Roland S. Kamzelak (Hrsg.) KESSLER, DER OSTEN UND DIE LITERATUR

Harry Graf Kessler ist als Mäzen und Förderer der Kunst bekannt. Neben Aristide Maillol und Henry Van de Velde fallen in diesem Zusammenhang auch die ...
Author: Guest
8 downloads 0 Views 742KB Size
Harry Graf Kessler ist als Mäzen und Förderer der Kunst bekannt. Neben Aristide Maillol und Henry Van de Velde fallen in diesem Zusammenhang auch die Namen von Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel. Während über Kesslers Engagement in der Kunst viel publiziert worden ist, bleibt sein Verhältnis zur Literatur bislang beinahe unberücksichtigt. Dabei war er selbst literarisch aktiv: 1896 wurde sein Erstlingswerk »Mein Mexico« veröffentlicht, dann die Libretti des Rosenkavalier und der Josephslegende, schließlich »Gesichter und Zeiten«, seine Memoiren. Sein Drama »Kaliáieff« ist weitgehend unbekannt, obwohl er bereits mit Max Reinhart über eine Aufführung verhandelt und die erste Szene den Schauspielern vorgelesen hat. Durch den Zwang, ins Exil zu gehen, blieb das Drama Fragment. In diesem Band wird es erstmals veröffentlicht, flankiert von hochkarätigen Beiträgen zu seiner Lektüre der emphatischen Moderne, der russischen Literatur, seinem Engagement für den Film und seinem politischen Verhältnis zum Osten überhaupt.

ISBN 978-3-89785-496-3

Roland S. Kamzelak (Hrsg.) · KESSLER, DER OSTEN UND DIE LITERATUR

Roland S. Kamzelak (Hrsg.)

KESSLER, DER OSTEN UND DIE LITERATUR

Kamzelak (Hrsg.) · Kessler, der Osten und die Literatur

Roland S. Kamzelak (Hrsg.)

Kessler, der Osten und die Literatur Mit dem Erstdruck des Dramenfragments Ivan Kaliáieff von Harry Graf Kessler

mentis MÜNSTER

Einbandabbildung: August Macke: Russisches Ballett I (1912)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2015 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 9-783-89785-496-3 (Print) ISBN 9-783-95743-991-8 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

7

Harry Graf Kessler Ivan Kaliáieff 15 Dina Gusejnova Die russophile Fronde Mit Kessler zur bibliografischen Internationale Kay Wolfinger Mit größter Bewunderung . . . Harry Graf Kessler liest Dostojewski

41

67

Roland S. Kamzelak Harry Graf Kessler und die Literatur der emphatischen Moderne 89 Arno Barnert Harry Graf Kessler und der PAN Zur Diskussion um Kunstreligion und Massenkultur Günter Riederer Verborgene Leidenschaften Harry Graf Kessler und das Kino

101

109

Pascal Trees »Müssige Betrachtungen eines Schlachtenbummlers« Harry Graf Kessler an der Ostfront des Ersten Weltkrieges und seine Warschauer Mission 1914/1918 125

6

Inhaltsverzeichnis

Hildegard Dieke/Angelika Kreh Der Nachlass Harry Graf Kessler im Deutschen Literaturarchiv Marbach 149 Dank

