S233. Originalarbeit. Zusammenfassung. Einleitung

Originalarbeit Eine Empfehlung zur Durchführungspraxis von Fixierungen im Rahmen der stationären psychiatrischen Akutbehandlung Ein Beitrag zur Harmo...
Author: Uwe Heidrich
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Originalarbeit

Eine Empfehlung zur Durchführungspraxis von Fixierungen im Rahmen der stationären psychiatrischen Akutbehandlung Ein Beitrag zur Harmonisierung bester klinischer Praxis in Europa Practice Recommendation for Administering Mechanical Restraint During Acute Psychiatric Hospitalization A Contribution to Harmonize Best Clinical Practice Across Europe

Autoren

Thomas W. Kallert1, Luisa Jurjanz1, Katja Schnall1, Matthias Glöckner1, Ivan Gerdjikov2, Jiri Raboch3, Elena Georgiadou4, Zahava Solomon5, Corrado de Rosa6, Algirdas Dembinskas7, Tomasz Adamowski8, Petr Nawka9, Claudio Hernandez10, Anna Björkdahl11

Institute

Die Institutsangaben sind am Ende des Beitrags gelistet.

Schlüsselwörter " Fixierung l " Qualitätssicherung l " beste klinische Praxis l " Leitlinien l " transnationale l Harmonisierung Key words " mechanical restraint l " quality assurance l " best clinical practice l " guidelines l " transnational harmonization l

Zusammenfassung !

Anliegen Eine Zielstellung des EUNOMIA−Pro− jektes bestand darin, eine europäische Empfeh− lung zur Durchführungspraxis verschiedener Zwangsmaßnahmen zu entwickeln. Vorgestellt wird das Ergebnis zu Fixierungen. Methode In 11 Ländern erarbeiteten lokale Ex− pertengruppen Empfehlungen, die mittels eines Kategoriensystems vergleichend analysiert und zu einer gemeinsamen Empfehlung zusammen− geführt wurden.

Einleitung !

Bibliografie DOI 10.1055/s−2006−952007 Psychiat Prax 2007; 34, Supplement 2: S233 ± S240  Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ´ New York ´ ISSN 1611−8332 Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. habil. Thomas W. Kallert Universitätsklinikum Carl Gus− tav Carus an der Technischen Universität Dresden, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Fetscherstraße 74 01307 Dresden Thomas.Kallert@mailbox. tu−dresden.de

Unter den restriktiven Maßnahmen, denen Pa− tienten im Rahmen psychiatrischer Behandlun− gen unterworfen sein können, gehören Fixierun− gen zu denjenigen, die am massivsten in die per− sonale Integrität des Betroffenen1 eingreifen. Demgemäß erfährt deren Anwendung zum einen harsche Kritik [1, 2] und stimuliert zudem die Forderung nach bestmöglicher Durchführungs− praxis unter Wahrung der Würde sowie der Rechte des Patienten1. Sowohl im europäischen als auch im deutschen Kontext wird dies allerdings durch heterogene rechtliche Regelungen verkompliziert. Wie eine rechtsvergleichende Analyse von zwölf europäi− schen Ländern kürzlich verdeutlichte [3], finden sich in den relevanten Gesetzestexten von fünf Ländern (Bulgarien, England, Litauen, Griechen− land, Spanien) keine Standards, die die Anwen− dung von Fixierungsmaßnahmen bei psychiatri− schen Patienten betreffen. In Deutschland regeln die Psychisch−Kranken−Gesetze (PsychKG) der einzelnen Bundesländer [4] die Anwendung von (Sicherungs−)Maßnahmen zur Abwehr von ge− 1

Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir hier aus− schließlich die männliche Form. Gemeint sind stets Per− sonen beiderlei Geschlechts.

Ergebnisse Rechtliche und klinische Vorbedin− gungen für die Anwendung von Fixierungen, be− rufsgruppenspezifische Handlungsanweisungen, ethische Problemstellungen und praxisrelevante prozedurale Aspekte werden referiert. Schlussfolgerungen Im Vergleich mit etablier− ten Leitlinien zeigt sich eine größere Überein− stimmung bei grundlegenden Anwendungsprin− zipien als bei praktischen Details der unmittelba− ren Durchführungssituation.

fährlichen Situationen sowie zur Aufrechterhal− tung von Sicherheit und Ordnung im Kranken− haus. Hierbei sei angemerkt, dass dies zwar Fixie− rungen jedoch nicht die Zwangsmedikation [5] einschließt. Zu der Thematik, ob das Betreuungsrecht und in dessen Rahmen verfügte Unterbringungen die Anwendung von Zwangsmaßnahmen legitimiert, prävalieren aktuell differierende Rechtsauffas− sungen [6]. Diese unterscheiden sich insbesonde− re dahingehend, ob die Zustimmung des Betreu− ers für die Durchführung von Fixierungen aus− reicht, oder ob ein separater Gerichtsbeschluss einzuholen ist. Weiterhin lässt der aktuelle Kenntnisstand zu klinischer Wirksamkeit von Fixierungen erheb− lich zu wünschen übrig (zusammenfassende Dar− stellung in [7]). Beispielsweise liegt derzeit keine in ihren Ergebnissen publizierte randomisierte kontrollierte Studie vor [8], in welcher der Out− come von Fixierungen mit dem alternativer Zwangsmaßnahmen verglichen wird [9]. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass bislang nur wenige Leitlinien zur Anwen− dung von Fixierungen erarbeitet werden konn− ten. Von größter internationaler Ausstrahlungskraft, weil mit aufwendiger und höchste Leitlinienqua−

