Religion als Deutungs-Kultur

Gerson Raabe, Germaniastr. 2, 80802 München, 089 / 383771417 Religion als „Deutungs-Kultur“ Kasualien als Entdeckungszusammenhang Kasualien kosten Z...
Author: Guest
3 downloads 0 Views 173KB Size
Gerson Raabe, Germaniastr. 2, 80802 München, 089 / 383771417

Religion als „Deutungs-Kultur“ Kasualien als Entdeckungszusammenhang

Kasualien kosten Zeit. Pfarrerinnen und Pfarrer gehen bei ihnen in der Regel mit großer Sorgfalt ans Werk. Das beginnt mit dem Vorgespräch, in manchen Fällen gar mit mehreren Vorgesprächen. Bei Beerdigungen etwa geht es darum, dass für die Pfarrerin, den Pfarrer ein Bild der oder des Verstorbenen entsteht. Zum einen wollen sie etwas erfahren über die wichtigen Stationen dieses zu Ende gegangenen individuellen Lebens. Zum anderen eröffnen sie den Hinterbliebenen bei diesem Gespräch und dann später bei der Ansprache Zugänge zum Leben des oder der Verstorbenen, die – wenn es gelingt – anders im Dunkeln bleiben könnten: Wesentliches wird von Unwesentlichem unterschieden, es entstehen neue Sichtweisen, Zusammenhänge, möglicherweise wird sogar unerwartet Sinn entdeckt – Grenzen, Gräben, Brüche, Differenzen, Gelungenes und Misslungenes geraten in ein neues Licht. Dieses neue Licht heißt zusammenfassend und allgemein gesagt: „Gott hielt und Gott hält dieses Leben in seinen Händen“. Ähnliches kann für die Taufe beschrieben werden: Da ist die Freude der Eltern auf das Kind, da ist aber auch das Wissen, dass niemand dieses werdende Leben letztlich in seiner Hand hat – da ist das Gefühl der Unverfügbarkeit, der Schutzbedürftigkeit, da werden mögliche – manchmal tatsächliche – Gefährdungen des noch jungen Lebens bewegt und bedacht. Da ist die Frage, ob dieses Leben ein Leben in Freiheit und Glück sein wird. Wiederum zusammenfassend und allgemein gesagt: weil all dies bewegt und bedacht wird, „vertrauen wir dieses junge Leben Gott an“. Aus der Kasualpraxis – unschwer ließe sich dies auch für Trauung, Konfirmation ... zeigen – erweist sich: wir „deuten“ dieses Leben (vor allem an seinen herausgehobenen Stationen). Bilder (besser: Symbole) unserer Religion helfen diese herausgehobenen Stationen in einem bestimmten Licht zu sehen, sich in besonderer Weise zu ihnen zu verhalten. Letztlich sollte das auch die Leifrage für jede Predigt

2

sein: Was hat das Leben mit den Beständen unserer Religion zu tun und umgekehrt: was haben die Symbolbestände unserer Religion mit diesem Leben zu tun, wo bringen sie (z.T. ein neues) Licht in den Umgang mit diesem Leben. Das ist jedes Mal neu die Nagelprobe. Keine Richtigkeiten und schon gleich gar keine klerikalen Kühnheiten, Kraftmeiereien oder sonstige Absonderlichkeiten vermögen ohne diesen Bezug auf das Leben Licht in dieses Leben zu bringen.

Leben deuten

Und es ist – wie gesagt – ein ganz bestimmtes Licht, das erhellend in dieses Leben fallen kann. Eben das Licht der Bestände unserer Religion. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass wir es unsererseits mit einem ganz bestimmten Beitrag zum Umgang mit diesem Leben zu tun haben. Dieser Umgang lässt sich in allgemeiner Hinsicht für unser Leben so beschreiben: Zu allem, was wir erleben, verhalten wir uns. So oder so. Emotional oder mental: Tränen der Ergriffenheit, die Gänsehaut, Freude, Angst, „nein, das dann doch lieber nicht“ – bis hin zur Vorstellung („Geborgen, wie bei den Eltern“, „ein Feind, der mich bedroht“), Gedanken, ja selbst geschliffene Theoriegebäude gehören zum „Verhalten zu ...“. Wir verhalten uns zu allem, was wir erleben. Wir „deuten“! So der vor allem seit dem letzten Jahrhundert profilierte Begriff für dieses „Verhalten zu ...“. Alles „verhalten zu ...“ ist Deutung. Und konkret im Kontext unserer Berufspraxis formuliert: selbstverständlich „verhalten“ sich die Menschen auch in Sachen Religion „zu ...“. Damit gilt für das Christentum und den Protestantismus, dass auch hier Deutungen vollzogen werden. Religiöses „Verhalten zu ...“ ist eine ganz bestimmte Art, eine ganz bestimmte Weise des „Deutens“. Dass dieses „Verhalten zu ...“ auch in der Religion als „deuten“ ausgelegt wurde und ausgelegt wird, erleichtert manches. In biblischen Texten etwa wird uns erzählt, wie Menschen sich zu bestimmtem Erlebtem verhalten haben. Sie haben das, was sie erlebt haben, gedeutet. Was uns über die biblischen Texte

