1. Die Urkunde „Unsere Kindeskinder, die werden es gewiss schaffen!“ Leise, doch mit einem energischen Unterton kamen dem jungen Gesellen des Wagners die Worte über die Lippen. Mit einer heftigen Bewegung schlug er mit dem Hammer den Felgenbogen auf die ersten Speichen eines neuen Rades, als könne der Schlag seine Worte bekräftigen. „Wenn wir es nicht schaffen – sie werden es!“ In seinen Augen blitzte plötzlich eine Leidenschaft, die den fremden Reiter aufmerken ließ, der ihm gleichmütig gegenüber stand und auf den Meister wartete. Er ließ einen abschätzigen Blick durch die kleine Werkstatt gleiten. „So, du glaubst wohl, eure kleine Siedlung will eine freie Stadt werden? Ihr wollt wohl die Stadtrechte erlangen, damit ihr alle Gebühren und Zölle selber bestimmen und einnehmen und eure Stadt selber regieren könnt. Ihr wollt auch selber Münzen prägen für euren eigenen Markt, und Gericht halten und die Strafen verhängen? Ich sage dir, das wird euch nicht gelingen! Ihr seid doch alle Eigentum, also Hörige eurer Reichsfürstin, der Äbtissin des Stiftes Essende, und die ist seit alter Zeit die Fürstin über euch! Sie wird gewiss etwas dagegen haben!“ Die silbernen Sporen an seinen fein ledernen Stiefeln klirrten hell, als er sich unwirsch umwandte und sich vor dem jungen Kerl aufbaute: „Wenn der Kaiser das hörte, wärst du ein toter Mann! Es sind doch all die Töchter des Hochadels hier im Stift, der Augapfel der Kaiser und Fürsten! Das kaiserlich freiweltliche Stift Essende ist ein eigenes Fürstentum, und ihr gehört nur zu den Länderein, die das Stift zu versorgen haben! Pass also auf, was du da sagst!“ „Verzeiht …“ Der Geselle ließ den Hammer sinken und machte eine reumütige Verbeugung vor dem kaiserlichen
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Reiter. „Aber wir sind keine Hörigen des Stifts, wir sind freimütig hierher nach Essende gekommen um des Handwerks willen, das das Stift benötigt. Wir haben uns freigekauft von der Hörigkeit und sind der Äbtissin nur noch den Wachszins schuldig für die Kerzen!“ Den leisen Stolz in der Stimme konnte er nicht verbergen, denn es bedeutete seiner Familie viel, nicht zu den Hörigen zu zählen, die mit allerlei Abgaben und Diensten dem Stift verpflichtet waren. Sie zählten zu den wenigen freien Handwerkern, die mit den mittlerweile ebenso zugereisten Kaufleuten eine kleine Bürgerschaft bildeten, die sich nichts sehnlicher wünschte, als eines Tages von der allgegenwärtig mächtigen Regentschaft des Adelsstiftes freizukommen und eine freie Reichsstadt zu werden mit eigenem Bürgerrecht, das sie selbst verwalten würden, und Steuern, die sie selbst einziehen und zum Wohle der Bürger nutzen könnten. „Deine Träumerei wird dir schon noch vergehen. Und nun sieh endlich zu, wo der Meister bleibt!“ Der Reiter nestelte ungeduldig am silbernen Knauf seines Schwertes und warf dem Gesellen einen ärgerlichen Blick zu, „Sonst lasse ich dich wegen Missachtung des kaiserlichen Willens strafen!“ Der junge Geselle zuckte unmerklich zusammen, ließ den Hammer fallen und verschwand, so schnell er konnte, durch die Hintertür in den kleinen Hof. „Vater, Meister Hanns, wo seid Ihr? Es ist eilig!“ Er fand den alten Meister im niedrigen Schuppenanbau, wo er gerade vorgefertigte Hölzer begutachtete. „Ein Reiter des Kaisers ist hier, er will etwas vom Wagner!“ „So? Und da kommt er zu uns?“ Mit der Hand fuhr der alte Meister langsam über einen gut gewachsenen Stamm und prüfte, ob er sich für die benötigten Räder eines Karrens vom Oberhof Eickenscheidt eignen würde. Bei der Anlieferung einer Ladung Feldfrüchte für das Stift war dem Karren auf der Strecke ein morsches Rad gebrochen, und ein zweites war ebenso brüchig und musste ersetzt werden. So hatte der einzige ansässige Wagner stets viel zu tun für die weiten Ländereien
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des Stifts und für die reisefreudigen adligen Stiftsdamen in ihrer Burg, wie man den Stiftsbezirk seit alter Zeit nannte. Es hatte sich gelohnt, hier an der Durchfahrt des Hellwegs beim Stiftsgelände eine kleine Werkstatt aufzubauen und sich sogleich mit dem Wachszins freizukaufen aus der Abhängigkeit vom Stift. Es waren auch immer mehr Kaufleute auf dem Hellweg unterwegs, die Reparaturen an ihren Fuhrwerken brauchten, Achsen oder Deichselbrüche auf dem holperigen Weg hatten oder Speichen ersetzt bekommen mussten. Der alte Meister lächelte müde in sich hinein. Bald würde der Junge sein Meisterstück machen und die Werkstatt weiterführen, er war ja nun bereits sechzehn Jahre alt und ein recht geschickter und pflichtbewusster Geselle. Sie hatten ein gutes Auskommen und manche besonderen Ansprüche der adligen Gesellschaft brachten etliche zusätzliche Münzen in das gut verwahrte hölzerne Kästchen. So hatte sich mit den Jahren ein kleines bescheidenes Vermögen angehäuft, das die Familie verschwiegen unter den Dielenbrettern in einer Ecke der Werkstatt aufbewahrte. „Der Reiter wartet!“ Der junge Geselle hielt die wacklige Tür des Schuppens auf, und der alte Meister ließ von seiner Prüfung ab um nach dem Begehren des Fremden zu sehen. „Seine Hoheit Kaiser Friedrich II. von Gottes Gnaden braucht von dir Räder für zwei seiner Reisewagen. Der kaiserliche Tross ist auf dem Weg nach Dortmund und wird hier Quartier nehmen! Du Meister, wirst unverzüglich mit mir kommen um die Maße zu nehmen!“ Der ungeduldige Befehlston in der Stimme des Reiters gefiel dem alten Meister zwar nicht, doch er machte eine kleine ergebene Verbeugung. „Dem Kaiser zu treuen Diensten!“ Ohne weitere Erklärung hatte sich der Reiter bereits dem Tor zugewandt und rief seinem wartenden Knappen zu: „Wir sind soweit!“ Der ließ das Gespann vor das Tor ziehen, hieß den alten Meister aufsteigen, der Reiter schwang sich auf sein edles Ross, und schon waren sie in einer Staubwolke zur Kettwiger Straße hin verschwunden.
