Rezension. Hintergrund und Zielstellung des Buches

Rezension Luc Boltanski: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens. Aus dem Französischen von Marianne Schneider. (Frankfurt am Main) Suh...
Author: Nicolas Brauer
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Rezension Luc Boltanski: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens. Aus dem Französischen von Marianne Schneider. (Frankfurt am Main) Suhrkamp Verlag 2007, 542 Seiten, ISBN 978-3-518-58475-0, EUR 29,80 Es ist relativ ruhig geworden um das Thema der Abtreibung in Deutschland im Vergleich zu den heftigen, polarisierten Debatten der 90er Jahre. Abtreibungsgegner und Befürworter des Rechts auf selbstbestimmte Schwangerschaft haben ihre unversöhnlichen Argumente ausgetauscht. Eine Rechtsgrundlage mit Kompromisscharakter ist gefunden. Und doch bleibt die Spannung um das Thema greifbar, sei es in den Pflichtberatungen zum Schwangerschaftsabbruch oder in den gesellschaftspolitischen Diskursen um Spätabbrüche oder Embryonenschutz. In den wenigen historischen, soziologischen oder psychologischen Aufarbeitungen spiegeln sich diese Polaritäten zumeist wieder. Luc Boltanski, der bedeutende französische Soziologie in der geistigen Tradition eines Pierre Bourdieu, überrascht demgegenüber mit einem Werk, das ganz und gar nicht Recht haben will im pro oder contra üblicher Debatten, sondern verständlich macht, dass es genau um die Anerkennung des Widerspruchs, der Spannung geht, sei dies auf der Ebene des Fötus als Wesen zwischen Existenz und Nichtexistenz, der Frau in ihrem Entscheidungsgeschehen, aber auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Umgangsweisen und Regeln. Hintergrund und Zielstellung des Buches Boltanski stellt die Abtreibung in den Fokus seiner an dem Prinzip axiologischer Neutralität orientierten soziologischen Analyse und verdeutlicht zugleich die Relevanz des Themas vor dem Hintergrund gegenwärtiger und künftiger aus biomedizinischen Veränderungen resultierenden Fragestellungen (so es um den Status des Embryos und die möglichen „Behandlungsformen“ des inhärenten Widerspruchs geht), drängen diese doch das Thema der Abtreibung wieder neu ins Licht. Ausgangspunkt ist sein auf George Devereux gestützter Befund, dass die Möglichkeit der Abtreibung zwar universalen Charakter trägt, zu allen Zeiten der Menschheit vorhanden ist, sich aber doch in ihrer Behandlung stetig zwischen Missbilligung und Toleranz bewegt, zwischen offiziellem und offiziösem Wissen – ein „Geheimnis, das die Spatzen von den Dächern pfeifen“ (S. 40). Genau dieser Spannung will er nachgehen und er bedient sich dabei nicht nur einer fundierten historischen, ideengeschichtlichen und sprachlichen Analyse. Beeindruckend ist vor allem, wie sorgsam und präzise er die 40 Interviews mit Frauen und etwa 100 ärztlichen Berichte in seine Gedankenführung einbezieht. Gerade aus den ernst genommenen Beschreibungen und Berichten der Akteure folgt, dass die „Diskrepanz – zwischen dem was man öffentlich betont und dem, wovor man die Augen verschließt, ...deutlich hervor(tritt)“ (S. 50f). Aufbau und Inhalt 1. Der Zugang Im Unterschied zu bisherigen Zugängen von Soziologie und Demografie zum Thema wählt Boltanski den Zusammenhang von Abtreibung, Sexualität und Zeugung, ermöglicht Zeugung doch den Aufstieg ins Allgemeine (in die Klasse der Prof. Dr. Ulrike Busch; Februar 2008