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lität repräsentierender Methodik etabliert, erscheint derzeit die Clinical Practice Guideline for Violence: The Short−term Ma− nagement of Disturbed/Violent Behaviour in Psychiatric In−pa− tient Settings and Emergency Departments, welche 2005 vom National Institute for Clinical Excellence (NICE) vorgelegt wurde [7]. Die NICE−Guideline präsentiert (unter anderem) sechs klini− sche Empfehlungen zur Durchführung von körperlich freiheitsbe− schränkenden Maßnahmen zur kurzfristigen Beherrschung agi− tierter oder violenter Verhaltensweisen: 1. Während einer solchen körperlichen Intervention sollte das Personal fortfahren, Deeskalationstechniken anzuwenden. 2. Unabhängig von der Körperposition beinhaltet eine konti− nuierliche körperliche Intervention reale Gefährdungsmo− mente. Insofern sollte eine solche Intervention unter allen Umständen vermieden, nicht für längere Zeiträume ange− wendet, und bei frühestmöglicher Gelegenheit beendet werden. Um längere körperliche freiheitsbeschränkende Interventionen zu vermeiden, sollten alternative Strategien wie eine schnelle medikamentöse Sedierung oder eine Iso− lierung in Betracht gezogen werden. 3. Während der körperlichen Intervention sollte ein Teammit− glied dafür verantwortlich sein, Kopf und Hals des Patienten zu schützen und zu stützen. Das Teammitglied mit dieser Verantwortung sollte gleichzeitig die Zuständigkeit dafür tragen, das gesamte Team durch den körperlichen Interven− tionsprozess zu führen; zudem ist dieses Teammitglied da− für verantwortlich, Luftwege und Atmung freizuhalten und die Vitalparameter zu überwachen. 4. Während der körperlichen Intervention sollte unter keinen Umständen ein direkter Druck auf Hals, Thorax, Abdomen, Rücken oder die Beckenregion des Patienten ausgeübt wer− den. Der körperliche und psychische Status des Patienten sollte während dieser Maßnahme kontinuierlich überwacht werden. 5. Mehrere körperliche Fertigkeiten können bei der Beherr− schung eines Vorfalls mit agitiertem oder violentem Verhal− ten angewendet werden. Das Ausmaß körperlicher Gewalt muss gerechtfertigt, angemessen, vernunftgemäß nachvoll− ziehbar und auf die spezifische Situation abgestellt sein, und ist für die minimal erforderliche Zeit auszuüben. Unter allen Umständen ist die Anwendung von Fertigkeiten oder Tech− niken, die keine Schmerzen auslösen, zu präferieren. Letzte− res hat keinen therapeutischen Wert und könnte nur bei ei− ner Rettungssituation von Patienten oder Mitarbeitern ge− rechtfertigt sein. 6. Mechanische Beschränkungen sind weder eine primäre Antwort noch eine Standardmaßnahme, um agitiertes oder violentes Verhalten in Akutbehandlungsstationen zu be− herrschen. Falls angewendet, müssen sie eine gerechtfertig− te, vernunftgemäße und proportionale Antwort auf die Risi− ken darstellen, die von dem Patienten ausgehen; sie sind nur nach multidisziplinärer Beurteilung der Situation anzuwen− den. Rechtlicher, unabhängiger medizinischer und ethischer Rat sollte eingeholt und dokumentiert werden. Im deutschen Sprachraum wurden in den letzten drei Jahren zwei Richtlinien publiziert, die sich auch mit Aspekten der Durchführung von Fixierungen bei psychisch Erkrankten be− schäftigen. Die von der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften 2004 vorgelegten medizinisch−ethischen Richt− linien zu Zwangsmaßnahmen in der Medizin nehmen neben ei− ner Begriffsklärung auch zu rechtlichen, personellen und institu− tionellen Rahmenbedingungen sowie zur Durchführungspraxis

Stellung und mahnen zudem die Verhältnismäßigkeit von Zwangsmaßnahmen an [10]. Gerade bei Zwangsmaßnahmen sei das Prinzip der Verhältnismäßigkeit besonders zu beachten. Das heißt, eine solche Maßnahme müsse erstens notwendig, zweitens proportional zur Schwere der Gefährdung und drittens nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzbar sein. Bei der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass auch soma− tische und psychische Schäden entstehen können. Somatische Schäden (z. B. Thrombosen, Infektionen) drohen insbesondere durch längere Ruhigstellung (z. B. Fixation) oder durch körperli− che Gewaltanwendungen (z. B. Prellungen, Frakturen). Psy− chische Traumatisierungen sind hingegen umso eher zu erwar− ten, je mehr der Eingriff als ungerechtfertigt, beschämend oder gar als Vergeltung bzw. als gezielte Schädigung erlebt wird. Spe− ziell zur Thematik der Fixierungen, die hier als ¹schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen“ definiert sind, äußern sich die Auto− ren an verschiedenen Stellen des Dokumentes. Demnach sollten Fixationen ¹in der Regel höchstens Stunden“ dauern und deren Überprüfung sollte so oft als möglich (z. B. stündlich) erfolgen. Als Gründe für eine Fixierung sind beispielsweise schwere Selbstverletzungsversuche bzw. akute Selbstverletzungsgefahr genannt. Noch jüngeren Datums ist die vom Arbeitskreis der Chefärzte und leitenden Pflegepersonen der psychiatrischen Kli− niken in Rheinland−Pfalz entwickelte Leitlinie zum Umgang mit Zwangsmaßnahmen [11]. In diesem Dokument beziehen sich die Autoren speziell auf die Anwendung von Zwangsmaßnah− men im Kontext des bundesdeutschen Rechtssystems. Hinsicht− lich der Durchführung von Fixierungen können die dort gefor− derten Standards hier nur stichpunktartig wiedergegeben wer− den: Orientierung an den Prinzipien menschenwürdiger Gestal− tung, fachlich qualifizierter Durchführung und Berücksichtigung der gesetzlichen Grundlagen; zwingende ärztliche Anordnung; regelmäßige und engmaschige ärztliche Überprüfung (im Zeit− raum zwischen 8 und 20 Uhr mindestens zweimal, im Zeitraum zwischen 20 und 8 Uhr mindestens einmal); Durchsuchung ei− nes fixierten Patienten; Betreuung in unmittelbarem Kontakt (zumindest durch ständigen Hör− und Blickkontakt); Dokumen− tation alle 15 Minuten; Achtung von persönlicher Würde, Intim− sphäre und Bequemlichkeit; umfassende Information des Pa− tienten über die Maßnahme; Ermöglichung von Kontakt zu Mit− patienten und Besuchern; Schutz vor Übergriffen Dritter; mög− lichst baldige Nachbesprechung mit Überlegung des Prozedere in künftigen vergleichbaren Situationen. Nach unserem Kenntnisstand existieren in verschiedenen Län− dern der EU eine Reihe weiterer nationaler oder regionaler Richtlinien bzw. werden gegenwärtig solche erarbeitet. Aller− dings steht lediglich der dem englischen Mental Health Act asso− ziierte Code of Practice [12] im Range eines national für die Be− rufsausübung verbindlichen Dokuments. Hier wird insbesonde− re festgestellt, dass alle Anbieter psychiatrischer Versorgungs− leistungen klare, schriftlich ausgearbeitete Richtlinien für die Anwendung von solchen Maßnahmen verfügbar haben sollten, von denen jeder Mitarbeiter Kenntnis besitzen muss (weitere Einzelheiten zu der Thematik aus dem Code of Practice können aus Platzgründen nicht dargestellt werden, siehe [12]). Vor dem Hintergrund bis dato fehlender Initiativen zur transna− tionalen Harmonisierung bester klinischer Praxis, war es eine der Zielstellungen des EUNOMIA−Projektes [13], eine europäi− sche Empfehlung zur Durchführungspraxis verschiedener Zwangsmaßnahmen auf allgemeinpsychiatrischen Akutstatio− nen zu entwickeln. Ausgehend von der Frage, wie die prozedura− le Qualität verbessert und Patientenrechte bei der Anwendung