3

überliefert ist, sind Deutungen religiösen Erlebens.1 In jeder Kasualie, jeder Predigt, ja auch in Unterricht und Seelsorge geht es um dieses Deuten. Die Bestände unserer Religion bieten die Möglichkeit dieses Leben in einer ganz bestimmten Perspektive zu erhellen. Dabei handelt es sich um äußerst komplexe Vorgänge. Bei drei Theologen der mittlerweile reiferen Generation wurde der Deutungsbegriff in den vergangenen Jahren in besonderer Weise präzisiert, so dass an diesen Entwürfen näher betrachtet werden kann, was darunter sinnvoller Weise verstanden werden kann, unter „Religion als Deutungs-Kultur“: Wilhelm Gräb und die Religion als „spezifische Deutung leibhaft gebundener Reflexionssubjektivität“, Dietrich Korsch und Religion als „Tiefengrammatik humaner Deutungskultur“ und Ulrich Barth und Religion als „Selbstdeutung des Geistes“.

Wilhelm

Gräb:

Religion

als

spezifische

Deutung

leibhaft

gebundener

Reflexionssubjektivität2

Eine Stärke von Wilhelm Gräbs Entfaltung des Deutungsbegriffs dürfte in der Lebensnähe liegen: Dass ich mich kenne und mir zugleich auch immer entfremdet bin, kann als „Paradoxie der Selbstvertrautheit“ beschrieben werden. Beide Aspekte, „ich bin mir vertraut“ und „ich bin mir fremd“, sind mir über Deutungen zugänglich. Ich deute mich und mein Leben in dieser Welt und ich beziehe mich auf Deutungen meiner durch Andere. Diese Paradoxie der Selbstvertrautheit kann auch als Gebrochenheit beschrieben werden. Sie macht sich etwa bemerkbar an vielfältigen Fragen an mich selbst: Wie kam es, dass ich bin, der ich bin? Was bin ich nicht? Was bin ich noch nicht? Was will ich werden? Was ist mir wertvoll? Was ist gut für mich? Wo finde ich mein Glück? Wir können auch sagen, dass sich Selbstklärung immer doppelt ereignet: In der Vertrautheit meiner selbst und in der Suche nach mir selbst.

1

Vgl. zum Thema insgesamt die vorzügliche Darstellung von Jörg Lauster: Religion der Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005. 2 Bei Wilhelm Gräb wird der Deutungsbegriff in unterschiedlichen Zusammenhängen expliziert. Hier beziehe ich mich vor allem auf: ders: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion. Gütersloh 1998, S. 62-76. Vgl. etwa auch: ders.: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002, S. 245ff., ders.: Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur. Gütersloh 2006, S. 35ff., 85ff., 183ff.