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menschlichen Wesen, die als solche austauschbar sind) und zugleich das Singuläre (des Menschen in seiner Unersetzbarkeit, mit einem „einmaligen Platz“ (S. 58ff). Sexualität hat den Aspekt der nicht auf Zeugung ausgerichteten Lust, ist mithin nicht wirklich kontrollierbar, trägt aber auch die Möglichkeit der Schaffung neuer Wesen in sich, so Sexualität und Fortpflanzung nicht entkoppelt werden. Somit schließt die Zeugung die Möglichkeit Abtreibung ein, ist letztere doch Bestätigung oder Nichtbestätigung der „Zeugung im Fleischlichen durch das Wort“, also eine bewusste Entscheidung, die ans Licht bringt, was verborgen sein soll (den Widerspruch zwischen Singularität und Austauschbarkeit), mithin selbst verborgen werden muss (S. 74ff.). Dabei sind zwei Zwänge essentiell, die Boltanski im Verlaufe seiner Argumentationen immer wieder aufgreift: Zum Ersten ist da die Notwendigkeit der „Adoption durch die Mutter“ (S. 95f), durch die der Fötus seinen Status der Austauschbarkeit verliert und Singularität gewinnt (vs. der Abtreibung, die dies verweigert und damit zeigt, das Menschwerdung nicht zwangsläufig ist, sondern eine „tiefe Dualität“ in sich trägt). Zum Zweiten liegt in dieser Dualität für Boltanski zugleich die Ursache für den „Zwang zur Nichtdiskiminierung“, d.h. eine gleiche Werthaftigkeit scheint inhärent, denn eine Annahme durch das Wort könnte für jedes fleischlich sich einnistende Wesen möglich sein (S. 104). Wie kann dann erklärt werden, dass die nichtbestätigten Föten „ins Nichts geschickt werden“ können, die bestätigten hingegen „unendlichen Wert“ gewinnen? Genau aus der gleichzeitigen Gültigkeit der beiden Zwänge resultieren für ihn die besondere Spannung und die Tendenz zur Vermeidung der Veröffentlichung der Abtreibung (sowohl individuell als auch gesellschaftlich) – weder verhinderbar noch wirklich legitimierbar, wie er im folgenden detailliert begründet (S. 110f). 2. Geschichtliches und Gegenwärtiges Nun liegen der jeweiligen Bestätigung oder Nichtbestätigung von „ins Fleisch gekommenen Wesen“ in unterschiedlichen historischen Gesellschaften unterschiedliche Übereinkünfte zugrunde. Im dritten und vierten Kapitel des Buches beschreibt Boltanski in eindrucksvoller und differenzierter Weise diese Übereinkünfte durch die Annahme der Beseelung durch einen Schöpfer (S. 127ff), durch die Familie/ Verwandtschaft (S. 137ff) und durch die Industriegesellschaft (S. 147ff). Trotz aller Legalisierungsfortschritte wirken diese alten Übereinkünfte bis heute fort, werden aber deutlich überlagert von einer neuen, bestehend im „elterlichen Projekt“ als „überindividuelle Instanz zur Vorausbestätigung des künftigen Kindes“ (S. 167ff). Imposant seine Verknüpfung der damit implizierten „projektgebundene Zeugung“ mit dem durch den heutigen Kapitalismus verbundenen prekären Charakter beruflichen und privaten Lebens, das Projekte braucht, um wenigstens zeitweise der Möglichkeit „der Zerstückelung zu widerstehen“ (S. 180). Das elterliche Projekt in einer „projektbasierten Polis“ erweist sich als „Bollwerk gegen die Fragmentierung“ (S. 186f). Aber die projektgebundene Zeugung im Zeitalter der möglichen Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung durch Verhütung macht Abtreibung nicht hinfällig. Verhütung kann misslingen, nicht einfach nur technisch. Boltanski arbeitet, gestützt auf die Interviews verschiedene Möglichkeiten heraus, die zur Abtreibung führen können (zufällige Schwangerschaft ohne Projekt, das durch Abtreibung zu verstoßende Projekt, zum Misslingen verurteilte Projekte etc.). Zusammenhänge zu Lebenskonzepten und Paardynamiken werden anschaulich, ebenso wie die Traurigkeit um die Abtreibung als Zeichen unerfüllter Erwartungen oder misslingender Projekte (S. 220f) - bei aller bewussten Entscheidung. Und er entdeckt, dass unter den sehr persönlichen Gründen der Frauen ihre Unabhängigkeit Prof. Dr. Ulrike Busch; Februar 2008

