Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa

290 Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa Relapse Prevention in Anorexia Nerv...
Author: Silvia Müller
0 downloads 1 Views 193KB Size
290 Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze

Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa Relapse Prevention in Anorexia Nervosa

Institute

Schlüsselwörter ▶ Anorexia nervosa ● ▶ Essstörung ● ▶ Rückfallprophylaxe ● ▶ Therapie ● Keywords ▶ anorexia nervosa ● ▶ eating disorder ● ▶ relapse prevention ● ▶ therapy ●

eingereicht 24. November 2012 akzeptiert 11. Januar 2013 Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0033-1334957 Online-Publikation: 16.4.2013 Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0937-2032 Korrespondenzadresse Dr. Katrin Giel Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik Tübingen Osianderstraße 5 72076 Tübingen [email protected]

Katrin Giel1, Elisabeth Leehr1, Sandra Becker1, Helen Startup2, Stephan Zipfel1, Ulrike Schmidt2 1 2

Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik Tübingen Institute of Psychiatry, King’s College London, UK

Zusammenfassung

Abstract

Die Anorexia nervosa (AN) ist durch hohe Rückfallraten gekennzeichnet. Therapiekonzepte zur Rückfallprophylaxe, die auf die Aufrechterhaltung der in der Akutbehandlung erreichten Veränderungen ausgerichtet sind, können als eines von mehreren Elementen innerhalb eines integrativen Gesamtbehandlungsplans den Krankheitsverlauf der AN verbessern. Das Behandlungskonzept Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment in Adults (MANTRA) von Schmidt & Treasure beinhaltet ein solches Therapieprogramm zur Rückfallprophylaxe, das 5 Phasen umfasst: eine initiale Phase des Veränderungsdialogs und der Motivierung, die Erarbeitung eines individuellen Rückfallmodells, die Förderung kognitiver und sozio-emotionaler Fertigkeiten, die Arbeit an der Identität der Patientin sowie eine abschließende Bilanzierungsphase. Das Therapieprogramm ist auf der Basis des Störungsmodells der AN von Schmidt & Treasure sowie empirischen Befunden zu Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich Krankheitsrückfällen entwickelt worden.

Anorexia nervosa is characterised by high relapse rates and thus there is a need for strategies that reduce reoccurrence of illness. One way of achieving this is to integrate relapse prevention into treatment, but clearly this requires identification of risk and maintenance factors. The Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment in Adults (MANTRA) by Schmidt & Treasure has 5 major treatment stages. These include an initial stage of motivation and dialogue about change, an individual relapse formulation, improvement of cognitive and socio-emotional skills, work on the patient’s identity and eventually a final stage of ending and parting. These treatment stages are derived from a maintenance model of AN by Schmidt & Treasure and on evidence from recovered patients and part of their objective is to prevent relapse.

Langzeitverlauf und Rückfälle bei Anorexia nervosa

Zur Definition eines Rückfalls bei Anorexia nervosa liegt keine einheitliche Definition vor [6]. Aus klinischer Sicht wird von einem Rückfall gesprochen, wenn sich der Zustand einer Patientin wesentlich verschlechtert, nachdem sie sich bereits in einer (Teil-)Remission der Essstörung befunden hatte. Diese Verschlechterung manifestiert sich im Allgemeinen in den Kernsymptomen der Essstörung, d. h. beispielsweise in einer signifikanten Gewichtsabnahme oder dem Wiederauftreten von Essanfällen. Die Beurteilung von Verschlechterungen und Rückfällen obliegt somit weitgehend dem klinischen Eindruck und sollte den individuellen Krankheitsverlauf und die bisherigen Fortschritte der Patientin berück-





Der Langzeitverlauf der Anorexia nervosa ist häufig von wiederkehrenden Rückfällen und hohen Chronizitätsraten gekennzeichnet [1, 2]. Rund 40 % der Patientinnen, die im Verlauf einer stationären oder teilstationären Essstörungsbehandlung Normalgewicht erreicht haben, erleiden im ersten Jahr nach Entlassung einen Rückfall, wobei innerhalb der ersten Monate nach Entlassung die Rückfallgefahr am höchsten ist [3, 4]. Insbesondere diese frühen Rückfälle sind prognostisch ungünstig [5] und gelten als Beiträge zu dem oft langwierigen Krankheitsverlauf.

