Robin Schmidt. Rudolf Steiner Skizze seines Lebens VERLAG AM GOETHEANUM

Robin Schmidt Rudolf Steiner Skizze seines Lebens VERLAG AM GOETHEANUM © copyright 2011 Verlag am Goetheanum Alle Rechte vorbehalten heimat 1 se...
Author: Edmund Meissner
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Robin Schmidt Rudolf Steiner Skizze seines Lebens

VERLAG AM GOETHEANUM

© copyright 2011 Verlag am Goetheanum Alle Rechte vorbehalten

heimat

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seite 5

glück

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satz Philipp Tok Gesetzt in der St Marie von Sascha Timplan und umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung von Emil Orlik von 1916 Rudolf Steiner Archiv

seite 17

spiel

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seite 33

fotografien Robin Schmidt Dokumentation am Goetheanum Rudolf Steiner Archiv lektorat Jonas von der Gathen druck und bindung Nomos, Sinzheim isbn 978-3-7235-1423-8

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initiation seite 51

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anthroposophie seite 71

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goetheanum seite 89

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mysterien seite 107

lebensübersicht seite 121

heimat

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‹ Bahnhof Pottschach, Oktober 2009

~ Heimat haben heißt wissen, wer man ist. Heimat ist

Ausgangspunkt eigener Lebensentwürfe. Und auch im Spiegel meiner Mitmenschen erhalte ich Identität, wenn fassbar wird, an welchen Bäumen oder Straßen ich gespielt habe, was meine Muttersprache ist, was mein Beruf ist, in welcher Zeit ich aufgewachsen bin. Wem Heimat fehlt, dem steht all das in Frage. Nicht, dass ihm all das nicht angetragen wäre, doch fehlt ihm die Möglichkeit zu sagen: ich bin das. Der Heimatlose bleibt ein Fremdling, ganz gleich wohin er geht, für andere sowie für sich selbst. So gleicht er in jedem Augenblick seines Lebens einem Reisenden.

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Rudolf Steiner war ein Heimatloser. Er lebte wie ein

Jäger und zehn Jahre im Dienst eines Grafen in Niederös-

Reisender und seine Lebensschauplätze nehmen sich

terreich gewesen. Doch verbot diese Stellung eine Heirat,

aus wie Stationen. Stationen, an denen er mehr oder

sonst hätte der Graf für eine entstehende Familie auf-

weniger aus dem Koffer lebte, umpackte, weiterreiste.

kommen müssen. Daher war Johann Steiner vor die Wahl

Tatsächlich hat er nie – außer in seiner Jugend einmal –

gestellt, als er um die Hand der Franziska Blie anhielt:

lange an einem Ort gewohnt. Ein einziger Versuch, sich

vor die Wahl einer sicheren Stellung als Junggeselle oder

bürgerlich niederzulassen, war innert kürzester Zeit

einer Ehe in beruflicher Ungewissheit. Sie entschieden

zu Ende. In seiner zweiten Lebenshälfte war er dann

sich für die Liebe. Er lernte Telegraphie und wurde mit

permanent auf Reisen, fast immer mit der Eisenbahn.

seiner nun schwangeren Frau, 300 Kilometer von ihrer

Vieles in seinem Leben erscheint daher wie ein aufge-

niederösterreichischen Heimat entfernt – dort, wo heute

schlagenes Zelt, eingerichtet auf Zeit, für eine bestimmte

die Grenzen von Ungarn, Kroatien und Slowenien anei-

Aufgabe, für eine spezifische Konstellation und Situa-

nanderstoßen –, als Stationswärter eingesetzt. Das hieß

tion, einmalig, unnachahmlich. Auch sein Werk trägt

für ihn drei Tage und Nächte durchgehend Dienst, dann

diesen nomadischen Zug: so weit vollendet, wie es die

Ablösung für vierundzwanzig Stunden, hieß ärmliche

Zeit und die Umstände erlaubt haben, so weit geführt,

Lebensverhältnisse, keine Einbindung in der Dorfbevöl-

wie es im jeweiligen Zusammenhang Sinn gemacht hat.

