Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

JÖRG STADELBAUER

Russische Eisenbahnen in Turkestan Pionierleistung oder Hemmnis für eine autochthone Raumentwicklung?

Originalbeitrag erschienen in: Wolf-Dieter Hütteroth u.a. (Hrsg.): Frühe Eisenbahnbauten als Pionierleistungen. Neustadt an der Aisch: Degener, 1993, S. 69 - 91

Jörg Stadelbauer

Russische Eisenbahnen in Turkestan Pionierleistung oder Hemmnis für eine autochthone Raumentwicklung? Im Hinblick auf die Themenstellung des Erlanger Colloquiums "Frühe Eisenbahnbauten als Pionierleistungen" enthält der Titel dieses Beitrags ein durchaus polemisch gemeintes Paradoxon, indem die Frage aufgeworfen wird, ob die vermeintliche Pionierleistung einer frühen Eisenbahnerschließung sich nicht bei einer späterer) Bewertung in ihr Gegenteil umkehren könne. Diese provokative Frage ist aus der augenblicklichen Situation Turkestans zu verstehen: Die durch den Zerfall der Sowjetunion unabhängig gewordenen mittelasiatischen Republiken müssen Bilanz ziehen, um herauszufinden, auf welcher ökonomischen Basis sie diese Selbständigkeit verwirklichen können. In diese Bilanz eingehen wird als besonders gewichtiges Moment die regionale Baumwollwirtschaft, die nach dem Eisenbahnbau forciert werden konnte, denn die Eisenbahn erschloß Mittelasien für einen auf die Nutzung der agrarischen Potentiale orientierten russischen Handelskapitalismus 1 . In der Bilanz werden aber auch - neben wirtschaftlichen Erfolgen - die sozialen Kosten dieses Erschließungsprozesses erscheinen: Eine ständige Steigerung der Baumwollproduktion verdrängte andere Landnutzungen, erforderte agrochemische Hilfen und ständig wachsende Mengen an Bewässerungswasser. Sie trug zum Austrocknen des Aralsees bei und begünstigte damit die negativen Folgen einer Umweltkatastrophe, die sich über den Eintrag von toxischen Salzen in die menschliche Nahrungskette auf die Volksgesundheit vor allem mit erhöhter Kindersterblichkeit auswirkt 2 ; in Zukunft werden große finanzielle Mittel zur Krisenbewältigung erforderlich sein. Bilanziert werden wird schließlich auch die infrastrukturelle Vorleistung, die mit dem Bahnbau für die Region verbunden war. Sie äußerte sich in der weiteren Industrialisierung, in der Anbindung von Landwegen an die Eisenbahn als Hauptverkehrsträger und in der Entwicklung von städtischen Dienstleistungszentren. 1 Diese an eine Bemerkung Lenins anknüpfende These wird vor allem von Z. K. ACHMED2ANOVA (1965 und 1970) verfochten und ist später von anderen sowjetischen Interpreten der Wirtschaftsentwicklung Mittelasiens aufgegriffen worden. 2 Das Aral-Problem gehört mittlerweile zu den größten international analysierten und diskutierten Umweltproblemen der ehemaligen Sowjetunion. Die physiogeographischen, wirtschaftlichen und sozialen Implikationen werden knapp von N. F. GLAZOVSKIY zusammengefaßt; vgl. auch aus westlicher Sicht P. MICKLIN 1991.

69

Jorg Stadelbauer

Überspitzt würde die Hypothese, die sich aus der provokanten Formulierung des Titels ergibt, lauten: Der russische Eisenbahnbau in Turkestan hat zwar eine modernisierende Erschließung und Einbindung in Fernhandelsverflechtungen für größere Gütermengen überhaupt erst ermöglicht, zugleich aber eine zu wirtschaftlichen Monostrukturen führende Entwicklung begünstigt; diese verlangt heute von den selbständigen Staaten des Raumes erhöhte Finanzmittel zur Krisenbewältigung, bindet damit die ohnehin nicht überreichlichen Ressourcen der Republiken und erschwert und verzögert zumindest eine künftige, eigenständige Entwicklung. 1 Die Eisenbahnen in Russisch-Turkestan Das Eisenbahnsystem, auf das sich diese Überlegungen beziehen, umfaßt (vgl. die Kartendarstellung in Abb. 1): a) als Basislinie die als Transkaspische Eisenbahn initiierte, zur Mittelasiatischen Bahn ausgebaute Strecke von der Ostküste des Kaspischen Meeres über Agchabad und Samarkand nach Andiian mit einer Zweigstrecke nach Tagkent 3 ; b) als Anbindung an das russisch-osteuropäische Netz die Transaral-Strecke OrenburgTagkent und die erst Anfang der 70er Jahre vollendete westturanische Magistrale, die etwa parallel dazu eine Verbindung zwischen Makat bei Gur'ev (Atyrau) und dem turkmenischen üardIou herstellt; c) die Turkestan-Sibirische Bahn, die seit 1930 Tagkent über Semipalatinsk mit Barnaul in Westsibirien verbindet und damit auch den Zugang zu dem verkehrsinfrastrukturellen "Rückgrat", der Transsib, herstellt 4 ; sowie d) einige regionale Nebenstrecken, die dem Graphen des mittelasiatischen Eisenbahnnetzes eine etwas höhere Konnektivität und eine dendritische Komplexität verleihen, aber teilweise sicher als industrielle Zulieferstrecken nur sehr untergeordnete Transportbedeutung haben 5 . 3 Die Toponyme werden nach der russischen Schreibweise in transliterierter Form gemäß den Transliterationsregeln der Preußischen Staatsbibliothek wiedergegeben; zur orientalistischen Schreibweise nach DMG können damit erhebliche Unterschiede auftreten.

4 Diese Bahn wurde zu Beginn der sowjetischen Industrialisierung in sehr kurzer Zeit fertiggestellt, war aber tatsächlich bereits seit 1914 im Bau und ist schon unter den Zaren mit der Absicht projektiert worden, einen großräumigen Handelsaustausch zwischen westsibirischem Getreide und mittelasiatischer Baumwolle vorzunehmen. 1896 wurde in Vernyj (heute Alma-Ata) eine Kommission für die Vorplanungen gebildet, 1906 eine Behördenkommission, die Voruntersuchungen in drei einzelnen Teilabschnitten der Bahn Tagkent - Barnaul aufnehmen sollte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Erschließung der Bergbaugebiete im südwestlichen Altaj forciert. 5 Insgesamt entspricht das mittelasiatische Bahnnetz etwa der dritten Entwicklungsstufe, die E. J. TAAFFE, R. L. MORRILL u. P. R. GOULD (1963, S. 504) für Entwicklungsländer aufgestellt haben. Es

existieren bereits Nebenstrecken und Netzverbindungen, doch fehlen höherrangige Verbindungen, die sich als Folge von Zentrenentwicklung hätten ergeben können. Vielmehr ist in Mittelasien noch festzustellen, daß die Zentrenbildung die Folge des Bahnbaus ist.

70

Russische Eisenbahnen in Turkestan

Abb. 1: Mittelasien/Kazachstan: Eisenbahnnetz

71

Jorg Stadelbauer

Die ersten Streckenabschnitte waren aus taktischen Erwägungen während der russischen Eroberung des Gebiets der Achal-Teke-Turkmenen 1880/81 (bis Kizyl-Arvat) und zur Sicherung der russischen Herrschaft (1885 bis Kaachka) angelegt worden 6 . Die von den Russen zunächst intendierte Verlängerung nach Herat, Kandahar und Quetta scheiterte am Einspruch des Vereinigten Königreiches, das in einer Transkontinentalbahn seine splendid isolation im südasiatischen Halbkontinent bedroht sah 7 . Daher wurde die Bahn nach Samarkand (1888) und ein Jahrzehnt später nach TAkent und in das Ferghana-Becken (1899) fortgeführt. T2kent wurde außerdem 1905 von Orenburg aus über die seit 1900 angelegte Transaralbahn erreicht, die rasch einen beträchtlichen Teil der Güter- und Personentransporte an sich zog. Auf die Erweiterungen und Ergänzungen

ist an dieser Stelle nicht detailliert einzugehen 8 . Wichtig ist aber, den Funktionswandel vor allem der Anfangsstrecke hervorzuheben: Aus der (1) taktischen Militärbahn war mit der Verlängerung ins zentrale Mittelasien im grenznahen Raum eine (2) strategische Strecke geworden, die dann nach der Anbindung an den russischen Wirtschaftsraum auch begann, (3) wirtschaftliche Aufgaben wahrzunehmen. Als reine Militärbahn sicherte der Anfangsabschnitt den Nachschub der in Turkmenien (Transkaspien) agierenden Truppen. Als strategische Strecke diente die nach