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von Zwangsmaßnahmen gesichert werden können, wurden Empfehlungen zu folgenden Zwangsmaßnahmen erarbeitet: Zwangsaufnahme ins psychiatrische Krankenhaus, Zurückhal− tung nach freiwilliger Krankenhausaufnahme, Fixierung, Isolie− rung und Zwangsmedikation. Nachfolgend werden die zum The− ma Fixierungen erzielten Projektergebnisse vorgestellt, wobei Fixierung als ¹Mechanische Beschränkung von wenigstens einer Extremität des Patienten, inkl. des Festhaltens derselben durch Personal für eine Zeitdauer von länger als 15 Minuten“ definiert war.

Methodik !

In zwölf Projektzentren des EUNOMIA−Projektes (Dresden, Sofia, Prag, Thessaloniki, Tel Aviv, Neapel, Vilnius, Wroclaw, Michalov− ce, Granada/Malaga, Örebro) wurden im Zeitraum 01/2003 bis 12/2005 zunächst nationale Empfehlungen erarbeitet. Aufgrund differierender Ressourcen variierte das methodische Vorgehen zwischen den einzelnen Zentren, lässt sich jedoch wie folgt zu− sammenfassen: In der Mehrzahl der Projektzentren (Dresden, Prag, Neapel, Wroclaw, Michalovce, Granada/Malaga, Örebro) wurden zunächst lokale Expertengruppen begründet, in denen Repräsentanten aller in Zwangsmaßnahmen involvierten Perso− nengruppen vertreten waren. Speziell im Dresdner Projektzent− rum setzte sich die lokale Expertengruppe aus Vertretern von Ärzteschaft und Krankenpflegepersonal verschiedener psychi− atrischer Kliniken, einem Sozialpsychiatrischen Dienst, je einem Vertreter von Ordnungsamt, Polizei, Sozialministerium, Patien− ten− und Angehörigenorganisationen, einer gemäß Sächs− PsychKG bestellten Patientenfürsprecherin sowie einem Mit− glied der nach SächsPsychKG bestellten Besuchskommissionen psychiatrischer Einrichtungen zusammen. In wiederholten (mehr oder weniger strukturierten) Gruppendiskussionen wur− den schließlich konsensfähige Empfehlungen zur Durchfüh− rungspraxis von Zwangsmaßnahmen bei der stationären psychi− atrischen Behandlung erarbeitet. Das polnische Projektzentrum in Wroclaw nutzte hierfür konsequent die Methodik der Fokus− gruppe. In einem zweiten Arbeitsschritt wurden auf nationaler Ebene (z. B. von Fachgesellschaften, juristischen Gremien, Pa− tientenorganisationen, Ministerien) Kommentare zu den vorge− legten Empfehlungen eingeholt. Dies erfolgte in der Regel mit− tels schriftlicher Befragungen oder im Rahmen von Diskussionen in speziellen themenzentrierten Workshops und führte schließ− lich zu einer erneuten Modifikation in den Empfehlungen der lo− kalen Expertengruppen. Demgegenüber führten die übrigen Pro− jektzentren (Sofia, Thessaloniki, Tel Aviv), in denen eine solche Expertengruppe nicht etabliert werden konnte, primär schriftli− che Befragungen ausgewählter nationaler Repräsentanten aller in Zwangsmaßnahmen involvierten Personengruppen durch, und ergänzten diese durch persönliche Interviews. Anschließend wurden Empfehlungen der einzelnen Projektzent− ren ins Englische übertragen und Ende 2005 dem projektkoordi− nierenden Zentrum in Dresden zugesandt. Zum Zwecke der wei− terführenden Verarbeitung der erhaltenen Textteile im Sinne ei− ner vergleichenden Analyse wurde hier ein Kategoriensystem entwickelt [14], welches die folgenden Hauptkategorien um− fasst: " methodisches Vorgehen bei der Entwicklung nationaler Empfehlungen, " rechtliche und klinische Vorbedingungen für die Anwendung der Zwangsmaßnahme2,