4

In diesem Deuten meiner selbst setze ich Zeichen, baue Strukturen auf, füge Sinn zusammen, entwerfe und erzähle meine eigene Geschichte. Dadurch werden Grenzen, Gräben, Brüche und Differenzen überwunden. Vermeinte Fragmente werden zu Teilen meiner Lebensgeschichte, bekommen durch den deutenden Umgang einen Ort in dieser Geschichte zugewiesen, machen Sinn im bisherigen Ablauf meines Lebens oder eben auch nicht: stehen sinnlos in dieser Geschichte. Das gilt auch für meinen Bezug auf andere und anderes. Ich bekomme Anteil an anderen Geschichten, die mir begegnen. Durch den deutenden Umgang mit demjenigen, was ich erlebt habe, was mir widerfahren ist, was andere erlebt haben, was anderen widerfahren ist, erschließe ich mir den Sinn von Erlebtem. Diese Sinnerschließung verdichtet sich gewissermaßen an den Knotenpunkten von Lebensgeschichten, eben an den Einbruchs-, Umbruchs- und Durchbruchserfahrungen. Sie drängen mit einer besonderen Intensität darauf, dass sie eingeordnet werden wollen in die Geschichte eines Lebens, dass ihr Sinn für die Geschichte dieses Lebens durchsichtig gemacht werden soll. Deuten heißt so gesehen „hinunter-zu-fragen“ in die Zusammenhänge meines Lebens. Religiöse Deutung ist dann diejenige Deutung, die gewissermaßen „noch weiter“ „hinunter-fragt“. Sie zielt auf die letzten Zusammenhänge, auf die letzten Gründe. Religiöse Deutung richtet sich auf mein absolutes Gegründet- bzw. Gehaltensein. Damit ist allerdings zunächst „nur“ eine – so kann man dies bestimmen – „allgemeine“ Religiösität beschrieben. Denn mit dieser Gerichtetheit ist noch nichts darüber ausgesagt, in welche Bilder, Vorstellungen – eben in welche Symbole – sich diese Gerichtetheit kleidet. Wilhelm Gräb unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Religion 1 und Religion 2. Religion 1 meint diese allgemeine Gerichtetheit auf ein absolutes Gegründet- bzw. Gehaltensein. Religion 2 ist diejenige Gestalt, die sich in Bilder, Vorstellungen und Symbole kleidet, die durch eine konkrete Religion zur Verfügung gestellt werden, eben z.B. durch das Christentum, wie es für uns insbesondere durch dessen evangelische Tradition zur Verfügung steht. Diese Traditionsbestände sind selbst Deutungen. Man kann diese Deutungen auch als erzählte Geschichten begreifen; Geschichten, die – wie oben bereits gesagt – religiöse

5

Erfahrungen deuten: Jakobs Himmelsleiter, Elia am Horeb bis hin zu Jesu Reich Gottes Verkündigung und der komplexen Entfaltung dessen, was Paulus etwa unter der Gerechtigkeit Gottes verstand. Stichwortartig sind diese Geschichten religiöser Deutung

christlicher

Provinienz

zusammengestellt

etwa

im

apostolischen

Glaubensbekenntnis. 3 Hier findet der religiös Deutende auf seiner Suche nach Symbolen, die seiner Gerichtetheit religiöser Deutung Anhalt bieten können, eine Fülle möglicher Ausdrucksgestalten: die Deutung eines absolut Gegründetseins artikuliert sich etwa im Symbol „dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erden“. Eine spezifische Pointe erhielt Wilhelm Gräbs Entfaltung der Religion als Deutungskultur in den letzten Jahren dadurch, dass von ihm in besonderer Weise die Tatsache unterstrichen und problematisiert wurde, dass das einzelne deutende Individuum immer ein Mensch ist, der physisch präsent ist, d.h. einen „Leib“ hat. Deutung ist immer „leibhaft gebundene“ Deutung. Zudem kann gesagt werden, dass Deutung „eine ganz bestimmte Aufmerksamkeit für dasjenige ist, was in mir ist“. Diese „bestimmte Aufmerksamkeit“ hat schon Gottfried Wilhelm Leibniz als „Reflexion“ bezeichnet. Daher kann gesagt werden, dass Wilhelm Gräb Religion als einen

ganz

bestimmten

deutenden

Umgang

leibhaft

gebundener

Reflexionssubjektivität mit dem eigenen Leben und dessen Beziehung zu anderen in dieser Welt entfaltet hat.

Dietrich Korsch: Religion als Tiefengrammatik humaner Deutungskultur

In seiner Hermeneutik „Religionsbegriff und Gottesglaube“4 hat Dietrich Korsch auf seine Weise Religion als Deutungskultur entfaltet. Zunächst wird grundlegend der Deutungsbegriff analysiert. In dieser differenzierten, klaren und komplexen Analyse darf ein bleibender Beitrag Korschs zur Deutungsdebatte vermutet werden. An dem Begriff der Deutung werden eine deiktische (auf etwas hinweisen, Zeichen, zeigen), 3

Vgl. hierzu: Gerson Raabe: Was heißt Christsein heute? Das Glaubensbekenntnis neu verstehen. Gütersloh 2005. 4 Dietrich Korsch: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion. Tübingen 2005, hier besonders: Die Prägnanz der Religion im Profil der Kultur, S. 219-382.