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„Hat er gesagt, der Kaiser kommt? Wirklich? Aber wann?“ „Wird er Quartier bei der Äbtissin nehmen oder bei der Ortschaft Steele?“ Natürlich hatte der dickliche kleine Kürschner Wernher das seltsame Gefolge des Reiters an seiner Werkstatt vorbeisprengen gesehen, und neugierig wie er war, hatte er den alten Meister gleich erkannt. Augenblicklich ließ er den samten schimmernden Hermelinpelz aus den Händen gleiten, rannte hinüber zum Haus des Kaufmanns Bernard, gab dem Verdutzten ein Zeichen ihm zu folgen, und nun standen sie in heimlicher Erregung an der Hobelbank des Wagners und starrten den Gesellen erwartungsvoll an. „Wenn er wirklich kommt, müssen wir es versuchen!“ zischte der dickliche Kürschner leise, und sein Gesicht bekam vor Aufregung lauter rötliche Flecken, „Wir müssen ihm die Stadtrechte abringen! Er muss uns freisprechen von der Regentschaft der Äbtissin, aber am besten, ohne dass sie es mitbekommt! Es muss einfach gelingen!“ „Erstmal die Ruhe bewahren!“ Der großgewachsene Kaufmann Bernard stand breitbeinig daneben und verschränkte die Arme behäbig vor der Brust. Der lederne Beutel an seinem Gürtel klimperte von Münzen, während er sich nachdenklich das Kinn rieb. „Also, Hannes Sohn, was kannst du uns noch sagen?“ Der Geselle zuckte verlegen die Schultern, „Es ging ja alles zu schnell, ich kam gar nicht dazu, irgendetwas zu fragen! Er sagte nur, der Kaiser kommt!“ „Aber er muss doch gesagt haben, wann sie die Räder brauchen und wo sich der kaiserliche Hof jetzt gerade aufhält!?“ Der Kaufmann Bernard stemmte die Hände in die breiten Hüften und sein feines Hemd spannte etwas über dem wohlgerundeten Bauch. Doch der Geselle schüttelte nur hilflos den Kopf. „Wir müssen aber diese Gelegenheit nutzen, wer weiß, wann es wieder eine gibt!“ raunte der Kürschner dem Gesellen mit blitzenden Augen zu. „War der Kaiser überhaupt schon einmal hier? Ich kann mich nicht erinnern, jemals davon gehört zu haben.“ Dem jungen
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Gesellen wurde bei all der ungeduldigen Heimlichkeit unwohl zumute, und er fürchtete, es gebe eine Verschwörung gegen die Äbtissin und das Stift. „Der Kaiser? Nein, der war noch nicht hier!“ Der Kaufmann Bernard grinste breit, „Der kann auch gern in Sizilien bleiben oder auf seiner Stammburg Hohenstaufen! Aber wenn er kommt, muss er uns die Urkunde ausstellen! Ohne eine solche Urkunde, die für alle sichtbar beglaubigt, dass wir eine freie Stadt sind, werden wir die Herrschaft der Äbtissin und ihres Stifts wohl niemals abschütteln können. Das hochadlige Stift schwelgt doch nur in großem Reichtum und Überfluss, weil es uns beständig aussaugt mit all den Abgaben und Gebühren! Wir brauchen auch das Recht, unsere eigenen Münzen zu prägen, damit unser Handel und der Wohlstand der Stadt wachsen kann. Solange die Äbtissin das Münzrecht hat, steht aller Erlös nur dem Stift zu. Und wir, die Kaufleute und Handwerker der Siedlung, brauchen daher endlich die Beglaubigung, dass wir frei und ledig sind von dieser Reichsfürstin! Wir wollen nur noch dem Kaiser selbst unterstehen, wie die großen Städte Dortmund und Duisburg bereits seit langer Zeit!“ Er hatte sich derart in Erregung geredet, dass sein Gesicht rötlich anschwoll und eine steile Zornesfalte auf seiner Stirn aufstieg. Es kränkte seinen Stolz, dass sie, die aufstrebenden Kaufleute und die Wohlhabenden unter den Handwerkern immer noch der Äbtissin in Anerkennung ihrer Regentschaft als Reichsfürstin mit dem Kniefall huldigen mussten, und die Selbstherrlichkeit, mit der vom Stift beständig vermehrte Abgaben und Hilfsdienste für alle Belange eingefordert wurden, ärgerte ihn mehr und mehr. Seine Handelspartner in den freien Reichsstädten dagegen hatten längst freie Hand in der Ausübung eigener Rechte, und waren niemandem mehr untertan außer dem Kaiser, doch der war weit weg und überließ ihnen die Regentschaft über ihre Stadt. Sie konnten über die Einnahme der Gebühren von Zoll und Waage am Markt selbst bestimmen, Zünfte errichten, die das Handwerk regelten und damit jedem sein Auskommen
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ermöglichten, und selbstständig Gericht halten über die niederen Vergehen. So stellte er sich auch die Stadt Essende vor, dachte er nun in grimmiger Entschlossenheit, doch dazu brauchten sie diese Urkunde! „Wir müssen uns sogleich beraten mit den anderen …“ murmelte der Kürschner und wandte sich drängend wieder an den Gesellen: „Wann wird denn der alte Meister zurück sein?“ Er mochte diese Ungewissheit gar nicht und hätte am liebsten sogleich einige Boten ersucht, sich der schwierigen Aufgabe anzunehmen, alles über den angekündigten Besuch des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches herauszufinden. Als der junge Geselle auch hierauf keine Antwort wusste, warf der Kaufmann Bernard ihm einen vielsagenden Blick zu: „Heute Nachmittag, nach dem Läuten zur Non, versammeln wir uns alle in der St. Gertrudiskirche! Und du gibst dem Meister Nachricht, wenn er zurück ist, verstanden?“ Sein durchdringender Blick fuhr dem jungen Gesellen geradewegs in alle Glieder, sodass er sich beeilte alles zu versprechen und auch nichts unversucht zu lassen, Genaueres über den bevorstehenden kaiserlichen Aufenthalt zu erfahren. Als Kaufmann und Kürschner in Eile die Werkstatt verlassen hatten, wandte sich der junge Geselle wieder der Hobelbank zu und spannte einen vorgeschnittenen Holzklotz ein. Zwei Naben sollten fertig sein, bis der alte Meister zurück war, also mussten nun die Löcher gebohrt werden, doch seine Gedanken kreisten immer wieder um das gewagte Vorhaben, das die freien Kaufleute und Handwerker der Siedlung Essende bereits seit einiger Zeit umtrieb, und ihm war gar nicht wohl dabei. Kaum hatte er den Löffelbohrer zur Hand genommen, da wurde das Tor zur Werkstatt mit einem heftigen Knarren schon wieder aufgestoßen und Aleff, der schmächtige Knecht des Bruno von Lippe, einem der adligen Dienstmannen der Äbtissin, stand mit einem ihrer edlen Rösser vor dem Tor. „Meister Hanns, komm heraus, sieh dir die Deichsel an!“
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Der junge Geselle schrak aus seinen dunklen Gedanken auf und eilte sich, herauszukommen. „Der Meister ist nicht hier, aber ich werde dir schon helfen können.“ „Ihre Hoheit, die Reichsfürstin, erwartet kaiserlichen Besuch“, begann Aleff, der schmächtige Knecht, „da müssen die Gespanne in Ordnung sein. Schau dir die Deichsel an, das Holz ist bereits brüchig an mehreren Stellen. Es sind auch noch zwei Reisewagen im Marstall des Stifts zu überprüfen, das sollt ihr sogleich veranlassen!“ Der junge Geselle konnte sich gerade noch verkneifen zu sagen, er wisse bereits Bescheid über den kaiserlichen Besuch, betrachtete mit geübtem Blick die morschen Hölzer und fragte wie beiläufig: „Wann wird er denn kommen, der Kaiser?“ „Es wird rechtzeitig ein Bote kommen und ihn ankündigen, sagt mein Herr.“ Der schmächtige Knecht lehnte sich an das Tor und schaute verdrossen die Straße hinunter. „Aber es wird viel Arbeit geben! Sie kommen schon von allen Oberhöfen um das Getreide, die Feldfrüchte und das Vieh fürs Stift einzubringen. Die ersten Herden von Kühen und Schweinen werden bereits zusammengetrieben und die Fleischer und Köche müssen sich schon sputen. Und wir müssen auch beständig springen!“ Er stampfte missmutig mit dem nackten Fuß auf und spuckte in hohem Bogen aus. „Wenn ich zurück bin, will mein Herr seine Rüstung poliert haben. Kannst du dir vorstellen, wie so ein Helm und Beinkacheln zu polieren sind? Und das Kettenhemd muss ich nach Löchern durchsuchen und die rostigen Stellen mit Sand abreiben, das ist auch eine elende Arbeit! Denn strahlen müssen sie in ihrem ganzen Aufzug, die gerüsteten adligen Dienstmannen der Reichsfürstin, unserer Äbtissin, wenn sie im großen Gefolge dem Kaiser zum Empfang entgegen reiten!“ Der junge Geselle fuhr mit tastender Hand über das brüchige Holz und dachte insgeheim, wie froh er war, kein Leibeigener oder Knecht im großen Hofstaat des Stiftes zu sein, sondern ein kleiner freier Handwerker. Wer abhängig war, hatte stets bereit zu sein und alles stehen und liegen zu lassen, wenn das Stift
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rief, und manches Mal wurde den abhängigen Handwerkern auch zu viel Arbeit aufgebürdet, die schier nicht zu schaffen war. Und das alles nur, damit die adlige Gesellschaft ihrem reichen Lebenswandel frönen konnte, dachte er. Doch war mit dem Stift auch ein gottgefälliges Leben ermöglicht für das Seelenheil aller, und die Gegenwart der vielen Heiligen in den Reliquien und die besondere Gegenwart der Gottesmutter in der Goldenen Madonna in der Münsterkirche gaben dem kleinen Volk ein Gefühl von bergendem Schutz. „Die Deichsel muss ersetzt werden“, sagte er schließlich. „Wir werden eine neue herstellen und auf den Hof eurer Kurie bringen.“ Der schmächtige Knecht verzog das Gesicht, „Da wird mein Herr wieder über die Kosten jammern – dabei hätte er es gewiss nicht nötig! Zwei edle Rösser stehen in seinem Stall und von seinen Gütern am Rhein hat er große Mengen besten Wein im Keller. Er kann es sich wahrlich gut gehen lassen!“ Achselzuckend zog er am Halfter das Pferd an, nickte dem Gesellen noch zu und zog die Straße zum Burggelände hinauf. Die helle Glocke der Münsterkirche des Stifts hatte soeben zur Non geläutet und die Nachmittagssonne stand noch hell am Himmel, da ließ der Seidensticker Evert den Goldfaden auf die seidenen Schleppenärmel sinken, die für Hedwig, eine der älteren Stiftsdamen, vorgesehen waren. Ob ihre adlige Familie derer zu Holtzenburg in Westfalen sie nicht angemessen verheiraten konnte oder ihr sonst ein Makel anhing, vermochte der Seidensticker sich nicht zu erklären, doch war er ihr dankbar zugetan, da sie des Öfteren ihre seidenen Untergewänder oder die eng anliegenden Oberkleider, die sie Surcottes nannte, zu ihm bringen ließ, dass er sie mit feinem Silber oder Goldfaden schmücke. Die zarten Seidentuche aus dem fernen byzantinischen Reich lagen so hauchdünn in seiner Hand, dass er mit der Nadel sehr behutsam stechen musste um das Gewebe nicht zu zerstören. Er hatte sich mit seinem Handwerk einen guten Namen erworben unter
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den Stiftsdamen hier in Essende, sowie in deren Ablegern Stift Stoppenberg und Rellinghausen und gar bis ins Kloster Werden, für welches er schon etliche Messgewänder besticken durfte. Dadurch hatte sich sein Vermögen auf eine beträchtliche Sammlung von Münzen vermehrt, die er sorgsam verwahrte. Dem Stift war auch er nur mehr den Wachszins schuldig für die Beleuchtung der Kirchen, an den Altären und für die Prozessionen und Seelengedenken, doch hätte er nicht sein überaus reichliches Einkommen durch das herrschaftliche Stift, wäre er längst nach Dortmund gezogen. Eine freie Reichsstadt, dachte er, da ließe es sich noch besser leben, und den Wachszins bräuchte er dann auch nicht mehr bezahlen. Er wäre wohl gern bereit, Gebühren zu entrichten, die zum Wohl der Bürger verwandt würden, dachte er ärgerlich, aber sein hart erarbeitetes Geld für die adligen Frauen des Stifts zur Festigung ihrer Herrschaft abgeben zu müssen, war ihm allmählich ein rechter Dorn im Auge. Wenn wir frei wären von ihrer Vorherrschaft, dachte er und schnaufte ärgerlich, würden wir einen eigenen Stadtrat gründen und über unser eigenes Wohl bestimmen! Er stand von der Bank auf, streckte den gebeugten Rücken, gab den beiden Gehilfen ein Zeichen, dass er zur Versammlung ginge, und machte sich auf den Weg. Auf der Viehofer Straße herrschte gewaltiger Betrieb, Knechte trieben Schweine und bepackte Esel vor sich her, voll beladene Karren rumpelten über die lehmige Straße, und eilige Mägde schleppten Körbe und Wasserkrüge in die entlang der Straße aufgereihten Häuser. Hier hatten viele der freien Handwerker und Kaufleute ihr Haus aus lehmverputztem Fachwerk, und der reiche Kaufmann Rutger hatte gar ein gewaltiges Haus mit drei Geschossen errichtet. Seine zwei Gehilfen hatten stets viel zu tun, die wuchtigen, geschnürten Ballen von kostbarem flandrischen Tuch, Fässer voll mit den teuren Pelzen aus dem fernen Russland und die ledernen Beutel mit Bernstein vom östlichen Meer mit einer Seilwinde auf den Dachboden hinauf oder in den Keller hinunter zu wuchten.