berufsgruppenspezifische Empfehlungen/Handlungsanweisun− gen für: Polizeibeamte, Richter, Notärzte, Ärzte in psychiatri− schen Kliniken2 Pflegepersonal2 und sonstige Personengrup− pen mit Patientenkontakt, " Aspekte der Kontaktgestaltung zu dem fixierten Patienten2, " Ethische Problemstellungen2, " Praxisrelevante prozedurale Aspekte (zur Qualitätssicherung), im Einzelnen: Handlungsempfehlungen zur Durchführung von Fixierungen2, Aspekte der Informiertheit (sofern nicht ander− weitig kategorisiert), Entscheidungskompetenzen und Umgebungsgestaltung2, " Anderweitig nicht kategorisierbare Bereiche von besonderer Bedeutung, " Zwischen den Zentren signifikant unterschiedliche Inhaltsbereiche (sofern identifizierbar), " Allgemeine Vorschläge zur Verbesserung der aktuellen Situation2. Zwei Forschungsassistentinnen (LJ, KS) des koordinierenden Studienzentrums extrahierten die jeweils relevanten Informa− tionen aus den nationalen Empfehlungen und wiesen diese un− abhängig voneinander einer entsprechenden Kategorie zu. Dabei überprüfte jede Assistentin die Arbeit der anderen. Anschlie− ßend wurden alle, auf eine einzelne Kategorie bezogenen Infor− mationen aller Zentren in Tabellenform zusammengeführt und auf Redundanz geprüft. In einem nächsten Arbeitsschritt erar− beiteten drei Forscher des projektkoordinierenden Zentrums (TK, LJ, KS) gemeinsam jeweils kategorienspezifische Formulie− rungsvorschläge für eine Zusammenfassung, die Gültigkeit für alle Zentren haben sollte. Im Rahmen dieses Prozesses mussten verschiedene Zentren fehlende Informationen nachliefern bzw. ihre Textdokumente spezifizieren, um eindeutige kategoriale Zuordnungen zu ermöglichen. Nach Abschluss des Strukturie− rungs− und Reduktionsprozesses wurden die resultierenden Zu− sammenfassungen der einzelnen Kategorien an alle Projektzent− ren (April 2006) versandt. Diese überprüften die Gültigkeit der Aussagen hinsichtlich Vollständigkeit, adäquater Repräsentanz länderspezifischer Situationen und Verständlichkeit. Mit den er− haltenen Rückmeldungen modifizierten die Forscher des koordi− nierenden Zentrums die kategorienspezifisch zusammengefass− ten gemeinsamen Empfehlungen, wobei alle Informationen ent− fernt wurden, hinsichtlich derer die Zentren differierten. Nach− folgend werden die Ergebnisse der so erstellten Endfassung der gemeinsamen internationalen Empfehlungen hinsichtlich der Durchführung von Fixierungen vorgestellt. "

Ergebnisse !

Rechtliche Vorbedingungen für die Anwendung der Zwangsmaßnahme Die Anwendung von Fixierungen muss grundsätzlich in Über− einstimmung mit nationalen gesetzlichen Regelungen [3] erfol− gen und sollte stets in Übereinstimmung mit nationalen Stan− dards in der Psychiatrie stehen. Sofern bislang keine nationalen Regelungen vorliegen, müssen alle regional verbindlichen Ge− setzlichkeiten, administrativen Regularien und auf das jeweilige Krankenhaus bezogene Dienstanweisungen sowie grundsätzlich geltende ethische Normen befolgt werden.

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Aus Platzgründen werden in diesem Artikel nur die Ergebnisse zu den kur− siv hervorgehobenen Kategorien berichtet.

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Vor der Anwendung einer Fixierung muss entweder eine Ge− richtsentscheidung, welche die Anwendung dieser Zwangsmaß− nahme legitimiert, existieren oder ein rechtfertigender Notstand (in der rechtlichen Bedeutung dieser Begrifflichkeit) vorliegen.

um wiederholte traumatische Erlebnisse für den Patienten und die Mitarbeiter zu vermeiden, 12. bei vom Patienten angegebener Bevorzugung der Fixierung gegenüber anderen Zwangsmaßnahmen (selten).

Klinische Vorbedingungen für die Anwendung der Zwangsmaßnahme

Berufsgruppenspezifische Empfehlungen/ Handlungsanweisungen Ärzte in psychiatrischen Kliniken

Im Falle einer eskalierenden Konfliktsituation ist zunächst grundsätzlich zu prüfen, ob das Behandlungsverhältnis beendet werden kann. Hierbei sei angemerkt, dass die Prüfung, ob es ver− antwortet werden kann, das Behandlungsverhältnis zu beenden, sich in der Regel nicht auf die initiale Situation der Kranken− hausaufnahme bezieht. Dass die Möglichkeit der Behandlungs− beendigung erwogen werden muss, mag für Außenstehende, insbesondere Angehörige befremdlich erscheinen. Dies wird hier aber im Sinne einer zu prüfenden und zu verantwortenden Deeskalationsmaßnahme verstanden; eine Delegation der Ver− antwortung für eine klinische Situation an andere (z. B. Angehö− rige) ist damit nicht beabsichtigt. Ist dies ärztlicherseits aus medizinischen und rechtlichen Grün− den nicht verantwortbar, da erhebliche Gefahren für die Ge− sundheit des Patienten oder für andere Menschen bestehen, muss der Einsatz von Zwangsmaßnahmen, hier: einer Fixierung, erwogen werden. Anlässe für Fixierungen sollten sich jedoch auf folgende Situa− tionen beschränken. Dabei ist die nachfolgende Situationsauf− zählung nicht als Häufigkeitsreihung der Anlässe zu verstehen, sondern nimmt eher eine Abstufung des Bedrohlichkeitsgrades der benannten Situationen vor: 1. sexuelle und körperliche Übergriffe gegen Mitpatienten und Mitarbeiter, wenn andere deeskalierende Maßnahmen versagen, 2. zum Schutz der Mitarbeiter bei zu erwartenden massiven Tätlichkeiten des Patienten, 3. Androhung von Gewalt und bedrohlichem Verhalten, wenn andere Maßnahmen (s. unter ¹Ethische Aspekte“: Deeskala− tionsstufenplan) nicht zum Erfolg geführt haben, 4. vorübergehender Kontrollverlust mit manifester Gewalttätigkeit, 5. unmittelbare Selbstbeschädigungsabsichten, wenn Einzelbetreuung versagt, 6. Aufnahme von (eventuell bereits vor Klinikaufnahme fixier− ten) Patienten, die sich vor oder bei der Einweisung aggres− siv verhalten haben und deren Bedrohlichkeit noch nicht ausreichend eingeschätzt werden kann, 7. Beschädigung oder Zerstörung von Einrichtungsgegen− ständen, 8. Notwendigkeit von regelmäßig durchzuführenden medizi− nischen Maßnahmen, z. B. Blutdrucküberwachung, Ver− bandswechsel, Infusionen, wenn u. g. Deeskalationsmaß− nahmen gescheitert sind, 9. bei Selbstverletzungsversuchen oder akut zu erwartender Selbstverletzungsgefahr während einer Isolierung3, 10. bei wiederholt gescheiterter Entisolierung (z. B. Isolierungs− dauer von 24 Stunden und mehr), um bessere Kontaktmög− lichkeiten mit dem Patienten zu haben, 11. in Fällen, wo wiederholt Zwangsmaßnahmen mit zahlrei− chen Personen notwendig sind (z. B. Zwangsmedikation), 3