6

eine hermeneutische (etwas als etwas verstehen, Eintritt in die Welt der Zeichen) und eine

symbolische

(Verbindung

von

demonstrativem,

produktivem

und

repräsentativem Moment) Seite unterschieden. Diese Unterscheidung führt auf vier Strukturmerkmale am Deutungsbegriff: auf eine Sach- bzw. Wissensdimension (das Wissen, das mir die Welt als Horizont von Deutungsvorgängen erschließt), zu der Gewissheit, dass mir die Welt als eine bedeutungsvolle

Welt

kommunikativ

erschlossen

ist

(Individualität

und

Intersubjektivität), auf das Verhältnis von Struktur und Einzelfall („der Umweg zu sich

selbst“)

und

auf

die

Versicherung

der

Triftigkeit

der

Struktur

(„Musterdeutungen“ können als das deutende Subjekt begründend in Anspruch genommen werden). Aus dieser Analyse ergibt sich, dass der Deutungsbegriff als Leitbegriff verstanden werden kann. So geraten Affinität und Diskrepanz zu „Geist“, „Gefühl“, „Verstehen“ und „Sinn“ in den Blick. Die größte Nähe hat der Deutungsbegriff zum Symbolbegriff. Die Kompetenz des Deutungsbegriffs als Grundbegriff wird im Folgenden durch seine Anwendung auf Leben (Lebens-Deutung), Kultur (KulturDeutung) und Religion (Religions-Deutung) ausgewiesen. „Kultur ist Arbeit gegen den Tod“ 5. Erfolgreich ist diese Arbeit gegen den Tod, wenn sie den Zerfall des menschlichen Lebens, das unhintergehbar dem Gesetz der Entropie unterliegt, verlangsamt. Die Bedingung der Möglichkeit von Kultur überhaupt, aber auch von deren Erfolg kann nun allerdings nicht aus der Kultur oder dem Selbstvollzug des Lebens allein erklärt werden. Vielmehr stellt die Religion jene – oben so bezeichnete – „Musterdeutung“ zur Verfügung, die in ihrer elementaren Form den Grund der Deutung durch die auf sich selbst gerichtete Deutung erschließt. In der Religion kann denn auch die Vollendung der Aufgabe der Kultur als Arbeit gegen den Tod erblickt werden. Sofern die Kultur dies sichtbar macht, „gewinnt die Religion grundbegriffliche Prägnanz in der Kultur“. 6 Ähnlich wie bei Gräb „materialisiert“ oder „konkretisiert“ sich diese allgemeine Bestimmung 5 6

Korsch, aaO. S. 241 Korsch, aaO. S. 251.

der

Religion

nun

gewissermaßen.

Zunächst

durchaus

noch

7

christentumsunspezifisch, dadurch dass sie Vorstellungen, Handlungen und Einstellungen prägt, indem sie etwa Mythen, Riten und Ethos ausbildet. Und wieder ganz vergleichbar den Überlegungen Wilhelm Gräbs „greift“ die Religion zur Symbolisierung ihrer Gehalte auf gegebenes Material zurück. So geraten die Ausbildung der Symbolhorizonte „Selbstgestaltung“ und „Selbstvollzug“ des Lebens (Religion nach dem Muster „Natur / Organismus“) einerseits, und das menschliche Sozialleben (Religion nach dem Muster „Moral / Sozialverband“) andererseits in den Blick. Diese beiden Symbolhorizonte stellen in Korschs Theoriekonzept das Material bereit, auf das aus religiösem Grund zugegriffen wird. Die sich daran aufbauenden Wege religiöser Symbolbildung zielen jenseits ihrer Unterschiedlichkeit auf die Überwindung des Zwiespaltes „Natur“ und „Geist“, indem sie den Bestand des Lebens im letzten Grund der Deutung zum eigentlichen Thema haben. Die Institution der Religion folgt so gesehen der Logik der Deutungshorizonte. Zudem ist sie in die Geschichte der Kultur aufs Engste verwoben. Für das Christentum ergaben sich daraus die kosmologische (Horizont der Welterfassung), die ethische (Selbsterfassung des Menschen) und die gegenwärtige, ästhetische (Selbstreflexivität der Moderne) Epoche.