6 Ein primär wirtschaftliches Interesse, wie es in der ex-post-Interpretation von Z. K. ACHMED1ANOVA angesprochen wird, ist nach dem Hinweis von F. MACHATSCHEK (1921, S. 167) kaum anzunehmen, da

der vom ersten russischen Generalgouverneur in Turkestan, General P. v. Kaufmann, unterbreitete Vorschlag, eine Bahn auf der späteren Trasse Orenburg - Taskent anzulegen, zunächst keineswegs aufgegriffen wurde. Selbst bei dieser Bahn wäre eine Koppelung strategischer mit wirtschaftlichen Überlegungen zu vermuten.gewesen. Die Schilderung von M. ANNENKOW (1881, S. 43) verdeutlicht die Funktion, die die Transkaspische Bahnlinie als militärisches Hilfsmittel bei der Befriedung der Turkmenen hatte. Richtig ist allerdings, daß das wirtschaftliche Interesse bereits vor dem Bau der Strecke artikuliert und eine Bahn aus Kaufmannskreisen nachdrücklich befürwortet wurde. Dabei favorisierten die engagierten russischen Unternehmen die Trasse Orenburg-Tagkent, die einen ungebrochenen Transport ermöglicht hätte (Z. K. ACHMEDZANOVA 1984, S. 13 ff.). 7 Die britische Regierung verfolgte auch später Bau und Funktion der Transkaspischen Eisenbahn mit großer Aufmerksamkeit; (vgl. L. A. PEREPELICYNA, 1966, S. 50). Andererseits ist die Idee einer Transkontintentalverbindung "Westeuropa-Indien" ein gängiges Diskussionsthema der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts gewesen. Dazu gehörte das von der Kaiserlichen Russischen Geographischen Gesellschaft in den 1870er Jahren erwogene Projekt des russischen Generals Beznosikov, eine Strecke Ekaterinburg - Troick - Samarkand - Indien zu trassieren; dieses Projekt wurde vom russischen Generalgouverneur in Turkestan, von Kaufmann, an Ferdinand Lesseps weitergegeben, unter dessen Namen es im Westen bekannt wurde (vgl. M. E. MITINA 1991, S. 361). Der Bericht, den der Eisenbahn-Erbauer M. Annenkov über die Hintergründe des Eisenbahnbaus in Transkaspien veröffentlichte, macht zudem deutlich, daß Übereinstimmung mit dem Britischen Reich in der Frage der Wirtschaftssicherung gesucht wurde. Der historische Anspruch Rußlands, Europa gegen die asiatischen "Barbaren" zu schützen, scheint durch, wenn auf die gemeinsamen zivilisatorischen Grundlagen im Russischen und Britischen Reich verwiesen wird - allerdings mit der Absicht, Rußlands Vordringen nach Innerasien gegenüber dem Konkurrenten zu rechtfertigen; vgl. M. ANNENKOW 1881, bes. S. 531 ff. Zu den Vorgängern anderer Mittelasien-Projekte gehört die 1872 dem in London ansässigen Baron Paul Julius de Reuter gewährte Konzession für den Bau einer Bahn durch Persien zwischen dem Kaspischen Meer und dem Persisch-Arabischen Golf; vgl. L. E. FRECHTLING 1938. Der Anschluß der transkaukasischen Eisenbahn über Die fa nach Persien erübrigte es, dieses Projekt weiterzuverfolgen. 8 Vgl. dazu R. TAAFFE 1960; J. STADELBAUER 1973 sowie zur west-turanischen Magistrale J. STADELBAUER 1974.

72

Russische Eisenbahnen in Turkestan

Samarkand verlängerte Mittelasiatische Bahn der Herrschaftssicherung des Russischen Reiches an der noch unsicheren mittelasiatischen Südflanke; die formell noch bestehende Selbständigkeit des Emirats von Buchara wurde dabei nur insofern beachtet, als die Bahn nicht unmittelbar über Buchara, sondern über das benachbarte Kagan geführt wurde, welches die Bedeutung einer railway colony erhielt. Beim Ausbau östlich von Samarkand boten bereits russische Firmen ihre Mitwirkung bei der Planung und Finanzierung an; damit wurde die wirtschaftliche Zielsetzung deutlich. Die Nebenstrecken wurden ebenfalls teilweise aus vornehmlich militärischen Überlegungen angelegt (z.B. die Strecke Merv - Ku§ka), dienten jedoch teils auch unmittelbar der wirtschaftlichen Regionalerschließung, wie vor allem die Bahn Kokand - Namangan im Ferghana-Becken zeigt. Hier und bei der Anbindung des Südens des Emirats (Kagan - Kar§i - Termez) treten wirtschaftliche 'Überlegungen gegenüber den strategisch-militärischen Erwägungen in den Vordergrund. Darauf begründet sich die Kolonialismushypothese, die für die zaristische Zeit gleichermaßen von sowjetischen und westlichen Autoren formuliert wurde, die für die sowjetische Zeit von den sowjetischen Autoren strikt abgelehnt und von vielen westlichen Autoren auch eher kritisch beleuchtet wird 9 . Der Effekt zeigt sich in der Transportleistung: Zwischen 1899 und 1909 stieg der Gütertransport auf der Mittelasiatischen Bahn von 387.000 t auf 1.164.000 t, wovon 40% auf Baumwolltransporte entfielen. Die Orenburg-Ta§kenter Bahn zog nach ihrer Fertigstellung rasch die größte Menge der Gütertransporte zwischen dem russischen Zentrum und Mittelasien an sich (1909: 2,3 Mio 0 10 . Heute muß das inzwischen durch einige Verbindungen erweiterte Netz nach dem Zerfall der Sowjetunion unter dem Gesichtspunkt territorialer Zuordnung gesehen werden (vgl. Abb. 2). Das regionale Bahnnetz stand bisher als Mittelasiatische Eisenbahn (Sredneaziatskajaeleznaja doroga) unter einer einheitlichen Verwaltung". Die bisheri9 Vgl. für die vorsowjetische Zeit z. B. die Arbeiten von Z. K. ACHMED1ANOVA 1965, 1970, 1984; A. ANIINOV u. A. BABACHOD2AEV 1966, für die sowjetische Zeit K. KULIEV 1974 u. L. A. KURBANOV 1975 (beide zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in Turkmenien) sowie CH. K. WILBER 1969, der jedoch mit Indikatoren für die wirtschaftliche Leistung arbeitet, deren Aussagekraft eher fragwürdig ist, \

wie das Beispiel der tonnenkilometrischen Transportleistung zeigt; J. STADELBAUER 1973, S. 395. In der sowjetischen Dokumentation ist darüber hinaus der frühe Industrieaufbau zwischen den Weltkriegen als Entwicklungsschub betont worden, während der Industrialisierungseffekt, der mit der Ostverlagerung westrussischer Industriebetriebe während des Zweiten Weltkrieges verbunden war, eher zurückhaltend erwähnt wird. 10 F. MACHATSCHEK 1921, S. 168. 11 Im Gesamtraum Mittelasien/Kazachstan bestanden außer der Mittelasiatischen Eisenbahn (Sredneaziatskaja ieleznaja doroga) die Westkazachische Eisenbahnverwaltung (Zapadno-Kazachskaja Z.d.), die Verwaltung der Neuland-Eisenbahnen (Celinnaja Z.d.) und die Eisenbahnverwaltung von AlmaAta (Almatinskaja Z.d.); vgl. Schema Zeleznych dorog Sojuza SSR, 1985. Im November 1991 wurde allerdings eine selbständige Verwaltung in Turkmenien ins Leben gerufen, die Turkmenische Eisenbahn (Turkmenskaja Zeleznaja doroga), die sich von der Mittelasiatischen Eisenbahn abspaltete und damit die Auflösung des Netzes in nationalisierte Eisenbahnverwaltungen vorwegnahm. In dieser neuen Eisenbahngesellschaft wurden die Mchabader Abteilung und der turkmenische Teil der Abteilung tardiou der Mittelasiatischen tisenbahn zusammengefaßt; Verwaltungssitz ist Aschabad (Gudok 27. 11. 1991, S. 2). .