Isolierung ist definiert als die unfreiwillige Platzierung eines Individuums in einen abgeschlossenen Raum, der speziell für diesen Zweck ausgestat− tet ist; in Abhängigkeit von lokalen räumlichen Verhältnissen können aber auch andere Räume für einen solchen Zweck Verwendung finden.

Wenn Patienten mit Polizeibegleitung und in Handschellen auf die Station gebracht werden, soll der zuständige Arzt nach Rück− sprache mit dem Pflegepersonal entscheiden, ob die Handschel− len sofort oder eventuell nach einer erforderlichen Maßnahme (z. B. Umfixierung oder Zwangsmedikation) entfernt werden. Falls diese Patienten vor Krankenhausaufnahme noch nicht um− fassend untersucht wurden, so ist dies unverzüglich nachzuho− len. Unter Berücksichtigung von Informationen des Pflegeperso− nals ist dabei anzustreben, mit dem Patienten eine Übereinkunft zu finden, die eine Beendigung der Fixierung erlaubt. Eine Fixierung bedarf zwingend der ärztlichen Anordnung. Nur im Notfall können und müssen Fixierungen von nichtärztlichen Mitarbeitern auch ohne vorherige Anordnung sofort durchge− führt werden, anschließend muss jedoch unverzüglich ein Arzt verständigt werden, um die Notwendigkeit der Maßnahme zu überprüfen. Fixierungen sind generell durch entsprechend ausgebildetes und erfahrenes Personal vorzunehmen und auf den geringst mögli− chen Zeitraum zu beschränken. Jede Verlängerung einer Fixie− rungsmaßnahme erfordert eine ärztliche Neubeurteilung kom− biniert mit der Festlegung der Intensität der notwendigen klini− schen Überwachung des Patienten. Diese Entscheidung muss alle 4 bis 6 Stunden, aber mindestens zweimal am Tag, reevalu− iert werden. Eine Fixierungsanordnung aufgrund stark agitiert−erregter Ver− haltensweisen sollte in der Regel von einer Medikationsanord− nung begleitet sein. Dem Patienten soll mitgeteilt werden, mit welcher Begründung und voraussichtlich für welchen Zeitraum eine Fixierung vorge− nommen wird. Zudem ist mitzuteilen, welche Maßnahmen im Folgenden geplant sind, und was damit beabsichtigt wird. Wei− terhin sind die Voraussetzungen für die Aufhebung der Fixie− rung mit dem Patienten zu besprechen. Die Notwendigkeit jeder Fixierung, die Abwägung alternativer Maßnahmen, Besonder− heiten der Durchführung und Dauer sind durch den Anordnen− den im Dokumentationssystem festzuhalten. Die Gründe für die erfolgte Fixierung, Überlegungen auf thera− peutischer Seite und die möglichen Alternativen sollten im Nachhinein mit dem Patienten besprochen werden. In dieser Nachbesprechung ist es ein wichtiges Ziel, mit dem Patienten eine Einigung über das zukünftige Vorgehen im Falle ähnlicher Verhaltensweisen zu erzielen. Eventuell ist dies in einer Behand− lungsvereinbarung schriftlich festzuhalten. Jede Fixierung sollte zeitnah im Stationsteam nachbesprochen und dabei nochmals auf ihre Notwendigkeit resp. Vermeidbar− keit hin überprüft werden. Darüber hinaus ist durch den Arzt einzuschätzen, ob etwaige Traumatisierungen therapeutische Unterstützung erfordern.

Pflegepersonal Die Verantwortung für die sachgerechte Durchführung einer Fi− xierung trägt examiniertes Pflegepersonal, wobei der Arzt die korrekte Durchführung kontrolliert.