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Als der Seidensticker Evert in die Diele trat, stand der Kaufmann Rutger in der Tür zu seinem Kontor, wie er den Raum seiner Rechnungen und Kanzlei nannte. „Von den sechs Lederbeuteln mit Bernstein geht einer an die Stiftsdame Adelheid!“ Mit weit ausladender Geste wies er auf die Ware, „Hinze, du bringst sie sogleich zu ihrer Kurie in die Burg. Sie wird dich gewiss gleich zum Goldschmied weiterschicken, dass er ihren edlen Schmuck damit ausstattet.“ Der lange, dürre Gehilfe, dem der Schweiß schon auf der Stirn stand, ließ von dem Ballen ab, den er schon an die Stiege zum Keller gewuchtet hatte, und nahm einen der weichen Beutel aus dem Stapel. „Lass mich die Ware erst beschauen!“ Der Kaufmann ließ sich einige der golden schimmernden Bernsteine herausgeben und hielt sie ins Licht, nickte zustimmend und gab sie dem dürren Gehilfen zurück. „Ah, Evert, der Veredler der Seiden, stets auf Tuchfühlung mit den adligen Damen!“ grinste er verschmitzt. „Ist es schon soweit? Dann lass uns eilen!“ Er warf einen kurzen Blick in das Kontor und rief hinein: „Wolfram, dass du mir die Rechnungen in rechter Weise aufschreibst! Wenn ich wiederkomme, will ich sie sehen!“ Dem blassgesichtigen Gehilfen zuckte die Feder in der Hand, mit der er gerade angestrengt Buchstaben zu Wörtern und Zahlen auf das Pergament geschrieben hatte, und er nickte eilfertig. „Er ist mir von einem Kaufmann der Hansen aus Dortmund empfohlen worden, aber ich bin noch nicht recht zufrieden mit seiner Kunst!“ Unwillig wandte sich der Kaufmann um und verließ mit dem Seidensticker das Haus, um die Versammlung in der St. Gertudiskirche am Markt nicht zu verpassen. Dort war ein aufgeregtes Gerede bereits in vollem Gang. „Warum zieht der Kaiser eigentlich nach Dortmund, seiner freien Reichsstadt? Es war doch seit langer Zeit kein Kaiser mehr dort!“ rief eine Stimme aus dem Hintergrund der düsteren Kirche.
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„Es ist, weil sie doch seit dem großen Brand vor wenigen Jahren gerade erst wieder aufgebaut ist, und die verbrannte Urkunde über die Stadtrechte und die Privilegien erneuert werden muss!“ erklärte der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen, der wenige Tage zuvor von einer langen Handelsfahrt vom fernen Münster und Hamburg zurückgekehrt war und die neuesten Nachrichten aus den Städten Westfalens mitgebracht hatte. „Freien Handel mit dem Recht auf die eigene Münze und ein Marktrecht, das ein Rat der Bürger selbst verwaltet wie in der freien Reichsstadt Dortmund, das wollen wir haben!“ rief eine kräftige Stimme, dass es durch die Kirche hallte. „Wir wollen endlich einen eigenen Rat von Bürgerlichen!“ ergänzte die Stimme eines ganz jungen Kaufmanns in feinem Tuch, „Wir wollen das Marktrecht mit den Gebühren, wir wollen über den Zoll und die Einnahmen von der Waage an den Markttagen bestimmen!“ „Das werden wir unter der Reichsfürstin, der Äbtissin, niemals bekommen, das müssen wir uns vom Kaiser schon selbst holen!“ rief einer der freien Schneider, der sich erst wenige Jahre zuvor in Essende niedergelassen hatte. Er hatte vom Reichtum und Bedarf des reichsfürstlichen Stiftes gehört und sich hier ein besseres Auskommen versprochen. „Wir können uns noch nicht einmal ‚Bürger’ nennen, da wir ja noch keine rechte Stadt sind!“ entgegnete erregt der Goldschmied Albrecht und fuchtelte wild mit seinen Händen, als könne er damit ein Stadtrecht besiegeln. „Wenn der Kaiser kommt, sollten wir die Gelegenheit nutzen!“ Die bedachten Worte des Kaufmanns Rutger konnten die erregte Versammlung etwas besänftigen, und man rückte enger zusammen, um zu überlegen, wie es anzustellen sei, dem Kaiser die ersehnte Stadtrechtsurkunde abzuringen. „Er muss es schriftlich machen, es muss eine glaubwürdige Urkunde sein, sonst haben wir der Äbtissin nichts vorzuweisen“, flüsterte der junge Beutler aus der Steeler Straße, dessen Haus nah an der Stiftsmauer lag. „Vielleicht
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sollte dein Gehilfe, der des Schreibens mächtig ist, Kaufmann Rutger, eine Urkunde schreiben, die wir dem Kaiser vorlegen. Die braucht er dann nur noch zu unterschreiben!“ Ein belustigtes Lachen der Versammlung hallte durch den düsteren Kirchenraum. „Das hat es wohl noch nie gegeben, dass sich Bürger eine Urkunde selber ausstellen!“ rief eine tiefe Stimme erheitert, „In wessem Namen willst du sie denn erstellen? In des Kaisers etwa oder in deinem eigenen?“ Der junge Beutler wurde rot bis an die Ohren und zog die Schultern ein, „Warum nicht? Wer würde denn von uns überhaupt zum Kaiser vorgelassen?“ fügte er zögerlicher hinzu und blickte verlegen auf den steinernen Boden unter sich. „Nun, da hat er allerdings Recht!“ gab sein Meister, der alte Beutler ernst zu bedenken, „Wer hätte das Privileg, zum Kaiser selbst vorgelassen zu werden?“ Es wurde hin und her überlegt, einer schlug vor, der Messerschmied könnte für die kaiserliche Tafel edle Messer herstellen, die dem Hof angeboten werden könnten, um sich den Vortritt zu erkaufen. Ein anderer meinte, gewiss sei einer der Herren Kanoniker, die für das Stift das geistliche Amt und die Seelsorge leisteten, oder gar ein Ritter im Gefolge des Hofes zu bestechen. Und einer schlug vor, der alte Meister Wagner sollte bei seiner Lieferung die Bitte um Vorsprache anbringen. Doch wie sie auch überlegten, alle Vorschläge klangen nicht recht überzeugend, einig war sich nur die ganze Versammlung darin, dass diese Gelegenheit unbedingt wahrgenommen werden musste. „Den Kaiser werden wir wohl lange nicht wieder sehen. Also lasst uns zu einem Entschluss kommen!“ Nachdrücklich rieb sich der wohlbeleibte Kaufmann Bernard am Kinn, „Ich schlage vor, wir ziehen den Dienstmann Hillebrecht vom Kahlenberg ins Vertrauen. Er beklagt sich seit langem über die Bevormundung der Äbtissin und wäre gewiss lieber ein freier Mann!“