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295



Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

Autoren

Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze 291

sichtigen. Häufig tritt ein solcher Rückfall nicht plötzlich und isoliert auf, sondern resultiert aus einer Reihe kleinerer Rückschläge, denen nicht rechtzeitig oder adäquat entgegengewirkt wurde.

▶ Identifikation und Entwicklung von Copingstrategien zur Verhinderung von Rückfällen und zum Umgang mit aufgetretenen Rückschlägen und Rückfällen; ▶ Stärkung der Selbstwirksamkeit und individueller Ressourcen.

Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich eines Rückfalls

Rückfallprophylaxe in der Therapie der Anorexia nervosa



Unter einer Rückfallprophylaxe werden Therapieprogramme verstanden, die spezifisch darauf ausgerichtet sind, Veränderungen, die während einer Akutbehandlung der Störung erreicht worden sind, aufrechtzuerhalten und Rückfälle in die Störung zu vermeiden. Solche Therapieprogramme können bei der Anorexia nervosa zu einem verbesserten Krankheitsverlauf beitragen. Die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Essstörungen weist auf die hohe Rückfallgefahr nach häufig erfolgreicher intensiver Akuttherapie bei der Anorexie hin und thematisiert die Notwendigkeit eines integrativen Gesamtbehandlungsplans für betroffene Patientinnen, in dem unterschiedlich intensive Behandlungssettings und Behandlungsangebote vernetzt werden sollten [12, 13]. Die Rückfallprophylaxe ist als einer von mehreren Teilen eines solchen integrativen Gesamtbehandlungsplans zu verstehen, wobei davon auszugehen ist, dass bei vielen Anorexie-Patientinnen eine Rückfallprophylaxe nicht als alleinige Anschlussbehandlung nach (teil-)stationärer Therapie ausreichen wird, um eine nachhaltige Remission zu sichern. Daher sollte sie im Sinne eines weiteren Therapieziels die Aufnahme einer Anschlussbehandlung (i. d. R. ambulante Psychotherapie) prüfen und gegebenenfalls strukturieren und unterstützen.

Elemente einer Rückfallprophylaxe Gemäß klinischer Richtlinien zur Implementierung von Therapieprogrammen zur Rückfallprophylaxe sollten diese folgende Elemente enthalten [14]: ▶ Erfassung des individuellen Störungsverlaufs und der bisherigen Geschichte von Remissionen und Rückfällen; ▶ Psychoedukation bezüglich des Verlaufs von Genesung und Rückfällen; ▶ Überprüfung und Stärkung der Therapiemotivation; ▶ Setzen individueller Behandlungsziele; ▶ Identifikation und Beobachtung individueller potenzieller Auslöser und Risikosituationen für einen Rückfall;

Therapieprogramme und Evidenz zur Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa Während die meisten Therapiekonzepte zur Akutbehandlung der Anorexia nervosa in späteren Phasen der Behandlung Interventionen zur Rückfallprophylaxe beinhalten, sind bislang kaum eigenständige Therapieprogramme entwickelt worden, die spezifisch die Verhinderung von Rückfällen bei Anorexia nervosa adressieren. Zur Wirksamkeit solcher eigenständigen Therapieprogramme sind bisher einige wenige Psychotherapiestudien publiziert worden, und diese belegen positive Effekte einer Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. So erlitten Patientinnen, die über ein Jahr nach Entlassung aus der stationären Therapie eine spezifische ambulante kognitiv-behaviorale Rückfallprophylaxe erhalten hatten, weniger und spätere Rückfälle als Patientinnen der jeweiligen Kontrollgruppe, die an Maßnahmen der Regelnachsorge teilnahmen [15] oder eine Ernährungsberatung erhielten [16]. Auch ein mehrmonatiges internetbasiertes Selbsthilfeprogramm mit monatlichen online Therapeutenkontakten resultierte bei Anorexie-Patientinnen nach stationärer Therapie im Vergleich zu einer Treatment-as-usual Kontrollgruppe in einem positiveren Gewichtsverlauf und einer Verbesserung der Essstörungspathologie [17]. Eine mit Kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) kombinierte pharmakotherapeutische Behandlung mit Fluoxetin zur Rückfallprophylaxe bei Anorexie nach stationärer Therapie hatte keinen zusätzlichen Effekt im Vergleich zu Placebo [18].