73

Jorg Stadelbauer

Abb. 2: Mittelasien/Kazachstan: Potentielle neue Grenzübergänge aufgrund der Auflösung der UDSSR 74

Russische Eisenbahnen in Turkestan

gen Wirtschaftsvereinbarungen innerhalb der GUS enthalten offensichtlich noch wenige Angaben über die Eisenbahnverwaltung 12 , doch ist ein Konfliktpotential unverkennbar. Die Trassenführung wurde seinerzeit ohne besondere Rücksichtnahme auf interne Verwaltungsgrenzen vorgenommen, der Bau erfolgte zum großen Teil vor der Fixierung der aktuellen Grenzen, die in den 20er und 30er Jahren beim Aufbau des sowjetischen Staates festgelegt wurden. Sollten die Grenzen zwischen den Folgestaaten der Sowjetunion - wenigstens für eine Konsolidierungsphase - ihre Offenheit verlieren und zu Wirtschaftsgrenzen werden, so ist die Situation in den einzelnen Republiken unterschiedlich. Tadlikistan hat in dieser Beziehung die ungünstigste Binnenlage: Der wirtschaftlich wichtigere Südteil der Republik mit der Hauptstadtregion um Duganbe ist nur über uzbekisches und turkmenisches Territorium erreichbar; andererseits kontrolliert Tadzikistan bei Chu&and (vormals Leninabad) den Zugang zum überwiegend uzbekischen Ferghana43ecken. Die von diesen uzbekischen Strecken abzweigenden beiden kleinen Teilstrecken in die kirgizischen Randsäume des Beckens fordern das Einvernehmen Kyrgyzstans mit Uzbekistan, während die im Norden über die kyrgyzische Hauptstadt Bigkek (vormals Frunze) hinaus zum Issyk-kul' führende Strecke als Nebenstrecke der Turksib von Kazachstan aus dominiert wird. Sowohl Tadlikistan wie Kyrgyzstan sind durch die politischen Umwälzungen selbst innerhalb Mittelasiens in eine verkehrsgeographische Binnenlage geraten. Uzbekistan steht nur scheinbar besser da; seine Hauptstrecken, die Tagkent oder die anderen Oasengebiete mit Zentralrußland verbinden, führen jedoch durch kazachisches Territorium. Nur Turkmenistan hat wenigstens einen Zugang zum Kaspischen Meer und kann dort zwischen verschiedenen Nachbarn wählen (Fährverbindung nach Baku in Azerbajdian; Schiffsverbindungen nach Machaekala [Daghestan] und Astrachan', beide in der Russischen Föderation). Sinnvolle Binnenverflechtungen, die sich als Teilgraph des gesamten mittelasiatischen Bahnnetzes in einzelnen mittelasiatischen Staaten ergeben könnten, bestehen am ehesten in Turkmenistan und Uzbekistan: In Turkmenistan bildet die Hauptstrecke der Mittelasiatischen Bahn zwischen Krasnovodsk und üardiou das wirtschaftliche Rückgrat des Landes; die peripheren Zentren Tagauz und Kerkiüi (als Bahnstation des auf der gegenüberliegenden Flußseite des Amudartja gelegenen Kerki) sind jedoch nur über uzbekisches Territorium (über Urgen ö bzw. Kadi) mit der Bahn zu erreichen. In Uzbekistan besteht eine höhere Konnektivität, die durch den Streckenring Samarkand - Buchara Kargi - Samarkand bedingt ist, von dem Verbindungen in verschiedene Landesteile abzweigen. Der uzbekische und karakalpakische Teil des Amudarla-Deltas ist jedoch nur 12 Der am 11. 1. 1992 in der lzvestija veröffentlichte Vertrag, über die Internationale Wirtschaftsgemeinschaft (Meidunarodnoe ükonomieeskoe Sodrulestvo, MES) behandelt nur die Organe der neuen Gemeinschaft, keine sektoralen oder technischen Aspekte. Der Ende Januar 1992 ernannte russische Verkehrsminister G. M. Fadeev hob in einem ersten Interview hervor, daß die GUS-Staaten zwar prinzipiell die Hoheit über "ihre" Eisenbahnstrecken übernommen hätten, daß die Organisation des Transportwesens jedoch im russischen Verkehrsministeriums konzentriert bleibe (Izvestija 3. 2. 1992, S. 2).

75

Jorg Stadelbauer

über turkmenisches, das Ferghana-Becken über taMkisches Territorium zugänglich. Innertad2ikische Transporte müssen sich auf das Vachg-Tal und die nicht sehr leistungsfähige Schmalspurstrecke nach Kuljab beschränken, innerkirgizische Transporte auf den Verkehr zwischen der Hauptstadt Bigkek und dem Issyk-Kull. Die Turkestan-Sibirische Eisenbahn ist wie die Transaral-Magistrale weitestgehend Kazachstan zugeordnet, durchschneidet aber für einige Kilometer kirgizisches Territorium. Insgesamt darf die Bedeutung eines jeden dieser fünf durch die jetzigen Staatsgrenzen entstandenen Teilnetzes sicher nicht zu hoch eingeschätzt werden. Eine Aufteilung des Netzes der Mittel-asiatischen Eisenbahn auf vier bzw. mit Kazachstan fünf Teilnetze müßte die Infrastruktur der gesamten Region entscheidend schwächen 13 .

2 Regionale Effekte Die wirtschaftsräumlichen Folgen des Bahnbaus lassen sich nach unmittelbaren Folgen für die Eisenbahnstrecke (Trasse, Haltepunkte und deren bahntechnisch bedingte Ausstattung) und mittelbaren Folgen für das erschlossene Gebiet (Wirtschaftsaktivitäten, Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungstätigkeit) differenzieren. 2.1 Unmittelbare Folgen Der Bahnbau benötigte eine technische Mindestausstattung vor Ort 14 . An einigen zentralen Bahnstationen entstanden betriebstechnisch bedingte Reparaturwerkstätten. Für den Bau und den Unterhalt kamen ausgebildete Fachkräfte und Hilfsarbeiter in die Region, deren spätere Bedeutung von sowjetischen Forschern vor allem unter dem Aspekt der Entstehung eines industriellen Proletariats dargestellt wurde 15 . Am Bau der Transkaspischen Bahn waren etwa 50.000, an der Anlage der Strecke Samarkand Andizan 100.000 und an der Orenburg - Tagkenter Bahn 30.000 bis 50.000 Menschen beschäftigt 16 . Die Infrastruktur für diese Arbeitskräfte war allerdings unbefriedigend: Schwierigkeiten bei der Wohnraumversorgung und bei der Verpflegung traten auf, die Knappheit an Versorgungsgütern ließ die Preise ansteigen 17 . Als typisches Ablaufschema für den Multiplikationseffekt dieses unmittelbaren Einflusses läßt sich festhalten: Bau kleinerer Ausbesserungswerkstätten an den wichtig13 Zum Zusammenhang zwischen Verkehrsnetzstruktur und wirtschaftlichem Entwicklungsstand von Regionen vgl. P. HAGGETT 1973, S. 96. Die von D. W. MEINIG aus einer Netzanalyse im US-ame rikanisch-kanadischen Grenzgebiet und in Australien abgeleiteten Unterschiede, die sich aus privatwirtschaftlichem und staatlichem Eisenbahnbau ergeben, können um einen Typus ergänzt werden, bei dem die Staatsbildung der Netzentwicklung folgte, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen. 14 Vgl. J. STADELBAUER 1973, S. 174 ff. mit Abb. 15. 15 Vgl. bes. Z. K. ACHMED2ANOVA 1984. 16 Z. K. ACHEMD2ANOVA 1984, S. 52. 17 Z. K ACHMED2ANOVA 1984, S. 56.

76

Russische Eisenbahnen in Turkestan

sten Bahnhöfen; Zuzug von einzelnen Fachkräften; Multiplikatoreneffekte für einfache industrielle Tätigkeiten; Entstehung einer Arbeiterschaft 18 ; Aufbau weiterer Werkstätten; Einbindung von Produktionsbereichen der Metallverarbeitung sowie frühe protoindustrielle Ansätze einzelner Industriestandorte, die diese Tradition bis in die Gegenwart fortführen. Mit dem industriellen Ansatz war als Folgewirkung in der Regel auch eine Siedlungserweiterung verbunden, die sich einerseits in Eisenbahnsiedlungen etwas abseits der traditionellen Siedlungskerne (vergleichbar den railway colonies, die beim britisch gelenkten Ausbau des südasiatischen Eisenbahnnetzes entstanden), andererseits in einem verstärkten Wachstum der Siedlungen an der Bahnlinie äußerte. Auch damit konnte ein industrieller Ansatz (Baustoffindustrie) verbunden sein. Hier besteht bereits ein Übergang von den direkten zu den mittelbaren Folgen des Bahnbaus. In den bislang von nomadischer Wirtschafts- und Siedlungsweise bestimmten Gebieten Mittelasiens wurden einzelne Eisenbahnsiedlungen auch zu Ansatzpunkten der Seßhaftwerdung, im Bereich der Gebirgsfußoasen zeichnete sich bald eine Polarisierung zugunsten der Siedlungen an der Bahnstrecke ab, die überproportional wuchsen, während die abseits gelegenen Siedlungen einen Funktionsverlust und Bevölkerungsstagnation hinnehmen mußten. 2.2 Mittelbare Folgen Die wichtigsten indirekten Folgen des Bahnbaus waren die Verbesserung der Möglichkeit von Gütertransporten, daran anschließend der Aufbau von Handelsbeziehungen und damit - der klassischen Wirtschaftstheorie entsprechend - ein regionaler Wirtschaftsaufschwung, wenn das Einzugsgebiet für die Handelsgüter von den Transportverflechtungen profitierte und wenn durch die Bezahlung Kaufkrafteffekte entstanden. Hier wirkte sich für Transkaspien (und sicher nicht nur dort) die zeitliche Kongruenz mit der Entstehung eines russischen Handelskapitalismus fördernd atis..Zwar unterstand Transkaspien einer militärischen Verwaltung, doch entwickelte sich eine enge Symbiose zwischen Militär und einer im spätzaristischen System eingebundenen Kaufmannschaft. Über die Bahn konnten einfache landwirtschaftliche Geräte wie Pflüge, eiserne Eggen oder Erntemaschinen von den Industriestandorten Rußlands nach Mittelasien eingeführt werden, so daß ein indirekter Einfluß auf die beginnende Mechanisierung der Landwirtschaft besteht 19 . Sicher ging die Ausbreitung sehr selektiv vor, begünstigte die russischen Kolonisten oder die von den Industriekaufleuten 18 Mit dieser Arbeiterschaft war nicht nur im Sinne der sowjetischen Geschichtsschreibung ein verstärktes revolutionäres Potential vorhanden; auch der mit einer großangelegten Inspektionsreise durch Turkestan betraute Graf von der Pahlen schildert die Arbeiterschaft von Kizyl-Arvat als unruhig und bunt zusammengewürfelt (PAHLEN o. J., S. 200 f.). Die sowjetischen Arbeiten betonen vor allem die Beteiligung der Eisenbahner und anderer indirekt durch die Eisenbahn nach Mittelasien gelangten Industriearbeiter an der Revolution von 1905; ausführlich dazu Z. K. ACHMEDANOVA 1984, S 81 ff. 19 Z. K. ACHMED2ANOVA 1984, S. 62.