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„Der ist ja schon ein halber Kaufherr, er betreibt einen erträglichen Handel mit Erzen aus seinem Besitz im Sauerland!“ rief der junge Beutler aus, „Sein Knecht, der Lahmende, hat kürzlich gemeint, sein Herr verstünde sich besser auf den Handel als auf den Waffengang für die Verteidigung der Äbtissin und ihrer Burg!“ So wurde nach langer Beratung letztlich beschlossen, den Dienstmann Hillebrecht vom Kahlenberg unter dem Schwur der Verschwiegenheit anzufragen, ob er die Fürsprache für die Stadt Essende beim Kaiser übernehmen werde. Der Schneider aus der Limbecker Straße, der erst kürzlich einen Waffenrock für ihn fertig gestellt hatte, sollte die Bitte an ihn herantragen. Ihm war zwar nicht ganz wohl in der Haut bei dem Unterfangen, doch da die Sache keinen Aufschub duldete und der kaiserliche Aufzug bereits seine Schatten vorauswarf, machte er sich alsbald auf den Weg. Als die reichsfürstliche Äbtissin ihre Stiftsdamen und Anwärterinnen, ihre Dienstmannen und Gefolge in ihrer Bewaffnung, sowie die Herren Kanoniker in ihrem Festtagsgewand am nächsten Tag zum Empfangszug des Kaisers zusammenrief, saß darunter ein edler, mit herrlich wappenverziertem Waffenrock gekleideter Dienstmann Hillebrecht vom Kahlenberg stolz und aufrecht auf seinem Streitross mit einer verschwiegenen Botschaft an Kaiser Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. „Es wird ihm gewiss gelingen“, flüsterte der junge Geselle des Wagners vor sich hin, als das kleine Volk auf den Gassen stand um den großen festlichen und wehrhaften Aufzug über den Markt davonziehen zu sehen, mit dem der Kaiser in gebührender Entfernung in Empfang genommen und ihm Geleit gegeben werden sollte. Der dickliche Kürschner Wernher biss sich auf die wulstigen Lippen und zischte zurück: „Wenn das nur nicht schief geht, sonst gnade uns Gott!“ „Wir haben den Heiligen Stiftspatronen Cosmas und Damian gespendet und zur Fürsprache Gebete und Messen halten
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lassen, wir haben Brot für die Armenspeisung gegeben und an den Altären der St. Gertrudiskirche als unserer Kirche der Bürgerlichen reichlich Wachs für die Kerzen gegeben!“ versuchte der alte WagnerMeister Hanns die beunruhigten Gemüter zu beschwichtigen, denn jeder der verschworenen Gemeinschaft stand voll Unbehagen dabei, und niemand konnte sagen, wie die Sache ausginge. „Haltet die Straßen rein und macht euch bereit für den würdigen Empfang des Kaisers, er wird morgen eintreffen!“ Ein bewaffneter Bote hoch zu Ross mit dem kaiserlichen Banner kam mit dem Vogt des Stifts und dem Dienstmann Bruno von Lippe die Kettwiger Straße herauf zum Markt, wo das kleine Volk neugierig zusammengelaufen kam. „Macht Platz und gebt dem Kaiser die gebührende Huldigung!“ rief der kaiserliche Bote von seinem hohen Ross herunter, und schon gab er ihm die Sporen und verschwand mit seinen Begleitern in einem dichten Staubwirbel. Da gab es eine große Aufregung unter der kleinen Bevölkerung, denn einen Kaiser hatte hier noch niemand gesehen! Manches Mal waren Grafen oder gar Fürsten zu Besuch im Stift, und man erzählte sich, dass zu alter Zeit die Kaiser und Könige der Ottonen hier ein und ausgegangen seien wegen ihrer Töchter oder Enkelinnen, die Äbtissinen waren, aber seither war wohl kein Herrscher mehr hierzulande gewesen. So wurden die Straßen und Gassen von all dem hinausgeworfenen Unrat, von Schweinemist und allen übelriechenden Hinterlassenschaften einigermaßen gereinigt und durch den Viehof als ersten Fronhof des Stifts Heu, Blumen und Stroh auf allen Wegen ausgestreut. Ein großes Fest war ausgerufen, und alle waren in heller Aufregung. Die Kaufleute hofften auf einträgliche Geschäfte mit dem Gefolge des kaiserlichen Hofes, die armen Tagelöhner und Hausarmen aus den dunklen und feuchten Kellerverschlägen der verwinkelten Seitengassen auf reichlich
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Almosen, und die verschworenen Bürgerlichen auf die ersehnte aber schier unerreichbare Urkunde! Schon von ferne waren die Hornsignale der Vorhut zu hören und die Vorreiter der Dienstmannen mit wehenden Bannern und silbern im hellen Mittagslicht aufblitzenden Lanzen zu sehen, und schließlich erschienen die Helme der Bewaffneten über den niedrigen Pfählen des morschen Palisadenzauns der Siedlung Essende am Ende der Kettwiger Straße. Ein schier unendlich langer Zug bewegte sich durch die Landschaft und rief großes Erstaunen unter den Wartenden hervor. Als der Zug sich näherte, begann die Glocke des Münsters das festliche Geläut und auch der letzte kleine Handwerker ließ sein Tagwerk fallen um an die Straße zu eilen, durch die der große Aufzug kommen würde. „Er kommt! Er kommt! Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Friedrich II. Huldigt dem Kaiser!“ Der kaiserliche Herold auf seinem edlen schwarzen Ross warf einen Ehrfurcht heischenden Blick auf das kleine Volk und zog an ihm vorbei hinauf zur Burg. Das Volk sank auf die Knie und verharrte in tiefer Verbeugung, als der waffenklirrende Tross der Vorhut vorüberzog. Es folgte die Reichsfürstin in ihrem schwarzen, samten schimmernden Mantel auf ihrem weißen, herrlich geschmückten Ross, huldvoll nach den Untertanen lächelnd, jedoch mit Argusaugen prüfend, ob auch alle die Huldigung leisteten. Fremd aussehende Waffenträger mit seltsamem um den dunkelhäutigen Kopf gewickelten Turban und krummen Dolchen an der Seite kamen nun heran, und der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen raunte: „Also ist es wahr, was man sich erzählt: Der Kaiser hat Sarazenen als Leibgarde! Es ist unfasslich!“ „Die seltsamen Männer sind Sarazenen, also Ungläubige!? Und solche hält der Kaiser in seinem Hofstaat und lässt von ihnen gar seinen Leib bewachen?“ Voll Entsetzen starrte der Sattler
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Hinrich auf die fremden Reiter, die stolz und aufrecht mit geschmeidiger Bewegung auf ihren Streitrössern saßen, als müssten sie jeden Augenblick ihren Herrn mit der Klinge verteidigen. „Er soll sich sogar eingelassen haben mit den Islamischen, er hat ihnen gar freies Land gegeben in Italien und hält sich ihre Gelehrten der Mathematik und der Medizin am Hof, berichten die Kaufleute aus dem Süden, die mit Venedig Handel treiben. Manche wagen gar zu sagen, er sei heimlicher Anhänger des Propheten!“ flüsterte der Kaufherr kaum hörbar, „Und in Jerusalem soll er gar den Koran lesen und die Gebetsrufe ausrufen lassen haben!“ Kaum hatte er dies ausgesprochen, da wurden seine Worte von dem riesigen bunten und wogenden orientalischen Gefolge des kaiserlichen Aufzuges schier überflutet. Unter einem mit goldenen Quasten und Bortenornamenten geschmückten Baldachin kam der Kaiser in seinem Herrschergewand, das für prunkvolle Einzüge vorbehalten war, auf einem herrlich geschmückten Ross vorüber gezogen, und nun folgte ein prächtiger Aufzug, wie ihn das kleine Volk noch nie gesehen hatte! Unter den Adelsgeschlechtern mit ihren Fahnen und Wappen waren auch fremdartige Reiter, die führten stolze Rösser mit prachtvoll gearbeiteten Decken und Wagen mit goldbeschlagenen Truhen und orientalischen Teppichen, begleitet von dunkelhäutigen Dienern in byzantinischer Seide. Damen mit feinen Schleiern und von Goldplättchen klimpernden Schmuckgürteln um den Leib zogen heran, und türkische Wärter führten Tiere umher, die man noch nie gesehen hatte. Leoparden, schwarze Panther und zwei Löwen fauchten an ihrer ledernen Leine, einige gemächlich dahin schwankende Kamele und Dromedare zogen kauend vorüber, und Käfige mit bärtigen Eulen und weißen Falken wurden auf Karren vorbeigezogen.