Den

Protestantismus

betreffend

kann

der

konfessionsbestimmte

Niederschlag in dem Wandel von einer „Verkirchlichung“ zu einer – von der Reformation entscheidend mitinitiierten – „Individualisierung der Religion“ beschrieben werden. In diesem umfassenden, ja hochkomplexen sowohl kultur- als auch religionstheoretischen Erklärungsmodell, das aus der Anwendung des entwickelten Deutungsbegriffs auf den Religionsbegriff gewonnen wird, dürfte eine weitere Stärke der Überlegungen von Dietrich Korsch liegen. Damit zur Deutungskompetenz des Christentums für die Gegenwartskultur: Zentraler Gehalt des Christentums ist die Botschaft von der Menschwerdung Gottes, die über die Trinitätsvorstellung und die Versöhnungslehre entfaltet wird. Im deutungstheoretischen Zusammenhang geht es mithin darum Gott als Grund, eben als Schöpfer und die Selbstoffenbarung Gottes als Selbsttätigkeit Gottes zu explizieren. Den Schlüssel für diese Explikation der Unabhängigkeit des Deutungsgrundes und der

8

reinen Selbsttätigkeit Gottes findet Korsch im Begriff der „Versöhnung“. In ihr lässt Gott die abstrakte Differenz (die noch für den Explikationsrahmen Schöpfung galt) hinter sich zurück und „bewährt seine Gottheit am Ort der Welt unter Preisgabe seiner Unabhängigkeit in der Hingabe an die Menschheit, indem er die Menschen konstant und konsequent zu sich bringt“7, sie – wie gesagt – mit sich versöhnt. Damit ist eine doppelte Kontingenz gesetzt. Die Deutung setzt einen Grund, der die lebensweltlichen Differenzen verbindet. Das damit gewonnene Symbol stiftet für die Deutenden Verbindlichkeit. Aus der damit in den Blick geratenen doppelten Abhängigkeit, nämlich dass das Leben von den Gesetzen und den Regeln abhängt und der Abhängigkeit des Symbols, folgert Korsch, dass das Symbol mit einem „Eigenleben“ versehen gedacht werden muss, das ihm Unabhängigkeit gegenüber seiner Funktion verschafft. Diese Unabhängigkeit ist der Grund, dem sich die Beziehung auf die Menschen als Deutende verdankt8. Die erste Kontingenz heißt daher, dass Gottes Gegenwart für die Menschen auf seinen eigenen Entschluss zurückgeht. Dieser Kontingenz korrespondiert von Seiten der Menschen, dass sie in ihrem Gewissen auf Gott bezogen sind, d.h. Gott ist so gesehen der Horizont der menschlichen Freiheit. Die zweite Kontingenz resultiert aus der Tatsache, dass die Menschen durch die „konstruierte“ Deutung der Menschwerdung Gottes der Unabhängigkeit und dem Selbstsein Gottes widersprechen. Daher lautet diese zweite Kontingenz, dass der Wille Gottes zur Menschwerdung geradezu ein Moment der Selbstbestimmung Gottes ausmacht. Deutlich wird dies an der Gestalt Jesu, die die umfassende Gegenwart Gottes unter den Menschen repräsentiert. Mit dieser Deutung der Selbstbestimmung Gottes gerät innerhalb dieser zweiten Kontingenz auch die Selbstbestimmung der Menschen in den Blick. Damit ist deutungsimmanent eingeholt, was die Menschwerdung Gottes selbst besagt, nämlich: Gott ist am Ort des Deutens gegenwärtig. „Diese Vergegenwärtigung des Bezugspunktes der Deutung am Ort und im Vorgang des Deutens selbst ist der entscheidende Beitrag des Christentums 7 8

Korsch, aaO. S. 267. Korsch, aaO. S. 267.