77

Jorg Stadelbauer

abhängigen Betriebe, aber es war ein erster innovativer Ansatz. Insgesamt wurde dabei die Auswirkung für die regionale Baumwollwirtschaft bei weitem am bedeutendsten. Daneben konnten Erdölfunde im Ferghana-Becken über die Eisenbahn und für die Bahn in Wert gesetzt werden 20 , die allerdings nie die Bedeutung der Vorkommen von Baku erlangten und anfangs wohl überschätzt wurden. Unter den ausgeführten Gütern spielte außerdem das in Mittelasien weit verbreitete Trockenobst eine große Rolle, das noch heute zum markant hervortretenden Angebot auf den lokalen und regionalen Privatmärkten gehört. Die Organisation der Transporte durch die russischen Handelshäuser führte auch dazu, daß die großen russischen Manufakturen Lager und Kontore in größeren mittelasiatischen Städten einrichteten, wodurch die größeren Städte anfingen, interne Dienstleistungszentren mit wenigstens partieller Ausrichtung nach Westen zu entwickeln. Von diesen Stützpunkten aus (v.a. Tagkent, Samarkand, Kokand und Buchara) wurden Handelsnetze in die verschiedenen Vermarktungsgebiete aufgebaut 21 . In einigen Städten setzte eine Differenzierung ein, die neben der Altstadt der Einheimischen eine Neustadt der russischen Zuzügler und wohl bald auch einer regionalen Elite entstehen ließ; dazu kamen die bereits genannten railway colonies als dritter Typ von Siedlungskernen. In Samarkand und Tagkent ist diese Entwicklung am deutlichsten nachvollziehbar 22 . An der sehr unterschiedlichen Entwicklung von Chiva und Buchara wird der Einfluß der Bahn deutlich, selbst wenn man berücksichtigt, daß Buchara erst verspätet über eine Stichbahn an die mittelasiatische Hauptstrecke angeschlossen wurde: Für 1850 wird die Einwohnerzahl von Chiva mit 20.000, für Buchara mit 40.000 angegeben; nach dem Bahnbau in Mittelasien wuchs Buchara auf 50.000 im Jahre 1897, Chiva dagegen nur auf 21.500 Einwohner 23 , am 1.1.1990 zählte die Stadt Buchara 227.900, der funktional dazugehörende Eisenbahnknoten Kagan 49.200, Chiva 40.600 Einwohner 24 . Die infrastrukturelle Leistung, die mit dem Bahnbau verbunden war, hat über die Gütertransporte hinaus eine zweite, längerfristige Komponente: Auch weitere Infrastrukturmaßnahmen wurden von dieser Basislinie aus betrieben, die wiederum zusätzliche Ressourcen erschlossen, das Siedlungssystem ergänzen halfen und eine weitere Differenzierung der Kulturlandschaft einleiteten. Hierzu gehören vor allem die Erschließung von einzelnen Schwefelvorkommen in Turkmenien, von Erzlagerstätten in 20 Die Erdölfördergeselischaft Cimion, so benannt nach einer Förderstelle südlich des Syr-dar'ja im Ferghana-Becken, schloß 1906 einen Vertrag mit der Verwaltung der Mittelasiatischen Eisenbahn, der die jährliche Lieferung von 1,5 Mio Pud (24.570 t) Rohöl an die Bahn vorsah, womit wenigstens ein Teil des Eigenbedarfs der Bahn gedeckt werden konnte (L. A. PEREPELICYNA 1966, S. 59 f.). Auch die Erschließung der Erdölvorkommen im westlichen Turkmenien - erst auf der Insel, später Halbinsel üeleken, dann bei Nebit-Dag - erfolgte im Hinblick auf die Interessen der Bahn.

21 Z. K. ACHMEDANOVA 1984, S. 67. 22 Vgl. zur Entwicklung der Städte: K. E. FICK 1971, W. MULLER-WILLE 1978, E. GIESE 1979.

23 W. MULLER-WILLE 1978, S. 3 ohne Quellennachweise. 24 Cislennost' naselenie ..., 1990, S. 110, 123.

78

Russische Eisenbahnen in Turkestan

den Randgebieten des Alai und des Tien-shan und dann später die Erschließung weiterer Erdöl- und Erdgaslagerstätten. vor allem in Turkmenien und Uzbekistan 25 . Die Eisenbahn bot darüber hinaus die Möglichkeit der Übersiedlung; dies erinnert an den Baubeginn an der lange vorher geplanten Transsib, der 1892 unter dem Eindruck der im Winter 1891/92 in Zentralrußland ausgebrochenen Hungersnot vorgenommen wurde. Mittelasien war prinzipiell seit seiner russischen Eroberung potentielles Kolonisationsgebiet, doch lagen die Zielräume zunächst ausschließlich in der Steppe. Dort wurden anfangs befestigte Kosakensiedlungen in den Verwaltungsgebieten SemirC'e und Syr-dar'ja angelegt. Mit der Bahn kamen die ersten Kolonisten in den neunziger Jahren nach Mittelasien, als die oben genannte Hungersnot von 1891/92 auch 12.000 Übersiedler nach Turkestan brachte. Seither sind jährlich neue russische Siedlungen entstanden. Ein verstärkter Zuzug von Kolonisten setzte 1896/97 ein; seither kamen in jedem Jahr mehrere Tausend russische Übersiedler nach Mittelasien, jedoch auch weiterhin mehr in die Steppengebiete, insbesondere in das Semireee, wo sich bis zum Ersten Weltkrieg 247.600 von insgesamt 340.000 russischen Übersiedlern nach Mittelasien niederließen, in geringem Maß auch in die bereits dichter besiedelten Oasen im Süden Mittelasiens 26 . Transkaspien und das westliche Mittelasien wurden von der Siedlerwelle in geringerem Umfang erfaßt. Mit der Siedlungstätigkeit war die Ausbreitung einiger agrarwirtschaftlicher Innovationen verbunden: Die Siedler führten den Kartoffelanbau, neue Gemüse- und Obstsorten ein und trugen zur weiteren Ausbreitung des Tabakanbaus bei 27 . Die neuen technischen Möglichkeiten und die Veränderungen im Anbau leiteten eine "Verwestlichung" der mittelasiatischen Landwirtschaft ein und brachten sicher auch eine gewisse Entfremdung eines Teiles der einheimischen Landwirte von ihrer bisherigen Tätigkeit mit sich, was sich in der Vernachlässigung der alten Bewässerungssysteme und der Hintanstellung eines versorgungsorientierten Anbaus ausdrückte. Allerdings war mit der Agrarkolonisation auch eine partielle Verdrängung der einheimischen Bevölkerung aus ihren überkommenen Wirtschaftsaktivitäten und Lebensräumen verbunden, zumal die Einsicht in das Funktionieren der nomadischen Lebensform bei den neuen Siedlern weitgehend fehlte oder von der russischen Verwaltung heruntergespielt wurde 28 . Vor allem im Inneren und im Osten Kazachstans staute sich Konfliktpotential an.

25 Vgl. dazu V. F. PAVLENKO 1980, S. 121 ff. mit einer günstigen Bewertung der Transportbedingungen

für mittelasiatisches Gas. 26 Einzelheiten bei L. A. PEREPELICYNA 1966, S. 13 ff. 27 Z. K. ACHMED2ANOVA 1984, S. 62. 28 Vgl. dazu auch A. KARGER 1965.

