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Jahrbuch 2006

Russische Philosophen in Berlin Julia Sestakova > Vortrag > Bilder

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Russische Philosophen in Berlin Russische Philosophen in Berlin

Projekte, wie beispielsweise das Projekt der Zeitschrift Logos,

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die in Deutschland, Italien und Russland erschien und deren Herausgabe auch in Großbritannien, Frankreich, Ungarn und

Warum wählten russische Philoso-

in den USA geplant war.

phen vorzugsweise Berlin als Ziel

Vor dem Hintergrund dieser Fakten ist es nicht erstaunlich,

ihres erzwungenen Exils? Was hat-

dass viele russische Philosophen mit dem Wunsch nach Berlin

te ihnen das Land der Dichter und

kamen, den vom Weltkrieg unterbrochenen Dialog fortzuset-

Denker zu bieten? Was erhofften sie

zen, um gemeinsam ein Verständnis des neuen Europa zu ent-

sich vom Aufenthalt in der Haupt-

wickeln, das sich nach dem Ersten Weltkrieg und den darauf

stadt des einstigen Feindes? Vom

folgenden revolutionären Erschütterungen neu konstituieren

Leben in einem Land, das mit akuten

musste. Dass solch ein Dialog zustande kam, ist meines Erach-

ökonomischen Schwierigkeiten rang,

tens ein Indiz dafür, dass Emigranten in ihrem unfreiwilligen

politische Wunden zu heilen und soziale Probleme vergeblich

Exil wider Erwarten ein neues – wenn auch nur provisorisches

zu meistern versuchte?

– Zuhause finden konnten.

Russische Intellektuelle waren mit dem deutschen akademi-

Als ich in den ersten Monaten meines Studienaufenthalts in

schen Milieu bestens vertraut. Das gilt auch für Philosophen

Deutschland in Berliner Bibliotheken und Archiven zu recher-

aus Russland. Viele von ihnen hatten an deutschen Universitä-

chieren begann, fand ich zahlreiche Publikationen russischer

ten studiert, und es gab vor dem Ersten Weltkrieg gemeinsame

Philosophen, russischsprachige Sammelbände und Monogra-

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Russische Philosophen in Berlin phien, sowie viele deutsche Übersetzungen und Veröffentli-

stagnierte. Durch die Revolution ins Exil getrieben, fanden sich

chungen in deutschsprachigen Zeitschriften, die allesamt meine

russische Philosophen an einem anderen Ort des ‚europäischen

Ausgangsthese bestätigten.

Bürgerkrieges’, wo die Intellektuellen von ganz anderen Ideen

Die intensiven Bemühungen russischer Philosophen um eine

bewegt schienen und andere Fragen bzw. Probleme im Blick hat-

Verständigung im Hinblick auf das Schicksal des neuen Euro-

ten als ihre russischen Partner. Wie anders kann man sich erklä-

pa fand Widerhall in der deutschen Presse. So haben liberale

ren, dass es nicht zu gemeinsamen Projekten zwischen deutschen

Zeitungen wie das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung

und russischen Philosophen kam? Warum blieben persönliche

in den Jahren 1922 bis 1924 ausführlich und regelmäßig über

Kontakte sporadisch? Warum wurde im Zeitraum von zwei Jah-

die wichtigsten Ereignisse in Russland berichtet, – zu einem

ren an der Russischen Religiös-Philosophischen Akademie ein

Zeitpunkt, als das Ansehen Berlins unter der geistigen Elite

einziger Vortrag von einem deutschen Gelehrten gehalten, näm-

russischer Herkunft auf dem Höhepunkt war. Berlins Ruf als

lich von dem Soziologen Max Scheler, und das obwohl es zahl-

intellektuelle Hauptstadt der russischen Emigration wurde

reiche Publikationen von Werken russischer Philosophen – auch

nicht zuletzt durch die Eröffnung der Russischen Religiös-

in Deutsch! – gab? Noch weniger Erfolg war dem Versuch

Philosophischen Akademie und des Russischen Wissenschaftli-

beschert, die durch den Krieg unterbrochene russischsprachige

chen Instituts in Berlin begründet.

Ausgabe der Zeitschrift Logos mit Hilfe deutscher Kollegen fort-

Je länger ich mich mit dieser Problematik beschäftigte, desto

zusetzen. Für das internationale Projekt dieser Zeitschrift gab es

mehr drängte sich mir die Frage auf, warum der erhoffte Dia-

in der veränderten politischen und gesellschaftlichen Situation in

log zwischen russischen und deutschen Philosophen trotzdem

Deutschland offenbar kein Interesse mehr.

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Russische Philosophen in Berlin Fand womöglich gar kein Dialog zwischen russischen und

jenen Jahren besonders die Werke von Dostojewski intensiv

deutschen Philosophen statt? War die deutsche Hauptstadt ein

rezipiert. Davon zeugen die damals erschienenen Bücher, etwa

Treffpunkt lediglich imaginärer Dialogpartner?

„Die Weltanschauung Dostojewskijs“, – ein Titel, der gleich

Ich freue mich, nach vielen Recherchen in Berliner Bibliothe-

zweimal gewählt wurde, und zwar vom russischen Philoso-

ken und Archiven diese Fragen verneinend beantworten zu

phen Nikolaj Berdjajew und vom österreichischen Schriftstel-

können. Bei meinen Nachforschungen habe ich nämlich einen

ler und Philosophen Hans Prager.

solchen Dialog schließlich gefunden, allerdings auf einer ganz

Meine Arbeit wird inhaltlich und thematisch an Profil gewin-

anderen Ebene und einem anderen Niveau. Ich möchte ihn

nen, wenn sich meine weitere Forschung auf die Analyse der

einen interkulturellen Dialog nennen.

Berührungspunkte und Gegensätze sowie der Differenzen

Als ich im Januar anfing, Publikationen deutscher Philosophen

und Parallelen im Hinblick auf das Problem der Initiierung,

aus den 20er Jahren systematisch zu untersuchen, bemerkte ich

sowie der Grenzen und Möglichkeiten eines interkulturellen

eine Korrelation zwischen den von deutschen Intellektuellen

Dialoges konzentrieren wird – eines Dialoges, in dem sich

untersuchten Problemen und den Hauptthemen bei den rus-

zwei Versionen des intellektuellen Selbstverständnisses auf der

sischen Philosophen. Hier wie dort ging es um das Phänomen

Grundlage derselben Erfahrungen begegnen.

der Krise, um die Folgen von Krieg und Revolution für die europäische Kultur sowie um die Stellung des Menschen in einer durch „Gottes Tod“ überschatteten Welt. Sowohl bei den deutschen als auch bei den russischen Philosophen wurden in

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