161

EINLEITUNG

I. Kessler, der Osten und die Literatur Es ist immer wieder spannend zu lesen, welche Berufsbezeichnungen Harry Graf Kessler in biografischen Notizen zugewiesen werden: Mäzen oder Kunstmäzen, Diplomat, Publizist und gelegentlich Literat sind wohl die häufigsten Zuschreibungen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Bezeichnungen changieren, denn Harry Graf Kessler war zeitlebens ohne festen Beruf. Die einzige Ausnahme bildet das Direktorat im großherzoglichen Museum in Weimar, das er von 1902 bis 1906 ausgefüllt hat. 1 Der durch den Vater mit reichlich Geldmitteln ausgestattete Harry Graf Kessler konnte sich frei entfalten. Am 23. Mai 1868 in Paris geboren, wird er zunächst in Paris, dann im Internat, der St. George’s School in Ascot, und schließlich im Johanneum in Hamburg humanistisch gebildet. 2 Sein Vater, Adolf Kessler (1838–1895), ist Deutscher, seine Mutter Alice (1844–1919) Irin. So ist die Grundkonstellation für Kesslers Europäertum bereits von Anfang an angelegt. Er ist ›native speaker‹ in Französisch, Deutsch und Englisch, beherrscht durch seine Schulausbildung Latein und Griechisch, lernt später etwas Italienisch und Polnisch und in Grundzügen wohl auch ein wenig Russisch. Auf Wunsch des Vaters studiert er zunächst in Bonn, dann in Leipzig Jura, hört jedoch, 1

2

In diese Zeit fällt sein Verdienst, den Neoimpressionismus im konservativen wilhelminischen Deutschland bekannt gemacht zu haben und Henry van de Velde nach Weimar zu vermitteln, wo dieser die Kunstgewerbliche Schule leitete. Über Kesslers Leben gibt es bereits so viele Darstellungen, dass ich mich hier auf wenige, für diesen Band relevante Stichworte beschränken kann. Vgl. Harry Graf Kessler. Tagebuch eines Weltmannes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, bearbeitet von Margot Pehle und Gerhard Schuster, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1988; Peter Grupp, Harry Graf Kessler 1868–1937. Eine Biographie, München: Beck 1995; Laird M. Easton, The Red Count. The Life and Times of Harry Kessler, Berkeley: University of California Press 2002, dt. 2005; Burkhard Stenzel, Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, Wien: Böhlau 1995; Friedrich Rothe, Harry Graf Kessler. Biographie, München: Siedler Verlag 2008.

8

Einleitung

wie es damals üblich war, auch andere Fächer, die ihn sehr interessieren, vor allem Kunst bei Anton Springer und Völkerpsychologie bei Wilhelm Wundt. Er kennt den klassischen Kanon der Literatur und ist durch gezielte Reisen kunsthistorisch gebildet. Den Abschluss seiner formalen Ausbildung bildet seine Reise um die Welt, die ihn nach Amerika, Japan, China, Indien und Ägypten führt. 3 Die Ausbildung zum Gardeoffizier ist der Abschluss der Lehrzeit und der Übergang in das professionelle Leben. Sein Wunsch, in den diplomatischen Dienst treten zu können, wird nicht erfüllt, so dass er sich anderen Aufgaben widmen kann. Zunächst gibt es eine kunsthistorische Phase mit der Leitung des großherzoglichen Museums und seinem Engagement für die Zeitschrift PAN, dann die Militärzeit im Ersten Weltkrieg, die ihm doch den Wunsch nach diplomatischem Dienst erfüllt. So wird er als Propagandaleiter 1916 nach Bern abgeordnet, wo er insbesondere durch Filme 4 ein positives Deutschlandbild erwirken sollte. Schließlich befreit er Józef Piłsudski 5 in offiziöser Mission, führt ihn aus der Haft in Magdeburg nach Polen zurück und wird nach Beendigung des Krieges der erste Gesandte des Deutschen Reiches in Warschau sein. 6 In den Zwanzigerjahren widmet er sich sozialpolitischen Fragen, wird Demokrat und kandidiert sogar für den Reichstag, was ihm den Spitznamen »der rote Graf« einbringt. In dieser Zeit beginnt auch sein Engagement für die Buchgestaltung durch die Einrichtung der Cranach-Presse und damit wieder einer Phase des kunsthistorischen Interesses. Kessler war stets ein Reisender. Er reiste nicht nur durch ganz Europa, sondern er reiste auch durch die Kunstgattungen und die politischen Hochs und Tiefs Europas. Neben seinem sozialen Engagement 7 in Deutschland muss vor allem auch die Beratung des Außenministers Walther Rathenau in der Konferenz in Rapallo genannt werden. Die Forschung hat sich der meisten dieser Themen seit Erscheinen der vollständigen Edition seines Tagebuches 8 angenommen. Seit der Veröffent3