79

Jorg Stadelbauer

3 Die baumwollwirtschaftlichen Verflechtungen als Beispiel Die Baumwollwirtschaft gilt in der sowjetischen Fachliteratur als überregional wichtigster Wirtschaftszweig der Großregion Mittelasien. Angesichts der rasch wachsender) Bevölkerung und des Verharrens im ländlichen Lebensraum schien für die wirtschaftliche Entwicklung vor allem der Einkommenseffekt auf dem Land von Bedeutung zu sein 29 , andere Zweige wie die Bewässerungswirtschaft, der Maschinenbau oder die Produktion von Agrochemikalien galten als der Baumwolle untergeordnet. Die Baumwollindustrie im weitesten Sinne (mit allen Halbfertig- und Fertigprodukten) lieferte in den 70er Jahren etwa ein Drittel des regionalen industriellen. Produktionswertes. In keiner anderen Wirtschaftsgroßregion der UdSSR hatte eine technische Kultur einen so hohen Anteil an der Aussaatfläche wie die Baumwolle in Mittelasien (etwa zwei Fünftel) 30 . Bis in die Gegenwart wurden Erschließungsmaßnahmen, die der Ausweitung der Baumwollfläche gelten (Hungersteppe, Kargi-Steppe u. a.), fortgeführt, bisweilen in auffälliger Kontinuität von Projekten aus zaristischer Zeit. Daß auch andere gesamtstaatliche Agrarprojekte Mittelasien einbezogen, dabei aber immer wieder die Baumwollorientierung betonten, zeigen die Aktivitäten, die bis Anfang der 60er Jahren in der Zone am turkmenischen Karakum-Kanal als Teil der Neulandaktion betrieben wurden 31 . Auslösendes Moment für das Interesse der russischen Textilwirtschaft an den mittelasiatischen Baumwollgebieten waren die Turbulenzen auf dem Baumwollweltmarkt, die durch den US-amerikanischen Bürgerkrieg in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden waren. In einer Phase boomender Textilindustrie mußten neue Liefergebiete für den begehrten Rohstoff erschlossen werden. Die beginnende russische Eroberung Mittelasiens (1854 Anlage der Festung Vernyj auf dem Gelände der heutigen kazachischen Hauptstadt Alma-Ata, 1865 Eroberung von Tagkent) veränderte die Raumbewertung, doch fehlte noch die infrastrukturelle Vorleistung, um denkbare Baumwollerträge auch der russischen, im Gebiet um Moskau, in St. Petersburg und in Zentralpolen konzentrierten Textilindustrie zukommen zu lassen. Der russische Einfluß auf die mittelasiatische Baumwollwirtschaft setzte mit Eingriffen in die Rechtsverhältnisse ein, die damals noch von islamischen Eigentumsrechten und Abgabenormen bestimmt waren. Seit 1887 wurden die Waqf-Ländereien von russischen Behörden kontrolliert und damit der islamischen Geistlichkeit empfindliche Einfluß- und Einnahmeverluste zugefügt. Nur vom Emir bzw. Chan mit Siegel bestätigte Rechtstitel blieben zunächst anerkannt 32 . Dieser massive Eingriff in die

29 V F. PAVLENKO 1980, S. 7. 30 V. F. PAVLENKO 1980, S. 42 f 31 B. OVEZMURADOV 1962. 32 L. A. PEREPELICYNA 1966, S. 9.

80

Russische Eisenbahnen in Turkestan

Rechtsnormen ermöglichte es, umfangreiche Kolonisations- und Erschließungsvorhaben durchzuführen und auch einen Teil des Kleinbauerntums unmittelbar in die russische Baumwollwirtschaft einzubinden. Mit dem Eisenbahnbau wuchs das Interesse von russischen Kaufleuten und Fabrikanten, sich in der mittelasiatischen Baumwollwirtschaft zu engagieren. Schon 1881 bemühte sich der Unternehmer I. G. Chaeaturov - allerdings noch vergeblich - um den Erwerb von Land in Transkaspien, um dort die Baumwollkultur für den russischen Markt auszubreiten. 1882 propagierte der Fabrikant T. I. Morozov ebenfalls in Transkaspien die Aussaat von Baumwolle. Das Handelshaus Nazarov begann 1883 mit dem Baumwollanbau im Gebiet von Merv 33 . In allen drei Fällen waren die russischen Bemühungen mit der eben erst angelegten oder (im Fall von Merv) noch geplanten Eisenbahn verbunden. Die Ausbreitung der Innovation war in Turkmenien aber besonders schwierig, weil der größere Teil der wirtschaftlich aktiven Turkmenenstämme nomadisch lebte. Im östlichen Mittelasien wurde es leichter, neue Sorten oder Geräte einzuführen. Der Erfolg der Neuerung zeigt sich in der Anbaustruktur. 1915 waren bereits 25% der Anbaufläche Turkestans (2 Mio Dessjatinen, das entspricht 2,2 Mio ha) mit Baumwolle bestellt 34 , damals allerdings noch auf einer überwiegend kleinparzellierten Flur. Die Gesamtmenge der auf der Eisenbahn transportierten Baumwolle wird für den Gesamtzeitraum 1880 bis 1907 mit 225,9 Mio Pud (3,7 Mio t) angegeben; die Werte für 1880: 0,3 Mio Pud, 1900: 5,8 Mio Pud und 1916: ca. 17 Mio Pud machen die Steigerung deutlich und belegen den engen Zusammenhang zwischen der Eisenbahnerschließung und der Wirtschaftsintegration der Region im Rahmen des Russischen Reichs 35 . Die mit der Baumwollwirtschaft verbundenen aufbereitenden Industriezweige (Baumwollreinigung, Baumwollölmühlen) reichen in die vorsowjetische Zeit zurück. als sie einen weitaus überwiegenden Anteil an der Industrieproduktion der Region hatten. 1900 war die Gesamtzahl der Baumwollentkernungsfabriken auf 182 angestiegen; ein Drittel davon beschäftigte allein bereits über 59.000 Arbeitskräfte 36 . Damit wurden deutliche soziale Veränderungen bei der Arbeitsbevölkerung eingeleitet. Die Arbeiterschaft setzte sich aus Russen und Einheimischen zusammen. Gewichtsgründe hatten von vornherein eine transportorientierte Ansiedlung (häufig in der Nachbarschaft von Eisenbahnstationen) begünstigt. Die Ölmühlen produzierten vor allem für den Export in den europäischen Teil des Russischen Reiches; drei Viertel des in Mittelasien produzierten

33 Zur Tätigkeit der Handelshäuser und Kaufleute vgl. L A. PEREPELICYNA 1966, S. 26, Z K ACHMED2ANOVA 1984.

34 L. A. PEREPELICYNA 1966, S. 29. 35 L. A. PEREPELICYNA 1966, S. 51. 36 Z. K. ACHMED2ANOVA 1984, S. 64.

81

Jorg Stadelbauer

Baumwollöls ging in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg diesen Weg 37 . Die sowjettypische Förderung großer Produktionsanlagen hat später zu einer Konzentration der Baumwollreinigung in einigen Großanlagen geführt, deren Standortverteilung bereits in den 70er Jahren kritisch beleuchtet wurde, weil die Optimaldistanz bei nur 20 bis 25 km angenommen wurde 38 . Da der Ausbau von Aufbereitungskapazitäten nicht mit der Anbauausweitung Schritt hielt, kam es zu kostenintensiven Transporten aus den jünger erschlossenen Anbaugebieten (Hungersteppe, Kari-Steppe, Karakum-Kanalzone, SüdTaeikistan) in weniger ausgelastete Fabriken 39 . Mitte der 70er Jahren existierten in Mittelasien insgesamt 140 Baumwollreinigungsfabriken 40 . Die räumliche Diskrepanz zwischen Baumwollanbau und -aufbereitung einerseits und der weiteren Verarbeitung in Spinnereien und Webereien andererseits ist vielfach hervorgehoben worden 41 ; sie gehört zu den grundlegenden Disparitäten, die die mittelasiatischen Republiken als Erbe aus der Sowjetzeit zu übernehmen haben. Die vielfach auch in der Sowjetunion erhobene Forderung, wegen der etwas geringeren Produktionskosten, wegen der Transportkostenersparnis und wegen des positiven Effektes auf den regionalen Arbeitsmarkt die Weiterverarbeitung verstärkt nach Mittelasien zu verlagern 42 , fand jedoch kaum Beachtung. Die innersowjetische Preisbildung, die für Textilindustriebetriebe in der gesamten Sowjetunion zu Beginn der achtziger Jahre einheitliche Kaufpreise für Baumwollfasern vorsah und Transportkosten zum Weiterverarbeitungsort unberücksichtigt ließ 43 , förderte die tradierten Standortmuster bis in die Gegenwart. Die Eisenbahn wurde als staatliche Vorleistung für die - ebenfalls staatliche - zentralisierte Textilindustrie angesehen; die Berücksichtigung des Prinzips komparativer Kosten hätte eine andere Standortverteilung zur Folge haben müssen 44 . Damit ist durch das zentralistische Wirtschaftssystem ein denkbarer regionaler Effekt der Eisenbahn (entweder Kostenentschädigung für geleisteten Transportaufwand oder Kapitalrückfluß für Fertigprodukte, die dem Binnenhandel zur Verfügung gestellt wurden; beides zusätzlich zu den internen Transporten von Rohbaumwolle und Baumwollfasern) verhindert worden. Folgeeffekte der Baumwollwirtschaft reichen in andere Industriezweige: Die Düngemittelindustrie fand neue Schwerpunkte in Mittelasien wie z.B. in Card2ou, die Her37 Z. K. ACHMEDANOVA 1984, S. 65. 38 Hinweise bei V. F. PAVLENKO 1980, S. 61 u. 65. 39 Vgl. für Turkmenien J. STADELBAUER 1973, S. 332 mit Abb. 32. 40 V. F. PAVLENKO 1980, S. 61. 41 Vgl. E. GIESE 1973; J. STADELBAUER 1973, S. 388 ff. 42 E. A. AFANAS'EVSKIJ 1976. 43 V. F. PAVLENKO 1980, S. 71. 44 V. F. PAVLENKO 1980, S. 72, verweist noch auf die kennzifferorientierte Verzerrung, die bei der Berechnung von Transportleistungen auftritt: Ein vierachsiger Güterwaggon mit einem Fassungsvermögen von 90 m 3 kann 44 t gepreßte Baumwollfasern, aber nur 26,5 t Baumwollstoffe aufnehmen; bei ausschließlich tonnenlcilometrischer Bewertung schneidet der Faserferntransport weitaus günstiger als der Stofftransport ab.