kerung, Fremde. Es erlaubte dem freigeistig Eingestellten

Der größte Teil ist daher Fragment geblieben. Und die

aber auch, seine eigene Sache zu machen, sich aus der

wenigen Werke, die er fertiggestellt hat, seine Schrif-

Abhängigkeit vom Adel zu emanzipieren und die Kirche

ten, hat er bei jeder Gelegenheit gründlich ergänzt und

Kirche sein zu lassen. Und Eisenbahn und Telegraphie

umgeschrieben. Sein Werk, die Anthroposophie – die so

bedeuteten damals: neueste Technik, Fortschritt, Teilhabe

viel von Ewigkeit und Wesen im Menschen handelt – ist

am modernen, aufgeklärten Leben, Zukunftshoffnung.

eingeschrieben in Situation und Prozess. Rudolf Steiner wird am 27. Februar 1861 im Stationshaus

~ Ein Fremdling, wie ein Reisender, ist immerzu wach und empfindlich. Er kann über alles staunen. Wer auf Reisen

des kleinen Durchgangsbahnhofs von Kraljevec geboren.

ist, der kann sich von der Schönheit eines einfachen Land-

Am Bahnhof geboren – dem Obdach der Reisenden. Die

schaftsstriches berühren lassen, ihn beeindrucken die Ge-

Eltern waren hier Fremde. Der Vater, Anfang 30, war

rüche fremder Orte, er wundert sich über neue Gefühls-

gerade Stationswärter bei der österreichischen Südbahn

tonlagen angesichts unbekannter Menschen. Die Welt

geworden und in Kraljevec eingesetzt. Eigentlich war er

erscheint ihm im Glanz des Rätselhaften, er befragt sein

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Leben im Spiegel des Fremden. Er muss dabei das Maß

Rudolf Steiner im Sommer mit den Eltern Beeren im Wald

von Fremde und Vertrautheit sorgfältig dosieren. Bestän-

sammeln, am nahegelegenen Brunnen Wasser holen,

dig Selbst-Infragestellung an Selbstgewissheit, Fremdheit

im Dorfladen einkaufen. Gleich neben dem Bahnhof:

an Heimat wägen, denn sonst löscht er sich selbst am

eine moderne Baumwollfabrik, deren Rohmaterialien

Fremden aus oder aber er bleibt unempfänglich und erlebt

auf dem Bahnhof angeliefert und als fertige Stoffe ab-

nur sich selbst. Wenn aber die Waage für einen Moment

transportiert werden. Wie mochte es wohl im Innern

unentschieden schwebt, entsteht ein glücklicher Moment

der Fabrik aussehen, was darin vorgehen? Unmittelbar

der Leere, in der sich der Reisende neu gebären kann.

~

angrenzend war das einfache Dorfleben, traditionell, so

Die Geburt war nicht leicht gewesen. Die Eltern bang-

die Kirche, die einfachen Häuser mit ihren Gärten, das

ten um das Leben des Säuglings: Rudolf Joseph Lorenz

Kleinvieh, staubige Straßen. Im Hintergrund die hand-

Steiner wurde notgetauft. Eine etwas schwächliche,

bestellten Äcker und Wälder, in der Ferne die Ausläufer

blässliche Konstitution behielt er zeit seines Lebens. Die

der Alpen, deren Gipfel bis weit in den Sommer hinein

Mutter musste den schreienden Säugling viel ums Haus

schneebedeckt herüberglänzten.

tragen, um ihn zu beruhigen. Eineinhalb Jahre später wird der Vater nach Mödling unweit von Wien versetzt, dann nach Pottschach, einem kleinen Dorf 25 Kilometer südwestlich von Wiener Neustadt, wo er Stationsvorsteher wird. Den Eltern wurde die Fremde überall Schwermut, sie zogen gleich nach der Pensionierung des Vaters in ihre Heimat nach Niederösterreich zurück. Rudolf Steiner aber blieb ein Fremder, überall, und so erlebt er schon seine ersten bewussten Lebensjahre am Bahnhof: staunend, rätselnd, wundernd, überwach, empfindlich.

wie es seit Jahrhunderten abgelaufen war. Im Zentrum

~ Der Reisende auf Zeit, der Tourist, genießt es, sich für die Dauer der Reise neu zu erfinden, um dann zur Normalität heimzukehren. Wem die Heimat jedoch fehlt, der muss zusehen, dass er mit dem Rätsel als Lebensform zurechtkommt: denn er hat keinen Ort in Raum und Zeit, an den er zurück kann. Denn Heimatlosigkeit ist nicht Nostalgie. Nostalgie verleiht Selbstgefühl an farbigen Erinnerungsbildern, während Heimatlosigkeit sich in Schwärze richtet, in der allenfalls die Sterne trösten.