Das Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment in Adults (MANTRA)



Das Therapiekonzept Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment in Adults (MANTRA) basiert auf dem von Ulrike Schmidt und Janet Treasure [19, 20] entwickelten Modell zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Anorexia nervosa. Dieses Modell nimmt an, dass die Entstehung einer Essstörung durch ängstlich-vermeidende und perfektionistisch-rigide Persönlichkeitszüge begünstigt und durch 4 Faktoren aufrechterhalten wird: 1) Rigider und detailfokussierter kognitiver Stil; 2) Sozio-emotionale Schwierigkeiten (z. B. in der Affektregulation); 3) Maladaptive Überzeugungen gemäß des Nutzens der Anorexia nervosa; 4) Ungünstige Reaktionen Angehöriger. MANTRA wurde auf der Basis empirischer Befunde zu Neuropsychologie, kognitiv-emotionalen Funktionen und Persönlichkeitsfaktoren bei Anorexie-Patientinnen entwickelt. Es integriert sowohl individuelle als auch interpersonelle Faktoren und Interventionsansätze und ist modular angelegt, sodass eine Anpassung an den individuellen Therapieprozess der Patientin möglich ist [20]. Sowohl eine Fallserie als auch eine aktuelle randomisiert-kontrollierte Studie haben die hohe Akzeptanz des MANTRA Therapiekonzeptes belegt [20, 21]. Patientinnen, die 20 Stunden ambulant MANTRA erhielten, erzielten sowohl zu Therapieende als auch katamnestisch eine signifikante

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295

Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

Faktoren, die einen Rückfall begünstigen bzw. vor einem Rückfall in die Anorexie schützen könnten, stellen wesentliche Ansatzpunkte für eine Intervention zur Rückfallprophylaxe dar. Langzeitkatamnesen haben unter anderem eine lange Erkrankungsdauer, eine stark ausgeprägte Essstörungssymptomatik (u. a. niedriger BMI), den Binge/Purging Subtyp, Hyperaktivität, erhöhte Komorbidität sowie ein höheres Ersterkrankungsalter als Risikofaktoren für einen Rückfall identifiziert [4, 7, 8]. Während zu Schutzfaktoren bislang kaum Evidenz aus größeren, prospektiven Studien vorliegt, weist eine Reihe qualitativer Arbeiten [9–11] darauf hin, dass aus Patientinnensicht soziale Unterstützung, eine starke Veränderungsmotivation, die Entwicklung einer von der Essstörung unabhängigen Identität, eine starke therapeutische Allianz, die Auffassung der Genesung als Prozess sowie Selbstakzeptanz zur Überwindung der Essstörung beitragen.

