gesundheit Bis zu 80 Patienten am Tag schleusen Ärzte durch ihre Praxen. Diagnosefehler sind da fast vorprogrammiert

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Diffuse Schmerzen, monatelang Beschwerden, doch kein Arzt kann einem helfen. Daran verzweifeln jedes Jahr Tausende Deutsche. Denn jede siebte gestellte Diagnose ist falsch. Hier berichten Frauen von ihrer Odyssee durch die Wartezimmer. Plus: Mediziner sagen, wie wir schneller herausfinden können, was uns wirklich fehlt Text: Bernhard Hobelsberger

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Foto: getty images

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„Die Regelschmerzen waren so heftig, dass ich nicht mehr gehen konnte“ Erst 2012 erfuhr Yvonne Müller, 23, den wahren Grund für ihre Beschwerden: Die Fremdsprachenkorrespondentin kämpft mit Endometriose.

Die Sat.1-Moderatorin Vanessa Blumhagen, 36, litt jahrelang unerkannt an einer Erkrankung, die ihre Schilddrüse zerstörte.

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ndlich die Bestätigung! Endlich die Gewissheit, dass ich mir den ganzen Wahnsinn nicht eingebildet hatte! Ich war unfassbar erleichtert, als ich nach drei Jahren erfuhr, was hinter meiner ausbleibenden Regel, den tauben Fingern und der bleiernen Müdigkeit steckte. Und vor allem hinter den mysteriösen Kilos, die sich trotz Sport und gesunder Ernährung ansammelten – 28 Pfund allein innerhalb eines Jahres. Die Lösung des Rätsels lautete: HashimotoThyreoiditis. Bei dieser Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem die Schilddrüse an, also eine der Steuerzentralen des ganzen Körpers. Das erklärte, warum mein Organismus an allen Ecken verrückt spielte. Und die Ärzte erfolglos nach allen möglichen Erkrankungen forschten: von Rheuma über multiple Sklerose und Borreliose bis hin zum Gehirntumor. Einmal meinte ein Neurologe mitleidsvoll zu mir: „Hören Sie auf, nach etwas zu suchen, was nicht da ist. Sie sind absolut gesund!“ Mir schossen vor Wut die Tränen in die Augen. Selbst mein Hausarzt, der immer wieder Bücher gewälzt, Kollegen befragt und im Internet recherchiert hatte, tippte irgendwann auf eine psychische Erkrankung. Dabei wusste ich zu hundert Prozent, dass das nicht stimmte. Irgendwann verschrieb mir ein Spezialist Schilddrüsenhormone. Und damit fühlte ich mich zum ersten Mal wacher und frischer. Endlich die richtige Spur! Kurz darauf gab mir ein Freund den Tipp, an eine Autoimmunerkrankung

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it der allerersten Regelblutung, mit 13 Jahren, ging es bei mir los. Kaum setzte meine Periode ein, krümmte ich mich vor Bauchkrämpfen. Ich blieb von der Schule zu Hause, schluckte Schmerztabletten. Dennoch dachte ich mir anfangs nicht viel dabei. Schließlich erging es meiner Mutter in ihrer Jugend ebenso. Außerdem wusste ich ja nicht, wie viel man als Frau aushalten muss. Mit 16 oder 17 Jahren allerdings nahmen die Regelschmerzen noch einmal stark zu – ohne Tabletten wäre ich ohnmächtig geworden. Zeitweise kamen jetzt noch weitere Beschwerden dazu – mal stach es beim Wasserlassen extrem im Unterleib, mal hielt die Periodenblutung wochenlang an. Beinahe jeder Arzt stellte eine andere Diagnose: von Eierstockentzündung und Verdacht auf Nierensteine über Ärger mit dem Blinddarm bis hin zu Harnwegsinfektionen. Ständig nahm ich Antibiotika. Vorübergehend wurden die Beschwerden etwas weniger; doch sie kamen jedes Mal wieder. Vergangenes Jahr wurde es so schlimm, dass ich nicht mehr gehen konnte. Nun erst machten die Ärzte eine Bauchspiegelung – und entdeckten, dass ich an Endometriose leide. Bei dieser Krankheit, mit der viele Frauen kämpfen, siedelt sich Gebärmutterschleimhaut an Stellen an, wo sie nicht hingehört. Bei mir war das an den Eierstöcken, am Blasendach und außen an der Gebärmutter. Man braucht als Arzt viel Erfahrung, um solche SchleimhautAbsiedelungen erkennen zu können: Sie platzieren sich im Bauchraum an Stellen, wo man sie im Ultraschall kaum erkennt. Das habe ich am Endometriose-Zentrum der Universität Münster erfahren, das ich nach meiner Diagnose aufsuchte. Im März wurde ich dort operiert, man hat die Endometrioseherde bis zum Darm entfernt. Nun hoffe ich, dass ich das Schlimmste überstanden habe. Ich kenne nämlich auch Frauen mit Endometriose, die bis zu zehnmal operiert wurden.