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Es war ein unglaublicher Aufzug, und die kleinen Leute standen mit weit aufgerissenen Augen staunend und überwältigt. Das bunte Treiben ergoss sich über die kleine Siedlung, bis der kaiserliche Baldachin hinter den niedrigen Burgmauern des Stiftes bei der Residenz der Äbtissin verschwand. Einige Gefolgsleute des Kaisers fanden in den Kurien der Herren Kanoniker und bei den Dienstmannen des Stiftes Aufnahme, und das riesige Gefolge zog allmählich in Richtung Steele hinaus um das zwischenzeitlich errichtete Zeltlager einzunehmen. „Jetzt glaube ich beinah auch, dass der Kaiser dem Propheten anhängt“, wisperte der Goldschmied Albrecht mit bleichem Gesicht dem Kaufherrn Hugo von Brünglinghausen zu, „Es lässt sich nicht leugnen, dass er sich mit den Sarazenen einlässt.“ „Der venezianische Kaufmann Lorenzo in Köln berichtete, der Kaiser habe bei seinem Kreuzzug Jerusalem für die Christen zwar zurückgewonnen, jedoch ohne die Ungläubigen zu vertreiben und zu töten, nein, er habe sich mit ihnen auf Verhandlung eingelassen! Stell dir solchen Frevel vor!“ Die Stimme des Kaufherrn klang noch jetzt erregt über die Vorstellung, dass ein Kaiser der Christen sich an der heiligen Stadt Jerusalem derart versündigen konnte! „Heißt es nicht, mit Feuer und Schwert muss die Heilige Stadt den Ungläubigen entrissen werden? Wie kann sich ein Streiter Gottes auf solchen Handel einlassen?“ „Aber ist nicht die Heilige Stadt seither wieder für die christlichen Pilger offen?“ warf der Seidensticker Evert ein, der sich dicht an den Kaufherrn herangedrängt hatte um seine Worte mitzubekommen, „Wurde nicht wieder zu Wallfahrten nach Jerusalem ermuntert zu den heiligen Stätten, wo Christus wandelte und lebte, wo er starb und auferstand?“ „Eine Stadt, in der die Sarazenen ihre Gebete rufen und der Koran gepredigt wird neben einem christlichen Gotteshaus?
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Nein, das kann kein gottgefälliger Ort sein!“ Der Kaufherr schüttelte ob einer solch widrigen Vorstellung den Kopf. „Aber Jerusalem ist doch die Heilige Stadt, in der Gott selbst als Mensch wandelte, sie muss gewiss heiliger und vollkommener sein als alles, was wir uns vorstellen können!“ Die Augen des jungen Beutlers, der atemlos gelauscht hatte, wurden ganz verklärt, und ein heiliger Schauer fuhr durch seine Glieder. „Was man sich erzählt, ist eher Blut und Tod und Kampf in seinen Mauern!“ sagte der Kaufherr trocken, „Und viele haben ihr Leben gelassen bei den Kämpfen um seine Befreiung! Aber nun“, er hielt plötzlich inne und senkte seine Stimme noch einmal, „sollten wir uns nicht länger um Jerusalem, sondern vielmehr um das Anliegen unserer Stadt kümmern, es gilt doch wohl jetzt um unsere eigene Stadt zu kämpfen!“ „Was meinst du, wird der Dienstmann Hillebrecht vom Kahlenberg unser Anliegen anbringen können?“ fragte der Sattler Hinrich, und es klang nicht sehr überzeugt. „Ich habe eben reden hören, der Kaiser werde schon morgen früh seine Reise fortsetzen, da muss er noch diesen Abend um Anhörung ersuchen!“ Der Kaufmann Bernard verschränkte die Arme und setzte mit einem zweifelnden Unterton hinzu: „Da der Kaiser bei der Äbtissin zu Gast ist, wird es wohl keine Gelegenheit geben, ihn ungestört um Anhörung zu bitten. Wir hätten uns dies denken können!“ Die Männer schauten sich schweigend an. Die scheinbar so günstige Gelegenheit schien sich gar nicht zuträglich zu erweisen, und die Zeit lief ihnen einfach davon. „Es gibt noch eine Möglichkeit!“ fiel dem Kaufherrn Hugo endlich ein: „Vielleicht ist es sogar viel besser, den Kaiser erst in Dortmund aufzusuchen! Auf seiner Pfalz dort hält ein Kaiser doch gewöhnlich Gericht und erledigt alle Rechtsgeschäfte und Anliegen des Volkes! Wir sollten unseren Dienstmann dorthin schicken!“ „Aber wie können wir ihm diese Nachricht jetzt noch überbringen? Er ist doch nun verpflichtet zum Dienst im
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Hofgefolge der Reichsfürstin beim großen Empfang, er wird sich nicht einfach davon machen können!“ gab der Seidensticker Evert zu bedenken, doch da fiel ihm der junge Beutler beinahe ins Wort: „Ich kenne seine Magd, die für ihn bei uns nach ganz feinem ledernem Beutel gefragt hat. Ihr könnte ich eine Botschaft mitgeben!“ Der Vorschlag fand nach langem Hin und Her Zustimmung, und man verständigte sich darauf, einen verschlüsselten Hinweis überbringen zu lassen, der niemanden misstrauisch machen würde. Und klopfenden Herzens machte sich der junge Beutler auf zur Kurie des Dienstmannen Hillebrecht vom Kahlenberg. „Er lässt uns etwas ausrichten, kommt zum Kaufmann Rutger, dort werdet ihr es erfahren!“ Die leise, durchdringende Stimme des alten Meisters Hanns war in der kleinen Runde nicht zu überhören, die an diesem späten Nachmittag auf dem Marktplatz stand und unschlüssig abwartete, was nun zu tun sei. Da der kaiserliche Hof schon am nächsten Tag in aller Frühe aufbrechen würde, hatte es kein großes Fest mehr gegeben, die feierliche Messe im Münster war ohne das Volk gehalten worden, und die edle fürstliche Tafel mit dem Kaiser, von der manche märchenhafte Geschichte erzählt wurde, fand nur für die erlesenen hochadligen Gäste im Kaisersaal des Stiftes statt. Der Dienstmann Hillebrecht vom Kahlenberg hatte bei Tisch die Ehre den kaiserlichen Hofstaat zu bedienen, und so hatte er seinen Auftrag längst aufgegeben. Es war ihm jedoch gelungen, einem Knappen einen kleinen Beutel mit Münzen zu versprechen, so dieser jemandem eine wichtige Nachricht zukommen ließe, und der hatte sich nicht zweimal bitten lassen. Der Schneider war schier erschrocken, als der fremde Knappe in seiner Werkstatt erschienen war, und fast hätte er sich empfindlich in den Finger gestochen mit seiner spitzen Nadel,
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doch als der Knappe sagte, wer ihn schickte, wollte er alles ganz genau wissen. „Nun sag schon, ist es eine gute Nachricht?“ Gespannt scharten sich die Eingetroffenen um den Schneider, doch dessen Miene verriet nichts Gutes. „Der Kaiser hat der Reichsfürstin die Landeshoheit über das ganze Stift, alle Ländereien bis an Ruhr und Emscher, bis zum Rhein und ins Holländische bestätigt – und über die Siedlung Essende!“ Ein enttäuschtes Schweigen breitete sich aus, und lange sagte keiner ein Wort. „Unsere Siedlung mit den wenigen und morschen Palisaden sieht ein Kaiser gewiss nicht als Stadt an“, meinte schließlich der Kaufmann Bernard, „und dass wir doch genügend vermögende Kaufleute und Handwerker sind, die rechte freie Bürger einer Stadt wären, wird er ja nicht wissen.“ „Wie soll der Kaiser auch etwas von unserem Begehr erfahren, wenn er nur von Adligen und reichsfürstlicher Herrschaft umgeben ist?“ rief der Goldschmied Albrecht erregt, „Es ist ja keiner von uns bei dem Empfang, der die Stadt Essende vertritt!“ „Wenn der Kaiser gerade eben erst die Äbtissin als Reichsfürstin bestätigt hat, wird es auch keinen Sinn ergeben, ihm nach Dortmund nachzureisen. Lasst uns also die ganze Sache neu überdenken!“ sagte der Kaufmann Rutger bedächtig, „Gewiss gibt es andere Wege, einem Herrscher zu beweisen, dass wir eine rechte, freie Stadt sein wollen!“ „Wenn wir unser aller Vermögen zusammenlegten, käme gewiss eine große Summe zustande, mit der wir als sichtbares Zeichen einer Stadt eine Stadtmauer errichten könnten!“ ließ sich der Kürschner Wernher plötzlich vernehmen, „Ich bin bereit, für unsere Stadt zu bezahlen, wenn es sein soll!“ Sein Votum erschien der Versammlung wie ein Licht am Horizont, und jeder erklärte sich bereit, mit seinem Vermögen für das große Ziel, eine für alle sichtbare Stadt zu werden, beizutragen. „Wenn der Kaiser uns nicht ansieht, dass wir eine Stadt sind, dann müssen wir eben eine Stadtmauer haben, das sichtbare
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Zeichen einer festen Stadt mit eigenem Recht!“ erhob der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen entschlossen die Stimme, „Die Siedlung liegt sowieso viel zu offen vor den Mauern der Burg mit all ihren wohlbehüteten Stiftshäusern. Die haben ihre Mauer, aber all unsere Häuser liegen davor, offen und schlecht befestigt mit den alten morschen Palisaden.“ „Aber die Dienstmannen werden doch auch uns, die Siedlung, verteidigen gegen Feinde?!“ wollte sich der junge Geselle des Wagners vergewissern. „Um das Stift zu schützen gewiss, denn etliche Dienstmannen haben ihre Häuser ja bei uns in der Siedlung, und außerdem ist das Stift auf unsere Arbeit angewiesen, angefangen von Bäckern und Metzger, bis zum Kürschner und Goldschmied!“ gab der Seidensticker Evert zur Antwort, und jedem wurde deutlich, dass sie wohl kaum eine eigene freie Stadt werden könnten mit der Abhängigkeit von der reichsfürstlichen Herrschaft in ihrer Mitte. Der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen runzelte nachdenklich die Stirn: „Wenn wir die Äbtissin und ihre Dienstmannen davon überzeugen können, eine Mauer zum Schutz von Stadt und Stift mit Hilfe unseres Vermögens zu errichten, ist der erste Schritt zu einem eigenen Stadtrecht gewiss getan!“ Dieser Gedanke setzte sich in den Köpfen der Versammelten fest und wurde allmählich zu ihrem gemeinsamen heimlichen Ziel, von dem man zwar noch nicht wusste, wann und wie, das aber eines Tages gewiss Wirklichkeit werden würde. Viel wurde in der nächsten Zeit gerätselt, überlegt und gerechnet, wie ein solch ungeheures Vorhaben wohl zu bewerkstelligen sei. Vielen bereitete es auch großes Unbehagen, da gar nicht einzuschätzen war, wie denn solch ein Bau überhaupt zu rechnen und anzugehen war. „Wie sagtest du immer: Unsere Kindeskinder, die werden es schaffen!“ Der junge Geselle hatte gerade etliche Stiele für Mistrechen und Schaufeln fertiggestellt, setzte sich auf die