292 Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze

Rückfallprophylaxe



Struktur, Rahmenbedingungen und Behandlungssetting Das MANTRA Therapiekonzept ist für die Einzelpsychotherapie entwickelt worden, wurde jedoch in wissenschaftlichen Studien auch im Rahmen anderer Therapiesettings eingesetzt (z. B. einer expertengeleiteten Selbsthilfe mit therapeutischer Begleitung per E-Mail). Die Rückfallprophylaxe kann ebenso im Rahmen einer Gruppentherapie durchgeführt werden. Die Rückfallprophylaxe wird durch einen ausgebildeten ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten im Anschluss an eine (teil-)stationäre Behandlung durchgeführt. Während die Themen Ernährung und Gewicht üblicherweise einen großen Stellenwert in der Akutbehandlung der Anorexie haben, sollten diese im Rahmen der Rückfallprophylaxe weit weniger Raum einnehmen, jedoch zu Beginn jeder Therapiesitzung im Sinne eines Monitorings thematisiert werden. Hierzu kann das Fortführen eines Ernährungsprotokolls und einer Gewichtskurve unterstützend sein, wobei deren Einsatz je nach Fortschritten der Patientin zunehmend flexibel gehandhabt werden kann. Als wichtige Partner in der Behandlung während der Rückfallprophylaxe werden der Hausarzt sowie Angehörige der Patientin angesehen. Der Hausarzt kann wesentlich bei der Verhinderung von Rückfällen unterstützen, da der weitere Verlauf nach Entlassung in der Regel weiterhin im Rahmen mehr oder weniger engmaschiger somatischer Kontrolluntersuchungen in der hausärztlichen Praxis erfasst wird und dort kleinere Rückschläge, z. B. eine schleichende Gewichtsabnahme, auffallen, die dann im Rahmen der Rückfallprophylaxe thematisiert werden, um einen Rückfall frühzeitig zu verhindern. Zusätzlich wird die Patientin dazu ermutigt, ihr soziales Umfeld in die Rückfallprophylaxe mit einzubeziehen und als Unterstützung in der Verhinderung von Rückfällen zu nutzen. Das MANTRA Behandlungskonzept umfasst dazu eigene Informationsmaterialien für Angehörige und bietet die Möglichkeit der Teilnahme von Angehörigen in einzelnen Therapiesitzungen. Die Patientin wird ermutigt, Ideen zu entwickeln und zu kommunizieren, wie ihr Angehörige in konkreten Situationen bei der Verhinderung von Rückfällen helfen können. Voraussetzung für die Aufnahme einer Rückfallprophylaxe ist, dass die Patientin von der Akutbehandlung profitiert und Therapieerfolge erzielt hat, die aufrechterhalten und ausgebaut werden sollen. Als Ausschlusskriterien für dieses Behandlungskonzept sind ein sehr niedriger BMI (i. d. R. < 15 kg/m², da hier leitliniengemäß eine intensive Akutbehandlung indiziert ist), schwe-

re körperliche und psychiatrische Komorbiditäten sowie akute Suizidalität zu berücksichtigen. Bei deutlicher Verschlechterung des körperlichen und psychischen Befindens der Patientin im Verlauf der Rückfallprophylaxe sind deren Therapiesetting und Therapieziele nicht mehr ausreichend. Im Falle solcher Krisen sollte die Rückfallprophylaxe unterbrochen und die Patientin in einem intensiveren Behandlungssetting behandelt werden.

Therapeut-Patient-Beziehung Das MANTRA Therapiekonzept ist eng verknüpft mit der therapeutischen Haltung, die aus dem Motivational Interviewing stammt. Den Begründern des Motivational Interviewing (MI) Miller & Rollnick [23] zufolge ist dieser Ansatz durch folgende 3 zentrale Annahmen gekennzeichnet: a) MI ist eine spezifische Art der Kommunikation, die sich mit Veränderung beschäftigt, b) ist partnerschaftlich, d. h. autonomiefördernd (kein ExpertenRezipienten-Verhältnis) und c) evokativ, d. h. versucht, eigene bereits vorhandene Motivation des Gegenübers zu fördern. Motivational Interviewing geht davon aus, dass der Patient „Experte“ für seine Störung ist und in ihm bereits die Argumente und die Motivation für Veränderungen vorhanden sind. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, diese Argumente und Motivation behutsam und partnerschaftlich weiter zu fördern. Als sehr wichtig angesehen wird daher, Konfrontation zu vermeiden und Widerständen nicht entgegenzuwirken.