zu denken. Zusammen mit meinem Hausarzt ging ich noch einmal die Blutwerte der letzten drei Jahre durch, eine Internistin checkte die Schilddrüse gründlich per Ultraschall – die Befunde deckten sich, der Fall war endlich gelöst. Um anderen HashimotoBetroffenen zu helfen, habe ich meine Erfahrung kürzlich in einem Buch verarbeitet. Dessen Titel beschreibt, wie ich mich lange Zeit gefühlt habe: „Jeden Tag wurde ich dicker und müder“.

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porträtfotos: oliver reetz (1)

„Mir war zum Sterben elend. Doch die Ärzte meinten, es sei psychisch“

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„Meine Verdauungsprobleme wurden immer schlimmer. Die Ärzte entfernten sogar meinen Blinddarm – dabei war der nicht schuld“

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Seit ihrer Kindheit kämpfte Tanja Gruber, 35, mit Bauchschmerzen und Infekten. Erst als sie zu einem Fall für den Notarzt wurde, kam man ihrer Erkrankung auf die Spur. Dabei leidet die Industriekauffrau an einer weit verbreiteten Nahrungsmittelunverträglichkeit.

s klingt skurril: Als Tochter eines Müllermeisters kann ich kein Weizenmehl essen, ohne dass mein Darm verrückt spielt. Zöliakie nennt sich diese Krankheit – aber das weiß ich erst heute. Elf Jahre lang konnte kein Arzt sagen, was mir fehlt. Die Symptome zeigten sich schon vor der Pubertät. Unerklärliche Bauchschmerzen plagten mich ebenso wie Durchfälle, Übelkeit und Infekte. Von Jahr zu Jahr wurden die Beschwerden heftiger. Ab 14 lief ich ständig zu Ärzten, lag mehrmals im Krankenhaus. Bei einem dieser Klinikaufenthalte entfernte ein Chirurg sogar meinen Blinddarm, weil man glaubte, er stecke hinter den Beschwerden. Doch nichts half, die Bauchschmerzen blieben. Ebenso wie eine unvorstellbare Müdigkeit. Ich schlief zehn bis zwölf Stunden pro Nacht und fiel nach dem Aufwachen trotzdem als Erstes aufs Sofa. Mit 20 riet man mir, ich solle mich psychiatrisch behandeln lassen. Weil ich vermutete, dass die Beschwerden mit meiner

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Ernährung zusammenhingen, kaute ich zeitweise nur auf trockenem Brot herum. Eine fatale Entscheidung! Denn ausgerechnet das Klebereiweiß Gluten aus dem Getreide war der Übeltäter, der in meinem Körper die allergieähnlichen Symptome auslöste. Als es eines Morgens kaum mehr auszuhalten war, fuhr mich meine Mutter zum Notarzt. Der diensthabende Mediziner vereinbarte eine Biopsie, also eine Gewebeentnahme aus dem Dünndarm. Das Ergebnis war eindeutig. Und die Therapieempfehlung war es auch: Normales Mehl war fortan gestrichen. Pizza, Brötchen, Kuchen und etliches mehr flog vom Speiseplan. Ein echter Schock. Doch weil Backen und Kochen zu meinen liebsten Hobbys gehörten, dachte ich mir Rezepte aus, die mit glutenfreien Ersatzprodukten statt mit herkömmlichem Mehl funktionierten. Meine Gerichte schmeckten von Mal zu Mal besser. Die leckersten habe ich in meinem eigenen Kochbuch gesammelt (www.rezepte-glutenfrei.de).