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Für Fixierungen verantwortliches Pflegepersonal sollte in fol− genden Fertigkeiten ausgebildet sein: Wiederbelebung, Erken− nen situationseskalierender Faktoren, Anwendung nichtkörper− licher deeskalierender Interventionen, Anlegen und Entfernung von Fixierungsmaterialien, Überwachung fixierter Patienten, Er− kennung von physischen und psychischen Zustandsverschlech− terungen sowie Identifizierung von Risikofaktoren für die Durchführung einer Fixierung. Wenn eine Fixierung unumgänglich ist, sollte dies grundsätzlich durch mehrere (i. e. vier bis acht) Mitarbeiter vorgenommen werden. Die Vorgehensweise muss vorab geklärt und ggf. ent− sprechende Medikation bereitgestellt sein, damit unverzüglich und ohne Diskussion gehandelt werden kann. Es sollte vorher geklärt sein, wer während der aktuellen Situation für die Durch− führung welcher Handlungsteile verantwortlich ist. Beispiels− weise ist vorab zu klären, wer für die Information und den kon− tinuierlichen Kontakt mit dem betroffenen Patienten, die Be− treuung der von der Fixierung nicht betroffenen Patienten, die Bereitstellung der nötigen Fixierungsmaterialien, das Niederhal− ten der verschiedenen Körperteile sowie für die Übernahme der ersten Sitzwache zuständig ist. Es ist empfehlenswert, ein koordinierendes Mitglied des Pflege− personals zu benennen, welchem für die Gesamtdauer der Maß− nahme folgende Aufgaben obliegen: Information des Patienten über die Fixierungsgründe bei Abwesenheit des Arztes; Überwa− chung der körperlichen Sicherheit des Patienten; Bestimmung eines Teammitglieds mit vorab bereits gutem Kontakt zu dem Patienten für die, während der Fixierung erforderliche, kontinu− ierliche 1 : 1−Betreuung; Organisation der Betreuung für die an− deren Patienten; pflegerische Dokumentation der Maßnahme und (im Bedarfsfall) für die Einbeziehung von Personal anderer Stationen. Wird in sehr seltenen Fällen eine Fixierung durch nichtmedizini− sches Personal vorgenommen, dann sollte ein Mitglied des Pfleg− teams dies supervidieren. Diejenigen Teammitglieder, die an der Fixierung beteiligt waren, nehmen an der Nachbesprechung mit dem Patienten sowie an der teaminternen Nachbesprechung teil. Dabei ist die Betreuung der nicht von Fixierung betroffenen Pa− tienten sicherzustellen. Diese sind (wenn irgend möglich) vor Beginn der Fixierung aus dem Raum zu bringen, in dem die Fi− xierung erfolgen wird. Vor der Fixierung muss der Patient auf gefährliche Gegenstände (z. B. Feuerzeug, Messer, Schnüre etc.) durchsucht werden. Falls dies nicht vor der Fixierung durchgeführt werden kann, ist die Durchsuchung unmittelbar nach erfolgter Fixierung nachzuho− len. Jede Fixierung muss im Dokumentationssystem mit Angabe von Zeitpunkten (Beginn, Beendigung, Unterbrechung der Fixie− rung), der genauen Art der mechanischen Beschränkung (Hände, Füße, Bauchgurt), Besonderheiten während der Fixierung, und den Namenskürzeln der Durchführenden der Fixierung festge− halten werden.

Aspekte der Kontaktgestaltung zu dem fixierten Patienten Im Falle einer unabwendbaren Notwendigkeit der Fixierung sollte dem Patienten angeboten werden, diese ohne Anwendung körperlicher Gewalt durch andere durchführen zu lassen. Die Durchführung einer Fixierung darf die ausreichende Kon− taktaufnahme und Untersuchung durch den Arzt nicht verhin− dern oder unmöglich machen.

Einem fixierten Patienten mit Einzelbetreuung ist die Kontakt− aufnahme mit Mitpatienten zu ermöglichen, wenn er dies wünscht und dies für seinen Gesundheitszustand sowie den der Mitpatienten nicht zu belastend ist. Auch fixierte Patienten dürfen Besuch empfangen, wenn es der Gesundheitszustand erlaubt und ein günstiger Einfluss durch die Besucher erwartet werden kann. Mit Einverständnis des Pa− tienten sollten die Besucher vorab jedoch informiert bzw. ent− sprechend vorbereitet werden. Neben den im Abschnitt ¹Ärzte in psychiatrischen Kliniken“ be− reits genannten Aspekten sollten in der Nachbesprechung mit dem Patienten folgende Inhalte erörtert werden: das aktuelle Befinden; die Erfahrungen des Patienten vor und während der Fixierung (ggf. sollte ein Vergleich mit früheren Fixierungssitua− tionen und −erfahrungen erfolgen); Beschreibung des Erlebens des Personals während dieser Maßnahme; Alternativen und Vo− raussetzungen für die Entbehrlichkeit der Maßnahme. Dabei ist zu beachten, dass die Erfahrungen des Patienten unvoreinge− nommen ± und nicht durch Gegenargumente entkräftet ± ange− nommen werden müssen. Darüber hinaus sollte der Patient je− derzeit das Angebot weiterer Gesprächstermine zu der Thematik wahrnehmen können.

Ethische Problemstellungen Sofern unmittelbare Gefahr nicht sofortige Sicherungsmaßnah− men verlangt, müssen vor dem Einsatz einer Fixierung zunächst andere verbale und nonverbale Deeskalationsstrategien erprobt worden sein und sich als ineffektiv erwiesen haben. Beispiele für solche, in einem Stufenplan verankerte, Strategien sind: verbale Deeskalation, verbale Grenzsetzungen, Anbieten von eventuell notwendiger Medikation, Verweis von der Station, warmes Bad, Einbinden des Patienten in Stationsarbeiten, Anbieten von Be− wegung (ggf. auch eines Spazierganges) oder Essen, Erfüllung von Wünschen des Patienten, Aufzeigen von anderen Lösungs− möglichkeiten (z. B. Gespräch mit Oberarzt, Krankenhausseel− sorger, Vertrauensperson); schließlich: Einzelbetreuung über längere Zeit mit ständiger Begleitung. Fixierungen dürfen nie zur Bestrafung von Patienten eingesetzt werden; auch aus Personalmangel oder um eine ruhigere Sta− tionsatmosphäre herzustellen ist ihr Einsatz in keinem Fall zu− lässig. Würde, Intimsphäre und Sicherheit der Patienten müssen stets in größtmöglichem Umfang und zu jeder Zeit während der Durchführung der Maßnahme gewährleistet werden. Deshalb sollte sie nicht in Anwesenheit anderer Patienten oder Besucher durchgeführt werden. Nur in außergewöhnlichen Notsituatio− nen dürfen sie auf dem Stationsflur begonnen werden, ihre Fort− führung muss dann aber so rasch als möglich unter den bereits genannten Umständen erfolgen. Unter Berücksichtigung der Sicherheit des Patienten ist die am wenigsten restriktive, aber dennoch effektive Fixierungsmetho− de zu wählen; diese ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder zu beenden. Alle Versuche, Fixierungen ohne die nötigen Sicherheitsvorkeh− rungen und ohne die Zielstellung einer raschen Situationsentak− tualisierung durchzuführen, und damit zu riskieren, dass die Si− tuation in einen Tumult entwürdigenden Charakters ausartet, stellen eindeutig schlechte klinische Praxis dar.