4 5

6

7

8

Siehe Roland S. Kamzelak, Hg., Harry Graf Kesslers Weltreisealbum. Mit einem Essay von Ulrich Pohlmann, edition.eliber.de 2013. S. den Beitrag von Günter Riederer in diesem Band. 1867–1935, poln. Politiker u. Marschall; am 20.2.1919 vom ersten freien poln. Parlament zum Staatspräs. gewählt. S. den Beitrag von Pascal Trees in diesem Band. Nach wenigen Wochen muss er mit der gesamten Botschaftsbelegschaft vor den aufgebrachten Polen fliehen. S. vor allem seinen Essay »Die Kinderhölle in Berlin«. Die Deutsche Nation. Eine Zeitschrift für Politik. Berlin. Jg. 2 (1911) Sonderheft 11 vom November; auch: http: // www.deutscherevolution.de /revolution-1918-224.html (20.9.2014). Harry Graf Kessler, Das Tagebuch 1880–1937, hg. v. Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott, Stuttgart: Cotta 2004–2010. Bislang sind die Bände II bis IX von insgesamt neun Bänden erschienen.

Einleitung

9

lichung der Bände V und VI, die die Zeit zwischen 1914 und 1918 umfassen, ist das Tagebuch auch für Historiker erneut von Interesse. Bislang noch nicht im Zusammenhang dargestellt ist Kesslers Verhältnis zur Literatur und sein Engagement im Osten Europas. 9 Auch als Literat ist Kessler noch nicht systematisch betrachtet worden. Sein letztes Werk ist der erste Teil seiner Memoiren »Gesichter und Zeiten« mit dem Titel »Völker und Vaterländer«. 10 Mehr konnte er leider nicht mehr fertigstellen. Über seinen Anteil an den Libretti zum Rosenkavalier und zur Josephslegende zusammen mit Hugo von Hofmannsthal ist viel geschrieben worden 11, dies muss daher hier nicht noch einmal ausgebreitet werden. Überliefert sind neben seinen theoretischen Essays 12 nur ein Gedicht 13 und ein bislang noch unveröffentlichtes Dramenfragment: Ivan Kaliáieff. Dass Kessler auch in seiner Biografie über Walther Rathenau und in seinem Tagebuch ›dramatisch‹ schreibt, hat Cornelia Blasberg herausgearbeitet 14 und damit Kesslers Befähigung für diese Gattung bescheinigt. Erstmals erscheinen in dem vorliegenden Band deshalb Untersuchungen zu Kesslers Verhältnis zur Literatur in den Gattungen Roman (Dina Gusejnova, Kay Wolfinger und Roland S. Kamzelak) und zum Film (Günter Riederer). Seinem Engagement für die Zeitschrift PAN und damit seiner eigenen essayistischen Aktivität widmet sich ebenfalls ein Beitrag (Arno Barnert). – Wenn Kessler als Europäer bezeichnet wird, denkt man nicht ganz zu Un9