Darum liegen Ärzte mit ihrer Diagnose so oft verkehrt



Studien beweisen: Das Gespräch mit dem Arzt dauert im Schnitt nur acht Minuten



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eder macht mal einen Fehler. Blöd, wenn das Ärzten passiert. Fatal, wenn es häufiger geschieht: Laut internationalen Studien ist etwa jede siebte gestellte Diagnose falsch. Und mindestens genauso erschütternd: Allein in Deutschland unterlaufen den Ärzten jedes Jahr 680 000 schwerwiegende medizinische Fehler. Wie kann das bloß sein – im Zeitalter von digitalen Röntgenaufnahmen und multinuklearer Hochfeld-Magnetresonanztomographie? Ein Grund: „Wir Ärzte arbeiten enorm spezialisiert“, sagt Dr. Zoltan Medgyessy, leitender Oberarzt an der Berolina-Klinik in Löhne. „Verursacht eine Krankheit Beschwerden, die in verschiedene Fachgebiete fallen, vermutet jeder Experte die Ursache auf seinem Feld.“ Bei Kopfschmerzen sucht der Orthopäde an der Halswirbelsäule, der HNO-Spezialist in den Nasennebenhöhlen, der Zahnarzt im Kiefer und der Heilpraktiker im Darm. Besonders betroffen von diesem Phänomen

sind Menschen, deren Krankheiten viele unterschiedliche Symptome zeigen – dazu zählen nicht nur die Schilddrüsenkrankheit Hashimoto-Thyreoiditis oder die Nahrungsmittelunverträglichkeit Zöliakie (siehe unsere Patientinnenberichte), sondern auch multiple Sklerose, Borreliose und Fibromyalgie. „Bei schwierigen Diagnosen müssten Ärzte viel häufiger über ihre Fachgebiete hinweg zusammenarbeiten. Leider passiert das zu selten“, bedauert Schmerzspezialist Medgyessy. Das liegt oft an Zeitmangel oder an gefährlichen Routinen, aber manchmal auch an der Eitelkeit einiger Doktoren. Aus Sorge, den Patienten an einen Kollegen zu verlieren, zögern sie die Überweisung an den Facharzt unnötig hinaus. „Manchmal muss man um einen Überweisungsschein auch kämpfen“, rät Medgyessy den Patienten. Doch selbst ein Ärztemarathon bringt wenig, wenn keiner der Behandler je von der Krankheit gehört hat, die hinter den Symptomen steckt. Dieses Problem betrifft Patienten, die mit „Seltenen Erkrankungen“ kämpfen: So lautet der offizielle Begriff für Krankheiten, die bei weniger als fünf von 10 000 Menschen auftreten. Rund 7000 solcher Leiden sind