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Bank nahe der Herdstelle in der Diele und schaute den alt gewordenen, müden Meister geradeheraus an, der einen Schluck dünnes Bier aus einem irdenen Becher nahm. „Du solltest essen, dass du bei Kräften bleibst!“ mahnte die alte Mutter und strich mit zittriger Hand durch sein schütteres Haar. „Vielleicht werden wir es selber noch erleben, dass es eine Stadtmauer gibt!“ „Du bist allzu kühn in deinen Vorstellungen! Es ist nun doch schon viel Zeit ins Land gegangen, ohne dass sich seit des Kaisers Besuch etwas verändert hätte.“ Der alte Meister fühlte seit einiger Zeit seine Kräfte schwinden und mochte sich über solch verstiegene Vorhaben einfach nicht mehr den Kopf zerbrechen. „Und du, mein Sohn, sieh lieber zu, dass du ein rechtes Weib heiratest und deinen Hausstand hast, denn eines Tages wirst du unsere Werkstatt weiterführen, das ist das Wichtigste!“ Der junge Geselle nickte beruhigend, dachte jedoch an all die Geschehnisse, die in dieser Zeit über das kleine Reich Essende hereingestürmt kamen, die den alten Vater jedoch nichts mehr anzugehen schienen. Das kriegerische Heer des Kölner Erzbischofs war herangezogen gekommen und hatte im Streich die Vogtei besetzt, über die der Erzbischof nun die Ausübung der Gerichtsbarkeit beanspruchte. Es ging die Kunde, er wolle die ganze Siedlung befestigen, um damit einen wehrhaften Stützpunkt zu seinen Ländereien in Westfalen zu bekommen. Davon hatte der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen bald erfahren und die verschworene Runde sogleich wieder zusammengerufen. „Lassen wir doch die Äbtissin sich mit dem Erzbischof um die Rechte an der Vogtei streiten“, sagte er energisch, „vielleicht kann uns das von Nutzen sein, um beide Seiten für eine Befestigung der Stadt zu gewinnen!“ Eine erregte Debatte begann, und schließlich einigten sie sich auf eine regelrechte List. Sie würden ihren Vorschlag zum Bau einer wehrhaften Stadtmauer erst mit der Äbtissin bereden, dass sie in der Befestigung auch Schutz für ihr Stift sähe, aber
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ebenso mit dem kölnischen Vogt verhandeln, um seine Unterstützung zu dem Bau zugesagt zu bekommen. Die besten Verhandlungsführer, der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen und der Kaufmann Rutger, übernahmen die Sache und machten sich alsbald daran, bei den beiden Seiten vorzusprechen. Voll Ungeduld warteten sie auf die Antworten der beiden Seiten und brauchten manche List und Tücke, die Äbtissin zu bereden, in einer Stadtmauer ein Bollwerk gegen die Kölner zu sehen, und den Kölner Vogt zu überzeugen, sie wollten sein Ziel eines Stützpunktes unterstützen. Doch war es ihnen am Ende tatsächlich gelungen, beider Seiten Zustimmung zu erhalten! Der junge Geselle schmunzelte leise in sich hinein und sah den alten Meister mit kraftloser Hand den Becher heben. Sollte er ihm mitteilen, dass sie bereits kurz vor dem Ziel ihrer Träume waren? „Hannes Sohn, schnell, komm heraus! Es gibt die eine Versammlung aller Beteiligten zur Stadtbefestigung! Wir werden eine Stadtmauer bauen!“ Voll von unbändiger Freude schallte die Stimme des Seidenstickers Evert in die Diele, und er stürmte geradezu herein, sah den alten Meister zusammengesunken bei der Mutter und dem jungen Gesellen auf der Bank am Herdfeuer sitzen und ließ sich mit einem erleichterten Schwung neben ihnen nieder. Noch ehe der junge Geselle etwas fragen konnte, fuhr der Seidensticker voll überschwänglicher Freude fort: „Stellt euch vor, in drei Tagen ist die Versammlung aller! Es sollen sich sechs Bürger und sechs Ministeriale, die Dienstmannen, zusammentun unter Zustimmung der Äbtissin, der Herren Kanoniker und des Kölner Vogtes, um den Beschluss zur Stadtbefestigung zu fassen und mit einer Urkunde zu besiegeln! Essende wird eine Stadtmauer haben, Hannes Sohn,
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wir werden freie Bürger unserer Stadt! Dann ist das Stadtrecht bald auch in unserer Hand!“ „Ich habe es ja gesagt, Vater, alter Meister, es ist soweit! Wir brauchen nicht auf unsere Kindeskinder zu hoffen, wir schaffen es schon!“ rief der junge Geselle beglückt, gab dem alten Meister einen vergnügten Stoß in die Seite und fragte den Seidensticker gespannt: „Und wer sind die sechs von uns, von den Bürgerlichen bei der Versammlung? Ist der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen dabei und die Kaufleute Bernard und Rutger?“ „Gewiss, die sind natürlich dabei, auch Wennemar, der junge Kaufmann aus dem Sauerland, der das neue Haus bei euch in der Limbecker Straße gebaut hat, dann der Goldschmied Albrecht, und auch ich werde dabei sein!“ Der Stolz über seine Wahl unter der wohlhabenden Bevölkerung ließ den Seidensticker sich sogleich noch gerader aufrichten. „Ihr werdet unsere Sache gewiss gut vertreten!“ bestätigte der junge Geselle und freute sich aufrichtig darüber, dass der lang ersehnte Wunsch nun doch bald in Erfüllung zu gehen schien! Voll Spannung wurde in der Siedlung die Versammlung erwartet, und in den Gassen und an den Kumpen, wo die Weiber und Mägde mit ihren Wasserkübeln zusammenstanden, gab es kein anderes Thema mehr als die bevorstehende Versammlung. „Was soll sich schon ändern für uns kleine Leute?“ warf eine ärmliche, gebeugte Frau ein, deren Hemd bereits an einigen Stellen zerschlissen war, „Wir stehen doch unter dem Schutz der Heiligen des Stifts, sie beten für unser Seelenheil und trösten uns, das kann uns keine Stadt geben!“ „Unsere Kaufleute werden wohl herrisch!“ keifte die junge Frau eines der Schneider vom Stift, „Wenn die das Sagen haben, wird es uns gewiss noch schlechter gehen. Sie werden alle Gebühren zum Eigennutz einfordern und machen sich selbst die Taschen voll! Bei den Geistlichen wissen wir wenigstens, dass sie alles für unser Seelenheil tun!“
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„Aber diese Adelstöchter sind doch die meiste Zeit gar nicht hier, sondern auf ihren Burgen!“ warf die zierliche Frau des Kürschners Wernher ein und zupfte am Rock aus feinerem glatten Tuch, „Außer der Äbtissin und den jungen Anwärterinnen ist doch kaum eine die ganze Zeit hier! Und wenn, dann ergehen sie sich in Muße und Gespiel und frönen der Falkenjagd!“ „Die Gebete aber halten sie und den Chordienst“, berichtete eine Magd vom Stift, die die Gemächer der Stiftsdamen zu reinigen hatte, und wrang einen Lappen im vollen Wasserkübel aus, dass es nur so spritzte, „und ihre Ämter werden mit Strenge ausgeübt. Davor fürchten sich die jungen Anwärterinnen, denn es gibt gar viele Strafen!“ „Sie haben aber alle Gewalt über uns und bekommen alle Einnahmen, die dann nur dem Stift zugute kommen!“ rief die Magd des Kaufmanns Bernard und bekam ganz rote Wangen dabei, „Mein Herr sagt, wenn ein Rat der Bürger eine Stadt regiert, hat die Stadt alle Einnahmen und kann alles für das Wohl der Stadt und der Bürger tun. Und alle können das freie Bürgerrecht erwerben!“ Alle Augen starrten die Magd des Kaufmanns an, die gewöhnlich eher wortkarg war und sich meist nicht lange am Brunnen aufhielt. Jetzt aber redete sie, als ginge es um ihr Leben. „Auch wir können das Bürgerrecht bekommen, stellt euch vor, wir Unfreie könnten unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Ich würde gern einen rechten Handwerker heiraten und eine freie Bürgerin sein!“ „Wer hat dir denn diese Flausen in den Kopf gesetzt?“ rief eine dicke Magd vom Viehof schnaufend, „Wir sind als Unfreie geboren und werden es auch bleiben. Es ist die gottgegebene Ordnung, und keiner wird daran etwas ändern!“ Es war allenthalben zu spüren, welche Zweifel auf der einen, und welche Vorfreude auf der anderen Seite in der kleinen Bevölkerung aufkamen, denn allen war gewisslich klar, dass sich mit diesem Beschluss etwas Grundlegendes für das ganze Reich des Stiftes Essende ändern werde.