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und Entscheidungsfreiheit kaum artikuliert wird, mithin mit der Legalisierung der Abtreibung ab Mitte der 60er Jahre auch deren offensive Enthüllung (snotwendigkeit? – U.B.) verloren zu gehen scheint – ein Gedanke, den er in den folgenden Kapiteln weiter verfolgt. 3. Begriffliches – seine Voraussetzungen und Folgen Warum dies so ist, arbeitet er insbesondere im Kontext seiner mit reproduktionsmedizinischen und medizintechnischen Veränderungen verbundenen Analyse der „Konstruktion fötaler Kategorien heraus“. Währenddessen der „authentische Fötus“ als „langwierigstes und widerstandsfähigstes unter der Vielzahl der Projekte“ eine extreme Höherbewertung erfährt, wird der „tumorale Fötus“ entwertet, „ins Nichts abgeschoben“, möglichst keine Spuren hinterlassen sollend (S. 230ff). Aber die Sichtbarmachung des Fötus durch den Ultraschall, die pränatale Diagnostik, die Methoden der Reproduktionsmedizin etc. lassen den Fötus als eigenes Wesen sichtbarer werden wie nie zuvor. Mit den überzähligen Embryonen entsteht jenseits des „authentischen“ und „tumoralen“ der „Technofötus“, nicht mehr gebunden an ein elterliches Projekt (S. 249ff). Rechtliche Regelungsbedarfe entstehen, aber auch Debatten um die Würde des Embryos, seine Personalität etc. Und zugleich drängt seine körperliche Sichtbarkeit zur Beschwichtigung (S. 267ff). In diesen Kontext stellt Boltanski die Auseinandersetzung zwischen Abtreibungsgegnern und den vor allem feministisch-intellektuellen Bewegungen zur Dekodierung der Logik der Abtreibungsgegner, die dazu beitrugen, dass der Fötus in den letzten 30 Jahren seinen „Eintritt in die soziale Welt“ genommen hat (S. 275). Aber auch begrifflich konstruktivistische Bemühungen um Spannungsausgleich scheitern bislang an der Besonderheit der Frage, die in der „Irreversibilität der Entscheidung“ besteht und an der Beunruhigung, da Unsichtbares im voraus erkennbar wird (S. 278ff). 4. Schwierigkeiten um die Rechtfertigung der Abtreibung Diese Argumentationen münden in eine differenzierte Analyse der Schwierigkeiten um die Rechtfertigung der Abtreibung. Die Antwort auf die Frage, warum Legalisierungs- und Legitimationsbemühungen der Abtreibung gerade in den 60-70er Jahren so vehement Gestalt gewinnen, verbindet Boltanski mit der veränderten Position der Frau in der Gesellschaft und der sukzessiven Aufhebung der Macht der Verwandtschaft, des Mannes und des Staates in dieser Frage. Am Beispiel der Gesetzgebungsverfahren in Frankreich, aber auch der USA werden Aspekte diskutiert, die ähnlich auch für Deutschland Relevanz besitzen (S. 297ff). Deutlich wird, dass es sich bei der Legalisierung der Abtreibung um einen „fragilen Sieg“ handelt. Mit dem Eintritt des Fötus in die soziale Welt, mit seiner Sichtbarmachung als relevantes Geschöpf taucht offensichtlich die Frage seiner Rechte als Person (neu) auf (S. 318ff). Boltanski analysiert die angelsächsische Moralphilosophie in ihren verschiedenen Denkrichtungen und Thesen als aus dem Bemühen um die Legitimation der Abtreibung (und damit im Rechtfertigungskontext) getragen (S. 320348). Diese Überlegungen, vor allen Dingen aber die Konstanten in den Interviews der Frauen um ihre Erfahrungen der Abtreibung führen ihn zu der Einsicht: Der Konflikt zwischen dem Recht der Frau und dem des Fötus ist nicht wirklich auflösbar, nur entscheidbar in eine Richtung und die Frauen spüren diese Realität tief, wie die Gespräche und ihre Sprache zeigen: Die Frauen trennen nicht zwischen sich und dem anderen, sondern fühlen den besonderen „Zustand auf Probe“, geistig, seelisch Prof. Dr. Ulrike Busch; Februar 2008