zur

Deutungsthematik

und

der

Schlüssel

zu

seiner

9

Deutungskompetenz.“ 9 In dieser komplexen, deutungstheoretischen Entfaltung des Christentums dürfte ein dritter Verdienst dieses Theoriekonzeptes liegen. Dietrich Korsch liegt – wie bereits anklang - bei diesem Entwurf daran, Gott, der von einem über die Deutung erfassten „Symbol“ „Gott“ alleine schon begrifflich zu unterscheiden ist, durch die Explikation der religiösen Deutung als Deutung, die sich auf das Deuten bezieht, mit in den Blick zu bekommen. Damit bleibt in diesem Zusammenhang zum einen die Frage nach dem „Wirklichkeitsstatus“ des entfalteten Gottesverständnisses. Außerdem drängt sich zum anderen die einfache Frage auf, ob hier nicht ein Zirkel vorliegt, ist doch die Deutung, die das Deuten deutet, zunächst selbst nichts anderes als eine Deutung. Was also ist mit der „Verdoppelung“ der Deutungszusammenhänge gewonnen? Interessant sind ungeachtet dessen die Überlegungen, ob die „Religions-Deutung“ Deuten in so grundsätzlicher Weise in den Blick kommen lässt, dass sich eben zeigen lässt, dass „letztbezogene Deutungen“ „Musterdeutungen“ sind, die in allen Deutungszusammenhängen schon immer in Anspruch genommen werden. Die vielschichtigen Verweisungszusammenhänge zwischen Kultur und Religion sind in dieser Skizze zu Korschs Deutungsbeitrag verschiedentlich gestreift worden. Jedenfalls entwickelt Korsch aus seiner Verhältnisbestimmung beider ein Bündel konstruktiver und kritischer Perspektiven der Beziehung Kultur – Religion. Dabei bleibt die gleichfalls spannende Frage: Stellt Religion als Deutungskultur nicht die Tiefengrammatik zur Verfügung, die bei allem Deuten schon immer in Anspruch genommen wird und kann sie dadurch nicht dazu beitragen, diese Tiefendimension des Deutens im Bewusstsein zu halten bzw. zu kultivieren?

Ulrich Barth: Religion als Selbstdeutung des Geistes

Bestechend

klar

ist

sowohl

der

subjektivitätstheoretische

bzw.

selbstbewusstseinstheoretische Ansatz als auch dessen erkenntnistheoretische Voraussetzungen und die aus diesen entwickelten Konsequenzen, die Ulrich Barth

9

Korsch, aaO. 269.

10

zur Entfaltung seiner Explikation der Religion als Deutungskultur vorschlägt. Dabei ist zu beachten, dass der so entfaltete Argumentationsgang immer vor dem Hintergrund der von Ulrich Barth entworfenen „Theorie des Geistes“ zu lesen ist, die zeitgleich mit der Hallenser Antrittsvorlesung veröffentlich wurde.10 Bereits in seiner Hallenser Antrittsvorlesung „Was ist Religion“11 wird im Anschluss an Paul Tillich „Religion als Beziehung des menschlichen Geistes auf das Unbedingte“ entfaltet. Das Unbedingte ist dem Denken selbst ein unabweisbares Thema. Man könnte auch sagen: insofern der Mensch ein Wesen mit „Geist“ ist, gehört das Unbedingte durch seine Geistbestimmtheit zu seinen zentralen Themen. Erfahrungen am Unbedingten sind „Erfahrungen mit Erfahrungen“. Daher ist das religiöse Bewusstsein gewissermaßen

ein

Perspektivenwechsel

zweiter

Stufe,

d.h.

es

ist

Deutungsbewusstsein. Religion ist so gesehen die Deutung von Erfahrungen im Horizont des Unbedingten. In einer erkenntnistheoretischen Zwischenüberlegung wird im Anschluss an Kant festgehalten, dass das Unbedingte sich nur negativ auf Erfahrung beziehen lässt, d.h. dass sich aus dieser Perspektive Grenzbegriffe der Eigenschaft „unbedingt“ gewinnen lassen, nämlich die sinnliche Schematisierung der einen Idee des Unbedingten. Diese sind die Quantität betreffend die aktuale Unendlichkeit, die Qualität betreffend die reale Ganzheit, die Relation betreffend die reine Zeitenthobenheit und die Modalität betreffend die absolute qualitative Notwendigkeit. Für das religiöse Bewusstsein ist grundsätzlich eine eigentümliche Ambivalenz festzuhalten. Zum einen ist es Bewusstsein einer Schranke und zum anderen überschreitet es als religiöses Bewusstsein (immer wieder) diese Schranke. Damit gilt für das religiöse Bewusstsein, dass es gegenüber der sonstigen Erkenntnis als eine ganz bestimmte Weise der Deutungsleistung zu bestimmen ist, eben einer Deutungsleistung im Horizont des „Unbedingten“. Unter Anwendung der erkenntnistheoretischen

Zwischenüberlegungen

ergibt

sich,

dass

diese

Deutungsleistungen in einer Unendlichkeits-, einer Ganzheits-, einer Ewigkeits- und 10

Vgl. dazu Ulrich Barth: Gehirn und Geist. Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie, in : Religion in der Moderne (im Folgenden RM), Tübingen 2003, S. 427-460. 11 Ulrich Barth: Was ist Religion, in: RM, S. 3-27. Vgl. auch umfassender und ausführlicher: ders.: Theoriedimensionen des Religionsbegriffs, in: RM S. 29-87.