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Praxisrelevante prozedurale Aspekte (zur Qualitätssicherung) Handlungsempfehlungen zur Durchführung von Fixierungen Vor oder unmittelbar nach der Fixierung sind Patienten auf ge− fährliche Gegenstände zu durchsuchen. Eine Fixierung muss jeweils so vollständig sein, dass sie Verlet− zungen des Patienten ausschließt. In der Regel bedeutet dies zu− mindest eine 4−Punkt−Fixierung. Details zur Wahl der Körperpo− sition unter Berücksichtigung spezifischer Risiken für den ein− zelnen Patienten sowie zum korrekten Einsatz verschiedener Fi− xierungsmaterialien können aus Platzgründen nicht berichtet werden. Während der Fixierung eines Patienten müssen seine Vitalpara− meter, seine Sicherheit sowie die Gewährleistung von humaner Betreuung und Qualitätsstandards konstant monitoriert wer− den. Die vorgeschlagenen Überwachungsintervalle liegen zwi− schen 15 und 30 Minuten. Die Ergebnisse der Überwachung sind unverzüglich durch das für die Einzelbetreuung verant− wortliche Mitglied des Pflegeteams in der Pflegedokumentation festzuhalten. Für fixierte Patienten wird Einzelbetreuung grund− sätzlich als notwendig angesehen. Bei der Fixierung von Patientinnen ist zwingend mindestens eine weibliche Pflegekraft anwesend. Anlässe wie Toilettengänge und Aufnahme von Mahlzeiten konstellieren natürliche Situationen, eine Defixierung (in Beglei− tung) im zuständigen ärztlichen/pflegerischen Stationsteam zu− mindest zu erwägen bzw. zu erproben. Während einer längeren Fixierung ist auch auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr des Patienten, die ihm selbst (z. B. mittels Defixierung einer Extremi− tät) ermöglicht werden soll, zu achten. Zudem soll alle 3 bis 4 Stunden die Möglichkeit gegeben werden, sich zu bewegen oder leichte körperliche Übungen durchzuführen. Falls eine De− fixierung in Betracht gezogen wird, so sollten die einzelnen Fi− xierungspunkte in 5−minütigen Abständen gelöst werden; die beiden letzten Fixierungspunkte sind gleichzeitig zu entfernen, um nicht an einer Fixierungsstelle ein erhöhtes Verletzungsrisi− ko zu produzieren.

Umgebungsgestaltung Der Raum, in dem der Patient fixiert wird, muss nach gefährli− chen Gegenständen durchsucht werden. Solche müssen aus der Reichweite des fixierten Patienten sowie aus der Reichweite an− derer Patienten, die sich im gleichen Raum aufhalten, entfernt werden. Falls möglich, sollte der Raum nur mit dem nötigsten Mobiliar, einem Rauchmelder und das Bett mit einer feuerfesten Matratze ausgestattet sein. Die klinische Einrichtung muss die Möglichkeit vorhalten, einen fixierten Patienten in einem 1−Bett−Zimmer unterzubringen, das wie aufgeführt ausgestattet sein sollte. Darüber hinaus ist auf Lärmreduktion, angemessene Beleuchtung, Belüftung und Tem− peraturregelung zu achten. Weitere Sicherheitsvorschriften sind zu berücksichtigen, und es sollte ein Feuerlöschgerät in der Nähe des Zimmers installiert sein.

Vorschläge zur Situationsverbesserung Das intervenierende Personal sollte nicht nur Erfahrung in dieser Aufgabenstellung nachweisen, sondern sich durch eine von Res− pekt getragene Haltung gegenüber dem Patienten auszeichnen und ohne körperliche und physische Aggressivität handeln.

Zu diesem Zweck sollte ein angemessenes Training (in Deeskala− tions− und Fixierungstechniken) durchgeführt werden, da die er− folgreiche Durchführung und Vermeidung von Fixierungen von der ausreichenden Verfügbarkeit gut qualifizierten Pflegeperso− nals abhängt. Stufenweise einzusetzende Deeskalationsmaßnahmen sollten ± analog zu Notfallmaßnahmen ± für das Personal gut sichtbar auf Station aushängen. Um die Würde des Patienten seitens des Personals stets zu ge− währleisten, sollten kontinuierliche interne und externe Kont− rollen von Zwangsmaßnahmen durch rechtliche und sonstige unabhängige Autoritäten (z. B. mittels periodischer und unange− kündigter Besuche des Krankenhauses) durchgeführt werden.

Diskussion !