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„Im Namen aller Unterzeichnenden der Urkunde!“ Eine kräftige Stimme erschallte über der murmelnden Menge, die dicht gedrängt auf dem Burgplatz stand, als der große Augenblick gekommen war, an dem das Ergebnis der Verhandlung dem Volk mitgeteilt werden sollte. „Die Gemeinheit der Dienstmannen und Bürger schließt mit Zustimmung der Äbtissin und des Konvents des Stifts Essende, mit Zustimmung auch des Vogtes einen Vertrag mit den folgenden Bestimmungen!“ Mit angehaltenem Atem lauschten die Kaufleute und Handwerker, die Tagelöhner und Gesinde, Freie und Unfreie, selbst die Bauermeister der neun Oberhöfe waren gekommen von Borbeck, Huckarde, Ringeldorf, Nienhausen, Ückendorf, von Eickenscheidt und natürlich vom Viehof, denn diese öffentliche Verlesung musste jeder mit eigenen Ohren gehört haben. Alles drängte sich näher zusammen, denn gerade hatte der stattliche Volmar, seines Zeichens Schulte des Viehof, das große Pergament dem Volk gezeigt, das mit vielen Lettern beschrieben und mit einem an rotem Band befestigten Siegel beglaubigt war. „Zu Ehren der heiligen Jungfrau Maria und der heiligen Märtyrer Cosmas und Damian, zum Nutzen der Äbtissin und zum Schutz der Ministerialen und der Bürger soll die Stadt Essende befestigt werden! Die Bürger tragen hierzu alleine die Kosten und halten alleine die Nachtwache. Die Ministerialen wohnen mit ihren Abhängigen innerhalb der Stadt abgabefrei…“ Die kräftige Stimme des Schulten schallte über die gebannte Menge, doch nun ging ein Raunen durch das Volk, sodass der in voller Bewaffnung bereit stehende Dienstmann Bruno von Lippe dem Hornbläser ein Zeichen geben musste, für Ruhe zu sorgen. Dem jungen Gesellen des Wagners waren die Knie weich geworden, denn ihm kamen die Zweifel, ob die unvorstellbaren
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Kosten einer ganzen Befestigung denn tatsächlich von den Bürgern allein getragen werden könnten! Wenn die Dienstmannen und alle Angehörigen des reichen Stiftes sich nicht daran beteiligen würden, wie sollten alleinig die Bürger solches bezahlen? Doch wurde er aus seinen Gedanken gerissen durch die herüberschallenden Worte des Schulten: „Werden Bürger oder Ministeriale von Feinden geschädigt, sollen sie nicht wechselweise für den Schaden aufkommen müssen. Beide Parteien sollen sich aber mit Rat und Hilfe unterstützen. Streitigkeiten zwischen Ministerialen und Bürgern werden von einem Ausschuss von zwölf Geschworenen aus je sechs Ministerialen und Bürgern geschlichtet…“ Wieder ging ein unruhiges Gemurmel durch die Menge, und der alte Beutler dachte, sie werden es sich wohl überlegt haben mit diesen Geschworenen, sie lassen sich hoffentlich nicht übervorteilen von den Dienstmannen, die gewiss nur zum Nutzen des Stifts verhandeln werden! „Von den Hörigen der Ministerialen darf niemand als Bürger aufgenommen werden, sie sollen, wie auch die Leute des Vogts, nach dem bisherigen Recht leben. Die Bürger sollen ebenfalls ihre angestammten Rechte genießen! Mit dem Stadtsiegel wird die Urkunde beglaubigt und erlangt damit Rechtskraft! Im Jahre des Herrn zwölfhundertundvierundvierzig!“ Unter den anwesenden Dienstmannen gab es zustimmendes Nicken, denn sie hatten befürchtet, sie müssten sich an Kosten und Diensten der Stadt beteiligen, und ihr Gesinde werde sie sobald als möglich im Stich lassen um sich zu freien Bürger zu erklären. „Wir werden die Sache schon schultern!“ beteuerte der Goldschmied Albrecht und legte dem Kaufmann Bernard die Hand auf die Schulter, „Komm nun, und lass uns einen kräftigen Umtrunk darauf beim Rutger nehmen!“ Sie hatten die bedeutsame Urkunde unterschrieben, von nun an waren sie die Stadtherren, und so schritten die Kaufleute Hugo,
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Rutger, Bernard und der junge Wennemar stolz durch die Menge um auf ihren ersten Erfolg die Krüge zu heben. „Es wird gewiss viel Arbeit für uns Handwerker geben!“ stellte der Zimmermann Willem fest, der für die Stiftsgebäude schon etliche Arbeiten hatte leisten können und sich bereits vorstellte, dass Gerüste, hölzernes Dachgebälk und Tore gebraucht würden für eine ordentliche Mauer. Er hatte die stattlichen Wehrgänge auf der Dortmunder Stadtmauer gesehen und die riesigen Stadttore bestaunt, und dies alles erstand nun wieder in seiner Vorstellung. Ich werde Gehilfen brauchen und Tagelöhner, dachte er und freute sich insgeheim auf diese neuen Aussichten, die sein Geschäft beleben würden. „Und es werden Werkzeuge gebraucht, Hammer und Kellen und Geräte für den Bau, wir werden jede Menge zu tun bekommen!“ rief erfreut der Schmied und klatschte sich in Vorfreude in die schwieligen Hände, „Auch du, junger Wagner, mache dich bereit! Sie werden jede Menge Karren brauchen, Leitern und …“ Der junge Geselle machte große Augen, soweit hatte er noch gar nicht gedacht! Welch große Nachfrage würde auf die Werkstatt zukommen? Er musste sich unbedingt mit dem alten Meister beraten, der vor Schwäche im Haus geblieben war und daniederlag, als würde sein letztes Stündlein bald schlagen. Ich werde die Werkstatt übernehmen müssen, er wird es nicht mehr schaffen, ging dem jungen Gesellen durch den Kopf, ich werde ein Weib nehmen und wir werden die Werksatt erweitern, vielleicht brauchen wir Gehilfen und Handlanger, es wird viel zu tun geben! Er nahm sich ernstlich vor, dies alles mit dem alten Meister sogleich zu besprechen und die Sache in die Hand zu nehmen. „Das ist eine rechte Entscheidung, mein Junge!“ Des alten Meisters Stimme kam schwach von seiner Bettstelle her, und die Mutter sorgte sich bereits, dass er den Tag nicht überstehen werde.
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„Sorge dich nicht, Mutter“, versuchte der junge Geselle sie zu beruhigen. „Du wirst auch in meinem Haus gut versorgt werden und brauchst nicht Hunger und Armut fürchten wie viele elende Witwen und Waisen unter uns!“ Nun war es an ihm, die Werkstatt voranzubringen und einen Hausstand zu gründen. Der alte Meister hatte ihm geraten, die Tochter des Schneiders aus ihrer Nachbarschaft, die tatkräftige, umsichtige Aleke zur Frau zu nehmen, und da beide Familien sich einig wurden, stand der Verheiratung nichts entgegen. Das Lager wurde geteilt, der Segen des Geistlichen erbeten, den Armen und der Kirche reich gespendet und ein Fest gefeiert mit aller Nachbarschaft mit gehörigem Schmaus von Braten und Grützen, reichlich Bier und gar dünnem Wein, und Spielleute fidelten und flöteten zu fröhlichem, ausgelassenem Spiel und Tanz. So war neues Leben ins Haus des Wagners gekommen. Aleke, die Wagnersfrau, ging auch ihrem Mann bei der Arbeit zur Hand, sie ließ sich gern zeigen, wie an der Hobelbank eingespannt und gebohrt wurde, wie die Stiele für Rechen und Mistgabeln hergestellt und die Holzleitern zusammengesetzt wurden. Die schwere Herstellung von Rädern blieb jedoch alleinig dem Wagner vorbehalten. Es wurden auch schon Karren und Wagen bestellt, sodass Hannes bald zwei Gehilfen anstellen musste, denn obwohl sich die Verhandlungen über die Befestigung der Stadt hinzogen, wurden überall die benötigten Werkzeuge und Gerätschaften bereits angefragt. So war er mit seinem Hausstand zufrieden und spürte die Aufbruchstimmung, die das begonnene Vorhaben unter den Handwerkern der Siedlung hervorgerufen hatte. Bald darauf starb der alte Meister, und der Sohn vermisste ihn schmerzlich, da er seinen Rat und seine geduldige Übersicht über alle Dinge bräuchte. Der alten Mutter wurde eine Kammer hergerichtet, und sie konnte sich bald der Kinder annehmen, die der jungen Familie geboren wurden.