82

Russische Eisenbahnen in Turkestan

stellung landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen für den Baumwollanbau ist auf Tagkent konzentriert. Die negativen Konsequenzen für die Umwelt, die mit der in den 50er und 60er Jahren nochmals forcierten Ausweitung des Baumwollanbaus verbunden waren und durch den Ausbau der Düngemittelindustrie eine zusätzliche Basis erhielten, sind bereits kurz genannt worden. Sie führen bis zur dramatischen Schrumpfung des Aral-Sees, einem Prozeß, durch den die regionale Wirtschaft am unteren Syrdar'ja und im Amudaila-Delta (d.h. insbesondere Karakalpakiens, das keinen regionalen Ausgleich vornehmen kann) nachhaltig geschädigt wurde. Fischerei und Schifftransporte sind auf dem Aral-See zum Erliegen gekommen 45 .

4 Bewertung der Eisenbahn in der Sowjetzeit Während die linientreue sowjetische Forschung zur wirtschaftlichen Entwicklung Mittelasiens den Bau der Transkaspisch-Mittelasiatischen Eisenbahn und ihre sozioökonomischen Folgen bis zum Ersten Weltkrieg ausführlich berücksichtigt hat, gibt es keine Untersuchung, die der Bedeutung der Mittelasiatischen Eisenbahn in der frühen Sowjetzeit gewidmet ist; man ist daher auf indirekte Quellenzeugnisse angewiesen. Mit der Netzerweiterung durch die Turksib tritt die Baumwollorientierung Mittelasiens verstärkt in den Vordergrund: Jetzt war es scheinbar mühelos möglich. Brotgetreide aus den südwestsibirischen Kolonisationsgebieten im Austausch gegen Baumwolle für eine im Aufbau befindliche Textilindustrie nach Mittelasien zu transportieren46 und damit die Entwicklung der Baumwollmonokultur noch zu forcieren, die erst in allerjüngster Gegenwart überwunden wird. Wegen der Knappheit an Flächen, die in der Sowjetunion für den Baumwollanbau geeignet waren, wurde der spezialisierte Anbau bis auf marginale Standorte vorangetrieben. Die Hinwendung zu den textilindustriell besonders gefragten feinfasrigen Varietäten wiederholte seit den 60er Jahren eine solche Anbaumarginalisierung in Südta&ikistan (Eisenbahnerschließung im unteren Vachg-Tal) und in Turkmenien. Erst seit Mitte der 80er Jahre wendet man sich etwas von der Baumwollmonokultur ab. Die Diversifizierung wird sich nach der Unabhängigkeit der mittelasiatischen Republiken noch verstärken, weil die Außenhandels- und Transportprobleme zunehmen. Große Hoffnungen wurden auf den Bau der Westturanischen Magistrale gesetzt. Vor allem für Turkmenien bedeutete sie, daß zusätzlich zum gebrochenen Gütertransport über Krasnovodsk eine direkte Verbindung in die Zentralgebiete Rußlands geschaffen

45 N. F. GLAZOVSKIY 1991, aufgrund eigener Anschauung im Gelände (PH. MICKLIN 1991). 46 Für 1930/31, das erste Betriebsjahr der Turksib, sahen die staatlichen Pläne vor, bei normalen

Witterungsbedingungen und wenigstens durchschnittlichen Ernteerträgen 245.700 bis 278.500 t Brotgetreide aus Sibirien nach Mittelasien zu transportieren, d.h. fast zwei Fünftel der regionalen Versorgung mit Brotgetreide zu sichern (Turksib ..., 1930, S. 14).

83

Jorg Stadelbauer

wurde 47 . Leider liegen keine regionalisierten Daten über die tatsächlichen Transportleistungen auf einzelnen Bahnstrecken vor; daher kann nicht überprüft werden, ob und inwieweit sich diese Hoffnungen in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten verwirklichen ließen.

5 Leistungsfähigkeit der aktuellen Bahnsysteme Der Ausbau des sowjetischen Pipeline-Netzes und die große Bedeutung der darin transportierten Güter (Erdöl und Erdgas) haben die Gewichtung zwischen den einzelnen Güterverkehrsträgern gründlich verschoben (vgl. Abb. 3). Während 1960 noch 82,3% der sowjetischen Gütertransportleistung (in t*km) von der Eisenbahn erbracht wurden, waren es 1988 nur noch 47,6%; immerhin entspricht dieser relative Rückgang einer absoluten Steigerung von 1 504,3 auf 3 924,8 Mrd. t*km. Die Zunahme des Gütertransportes mit Lastkraftwagen von 1,5 auf 1,8% ist unbedeutend gegenüber der Zunahme des Pipelinetransportes von 3,5 auf 35,3%, der in absoluten Werten sogar einer Steigerung von 63,8 auf 2 917,6 Mrd. t*km entspricht". Der Anteil Mittelasiens kann nur grob abgeschätzt werden: Von den 4,1 Mrd. t Eisenbahngütern, die 1988 in der UdSSR abgefertigt wurden, haben die vier mittelasiatischen Republiken mit 126,7 Mio. t einen Anteil von gerade 3,1% 49 ; gegenüber 1960 (2,0%) hat sich dabei eine beträchtliche Gewichtszunahme ergeben. Rechnet man diese Leistung auf die Streckenlänge um, ergibt sich folgendes Bild (Tab. 1); der berechnete Wert von t Güteraufkommen je km Streckenlänge ist dabei ein Indikator für die Belastung des regionalen Bahnnetzes durch den Gütertransport. Es zeigt sich, daß diese Belastung sich unionsweit nahezu verdoppelt hat, daß sie aber in Turkmenien auf mehr als das Dreifache angestiegen ist, während Tadiikistan (mit bescheidenem Ausbau, aber geringer Mengensteigerung) eher stagniert. Für die Mitte der 70er Jahre hat John Ambler die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Eisenbahnen auf der Basis des damals etwas reichlicher verfügbaren statistischen Materials berechnet. Danach hatte die Mittelasiatische Eisenbahn (in den organisatorischen Grenzen, die nicht vollständig mit den Republikgrenzen übereinstimmen) eine Leistung von 13,1 Mio t*kmJje km Streckenlänge erbracht, ein weit unter dem sowjetischen Durchschnitt (23,55) liegender Wert, der sich daraus erklärt, daß neben einigen Ferntransporten auch ein hohes Maß innerregionaler Transporte existiert. Auch bezogen auf die Bevölkerung blieb die Leistung mit 3.600 t*km je Einwohner weit unter dem sowjetischen Durchschnitt (12.880). Transittransporte spielen in Mittelasien keine Rolle (nur 2% Anteil, während sie auf manchen Strecken zwei Drittel des gesamten Frachtaufkommens ausmachen). Die Transportkosten lagen um ein Drittel über dem 47 Vgl. A. MERETNUAZOV 1969, J. STADELBAUER 1974 48 Transport i svjaz SSSR 1990, S. 30. 49 Transport i svjaz' SSSR 1990, S. 26.

84



Russische Eisenbahnen in Turkestan

sowjetischen Durchschnitt 50 . Insgesamt gehörte damit das zentralasiatische Eisenbahnsystem bereits in der Sowjetzeit zu den leistungsschwächeren Regionalsystemen und wurde nur noch von dem transkaukasischen unterboten, dessen politisch prekäre Situation bei der Blockade deutlich wurde, die Azerbaj&an seit dem Jahr 1989 gegen Armenien verhängt hat.