~

Da waren die neuesten technischen Apparaturen, die

Als Rudolf Steiner sieben Jahre alt ist, hat er ein erschüt-

zum Bahnhofsbetrieb gehören: elektrische Leitungen,

terndes Erlebnis. Im Wartesaal des Bahnhofsgebäudes

schwere Dampflokomotiven, Weichenstellanlagen, Te-

sitzend erlebt er in inneren Bildern den Suizid seiner

legraphieapparate. In unbeschwerter Freude sieht man

Tante mit. Sie erscheint ihm als Gestalt, die in den Ofen

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des Wartesaals hereingeht, sich flehend und bittend an

Freilich war diese Welt für das Kind normal. Die Maß-

den Jungen wendet und verbrennt. Als er dies seinen

stäbe Anderer begann es erst später zu empfinden. Erst

Eltern erzählen möchte, bekommt er zu hören: Du bist

im entstehenden Gegensatz zu Anderen bildet sich die

a dumma Bua! Einige Tage später erfahren die Eltern

Empfindung von Fremdheit. Hier, während der ersten

brieflich von dem Tod; die Mutter weint tagelang um ihre

Kindheitszeit, gibt es nur wenig Gegensatz, er liegt noch

Schwester, mit dem Jungen wird erst Jahre später darü-

unter dem Schleier der Selbstverständlichkeit, mit der

ber gesprochen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt er einen

Kindesaugen die Welt einverleiben. Das Lebensgefühl

stillen Umgang mit seinem Innenleben. Und zugleich

der Eltern als Fremde im Dorf – arm, aber frei; der Ge-

eröffnet sich ihm in inneren Bildern die Seele der Natur.

gensatz von zauberhafter Natur und moderner Technik

Im Durchstreifen von Wald und Wiesen lauscht er nun

und die sich bildende Kluft zwischen der Liebe seiner

Geheimnissen, von denen auch die Märchen erzählen.

Eltern und seinen ihnen unzugänglichen Geheimnissen

Und er beginnt zu unterscheiden zwischen Dingen, die

sind ihm das Normale. Das Leben am Bahnhof wird sich

man sieht, und solchen, die man nicht sieht. Und daran

tief eingeschrieben haben: Menschen kommen und

lernt er zu schweigen.

gehen, bringen und holen wieder ab. Man sieht immer

Hier in Pottschach werden auch seine beiden Geschwister Leopoldine und Gustav geboren. Gustav ist gehörlos und bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Im Oktober 1867 kommt der kleine Rudl – wie ihn die Eltern nannten – auf die Dorfschule. Doch interessiert ihn der Stoff nur wenig. Weil ihn der Lehrer ungerechtfertigt für einen Streich bestrafen will, nimmt ihn der Vater aus der

nur Ausschnitte von Ganzheiten. Von klein auf hatte er vor Augen: die parallelen Schienengeraden, die in beide Richtungen ins Unbekannte führen. Von dorther kommen Menschen, dorthin gehen Menschen. Den Reisenden führen sie an sein Ziel. Der Heimatlose hat kein Ziel. Ihm ist aufgegeben, von dorther zu leben, wo die Parallelen sich schneiden.

Schule und unterrichtet ihn fortan selbst. So sitzt der Junge viel neben seinem Vater, während dieser arbeitet. Gutmütig und milde soll der Vater gewesen sein. Anstatt ordentlich schreiben zu lernen, experimentiert der Junge lieber mit den Schreibgeräten – wie weit sich wohl ein Messer in den Spalt einer Schreibfeder treiben lässt, ohne dass die Feder reißt? – Der Vater lässt ihn gewähren.

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