkeit bezieht, wenn diese grundsätzlich negativ oder makelbehaftet erlebt wird (Dysmorphophobie).

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Die Gruppe der Schamaffekte Existentielle Scham

b. Das grundsätzliche Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, wie nicht existent zu sein (zum Beispiel, wenn Eltern alle möglichen Selbstäußerungen – verbal wie nonverbal ignorieren – und sich damit verhalten, als sei das Kind nicht existent).

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Die Gruppe der Schamaffekte Kompetenzscham

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2. Kompetenzscham Kompetenzscham, die bei abbrechenden Kompetenzerfahrungen und (öffentlich sichtbaren) Misserfolgen oder Kontrollverlusten der IchFunktionen (zum Beispiel bei Erwachsenen Weinen, Schreien, Torkeln) entsteht.

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Die Gruppe der Schamaffekte Intimitätsscham

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3. Intimitätsscham Intimitätsscham wird bei Verletzung der Selbst- und Intimitätsgrenzen wirksam: Bei Übergriffen oder plötzlichem Sichtbarwerden von Selbstanteilen, die eigentlich verborgen bleiben sollten. Verlegenheit oder Scham, wenn ungewollt eigene Körperlichkeit sichtbar wird, die jedoch nicht - wie bei existentieller Scham - grundsätzlich negativ erlebt wird, sondern nur situativ (so) nicht gezeigt werden soll. 26

Die Gruppe der Schamaffekte Schande

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4. Schande Scham, die bei aktiver Demütigung von außen erlebt wird (z.B. Folter). Der Verlust der Würde oder des Gesichts eines einzelnen oder einer Gruppe oder Großgruppe (religiöser Gemeinschaft, Ethnie oder sozialer Schicht) beschädigt das Gefühl der Würde und Integrität. 27

Die Gruppe der Schamaffekte Identitätsscham

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5. Idealitätsscham a. Scham, die eine Diskrepanz zwischen Selbst und Ideal anzeigt (Piers u. Singer 1953). b. Scham, die sich auf schuldhaftes Handeln bezieht. Man empfindet nicht nur Schuldgefühle, sich nicht korrekt verhalten zu haben, sondern schämt sich auch, sich überhaupt schuldhaft verhalten zu haben („dass ausgerechnet mir das passiert“).

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Die Gruppe der Schamaffekte Abhängigkeitsscham

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6. Abhängigkeitsscham Scham in Bezug auf eigene Abhängigkeit von anderen oder Scham durch Herausfallen aus Beziehungen, die eigentlich gewünscht sind. Verliebtheit oder unerwiderte Liebe, Verehrung oder empfundene Abhängigkeit von subjektiv bedeutsamen Personen sind zum Beispiel Auslöser solcher Schamerlebnisse.

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Die Gruppe der Schamaffekte Ödipale Scham

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7. Ödipale Scham Das Gefühl, ausgeschlossener Dritter, zu klein oder zu minderwertig zu sein, nicht dazu zu gehören oder aktiv ausgeschlossen zu werden. Hierzu zählt auch der andauernde (neurotische) Eindruck Erwachsener, irgendwie kleiner, jünger und weniger kompetent als andere aus der Bezugsgruppe zu sein. 30

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Die Gruppe der Schamaffekte Scham-Schuld-Dilemmata

8. Scham-Schuld-Dilemmata Widersprüchliche Über-Ich-Forderungen führen zu einem unlösbaren intrasystemischen Konflikt, bei dem entweder Schuld oder Scham (ggf. beides) gefühlt wird. Beispiel angesichts bevorstehender Abschlussprüfung: Nicht-Bestehen bedeutet Scham gegenüber eigenen Ansprüchen und Idealen, Bestehen bedeutet Schuld gegenüber den Eltern, die aus einfachen Verhältnissen stammend, sich gegenüber Akademikern unterlegen fühlen (Scham) und mit Ressentiments reagieren und von denen man sich durch den Prüfungserfolg ablöst (Trennungsschuld). 31

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Fazit I Maßvolle Schamgefühle und Schamtoleranz zeichnen psychisch stabile, gesunde Persönlichkeiten aus. Die Fähigkeit zu angemessenen Selbstzweifeln ist Voraussetzung für soziales Lernen und soziale Kompetenz. 32

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Fazit II

Maßlose Selbstzweifel und Scham oder umgekehrt Ignoranz und Vermessenheit führen zu nicht falsifizierbaren Annahmen über das Selbst, die anderen und die Welt. Schamlosigkeit und der Mangel an moralischen Gefühlen (Schuld, Scham, Sorge) sind Voraussetzung für Rücksichtslosigkeit, Kriminalität und Ausbeutung.