8 Mia

PAIMIZZI 1 L. Z81111128 IIIIIINIIIIII • W• •111111:1 • 111111•111 •111•11111111 11111111111111111 1.111131111111 31111111111311 MOINIIIIIII •111111111111 ••111•111 •1111113111li 1111111111•11111 •111•»11 1119111111111111 1211111119M ellalmil

6 Alia

4 Mia 0

111111111111111 IIIIIIIIIIIIIII 111111111111111111 ••311111111 • 111•1111111

1 esetmel dee«

-........■...... numun

et be te> ,

0 Mia

1970



Verkehrstrager Eisenbahn Binnenschiffahrt

Nts *

•,*

1980

E E

New

44 KN v.44

2 Mia

e

r

1

:

I\ ■ . ...

keVel



1985

1988

Pipeline

E

Automobil

EI Flugzeug

Seeschiffahrt

Quelle Transport 1 svjaz SSSR, 1990 S 32

Abb. 3: Sowjetunion - Transportleistung nach Verkehrsträgern 1970 - 1988 Inwieweit die mittelasiatischen Eisenbahnen vier (bzw. unter Einschluß Kazachstans: fünf) selbständigen mittelasiatischen Republiken zur Verfügung stehen werden, ist kaum abzuschätzen, da Informationen über eine Reorganisation des Eisenbahnwesens noch spärlich sind 51 . Für TaCikistan wurde bereits beim noch funktionierenden sowjetischen Eisenbahnsystem ein Anteil der Lkw-Transporte von 92% an den gesamten Gütertransporten

50 J. AMBLER 1987, S. 69.

51 Vgl. Izvestija 3. 2. 1992, S. 2, Nezavisimaja gazeta 27. 3. 1. 1992, S. 4.

85

Jorg Stadelbauer

,

E ----_,



CD

■C = ch —

•-

0

00

C>

,--,

,

.--.

9 -

E

..4 ......„

-te,

N

00 ,--,

N v--)

CD

00

N

el.)

oo

= c:Lf)

,--,

> ,....;

C> ''"'

00

..r-

,

Ch c*",--,

rin

r,

CD N ,--,

c, tr)

5

N N

...

,t-

C‚'..

ci ,

cr)•

t--vz

N

cl.)•

00 00

0 0 00

p4 C/) (./)

IC

en

en

C",1 M

,C7

-71-

00 In

CD

CD CD

, CD

,

v, od

t--z3 N

CD o0

= (--

© N ,t-

c`l

te) N

rn

r-• ..c5

"e"

en

,-.

en

q eN.1

C:) 00

CD CD '1-.

C' CD

CD C)

(::

Z

en • r'

C) 0

C> CD

0 rn

S

C)

VZ

:1

ctN1 1

c9

r7-'

5 —

■CD

CD CD Lf)

(N

00

d" ("V rs1

CD

(----, , kr)

r--1

In N

r.

CD N•

n

,-.

C CD

,--i

86

1-.1

N

' -1 w5 4tgj ,--.

c) 01) ,

N

"ekr-' ..-4

CD

CD cp

e -e-

„._ ,i., 0.

tr)

c:),.

'

(--.1

CD cp N

cz

cu '•-> eD1) CD 5, CD

c.,-)

,r;

GJ

... ,

CD

C) C) (-N1

n — © C en N

g •v' ,... = .5 4.

=

E—+

cn

c>

'`1-.

CD

c/3 (i) te

g

g

g

•TI

1.,2' •”« 4

‚1

•.••.' V' r;»4,

13

> R1

tzI)

ce

›,

.1

”CD N

"c1

H

I-■

=a.)

•.

cA ce U

.4..i

•—

>

Russische Eisenbahnen in Turkestan

festgestellt 52 . Ohne eine wenigstens regionale Zusammenarbeit würden, wie bereits angedeutet, Transporthemmnisse entstehen, die - wenn ein Streckenneubau aus finanziellen Gründen nicht rasch denkbar ist - die traditionellen Transportsysteme aufleben, den Transport der wichtigsten Exportgüter jedoch zurückgehen lassen würden. Ein System von Zollschranken und Abgabebarrieren hätte für die regionale Wirtschaft verheerende Folgen, weil der Transport von Baumwolle und Erdölprodukten (als Exportmassengütern) davon besonders betroffen wäre. Der Lufttransport von Agrarprodukten (Obst, Gemüse) würde diese so verteuern, daß sie schon auf den zentralrussischen Märkten gegenüber einer südrussischen, ukrainischen und kaukasischen Konkurrenz bei rückläufiger Kaufkraftentwicklung in der Bevölkerung nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Eine neuere Analyse einiger Güterströme und Transportleistungen im gesamtsowjetischen Eisenbahnnetz verdeutlicht, daß die zentralkazachische, die turkestan-sibirische und die Transaral-Eisenbahn für Massengütertransporte (Kohle, Holz, Getreide) am wichtigsten sind. Der Eisenbahnknoten von Tagkent ist der Hauptzielpunkt, von dem aus die weitere Verteilung vorgenommen wird 53 . Die Anfangsstrecke in Turkmenien ist in eine untergeordnete Randlage geraten. Damit hat sich der "Anzapfungseffekt" 54 , der durch die zentripetalen Hauptstrecken ausgelöst wurde, in beiden Transportrichtungen durchgesetzt.

6 Pionierleistung oder Entwicklungshemmnis? Zum Abschluß soll nochmals die provokante Frage des Beitrages aufgeworfen werden: War der russische Eisenbahnbau in Mittelasien eine Pionierleistung, die eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung einleitete, oder war sie ein Danaergeschenk, dessen Gefährlichkeit wir erst jetzt beim Rückgang des politisches Druckes auf die Region erkennen? Die Antwort muß ein "sowohl - als auch" sein. Die Entwicklung eines modernen Städtewesens, die Ansiedlung von Industriebetrieben, die Einbindung des Baumwollanbaus in die gesamtrussische und gesamtsowjetische Wirtschaft, die darauf zurückgehenden Kompensationsleistungen im sozialen Bereich (so bescheiden sie sich heute auch ausmachen und so sehr sie auch Dependenzen schufen), die soziale Entwicklung, die eine moderne Elite nationaler Prägung entstehen ließ - all dies läßt sich mit dem Eisenbahnbau in Verbindung bringen.

52 Vgl. A. CH. KATAEV u. a. 1991. Dort werden auch Überlegungen fur den Übergang zur Marktwirtschaft angestellt und dabei betont, daß die breitspurige Haupteisenbahn in Staatseigentum verbleiben müsse, während für die schmalspurigen Zulieferstrecken auch private Betreibergesellschaften vorstellbar seien. 53 J. P. COLE 1991. 54 J. STADELBAUER 1973, S 156 f.

87

Jorg Stadelbauer

Das koloniale System hat aber die Ursachen für seinen Zerfall selbst geschaffen. Die Einseitigkeit der Entwicklung beruht auf einer verfehlten wirtschaftspolitischen Bewertung in den frühen dreißiger Jahren und ist damit dem System der zentralverwalteten Sowjetwirtschaft seit Stalin anzulasten. Der Fehler der folgenden Generationen war nicht, daß eine einseitige Ausrichtung auf die Baumwollwirtschaft erfolgt war, sondern daß sie später nicht durch eine wirtschaftliche Diversifizierung überwunden wurde. Es ist versäumt worden, denkbare Folgeeffekte des Bahnbaus systematisch zu fördern und zu nutzen. Als Kolonie im herkömmlichen Sinn mag man Sowjet-Mittelasien dennoch nicht bezeichnen. Zwar ist fraglich, inwieweit die von Wilber 1969 abgeleiteten Wachstumseffekte einer kritischen Überprüfung standhalten, doch ist Mittelasien bis in die jüngste Gegenwart Zielraum einer Art innersowjetischen Finanzausgleiches geblieben. Als regionaler Einkommensausgleich wurden im Staatshaushalt 1990 2.428,5 Mio Rubel, davon 1.712,2 Mio Rubel für Uzbekistan, ausgewiesen, für die Entwicklung der sozialen Infrastruktur waren weitere 2.250 Mio Rubel (Uzbekistan: 1.410 Mio, die anderen drei Republiken jeweils 280 Mio Rubel) vorgesehen, Kirgizien sollte mit 110 Mio Rubel Zuckerpreissubvention bedacht werden 55 . Dies ist zwar nur ein kleiner Teil der insgesamt 489,9 Mrd. umfassenden Ausgabeseite des sowjetischen Staatshaushaltes, aber die genannten Beträge deuten an, daß die Moskauer Zentralregierung zu finanziellen Zugeständnissen an die Peripherie bereit war - sicher aber auch dazu gezwungen wurde. Aber nicht nur die Einseitigkeit, mit der die wirtschaftliche Orientierung auf die Baumwolle im Rahmen einer vermeintlichen großräumigen Arbeitsteilung betrieben wurde, ist heute ein Handicap, das umwelt- und gesundheitsbedrohend geworden ist. Auch die Ausnutzung der zentripetalen Kraft des russischen Eisenbahnwesens macht sich hemmend bemerkbar: Die Vernachlässigung des Transportkostenfaktors (aus ideologischen Gründen, weil "Transport" keine "Produktion" ist und weil die monetäre Bewertung von nichtproduktiven Leistungen gegenüber der Bewertung von Produktion zurückstand) verhinderte, daß die ökonomische Gesetzmäßigkeit komparativer Kosten wirksam wurde. Dabei wurde auch die seit Mitte der 70er Jahre deutlich artikulierte Kritik sowjetischer Autoren an der überkommenen Standortverteilung und insbesondere an der Benachteiligung Mittelasiens mit seinem zunehmenden Arbeitskräftepotential vernachlässigt. Die Netzstruktur der Eisenbahn zwingt die neuen Nachbarn in Mittelasien bei nüchterner Betrachtung zur Zusammenarbeit. Von der Eisenbahn könnte damit heute ein erneuter Impuls für regionale Wirtschaftsintegration in einer mittelasiatischen Wirtschaftsunion ausgehen, so wie die Bahn bereits die wirtschaftliche Integration Mittelasiens im Russischen Reich gefördert hatte.