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bekannt, manche davon plagen deutschlandweit nur ein paar Dutzend Frauen und Männer. „Oft dauert es Jahre, bis die Betroffenen die zutreffende Diagnose erhalten“, weiß Prof. Olaf Rieß, Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE), in dem Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenarbeiten. Immerhin: Es ist Besserung in Sicht! In diesem August hat die Bundesregierung einen millionenschweren „Nationalen Aktionsplan“ beschlossen, der die Diagnostik dieser Erkrankungen zukünftig beschleunigen soll. Aber auch bei weitverbreiteten Krankheiten schleichen sich häufig Fehldiagnosen ein. Das liegt dann oft an einer ganz banalen Ursache: Für das ausführliche Gespräch, das am Anfang jeder Diagnose stehen sollte, fehlt es vielen Ärzten an Zeit und Geduld. Gerade einmal 20 Sekunden dauert es, bis ein Mediziner in der Sprechstunde den Patienten das erste Mal unterbricht und das Gespräch an sich reißt, wie der Allgemeinarzt Prof. Dr. Ulrich Schwantes von der Berliner Charité anhand von aufgezeichneten Dialogen zwischen Hausärzten und ihren Patienten herausfand. Die schlechte Kommunikation erhöht das Risiko einer Fehldiagnose erheblich, weil so z. B. häufig voreilig Medikamente gegen körperliche Beschwerden verschrieben werden, obwohl die Erkrankung vielleicht psychosomatische Ursachen hat. Um diesen Systemfehler zu beheben, werden angehende Mediziner an Universitätskliniken seit einigen Jahren in der Gesprächsführung mit Patienten geschult. Auf dem Lehrplan stehen Fragetechniken, das Achten auf nonverbale Signale und aktives Zuhören. Aber auch Patienten können den Arztbesuch üben. Thomas Nebling, Gesundheitsökonom von der Techniker Krankenkasse, hat dafür ein Training entwickelt. Zweimal im Jahr bietet die Versicherung in 14 Städten das Seminar „Ärztegespräche erfolgreich führen“ an. Das Ziel: Mündige Bürger zu mutigen Patienten zu erziehen, die nachhaken, wenn sie etwas nicht verstehen, sich selbst in die Therapie einbringen und ihre Rechte kennen. Eines davon: das auf eine zweite Ärzte-Meinung. Die ist nämlich in jedem Fall kostenlos. 182

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Der bessere Weg zur Diagnose: was patienten selbst tun können Wer Schnupfen hat, findet überall Rat. Doch wer sich mit rätselhaften Beschwerden oder seltenen Krankheiten plagt, den stellt unser Gesundheitssystem vor Hürden. Wie man trotzdem Hilfe findet, erklärt Michaela Schwabe, Juristin bei der Berliner Beratungsstelle der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland UPD*. Viele, die schon länger krank sind, rennen von Arzt zu PatientenberaArzt, ohne Hilfe zu terin Michaela finden. Was raten Sie Schwabe aus diesen Menschen? Berlin Hartnäckig bleiben! Die Medizin kennt 30 000 Krankheiten – da braucht es schon mal mehrere Untersuchungen, bis man den entscheidenden Treffer landet. Eine Möglichkeit wäre, den Arzt zu bitten, dass er einen zur gezielten Abklärung der Beschwerden ins Krankenhaus einweist. Womöglich hilft auch ein Spezialist aus einem anderen Fach weiter. Ein Beispiel: Gelenkschmerzen sind nicht allein Sache des Orthopäden – unter Umständen ist ein Rheumatologe oder Neurologe gefragt.

Was kann man außerdem tun? Führen Sie Tagebuch über Ihre Symptome. So dokumentieren Sie die Beschwerden zuverlässig über längere Zeit. Anhand der Aufzeichnungen erkennen die Ärzte, wie sich die Beschwerden unter verschiedenen Therapien entwickeln. Ist es sinnvoll, einen Heilpraktiker aufzusuchen? Solange Sie keine Diagnose vom Arzt haben, rate ich davon ab. Im Allgemeinen sind die Diagnosemöglichkeiten von Heilpraktikern beschränkt. Was, wenn alle körperlichen Ursachen ausgeschlossen sind, aber es noch immer keine Diagnose gibt?

Fragen Sie sich, ob nicht Stress oder Sorgen die Beschwerden auslösen. Oft ist das der Fall. Wenn ja, bitten Sie den Hausarzt, dass er Sie etwa zu einer Psychotherapeutin überweist. Ambulante Psychotherapien zeigen Erfolgsquoten von bis zu 80 Prozent. Womöglich handelt es sich ja auch um eine sehr seltene Erkrankung. Gibt es dafür Spezialisten? Einige Unikliniken verfügen mittlerweile über besondere Ambulanzen für Seltene Erkrankungen. Diese Zentren sind jeweils nur auf einen Teil dieser Erkrankungen spezialisiert, aber sehr gut untereinander vernetzt. Auf diese Weise beteiligen sich mitunter 40 Ärzte an einer Diagnose.

* Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland UPD unterhält 21 Beratungsstellen und eine kostenlose Hotline. Mehr unter www.upd-online.de

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