Therapieziele der Rückfallprophylaxe Das Therapieprogramm soll Rückfälle nach Akutbehandlung (i. d. R. nach Entlassung aus stationärer/teilstationärer Therapie) der Anorexia nervosa verhindern. Da zum Konzept eines Rückfalls bei der Anorexia nervosa keine einheitliche Definition vorliegt, ist dieses Ziel sehr individuell gestaltet, d. h., es geht primär darum, die individuellen Fortschritte einer Patientin bei Entlassung aus der Akuttherapie aufrechtzuerhalten. Sekundäre Therapieziele der Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa umfassen unter anderem die Erreichung einer möglichst langen rückfallfreien Phase bzw. das zeitliche Hinauszögern eines Rückfalls, falls möglich die Verbesserung der Essstörungssymptomatik (z. B. weitere Gewichtszunahme) und allgemeiner Psychopathologie, die Erhöhung der Lebensqualität und des Funktionsniveaus sowie die weitere Motivierung zur Aufnahme einer Anschlussbehandlung (i. d. R. ambulante Psychotherapie) oder Inanspruchnahme anderer Hilfsangebote (z. B. Betreutes Wohnen). Das Therapieprogramm sieht zur Festlegung der Therapieziele ein eigenes Modul vor. Den Prinzipien des Motivational Interviewings folgend, wird darauf geachtet, dass die Patientin ihre Therapieziele für die Rückfallprophylaxe selbst festlegt und formuliert. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, sie bei der Exploration eigener Ideen und Wünsche sowie deren Ausformulierung und Spezifizierung zu unterstützen.

Behandlungsphasen Das Therapieprogramm umfasst 5 Behandlungsphasen [20]: 1) In der initialen Phase soll ein Dialog über die derzeitige Veränderungsbereitschaft geführt werden. 2) Die zweite Phase umfasst die Erarbeitung eines individuellen Störungs- bzw. Rückfallmodells. 3) In der dritten Phase soll primär an kognitiven und sozio-emotionalen Fertigkeiten der Patientin gearbeitet werden. 4) In der vierten Phase steht die Arbeit an der Identität der Patientin im Vordergrund. 5) In der letzten Phase schließlich geht es um eine Bilanzierung des Erreichten und die Gestaltung des Abschieds.

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295

Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

Gewichtszunahme [20]. MANTRA war jedoch hinsichtlich der Gewichtszunahme einer Kontrollgruppe, die ein spezialisiertes klinisches Management erhalten hatte, nicht überlegen [20]. Das MANTRA Therapiekonzept wurde in einem weiteren Schritt von Ulrike Schmidt und ihrer Arbeitsgruppe speziell für die Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa weiterentwickelt (Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment: Staying Well) [22]. Das Therapieprogramm zur Rückfallprophylaxe basiert auf denselben Grundannahmen zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Anorexie, integriert aber darüber hinaus weitere Faktoren, für deren Einfluss auf Genesung und Rückfälle es erste empirische Hinweise gibt (vgl. Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich eines Rückfalls). Der empirische Wirksamkeitsnachweis dieses spezifischen Therapieprogramms steht derzeit noch aus.

Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze 293

Behandlungsphase

Behandlungsbaustein

Inhalte

begleitend in allen Behandlungsphasen

Ernährung & Gewicht

begleitend in allen Behandlungsphasen

im Rahmen von 1-2 Sitzungen für einen Teil der Sitzung Einführung in die Rückfallprophylaxe

– – – –

Besprechung des Essverhaltens anhand eines Essprotokolls Besprechung des Gewichtsverlaufs anhand einer Gewichtskurve Planung von Veränderungen des Essverhaltens Einbeziehung eines/einer Angehörigen

– – – – – – –

Psychoedukation bezüglich des Verlaufs der Anorexia nervosa Einführung in die Inhalte der Rückfallprophylaxe Überblick über die Behandlungsmodule Reflexion der Therapieambivalenz Analyse der persönlichen Beziehung zur Störung Setzen persönlicher Behandlungsziele Identifikation individueller Anzeichen eines Rückfalls