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Technischer Umgang mit typischen Schamszenen

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Typische Schamszenen

Typische Schamszenen in Beratung und Psychotherapie (bei Patient, eventuell auch Mitpatienten und Behandler) I Initial vor/bei Kontaktaufnahme, Erstinterview; Inhaltlich bei „heiklen Themen“ (z.B. Sucht), insbesondere eigenem (subjektiv empfundenen) Versagen; Psycho-sexuelle Themen (z.B. Paraphilien, Perversion, Fehlen sexueller Kontakte, evt. Homosexualität); Erlittene oder ausgeübte Gewalt (verbal oder physisch); PTSD; Versagen von Ich-Funktionen (Weinen, Schreien).

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Typische Schamszenen Rotation

Rotation von Scham zwischen Patient und Behandler I Konflikte um Rahmenbedingungen: Zuspätkommen, Nicht-Erscheinen, Säumnisse; Beschädigungen oder Missachtungen der Einrichtung oder ihrer Mitarbeiter; Sachliche (berechtigte) oder unsachliche Kritik;

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Typische Schamszenen Rotation

Rotation von Scham zwischen Patient und Behandler II Subjekt-Objekt-Differenzierung oder: Wer schämt sich für wen oder was? Antizipatorische oder identifikatorische Scham des Behandlers bei Ansprechen „heikler Themen“ (z.B. Körpergeruch, Intoxikation, Sexualisierung, Bedrohlichkeit, Wahn). Sex and Crime: Heimliche Identifikation/Faszination des Behandlers und die (un)heimliche Macht des Patienten. 37

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Typische Schamszenen Rotation

Rotation von Scham zwischen Patient und Behandler III Die neue Frisur und das bessere Outfit des Patienten als Therapiefortschritt: Bemerken, anerkennen oder schweigen? Der stolze, erfolgreiche Patient: Der Patient hat guten Sex (und wir nicht). Neid und rotierende Scham, Angst vor Missgunst. Der (erfolg)reiche oder mittellose Patient und der (scheinbar) wohlhabende oder bedürftige Behandler.

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Typische Schamszenen

Der latent beschämte Patient und seine Angehörigen: Rahmenbedingungen + Rolle der Mitbetroffenen Latente Beschämung/Bloßstellung der Angehörigen innerhalb der Therapie (versus Schutz der Angehörigen vor Übergriffen/Bloßstellung) Beschämende Übergriffe von Angehörigen versus Übergriffe des Patienten gegenüber seinem Umfeld Der Behandler/die Gruppe im Schlafzimmer - oder: Alles besser wissen, aber nichts besser machen müssen. 39

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Typische Schamszenen

Der latent beschämte Behandler: Geschenke und positive (Liebes-) Übertragung Geschenke: Annehmen oder Zurückweisen? Endet die Szene zwangsläufig mit Scham auf einer oder beiden Seiten? Komplimente: Schweigen, deuten oder bedanken? Erotische Anspielungen oder offene Geständnisse: Bei Wahrung der Grenzen: akzeptieren, bedanken, deuten?

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Typische Schamszenen

Der sich (mit seinen Patienten) schämende Behandler: Sexualanamnese und „heikle Themen“ Sexualanamnese: Wer steckt wen mit seiner Scham an? Paraphilien und Perversionen: Wer will was nicht so genau wissen? Sexual- und Paartherapie: Was machen Sie beide denn so? Und was würden Sie gerne tun? Körperliche Defizite und Behinderungen/Demenz: Wie 41 geht was (nicht)?

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Typische Schamszenen

Offene Beschämungen und Demütigungen durch den Patienten: Exhibitionismus, Unverschämtheit, Körperkontakt Latente Beschämung/Bloßstellung der Angehörigen versus Schutz der Angehörigen vor Übergriffen; Beschämende Übergriffe gegenüber/von Angehörigen versus Übergriffe des Patienten; Grobe sexuelle Anspielungen, Anspielungen auf persönliche Gegenstände und Körperkontakt; Drohungen und offene Bedrohung, Gewalt.

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