11

einer Notwendigkeitsdimension erfolgen. Dabei befindet sich das religiöse Bewusstsein sozusagen in einer polaren Bewegung zwischen unbedingtem Sinn (dem Absoluten) und bedingtem Sinn (dem Kontingenten). So lassen sich vier Gegenstandskategorien religiöser Sinndeutung benennen: Unendlichkeit – Endlichkeit, Ganzheit – Partikularität, Ewigkeit – Zeitlichkeit, Notwendigkeit – Kontingenz. Diese Gegenstandskategorien werden vom religiösen Bewusstsein nicht nur auf den Objektbereich angewandt. Sie gelten auch für die Binnensphäre des menschlichen Geistes. Diese Binnensphäre zeichnet sich hinsichtlich ihrer religiösen Gehalte durch höchst komplexe Vermittlungsstrukturen aus. Dabei lassen sich im Anschluss an Sören Kierkegaard vier zentrale Bestimmungen des christlichen Bewusstseins nennen, innerhalb

derer

diese

komplexen

Synthesisleistungen

stattfinden

und

die

gewissermaßen aufeinander aufbauen: Die (1) „Geschöpflichkeit“ kann als ein Grundakt religiöser Selbstdeutung bezeichnet werden. Der in ihm enthaltene Antagonismus führt

zum (2) „Sündenbewusstsein“.

Insofern

dieses nach

Überwindung verlangt, führt es auf die (3) „Erlösungsbedürftigkeit“, die schließlich in die (4) „Heilsgewissheit“ mündet. Dabei können die Gegenstandskategorien religiöser Sinndeutung auf jeder Stufe der allgemeinen Vermittlungsstruktur religiöser Selbstdeutung beschrieben werden. Wendet

man

die

für

das

religiöse

Bewusstsein

charakteristische

Verschränkungsleistung von Sinnidentifikationsvollzug und Sinnsynthese auf die auf sich

aufbauenden

zentralen

Bestimmungen

an,

dann

ergibt

sich:

Über

„Geschöpflichkeit“ gerät die Identität unter der Form der Andersheit, über „Sündenbewusstsein“ die Identität unter der Form des Widerstreits, über „Erlösungsbedürftigkeit“ die Identität unter der Form der Vermittelbarkeit und über „Heilsgewissheit“ die Identität unter der Form der Teilhabe in den Blick. Damit ergeben sich Andersheit, Widerstreit, Vermittelbarkeit und Teilhabe als konkrete Formen der Synthesis von bedingtem und unbedingtem Sinngehalt. Die stufenweise Abfolge der Themenkreise kann beschrieben werden als die Aufnahme der Reflexionshinsicht der untergeordneten Stufe als Ausgangs- und Gegenmoment in die nächst höhere Reflexionsstufe. Damit ergibt sich für die

12

Geschöpflichkeit der Überschritt von Unmittelbarkeit in Andersheit, für die Stufe des Sündenbewusstseins der Übergang von Andersheit in Widerstreit, für die Stufe der Erlösungsbedürftigkeit der Fortgang vom Widerstreit in die Vermittelbarkeit und schließlich für die Stufe der Heilsgewissheit der Übergang von Vermittelbarkeit in Teilhabe. Diese polaren Begriffspaare werden als die Reflexionskategorien religiöser Selbstauslegung bezeichnet. Wie die Gegenstandskategorien sind auch sie echte Deutungskategorien und treten daher immer paarweise auf. Der Umgang mit diesen religiösen Reflexionskategorien kann als Akt der Selbstdeutung

beschrieben

werden.