– – – – – – – – – – – – –

Psychoedukation bezüglich der Eigenschaften von Gefühlen Identifikation eigener Gefühle und des Umgangs mit diesen Perspektivenwechsel im Hinblick auf das Gefühlsleben anderer Umgang mit überwältigenden Gefühlen Entwicklung eines Selbstmitgefühls Psychoedukation bezüglich verschiedener Denkstile und deren Erfassung Verbesserung der kognitiven Flexibilität Reflexion persönlicher Maßstäbe und Erwartungen Verbesserung von Problemlöse-Fertigkeiten Reflexion der Anorexia nervosa als Teil der eigenen Identität Identifikation erreichter Behandlungsziele Identifikation von Bereichen, die weiterer Aufmerksamkeit bedürfen Strategien zur Aufrechterhaltung positiver Veränderungen

Überblick über die Behandlungsmodule (1) Veränderungsdialog Motivierung Behandlungsziele (2) Störungs- und Rückfallmodell

individuelles Rückfallmodell

Gefühle & soziale Fertigkeiten (3) kognitive und sozio-emotionale Fertigkeiten Denkstile (4) Identität

Identität

(5) Bilanzierung

Aufrechterhaltung & Weiterentwicklung

In den 5 Behandlungsphasen der MANTRA Rückfallprophylaxe spiegeln sich die oben genannten Faktoren zur Aufrechterhaltung von Essstörungen nach dem Modell von Ulrike Schmidt und Janet Treasure [19] und die empirischen Hinweise zu Schutzfaktoren bezüglich eines Rückfalls wider (für einen Überblick sie▶ Tab. 1). Neben den Themen, die sich mit den störungsspehe ● zifischen Symptomen befassen, werden Aufrechterhaltungsund Schutzfaktoren in den Fokus gerückt.

Veränderungsdialog Um mit der Patientin in einen Dialog über Veränderung zu treten, werden im Rahmen der Rückfallprophylaxe vor allem der bisherige Krankheitsverlauf und der aktuelle Gesundheitszustand der Patientin thematisiert. Gemeinsam mit der Patientin werden frühzeitig Fortschritte identifiziert, die sie bisher und zuletzt in der vorangegangenen Akutbehandlung erreicht hat, aber auch Bereiche, in denen die Patientin weiterhin Unterstützung benötigt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Festlegung von Therapiezielen, die während der ersten Behandlungsphase erfolgen sollte. Gerade nach einer intensiven Akutbehandlung sind große individuelle Unterschiede in der Therapie- und Veränderungsmotivation einzelner Patientinnen zu erwarten, sodass die Motivationsarbeit erfahrungsgemäß unterschiedlich viel Raum einnimmt. Die Patientin sollte frühzeitig ermutigt werden, sich selbst als Person wahrzunehmen, die aus mehr Persönlichkeitsanteilen besteht als „nur“ der Anorexie. Ebenfalls sollte in dieser ersten Therapiephase auf die Förderung sozialer Beziehungen und sozialer Unterstützung hingewirkt werden. Daher sollte frühzeitig und konkret mit der Patientin geklärt werden, wen sie aus ihrem sozialen Umfeld in welcher Form zur Unterstützung während der Rückfallprophylaxe einbinden möchte.

Störungs- und Rückfallmodell Als Grundlage für das individuelle Rückfallmodell der Patientin wird eine Perspektive auf den Krankheitsverlauf als wichtig erachtet, die die Genesung von der Essstörung als einen Prozess auffasst, der nicht immer gradlinig verläuft und in dem Schwierigkeiten und Rückschläge zu erwarten sind. Auf dieser Grundlage wird gemeinsam mit der Patientin ein individuelles Rückfallmodell erarbeitet, das auch die Definition von Rückfallanzeichen und individuelle Behandlungsziele einschließt. Die Patientin sollte dazu ermutigt werden, ihre persönlichen Risikosituationen und Anzeichen eines Rückfalls konkret und spezifisch zu benennen, deren Auftreten wöchentlich, beispielsweise mithilfe eines Rückfallprotokolls, zu überprüfen und gemeinsam mit dem Therapeuten zu reflektieren. Ziel der Rückfallprophylaxe ist es, dass einzelne zu erwartende Rückschläge im Genesungsprozess der Patientin nicht zu einem Rückfall kumulieren. Daher wird der Patientin frühzeitig die Haltung vermittelt, dass einzelne Schwierigkeiten und Rückschläge keine Katastrophe darstellen. Sie sollten vielmehr als wertvolle Möglichkeit verstanden werden, um neue Strategien im Umgang mit der Essstörung und ihren Symptomen zu erproben und länger andauernde Rückfälle zu verhindern. Typische Reaktionen der Patientin auf Rückschläge und bisherige Strategien im Umgang mit ihnen sollten gemeinsam reflektiert werden und es sollten gegebenenfalls hilfreichere Strategien erarbeitet werden.