10

11

12 13

14

Teilweise konnten die Forschungslücken in den drei Forschungskonferenzen in der Villa Vigoni am Comer See, die von den Herausgebern 2011 bis 2013 veranstaltet wurde, geschlossen werden: Roland S. Kamzelak, Alexandre Kostka, Ulrich Ott und Luca Renzi, Hgg., Grenzenlose Moderne. Begegnungen der Kulturen, Münster: mentis 2014. Harry Graf Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen. Bd. 1: Völker und Vaterländer, Berlin: S. Fischer 1935; neu erschienen in: ders., Gesammelte Schriften in drei Bänden, hg. von Cornelia Blasberg u. Gerhard Schuster, Frankfurt a. M.: Fischer 1998. [Bd. 1. Gesichter und Zeiten: Erinnerungen; Notizen über Mexiko. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Gerhard Schuster. – Bd. 2. Künstler und Nationen: Aufsätze und Reden 1899–1933. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg und Gerhard Schuster. – Bd. 3. Walther Rathenau: Sein Leben und sein Werk. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg.] S. umfassend Michael Reynolds, The Genesis of ›Der Rosenkavalier‹ – a Three-way Collaboration between Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal and Count Harry Kessler [Dissertation, Mai 2008]. S. Kessler, Gesammelte Schriften, Bd. 2. Das Gedicht, das er im Alter von dreizehn Jahren auf Französisch im Internat in Ascot verfasst, schickt er an seinen Vater nach Paris: Eine alte Eiche, die, nachdem sie jahrhundertelang allen Stürmen getrotzt hat, muss den Blick freigeben, wodurch Vögel, Spinnen und Millionen von Insekten, für die ein Blatt der Eiche das Universum ist, ihr Refugium verlieren. Cornelia Blasberg, Biografie als Projekt. Harry Graf Kessler und Walther Rathenau, in: Kamzelak et. al., Grenzenlose Moderne, S. 59–74. S. a. Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Berlin: Hermann Klemm 1928.

10

Einleitung

recht an Westeuropa. 15 Es wird aber überraschen, dass Polen an fünfter Stelle aller Länder rangiert, in denen Kessler sich aufgehalten hat. Die Ukraine steht an siebter Stelle. Kesslers Osten in den Blick zu nehmen, war also höchste Zeit (Pascal Trees). 16 – Die Beschreibung des Nachlasses von Harry Graf Kessler (Hildegard Dieke und Angelika Kreh) soll weitere Forschung zu Kessler auch jenseits der Kunstgeschichte anregen. Noch lange sind nicht alle Themen ausgeschöpft.

II. Ivan Kaliáieff. Zum Manuskript und zur Edition Im Nachlass von Harry Graf Kessler im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet sich das Manuskript- und Typoskriptkonvolut von Kaliáieff 17 in fünf Mappen. In einer Rohfassung fertiggestellt sind Akt I, Szene 1, Akt I, Szene 2 und Akt II, Szene 1. Neben einer jeweils ersten handschriftlichen Fassung folgen maschinenschriftliche Abschriften mit handschriftlichen Korrekturen Kesslers. In der Regel ist jede Szene von Anfang bis Ende neu abgeschrieben, gelegentlich gibt es einzelne Seiten, die mehrfach vorhanden sind. Die Seiten enthalten keine Datierungen und die Ordnung der Mappen entspricht nicht gesichert der Ordnung Kesslers. Zu erkennen ist, dass bei der Bearbeitung einer neuen Szene auch jeweils in den früheren Szenen nachgebessert wurde. Zu Akt I, Szene 1 gibt es 6 Fassungen mit insgesamt 62 Blättern, zu Akt I, Szene 2 gibt es 14 Fassungen mit insgesamt 131 Blättern und zu Akt II, Szene 1 gibt es 11 Fassungen mit insgesamt 33 Blättern. Von keiner Szene gibt es eine abgeschlossene, autorisierte Fassung. Die erste Erwähnung der Arbeit an dem Manuskript findet sich am 9. Januar 1932 im Tagebuch von Harry Graf Kessler: »Um Material für mein Kaliajew Drama zu sammeln mit Schiffrin nach einer russischen Lesehalle Ecke der rue du Val de Grâce und rue Nicole (Bibliothèque Turgenieff).« 18 Zufällig trifft er dort auf den russischen Revolutionär Burtzeff, »den Entlarver von Azef«, den er sogleich kennenlernen will, um ihn über den Stoff zu 15

16

17

18

Vgl. Roland S. Kamzelak, Was verrät Harry Graf Kesslers Itinerar über sein Europäertum? Analyse und Visualisierung eines statistischen Befundes, in: Kamzelak et. al. Grenzenlose Moderne, S. 123–133. In diesem Zusammenhang soll auf eine Parallelerscheinung mit umgekehrter Richtung hingewiesen werden: Antoni Graf Sobanski beschreibt das Deutschland der 1930er Jahre aus der Sicht Polens. Sobanski hatte – wie Kessler – auch in schwierigen Zeiten noch Zugang zu einflussreichen deutschen Kreisen. Vgl. Antoni Graf Sobanski, Nachrichten aus Berlin. 1933–1936, Reinbek bei Hamburg: rowohlt 2009. Die Schreibweise russischer Namen variiert auch innerhalb anderer Sprachen sehr stark. Kaljajew, Kaliaev, Kaliajew. Kaliáieff usw. Kessler, Tagebuch, 9.1.1932.