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Dem ersten gaben sie den Namen Johann, und der hatte bald seine Freude am Spiel mit kleinen hölzernen Klötzchen und kroch vergnügt unter den Gehilfen umher durch die Werkstatt. Der Zweite wurde Tilmann genannt, er saß oft bei der alten Mutter und sammelte Rübenblätter und Feuerhölzer in verschiedenen Säckchen. Unter großen Schmerzen gebar die Wagnersfrau Aleke bald darauf ein drittes Kind, es war ein Mädchen, und es war so schwächlich, dass die Familie befürchtete, es würde nicht lange am Leben bleiben. So wurde zwei Tage nach der Geburt der Geistliche geholt für die Taufe, dass seine Seele gerettet sei, doch das Kleine fing bald kräftig zu essen an und krabbelte der alten Mutter hinterher zu dem Beet hinterm Haus, wo sie Kräuter, Kohl und Lauch zogen. „Eines Tages werdet ihr gewiss sehen, wie um unsere Stadt eine hohe Stadtmauer wachsen wird“, erzählte der Vater seinen Kindern gern mit leuchtenden Augen, und er dachte daran, wie mühsam es zu dieser Entscheidung gekommen war. Die beiden Jungen, Johann und Tilmann, wollten dann alles ganz genau wissen und versuchten aus den Hölzern der Werkstatt Türme und Tore zu bauen, wie sie es sich vorstellten, während die Jüngste, Alburga, am liebsten mit der Mutter die Kräuter zupfte oder ihr auf den Markt folgte, wenn die Bauern der Umgebung mit ihren Körben und Karren auf den Burgplatz kamen und ihre Gemüse, Käse, Hühner und allerlei Waren anboten. Kaum hatte die Wagnersfrau mit ihrer Tochter an der Hand eines Tages den Markt im Burghof erreicht, fiel ihr bei der Bäuerin vom Hof Huttrop eine ganze Runde aufgeregter Weiber und Mägde auf, und neugierig kam sie heran. „Ah, Aleke, Wagnersfrau, das musst du deinem Mann erzählen: Der Kaiser ist gestorben! Der Kaiser ist tot!“ „Manche sagen, das sei nicht wahr!“ entgegnete der schmächtige Knecht Aleff des Dienstmanns Bruno von Lippe, „Mein Herr hat solches gesagt!“ „Was geht uns der ferne Kaiser an? Unsere Reichsfürstin wird uns ja erhalten bleiben!“ Die Frau des Beutlers wischte sich ein
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paar Schweißperlen von der Stirn und griff nach dem schwer beladenen Korb vor ihren Füßen. „Wenn es aber keinen Herrscher im Reich gibt, wird sie vielleicht unsere Urkunde anzweifeln!“ mischte sich die Frau des Kaufmanns Bernard ein, „Vielleicht erkennt sie auch die Geschworenen nicht mehr an!“ Ihr Gesicht wurde ganz bleich, da sie daran dachte, dass dies auch ihren Mann als einen der Geschworenen beträfe, und voll Unruhe machte sie sich davon, um ihrem Mann all das zu berichten. In Windeseile hatte sich diese Nachricht in allen Straßen und Gassen herumgesprochen, und der Kaufmann Bernard, der vom Knecht eines Dienstmannes darüber bereits unterrichtet war, rief die Runde der bürgerlichen Geschworenen des Abends nach dem Läuten des Münsters zur Vesper in seinem Haus zusammen. „Wir sollten uns beraten, was zu tun sei, falls die Reichsfürstin unsere Urkunde und alle Beschlüsse daraus durch des Kaisers Tod für nichtig erklärt!“ „Glaubst du denn, sie wird das tun?“ fragte der Kaufherr Hugo von Brünglinghausen nachdenklich, „Wir haben doch unsere Urkunde in der Hand! Solange die nicht zerstört oder verloren ist, wird es schwerlich gelingen, den Beschluss ernstlich anzuzweifeln.“ „Aber ohne Kaiser oder König ist doch alle Ordnung in Gefahr! Jeder Fürst wird jetzt versuchen, seine Macht auszuweiten, wie es ihm gefällt!“ rief der junge Kaufmann Wennemar, der gerade von einer weiten Handelsreise nach Brügge mit den Kaufleuten der Hansen zurückgekehrt war und dort solcherlei Befürchtungen gehört hatte, „Es gibt ja keinen Erben und Nachfolger, und niemand weiß, wer die Krone tragen soll! Es gibt sogar Streitereien darum, und man redet auch davon, dass sich gar zwei zum König krönen lassen werden! Es sieht nicht gut aus für das ganze Reich!“ Betreten schauten die Versammelten den stets besonnenen Kaufmann Wennemar an. Nun war er sichtlich erregt und sah
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auch allen Fernhandel in Gefahr, wenn Gesetzlosigkeit und Räuberei mit Mord und Totschlag auf den fernen Wegen, und damit auch auf dem Hellweg überhand nähmen. „So schlimm wird es wohl nicht kommen“, versuchte der Goldschmied Albrecht zu beschwichtigen, „wir sollten jedoch die Ministerialen unter den Geschworenen nochmals auf ihre Unterschrift verpflichten.“ So wurde verabredet, dass der Goldschmied und der Kaufmann Rutger sich mit den Dienstmannen darüber verständigen würden. Als sie kurz darauf zur Kurie des Dienstmanns Joachim von Landsbach kamen, holperte ein großer Karren, gezogen von zwei stattlichen Rappen und geleitet von vier bewaffneten Rittern, deren Wappen den beiden Stadtherren unbekannt waren, gerade aus dem Hof der Kurie und hielt auf das Burggelände zu. „Ich kann es nicht sagen, aber etwas gefällt mir nicht an dem seltsamen Aufzug!“ flüsterte der Goldschmied dem Kaufmann zu, und der nickte mit zusammengezogenen Brauen, „Vielleicht können wir vom Dienstmann erfahren, was hier vor sich geht!“ Die beiden fühlten sich schon recht sicher in ihrer neuen Aufgabe als Herren der Stadt, und sie nahmen die Sache sehr ernst und pflichtbewusst. Der Dienstmann Joachim von Landsbach war ein in edles Tuch gewandeter stolzer Herr aus begütertem Adel des Münsterlandes, der sich mit den Herren von Eickenscheidt dem Wildpferdefang im Emscherbruch verschrieben hatte und auch Pferdehandel betrieb bis nach Dänemark, Ungarn und Sizilien. „Sizilien ist die Erklärung!“ lachte er mit einer großen Geste, als er die Fragen der neuen Stadtherren entgegennahm. „Ich habe mit dem Hof des Kaisers gehandelt und ihm die besten und feurigsten Pferde verkauft!“ Er ließ sich auf einem schweren Lehnstuhl aus feinem Holz nieder und betrachtete
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seine Bittsteller lange, ehe er sie anwies, sich auf die Bank ihm gegenüber an der Wand zu setzen. „Der Kaiser hat alle Wissenschaften zu schätzen gewusst und hat alles Wissen an seinem Hof versammelt. Und er hat dem Stift eine unschätzbare Kostbarkeit vermacht, die gut verwahrt werden muss.“ Er machte eine bedächtige Pause und wartete auf bewundernde Worte, doch die Stadtherren blieben ungerührt und erwarteten lediglich seine Bestätigung ihres gemeinsamen Beschlusses in der Urkunde. „Was soll die Frage? Gewiss stehen wir zu diesem Beschluss“, bemerkte der Dienstmann wie nebenbei und entließ die Stadtherren baldigst wie lästige Bittsteller. Was ihn viel mehr beunruhigte, war der Inhalt der Truhe, die gerade auf dem Weg in die Burg war, denn dieser einzigartige Schatz aus dem Vermächtnis des Kaisers Friedrich II. war selbst ihm unheimlich, und es war etwas, das die Gottesfürchtigen erschüttern würde, wenn sie es sehen würden. So hatte er zwar zunächst arge Bedenken gehabt, die Truhe irgendwo in den vielen versteckten Räumen oder Kellern des Stifts unterbringen zu lassen, doch war ihm nirgends ein besserer Ort zu ihrer Verwahrung eingefallen. Er fürchtete nur, was geschehen würde, wenn eines Tages eine der Stiftsdamen diese Truhe finden und öffnen würde.
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