Kognitive und sozio-emotionale Fertigkeiten Das Störungsmodell des MANTRA Therapiekonzepts geht davon aus, dass sowohl ein rigider und detailfokussierter kognitiver Stil als auch sozio-emotionale Schwierigkeiten betroffener Patientinnen zur Aufrechterhaltung der Anorexie beitragen. Die therapeutische Arbeit in den Bereichen rigider und detailfokussierter kognitiver Stil und sozio-emotionale Schwierigkeiten stellt

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295

Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

Tab. 1 Überblick über Struktur und Bausteine der Rückfallprophylaxe.

294 Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze

Fazit für die Praxis In der Behandlung der Anorexia nervosa sehen sich Patientinnen und Therapeuten häufig drohenden oder tatsächlichen Rückfällen gegenüber. Bislang sind kaum eigenständige Therapieprogramme entwickelt worden, die sich spezifisch mit der Behandlung von Patientinnen befassen, bei denen es darauf ankommt, im Anschluss an eine erfolgreich abgeschlossene Akutbehandlung das Erreichte aufrechtzuerhalten oder weiter zu verbessern. Das Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment in Adults (MANTRA) von Schmidt & Treasure bietet hierzu ein umfassendes, empirisch fundiertes Therapiekonzept an, das insbesondere für die ambulante Versorgung in der Einzel- oder auch Gruppenpsychotherapie geeignet ist. In der Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist dieses Therapiekonzept eng mit der partnerschaftlichen, autonomiefördernden Haltung verknüpft, die ursprünglich aus dem Motivational Interviewing stammt. Neben der Arbeit an individuellen Rückfallrisiken und Copingstrategien steht inhaltlich auch die ressourcenorientierte Stärkung einer störungsunabhängigen Identität der Patientin im Vordergrund.

Identität In einer Phase der Besserung oder Remission kann oft ein Gefühl der Orientierungslosigkeit oder Leere auftreten, nachdem in der Akutphase fast alle Gedanken und Handlungen auf Essen, Figur und Gewicht orientiert waren. Die Patientin wird bei der Auseinandersetzung mit ihrer Identität unterstützt, beispielsweise durch Anregung zur (Wieder-)Entdeckung von Persönlichkeitseigenschaften, Werten, Schwächen und Stärken. Zur Arbeit an der eigenen Identität haben sich insbesondere Interventionen aus der positiven Psychologie [24] als hilfreich erwiesen. Eine praktische Übung, die der Patientin bei der Auseinandersetzung mit ihrer Identität helfen kann, besteht in der detaillierten Vorstellung eines „Idealen Selbst“. In dieser Übung geht es darum, wie die Patientin sich ihre Persönlichkeit im Idealfall in der Zukunft vorstellt und unter der Prämisse, dass sie die Essstörung überwunden hat. Um dies zu konkretisieren, formuliert die Patientin Ziele für verschiedene Lebensbereiche (z. B. Familie, Partnerschaft, Studium/Beruf, Gesundheit) und Schritte, die sie diesen Zielen näher bringen.