Zur Etablierung vorstehend berichteter Ergebnisse ist kritisch anzumerken, dass dieser Prozess nicht dem einer höherwertigen Guidelineentwicklung [15] im engeren Sinne entspricht; allen− falls kann in Anspruch genommen werden, einen Expertenkon− sensus vorzulegen. Zudem kann aus der Vorlage einer solchen Empfehlung kein Ef− fekt auf die Häufigkeit und Dauer der Anwendungen von Fixie− rungen in Kliniken abgeleitet werden. Kürzlich publizierte Er− fahrungen aus zwei US−Bundesstaaten zeigen, dass die Erarbei− tung und Umsetzung solcher Standards nur einen von mehreren Einflussfaktoren in erfolgreichen Programmen zur Reduktion von Fixierungen/Isolierungen darstellt [16,17]. Wie der Vergleich mit den einleitend zitierten Leitlinien zeigt, finden sich zentrale Inhalte übereinstimmend in allen bis dato vorgelegten Dokumenten. Dabei scheint die Übereinstimmung hinsichtlich grundlegender Anwendungsprinzipien größer als z. B. betreffend praktische Details der unmittelbaren Durchfüh− rungssituation. Wahrung von Würde, Sicherheit und Intimsphä− re der Patienten sowie von Recht− und Verhältnismäßigkeit und das Gebot des situationsangemessenen und kürzestmöglichen ärztlich angeordneten Einsatzes nach vorheriger nicht effektiver Erprobung weniger eingreifender Maßnahmen sind zentrale Beispiele einhellig anerkannter Prinzipien. Ähnlich hoch ist die Übereinstimmung betreffend grundlegender Verhaltensweisen des Personals. Dies reicht von der nötigen Risikoabwägung, der Dokumentation und dem Einsatz von Deeskalationstechniken über die Verteilung von Aufgaben unter dem Personal während der Maßnahme bis hin zur Informations− und Kontaktgestaltung gegenüber dem Patienten sowie den Überwachungsmaßnah− men eines fixierten Patienten. Letzteres schließt die Durchfüh− rung einer 1 : 1−Betreuung während der Maßnahme ein, was sich mit wiederholten Forderungen des European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treat− ment or Punishment (CPT) des Europarates anlässlich der Visita− tion psychiatrischer Einrichtungen in verschiedenen Ländern deckt. Geringer scheint der Konsens zwischen den Dokumenten insbesondere hinsichtlich der Beschreibung rechtfertigender Si− tuationen, des Einsatzes mechanischer Hilfsmittel, der genauen Beschreibung einer effektiven Fixierungsmethode, des Intervalls von klinischer Reevaluation der Anordnung und des für einen fi− xierten Patienten in einer psychiatrischen Klinik vorzuhaltenden räumlichen Unterbringungsstandards. Letztgenannte Bereiche stellen gleichzeitig Schwerpunkte der weiteren Leitlinienerar− beitung dar, die auch hinsichtlich der Anwendung von Zwangs−

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Originalarbeit

maßnahmen mit der nötigen Kontinuität und personellen Aus− stattung erfolgen muss. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die in dem EUNO− MIA−Projekt erarbeiteten Empfehlungen mittlerweile in ver− schiedenen Ländern in z. B. von psychiatrischen Fachgesellschaf− ten initiierte Prozesse der nationalen Leitlinienetablierung zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen psychiatri− scher Behandlung eingegangen sind. Nur auf solchem Wege ist letztlich das Ziel der Harmonisierung von guter klinischer Praxis erreichbar.

Danksagung Das mulizentrische internationale Forschungsprojekt ¹European Evaluation of Coercion in Psychiatry and Harmonisation of Best Clinical Practise“ (Acronym: EUNOMIA) wurde im Zeitraum Ok− tober 2002 bis Juni 2006 von der Europäischen Kommission (Quality of Life and Management of Living Resources Programme des 5. Forschungsrahmenprogramms, contract no. QLG4−CT− 2002−01036) gefördert. Allen Personen, die im Rahmen dieses Projektes an der Etablie− rung nationaler Empfehlungen zur besten Durchführungspraxis von Zwangsmaßnahmen beteiligt waren, sei für die kompetente, engagierte und konstruktive Arbeit sehr herzlich gedankt.

By use of a system of categories developed with a content−analy− tical method, these national documents were comparatively as− sessed, and integrated into a common clinical recommendation. Results Legal and clinical pre−conditions for the use of mecha− nical restraint, specific instructions for the clinical behaviour of different professional groups, ethical issues, and procedural aspects of quality assurance are reported in detail. Conclusions Compared with established clinical guidelines, si− milarities concerning basic principles of clinical use appear to be higher than similarities concerning practical details. Future development of guidelines for the best practice of coercive measures urgently needs the use of advanced methodology.

Institutsangaben 1

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Kernaussagen Aus der Literatur ist bekannt, dass ¼ " kaum national verbindliche Leitlinien zur Durchführung von Fixierungen während psychiatrischer Klinikbehandlungen existieren, " das methodische Niveau der Etablierung dieser Leitlinien gering ist und " eine transnationale Harmonisierung der Leitlinien fehlt. Unsere Untersuchung zeigt, dass ¼ Expertengruppen aus 11 Ländern Empfehlungen zur besten klinischen Praxis bei der Durchführung von Fixierungen ent− wickeln konnten, " die mittels inhaltsanalytischer Methodik zu einer gemein− samen Empfehlung integriert wurden. " Diese Empfehlung fokussiert auf prozedurale Aspekte der Qualitätsverbesserung bei der Anwendung dieser Zwangs− maßnahme. "

Interessenkonflikte Keine angegeben.

Abstract

Practice Recommendation for Administering Mechanical Restraint During Acute Psychiatric Hospitalization !

Objective One aim of the multi−site EUNOMIA−project was to establish a European recommendation for the best clinical practice of administering coercive measures. This article reports the results on mechanical restraint. Methods Local expert groups in 11 countries worked out their recommendations mostly in semi−structured group discussions.

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Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäts− klinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden State Psychiatric Hospital ¹St Ivan Rilsky“, Sofia, Bulgaria Psychiatric Department, 1st Medical School of Charles University, Prague, Czech Republic Psychiatric Hospital of Thessaloniki, Greece Tel−Aviv University, School of Social Work and Geha Mental Health Center, Tel Aviv, Israel Department of Psychiatry, University of Naples, Italy Psychiatric Clinic at the Vilnius Mental Health Centre, University of Vilnius, Lithuania Department of Psychiatry, Medical University, Wrocøaw, Poland Psychiatric Hospital, Michalovce, Slovak Republic Department of Legal Medicine and Psychiatry, Medical Faculty, University of Granada, Spain Department of Psychiatry, Karolinska University Hospital, Huddinge, Sweden

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