55 Vgl. Stabilisierung ... 1990, S. 166.

88

Russische Eisenbahnen in Turkestan

Literaturverzeichnis K istorii stroitel'stva eleznych dorog v Srednej Azu (1880-1917 gg.); T. 1-2.- Tagkent 1965, 1970.

ACHMED2ANOVA, Z. K.:

ACHMED2ANOVA, Z. K.: Mie 2e1eznodoro>noe stroitel'stvo v Srednej Azii i Kazachstane (konec XIX - naöalo XX v.).- Tagkent 1984. AFANAS'EVSKI.1, E. A.: Legkaja promyglennose: konomieeskie problemy razmegeenija.Moskva 1976. ALLWORTH, E. A.: The Modern Uzbeks. From the Fourteenth Century to the Present.- Stanford 1990. AMBLER, J.: Factors controlling recent performance on Soviet railways, 1987.- In: J. F. TISMER, J. AMBLER, L. SYMONS, (eds. ): Transport and Economic Development - Soviet Union and Eastern Europe.- Berlin 1987, S. 32-77 (= Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen, 42). AMINOV, A. M., BABACHODUEV, A.CFL: ükonomiöeskie i politiöeskie posledstvija prisoedinenija Srednej Azii k Rossii.- Tagkent 1966. ANNENKOW, M.: Die Achal-Teke-Oase und die Communikationswege nach Indien. - Russische Revue H. 18, 1881, S. 518-541 u. H. 19, S. 30-61. üislennose naselenie Sojuznych respublik (krome RSFSR) po gorodam, posolkanz gorodskogo tipa i rajonam na 1 janvarja 1990 goda.- Moskva 1990. COLE, J. P : The Soviet railroad system. Some comments on traffic and lengths of haut, 1928-1988. - Soviet Geography 32, 1991, S. 106-120. FICK, K.-E.: Die Großstädte in Sowjet-Mittelasien. Entwicklung, Gestalt und Funktion der Siedlungszentren eines kontinentalen Trockenraumes.- In: Wirtschafts- und Kulturräume der außereuropäischen Welt. Festschrift für Albert Kolb. Hamburg 1971, S. 159-197 (= Hamburger Geographische Studien, 24). FRECHTLING, L. E.: The Reuter concession in Persia. - Asian Review, NS. 34, 1938, S. 5185 33 . GIESE, E.: Sovchoz, Kolchoz und persönliche Nebenerwerbswirtschaft in Sowjet-Mittelasien. Eine Analyse der räumlichen Verteilungs- und Verflechtungssysteme.- Münster 1973 (= Westfälische Geographische Studien, 27). GIESE, E.: Transformation of Islamic Cities in Soviet Middle Asia into Socialist Cities. - In: R. A. FRENCH, F. E. I. HAMILTON (eds.): The Socialist City. Spatial structure and urban policy. Chichester 1979, S. 145-165. GLAZOVSKIY, N. F.: Ideas on an escape from the "Aral crisis". - Soviet Geography 32, 1991, S. 73-89. Gudok 27. 11. 1991. HAGGETT, P.: Einführung in die kultur- und sozialgeographische Regionalanalyse.- Berlin, New York 1973. Izvestija

89

Jorg Stadelbauer

KARGER, A.: Historisch-Geographische Wandlungen der Weidewirtschaft in den Trocken-ge-

bieten der Sowjetunion am Beispiel Kazachstans. - In: Weide-Wirtschaft in Trocken-gebieten.- Stuttgart 1965 S. 37-49 (= Gießener Beiträge zur Entwicklungsforschung, Reihe I, Symposien, Band 1). KATAEV, A. Ch., RAUNOV, A. R., ATITAEVA, K. S., RADABOV, Ch. B.: Osnovnye napravlenija razvitija transportnoj sistemy Tad2ikskoj SSR v uslovijach for-mirovanija rynoenoj konomiki. - In: Regional'nye problemy konornieeskogo i social'nogo razvitija. Sbornik dokladov Respublikanskoj naucno-praktieeskoj konferencii molodych ueenych i specialistov. Serija konomieeskaja.- Duganbe 1991, S. 271-283 (hier zitiert nach Referativnyj iurnal, Geografija SSSR 1991, 12 E 242). KULIEV, K.: Opyt stroitel'stva socializma v respublikach Srednej Azii i ego znaeenie dlja razvivajugeichsja stran.- Aschabad 1974. KURBANOV, L. A.: Razvitie konomiki sel'skogo chozjajstva Turkmenskoj SSR.- Agchabad 1975. MEINIG, D. W.: A comparative historical geography of two railnets: Columbia basin and South Australia. - Annals of the Association of American Geographers 52, 1962, S. 3944 13 MERETNIJAZOV, A.: Transportno-aonomieeskie svjazi Turkmenskoj SSR i puti ich sovergenstvovanija. - In: Izvestija Akademii nauk Turkmenskoj SSR, serija obgegestvennych nauk 1969/3, S. 58-62. MicKuN, P.: Touring the Aral. Visit to an ecological disaster zone. - Soviet Geography 32, 1991. S. 90-105. MITINA, M.E.: Imperatorskoe Russkoe Geografieeskoe Obgeestvo i voprosy 2eleznodorolnogo stroitel'stva v 60e - naeale 80-eh godov XIX v. - In: Izvestija Vsesojuznogo Geografieeskogo Obgeestva 123, 1991, S. 360-364. MULLER-WILLE, W. : Stadt und Umland im südlichen Sowjet-Mittelasien.- Wiesbaden 1978 (= Geographische Zeitschrift, Beihefte. Erdkundliches Wissen, 49). Nezavisimaja gazeta 27. 3. 1992. OVEZMURADOV, V.: K osvoeniju celinnych i zale>nych zemel' v zone Karakumskogo kanala. - In: Serskoe chozjajstvo Turkmenistana 6, H. 4, 1962, S. 49-53. PAHLEN, GRAF VON DER: Irll Auftrag des Zaren in Turkestan.- Frankfurt a.M. (o. J.). PAVLENKO, V. F.: Meiotraslevye kompleksy Srednej Azii.- Moskva 1980. PEREPELICYNA, L. A.: Rol' russkoj kul'tury v razvitii kul'tur narodov Srednej Azii.- Moskva 1966. Schema .eleznych dorog Sojuza SSR (1985), Moskva: GUGK. Stabilisierung, Liberalisierung und Kompetenzverlagerung nach unten. Eine Bewertung der wirtschaftlichen Lage und des Reformprozesses in der Sowjetunion. Brüssel 1990 (=Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Europäische Wirtschaft, Nr. 45).

90

Russische Eisenbahnen in Turkestan

Bahnbau und kulturgeographischer Wandel in Turkmenien. Einflüsse der Eisenbahn auf Raumstruktur, Wirtschaftsentwicklung und Verkehrsintegration in einem Grenzgebiet des russischen Machtbereichs.- Berlin 1973 (= Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin, Wirtschaftswissenschaftliche Veröffentlichungen, 34).

STADELBAUER, 1:

ders.: Die wirtschaftliche Regionalentwicklung zwischen dem Amu-darja-Delta und Kazachstan unter dem Einfluß des Eisenbahnbaus. - Erdkunde 28, 1974, S. 282-295. TAAFFE, E. J., MORRILL, R. L., GOULD, P. R.: Transport expansion in underdeveloped countries: A comparative analysis. - In: Geographical Review 53, 1963, S. 503-529. TAAFFE, R.: Rail transportation and the economic development of Soviet Central Asia.- Chicago 1960 (= The University of Chicago, Department of Geography. Research paper, p. 64). Transport i svjaz' SSSR. Statistieesktj sbornik, Moskva 1990. Turksib i chlebooborot Srednej Azii . - In: Sovetskaja torgovlja 1930/1, S. 14-15. WILBER, C. K. : The Soviet Model and Underdeveloped Countries.- Chapel Hill 1969.

91