Einleitung

11

befragen, wofür dieser gegen ein entsprechendes Honorar auch bereitwillig zur Verfügung steht. Woher Kessler die Idee zu diesem Drama hatte, ist unbekannt. Am einleuchtendsten ist die Vermutung von Tamara Barzantny, die letztlich persönliche Verflechtungen nachweisen kann: Höchstwahrscheinlich geschah es durch die Lektüre der englischen oder französischen Ausgabe eines jüngst erschienenen Memoirenbandes von Großfürstin Maria, die fünfzehn Jahre alt war, als das Attentat auf ihren Vormund, Großfürst Sergej, verübt wurde. Daß Kessler diese Lebenserinnerungen kannte, ist nicht nur einem Brief an seine Schwester Wilma zu entnehmen. Diese Kenntnis läßt sich auch anhand einiger Details nachweisen, die Kessler dem Buch entnommen und in seinem Dramentext verarbeitet hat. Sein Interesse an diesem Stoff war zudem, wie so oft, auch persönlich motiviert: Die Gattin des Terroropfers, Großfürstin Elisabeth, war nicht nur die Schwester der Zarin Alexandra, sondern auch die Schwester von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, dem Schöpfer der Darmstädter Künstlerkolonie und einstigen Kommilitonen Kesslers. 19

Am 24. Februar 1932 notiert Kessler im Tagebuch: »3 Wochen in Pontresina bei strahlend schönem Wetter. Im Hotel Roseg (gut. 17 frcs Pension) Die erste Szene des erstes Aktes meines Stücks geschrieben. Viel Sorgen (materieller Art).« 20 Im März ist er bereits mit der zweiten Szene und damit dem ersten Akt fertig 21 und denkt über den Fortgang des Dramas nach: Paris. 18 März 1932. Freitag Nach Beendung des ersten Aktes Unterredung zwischen Grossfürstin und Kaliáieff im II Akt durchgedacht. Gespräch von zwei Menschen, die vor dem Nichts stehen, vor dem Ende, oder richtiger vor Etwas ganz Neuem, nur mystisch Vorstellbaren. Zwei Menschen, die Nichts mehr zu verlieren haben und aus diesem Nichts und diesem Mystischen heraus einander näherkommen, zu einander schweben durch eine Art magnetischer Attraktion. Beimischung einer transponierten, sublimierten Erotik. – Die Grossfürstin sucht im Mörder einen Halt, den sie im Ermordeten verloren, vielleicht nie gehabt hat. (Gertrud, Hamlets Mutter u. der König). Die Grossfürstin hegt unterbewusst für Kaliáieff eine Zuneigung (vielleicht weil er sie befreit hat; Kaliaieff selbst meint, weil er sie geschont hat). Vielleicht fühlt sie zum ersten Mal einen Mann, der ihren Eros, den mystischen, befriedigen könnte. Inhalt und Gegenstand des Gesprächs daher die letzten Dinge, oder was für sie die letzten Dinge sind, der nackte Rest, der übrig bleibt, wenn Alles das Alltägliche, Zufällige, Vergängliche des Lebens fortgefallen ist. Zwei Seelen, die ihren letzten Grund vor einander aufbrechen; zwei von Allem blos Zufälligen völlig entblösste Seelen, 19

20 21

Tamara Barzantny, Harry Graf Kessler und das Theater. Autor-Mäzen-Initiator 1900–1933, Köln, Weimar: Böhlau 2002, S. 258f. Kessler, Tagebuch, 24.2.1932. Vgl. Kessler, Tagebuch, 15.5.1932.