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und auch körperlich (S. 350ff). Schwangerschaft, auch die ungewollte, ist körperliche Erfahrung zwischen „Fülle“, die zur Disposition gestellt sein kann und damit verbundener „Unruhe“ (S. 367). Fülle eines gefühlten Eigenen und zugleich nicht Eigenen (eines anderen in sich – S. 379), eines Wuchernden, das die Spannung zwischen dem Selbst des „von der Schwangerschaft affizierten Fleisches“ und dem Ich der realistischen Absicht kenntlich macht, Unruhe produziert, die es zu besänftigen gilt (S. 368) und in eine Ambivalenz zwischen dem „Willen zur Beherrschung“ und dem „Willen des Fleisches“, in ein „Schwanken zwischen Fülle und Unruhe“ mündet, das die Abtreibung als Erlösung fantasierbar macht (S. 375ff). Währenddessen die Entscheidung der Frau für das Austragen der Schwangerschaft in ihrer individuellen Auseinandersetzung keiner Rechtfertigung, Begründung oder gar Entschuldigung bedarf, sondern passiv oder aktiv den Fötus als „Liebesobjekt“ annehmend dieser zum „nach vorn geworfenen Projekt“ wird (S. S. 387ff), erfordert Abtreibung die Formulierung von Gründen, um sich die Nichtannahme des Fötus, resp. seine Zerstörung selbst zu erklären (S. 396ff). Auch die Legalisierung der Abtreibung hat nach Boltanskis Befund aus den Gesprächen mit den Frauen keine wirkliche Rechtfertigung ermöglicht. Es braucht für sie der Begründungsversuche, um „dem, was geschehen ist, einen Sinn zu geben“ (S. 399ff) oder, wie er folgert, „einen Neuanfang auf der Ebene des Ich“ zu ermöglichen (S. 415). Aber der „Wille des Fleisches“ ist nie ganz unter den „Willen der Beherrschung“ zu bringen, denn der Fötus hat einen „Abdruck“ hinterlassen, auch in seiner Abwesenheit (S. 416f). Boltanski verbindet diese Befunde aus den Interviews mit den Spannungen und Widersprüchen auf gesellschaftlicher Ebene. Insbesondere die neuen Biotechnologien, durch die der Status des Fötus wiederum Diskursgegenstand wird, wirken auf die Fortsetzung der Debatten um die Abtreibung. Sein Zugang ist nicht der einer moralisierenden, sondern moralische Tatsachen ernst nehmenden Soziologie, die den Widerspruch in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und nicht zu eliminieren sucht, wie dies s.E. z.B. Ideologien und sie legitimierende Theorien tun (S. 422ff). Sowohl Gegner als auch Befürworter der Legalisierung der Abtreibung können die dem Problem immanenten Dilemmata nicht lösen, letztere werden eher sichtbarer durch die Bemühungen um die „Tilgung der Abtreibung“ und das „Verschwinden des Widerspruchs“ auf ihren jeweiligen Wegen (S. 430 443). 5. Boltanskis Fazit Da endgültige Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung für die Lösung des Widerspruchs nicht in Aussicht steht, muss die Auseinandersetzung um ein Menschsein, das sich nicht von selbst versteht, im Kontext der Legalität von Abtreibung und technischem Fortschritt fortgeführt und immer neu beantwortet werden (S. 445f). Die technischen Entwicklungen haben „den Fötus ins helle Tageslicht gerückt...- dieses ungewisse Wesen, in der Schwebe zwischen Existenz und Nichtexistenz, zwischen dem Limbus und der Welt, zwischen der Zugehörigkeit zu einem anderen und der Zugehörigkeit zu sich selbst, zwischen dem Nichts und dem Ganzen...“ und wir sind „gezwungen zu erkennen, wie paradox und infolgedessen ungeheuer zerbrechlich nicht nur die Bedingungen sind, die unseren Zutritt zum Menschsein beherrschen, sondern unser Menschsein selbst ist.“ (S. 447) Das Anerkennen dieser Spannung ist unvermeidlich und erfordert auch die Entwicklung „sozialer Dispositive..., in denen sie sich behaupten kann“, statt sie auf nur die eine oder andere Alternative zu reduzieren (ebenda). Prof. Dr. Ulrike Busch; Februar 2008

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Abschließende Gedanken Boltanskis Plädoyer ist nicht nur Soziologen zu empfehlen, die an der gekonnten Analyse einer existentiellen menschlichen Thematik im Individuellen und Gesellschaftlichen interessiert sind. Beeindruckend seine sprachliche Sensibilität (welche übersetzerische Leistung!) bis in eigene Begrifflichkeiten und deren Begründung hinein. Trotz in vielen Passagen nicht einfacher Lesbarkeit sollte dieses ausgesprochen spannend argumentierende Buch gerade ob seines Versuches, Spannung im Thema sichtbar zu machen und zu halten sowohl all denen empfohlen werden, die sich nach wie vor in den Lagerkämpfen um den „Schutz des ungeborenen Lebens“ oder die Abtreibung befinden als auch denen, die im professionellen Kontakt mit Frauen und Paaren zum Thema Schwangerschaft oder deren Abbruch sind (BeraterInnen, ÄrztInnen...). Boltanski selbst gelingt die Balance zwischen der axiologischen Neutralität des Soziologen, die nie in langweilige abstrakte Analytik abgleitet und höchster Ambitioniertheit bei seinen Forschungen im „Netz von Gesagtem und Nichtgesagtem“ (Foucault) . Als „ziemlich verwickelt“ beschreibt er abschließend selbst den langen Umweg zu einer Erkenntnis, die auch dem „gesunden Menschenverstand“ nicht so fremd ist. Aber gerade in dieser Klärung sieht er die Aufgabe der Soziologie, denn „die Lage, die conditio des Fötus, ist die des Menschen“ (S. 448).

Prof. Dr. phil. Ulrike Busch, [email protected] Professorin für Familienplanung Hochschule Merseburg (FH)

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