So

wird

allerdings

keinesfalls

eine

„individualistische Engführung“ propagiert, vielmehr hat der Wahrnehmungshorizont religiöser Selbstauslegung Anteil an allen Strukturmomenten der Selbstbeziehung des Geistes 12. Daher gilt: Selbstdeutung ist eine Reflexionsform des Bewusstseins, Selbstdeutung ereignet sich in der Polarität von Erleben und Deuten, Selbstdeutung ist eine Fortbestimmung meiner selbst, Selbstdeutung ereignet sich in der Spannung zwischen Sich-Binden und Sich-Losreißen, Selbstdeutung ist sowohl ein deskriptiver als auch ein präskriptiver Akt und schließlich findet Selbstdeutung immer statt in der Spannung zwischen dem Rekurs auf vorgegebene Deutungsschemata und deren individuelle Selbstzuschreibung. Damit ist Selbstdeutung als diejenige Tätigkeit des menschlichen Geistes erfasst, die auch für das religiöse Bewusstsein konstitutiv ist. Daher ist es eigentlich auch nicht angemessen von „Religion als Deutungskultur“ zu sprechen, vielmehr wäre die mentale Operation „Selbstdeutung“ der adäquate Erschließungszusammenhang, der sich aus der internen Verfasstheit des menschlichen Geistes ergibt und die zur Erfassung dessen geeignet ist, was sinnvoller Weise unter Religion verstanden werden kann. So sehr dieser Argumentationsgang gewissermaßen aus sich bereits auf eine „materiale Füllung“ des religiösen Bewusstseins mit konkreten Inhalten (Symbolbeständen) verweist, so gespannt darf man auf deren tatsächliche Ausführung sein. Sie steht mit der Veröffentlichung eines Bandes über religiöse Symbolwelten des Christentums (aus und) an (voraussichtlich 2008). Allerdings kann bereits über diese 12

Vgl. dazu die bereits erwähnte „Theorie des Geistes“, für diesen Zusammenhang besonders Barth: RM, aaO. S. 456.

13

„Vorüberlegungen“ zu einer Entfaltung religiöser Symbolwelten gegenwärtiger Religionspraxis

christlicher

transzendentalphilosophische

Provenienz Status

der

gesagt

werden,

Argumentation

nicht

dass nur

der ein

außergewöhnliches Maß an Stringenz, sondern auch ein hohes Maß an Plausibilität verleiht. Das religiöse Bewusstsein ist die spezifische Form des Selbstbewusstseins, das sich im Horizont des Unbedingten (selbst)deutend verhält oder auslegt. Dieser Plausibilität der inneren Verfasstheit des religiösen Bewusstseins tritt gewissermaßen eine sowohl wohltuende Klarheit als auch eine ebensolche Selbstbescheidung zur Seite: Einerseits lässt sich die komplexe innere Verfasstheit dieser Bewusstseinsebene argumentativ ausweisbar beschreiben, andererseits bleibt diese Beschreibung in dem bescheiden, was sie eben nicht sagt oder nicht sagen kann.

Fazit

Religion als Deutungskultur beschreibt die Religion und damit eben auch das Christentum gegenüber den kulturellen Lebenskontexten der Moderne anschlussfähig. Diese Anschlussfähigkeit beruht auf wenigstens vier Gesichtspunkten, die in sich selbst unterschiedlich verfasst sind:

1) Die Rekonstruktion der Religion als Deutungskultur ermöglicht es die Allgemeinheit des Phänomens der Religion in den Blick zu nehmen. Darin dürfte ein entscheidender Beitrag der Theologie zur Erfassung gegenwärtiger Lebenskontexte liegen, zumal die Diagnose von der Renaissance der Religion die aktuelle Virulenz dieses Phänomens für diese Lebenskontexte beschreibt. 2) Der Autonomie der religiösen Individualität kann mit einer Entfaltung von Religion als Deutungskultur Rechnung getragen werden. Es sind eben immer Deutungsakte eines der Autonomie fähigen Individuums, die bei der gelebten Religion praktisch werden. Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich diese Autonomie dann allerdings auch mit der im Christentum ausgesagten Autonomie Gottes stößt. Dietrich Korsch hat hier einen Vermittlungsvorschlag unterbreitet.

14

3) Die gegenwärtige Pluralität religiöser Selbstauslegungen ist aus einem Verständnis von Religion als Deutungskultur ableitbar, denn Deutungs- oder Selbstdeutungsakte sind immer individuelle Akte. Individuierte Deutungen führen aber notwendig zu einer Pluralität von Deutungen bzw. Selbstdeutungen. 4) Gerade im Umfeld protestantischen Christentumsverständnisses lässt sich Religion als Deutungskultur im Sinne einer „freien Religionsentfaltung“ explizieren. Bei so verstandener Religion handelt es sich um nicht weniger als um eine Realisierung der Freiheit. Oder wie es Ulrich Barth einmal gesagt hat: „Protestantismus – das ist der Traum einer Religion für freie Geister.“ 13

13

Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S. 396.