12

Einleitung die einander suchen; zwei Seelen vor Gott, wie am Jüngsten Gericht. Die letzte Verzweiflung (Grossfürstin) und der letzte Triumph (Kaliáieff) treten einander gegenüber. Sowohl Jener wie Diese haben aus ihrer Seele Alles, was blos zufällig, blos zeitlich, blos historisch ist, ausgelöscht, tabula rasa gemacht. Auch keine Ideologie mehr; nur noch Mystik, Mystik und Reinmenschliches, das Reinmenschliche zur Mystik, die Mystik zum Reinmenschlichen sublimiert. – Vor diesem letzten Nichts verschiebt sich die Rangordnung der Werte; alle Werte ordnen sich anders als im alltäglichen Leben, vor alltäglichen Zielen. 22

Im Mai bespricht er die Szene mit Max Reinhardt, der ihm weiteres Material nennt. 23 Mit Reinhardt verabredet er schließlich im November 1932 sogar die Aufführung des Stückes. Reinhardt schlägt für die Rolle der Großfürstin die Schauspielerin Helene Thimig 24 vor, und wenig später liest er dem Theaterintendanten und Thimig das bisher vorliegende Stück vor. Im November 1933 erhält er Nachricht, dass sein Drama in der Saison 1934/35 in Wien uraufgeführt werden könnte. Soweit kommt es jedoch nicht, da Kessler kurz danach ins Exil gezwungen wird und nicht mehr an dem Drama arbeitet. Es bleibt Fragment. Ivan Platonowicz Kaljajew wurde am 6. Juli 1877 in Warschau geboren. Er gilt als russischer Dichter, Terrorist und Mitglied der Sozialrevolutionäre. Er studierte ab 1897 Geschichte und Jura in St. Petersburg, wurde jedoch wegen seiner Beteiligung an Studentenprotesten für drei Monate ins Gefängnis geworfen und von der Universität relegiert. Rund ein Jahr später, am 17. Februar 1905, verübte er ein tödliches Attentat auf den Moskauer Großfürsten und Bruder des Zaren Nikolaus II., Sergej Alexandrowitsch Romanow. Zwar war das Attentat auf den 15. Februar geplant gewesen, doch führte Kaljajew es an diesem Tag nicht aus, da er die Frau des Großfürsten, Elisabeth von Hessen-Darmstadt, mit zwei Kindern in der Kutsche des Großfürsten sah. Diese moralische Schranke in Kaljajew brachte ihm weitreichende Bewunderung und Berühmtheit auch außerhalb der terroristischen Kreise ein. Und die Großfürstin besuchte ihn nach seiner Verhaftung im Gefängnis, um ihn davon zu überzeugen, Reue zu zeigen. Kaljajew lehnt jedoch jede Begnadigung ab und akzeptiert erhobenen Hauptes die Todesstrafe. Er stirbt 1905 an Kesslers Geburtstag, dem 23. Mai, durch den Strang. 25 22 23 24 25

Kessler, Tagebuch, 18.3.1932. Kessler, Tagebuch, 15.5.1932. 1889–1974. 1935 wird Helene Thimig die zweite Ehefrau von Max Reinhardt. Vgl. Boris Savinkov: Erinnerungen eines Terroristen. Aus dem Russischen übers. v. Arkadi Maslow. Revidiert und ergänzt von Barbara Conrad. Mit einem Vor- und Nachbericht von Hans Magnus Enzensberger, Nördlingen: Franz Greno 1985; Hans Magnus Enzensberger, Träumer des Absoluten, in: Albert Camus, Die Gerechten (Les Justes), Stuttgart: Württembergisches Staatstheater Stuttgart. Schauspiel 1976 (Programmbuch 18), S. 135–143.

Einleitung

13

Kessler greift den Stoff auf, beschreibt in der ersten Szene des ersten Aktes die Zusammenkunft der Terroristen nach dem missglückten ersten Versuch, Sergej zu ermorden. Sie diskutieren, ob Kaliáieff verständlich gehandelt hat oder feige und verabreden einen zweiten Versuch. – In der zweiten Szene wird der Großfürst in verschiedenen Facetten vorgestellt: Als herzloser Machthaber im Umgang mit seiner Garde, als (eifersüchtiger) Ehemann im Gespräch mit seiner Frau Elisabeth, als Gebildeter und Förderer der Kultur und schließlich als eigensinniger Tyrann, der sehenden Auges in sein Verderben rennt. Das geglückte Attentat erlebt der Zuschauer in der Mauerschau aus der Sicht der Großfürstin. – Der zweite Akt beginnt mit der Inhaftierung Kaliáieffs und führt direkt zum Besuch der Großfürstin, die – getrieben durch zwei sich widersprechende Gefühle – die Hände des Mörders ihres Mannes küssen möchte. Hier bricht die Bearbeitung Kesslers ab. Interessant und für Kessler nicht überraschend ist die genaue Darstellung des Settings in den Bühnenanweisungen, die das Drama in die Zeit der Jahrhundertwende situiert. Die Beschreibung der Einrichtung, der Uniformen und der Kleider der Großfürstin beweisen den kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen Blick Harry Graf Kesslers. Auch der Rückbezug auf die römische Kultur, dargestellt an der Ausgrabung einer römischen Jünglingsfigur 26, die der Professor dem Großfürsten übergibt, fehlt nicht. Der Stoff wurde auch von Albert Camus aufgegriffen. Sein Stück »Les Justes«, die Gerechten, wurde 1949 uraufgeführt. 27 Ob Camus die Manuskripte Kesslers kannte, bleibt zu bezweifeln. Der wesentliche Unterschied zwischen den Stücken besteht darin, dass Kessler eine Szene ›Großfürstin und Großfürst‹ (Akt I, Szene 2) einbaut. In dieser Szene stellt er dar, was die Terroristen zum Attentat auf den Schreckensherrscher von Moskau motivierte, der die Herrschaft des Zarenhauses durch Niedermetzeln der Arbeiter zu zementieren versucht. Gleichzeitig führt er aus, was die Großfürstin dazu bewegte, Kaliáieff im Gefängnis zu besuchen. Der in dieser Veröffentlichung gebotene Erstdruck des Kesslerschen Dramas stellt eine Lesefassung mit dem letzten zu erkennenden Stand dar. Da die Manuskripte nicht abgeschlossen sind, schwanken Interpunktion und Schreibweise von Namen erheblich. Sie wurden für diese Fassung vereinheitlicht. Zugrunde gelegt wurde die jeweils letzte maschinenschriftliche Fassung einer Szene. Handschriftliche Korrekturen in Kesslers Hand wurden umgesetzt (Streichungen und Ersetzungen). Es gibt einige wenige Stellen mit Anmerkungen Kesslers, die auf eine weitere Revisionsbedürftigkeit dieser 26

27

Die erwähnte Figur erinnert sehr an die von Kessler bei Aristide Maillol in Auftrag gegebene Figur »Le Cycliste« von 1907/1908. Albert Camus, Die Gerechten (Les Justes), Stuttgart: Württembergisches Staatstheater Stuttgart. Schauspiel 1976 (Programmbuch 18).

14

Einleitung

Stellen hinweisen, aber nicht mehr ausgeführt wurden. Da bei Kessler noch keine abschließende Form festgelegt wurde, wurde beim Layout eine für das Drama übliche Form gewählt. Bühnenanweisungen stehen bei Kessler meistens in Klammern, hier sind sie konsequent kursiv gesetzt. Die Klammern entfallen und die Interpunktion ist angepasst. Hinweis: Das Drama »Kaliáieff« kann unter der ISBN 978-3-95743-924-6 als separates E-Book erworben werden, z. B. unter www.libreka.de.

Suggest Documents