Bilanzierung Durch die Bilanzierung des Erreichten – manche Dinge haben sich möglicherweise im Verlauf der Rückfallprophylaxe verändert, andere nicht – wird gemeinsam mit der Patientin reflektiert, welche Ziele sie erreicht hat und welche weiteren Entwicklungen sie sich in diesen Bereichen wünscht. Darüber hinaus sollte kritisch diskutiert werden, welche Bereiche aus Sicht der Patientin weiter Aufmerksamkeit erfordern. Auch sollte abschließend nochmals ressourcenorientiert thematisiert und zusammengefasst werden, welche Strategien zur Verhinderung von Rückfällen die Patientin aus der Rückfallprophylaxe mitnimmt und welche Personen in ihrem sozialen Umfeld sie auf ihrem weiteren Weg unterstützen und begleiten könnten. Das gemeinsame Zusammenstellen eines symbolischen „Notfallkoffers“ kann als konkrete Zusammenfassung und Perspektive am Ende der Rückfallprophylaxe hilfreich sein.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1 Zipfel S, Löwe B, Reas DL et al. Long-term prognosis in anorexia nervosa: Lessons from a 21-year follow-up study. Lancet 2000; 355: 721–722 2 Steinhausen H-C. Outcome of eating disorders. Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America 2009; 18: 225–242 3 Carter JC, Blackmore E, Sutandar-Pinnock K et al. Relapse in anorexia nervosa: a survival analysis. Psychological Medicine 2004; 34: 671–679 4 Carter JC, Mercer-Lynn KB, Norwood SJ et al. A prospective study of predictors of relapse in anorexia nervosa: Implications for relapse prevention. Psychiatry Res 2012; 200: 518–523 5 Zepf S, Mengele U, Hartmann S. The state of outpatient psychotherapy in Germany. Psychother Psychosom Med Psychol 2003; 53: 152–162 6 Couturier J, Lock J. What is recovery in adolescent anorexia nervosa? Int J Eat Disord 2006; 39: 550–555 7 Keel PK, Dorer DJ, Franko DL et al. Postremission predictors of relapse in women with eating disorders. Am J Psychiatry 2005; 162: 2263–2268 8 Steinhausen H-C. The outcome of anorexia nervosa in the 20th century. Am J Psychiatry 2002; 159: 1284–1293 9 Federici A, Kaplan AS. The patient’s account of relapse and recovery in anorexia nervosa: a qualitative study. Eur Eat Disord Rev 2008; 16: 1–10 10 Nilsson K, Hagglof B. Patient perspectives of recovery in adolescent onset anorexia nervosa. Eat Disord 2006; 14: 305–311 11 Pettersen G, Rosenvinge JH. Improvement and recovery from eating disorders: a patient perspective. Eat Disord 2002; 10: 61–71 12 Herpertz S, Herpertz-Dahlmann B, Fichter M et al., Hrsg. S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. Berlin: Springer; 2011 13 Giel KE, Groß G, Zipfel S. Neue S3-Leitlinie zur Behandlung von Essstörungen. Verweis auf alte Lücken im deutschen Gesundheitssystem. Psychother Psychosom Med Psychol 2011; 61: 293–294 14 Marlatt A, Parks G, Witkiewitz K. Clinical guidelines for implementing relapse prevention therapy. Illinois: The Behavioral Health Recovery Management Project; http://www.bhrm.org/guidelines/RPT %20 guideline.pdf 2002 15 Mitchell JE, Crosby RD, Wonderlich SA et al. A randomized trial comparing the efficacy of cognitive-behavioral therapy for bulimia nervosa delivered via telemedicine versus face-to-face. Behav Res Therapy 2008; 46: 581–592 16 Morrow E, Bruce DM, Bruce E et al. Post surgical review of bariatric surgery patients: a feasibility study of multidisciplinary follow up using videoconferencing. Clin Pract Epidemiol Ment Health 2011; 7: 84–88

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295

Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

einen wichtigen Teil innerhalb der Rückfallprophylaxe dar, wobei je nach den Bedürfnissen der Patientin eine Schwerpunktsetzung erfolgen sollte. Spezifische Schwierigkeiten im emotionalen Bereich betroffener Patientinnen umfassen häufig die Identifikation eigener Gefühle und des Umgangs mit diesen, aber auch der Perspektivenwechsel im Hinblick auf das Gefühlsleben anderer sowie der Umgang mit überwältigenden Gefühlen. Viele Patientinnen mit Anorexia nervosa haben darüber hinaus extrem hohe Ansprüche an sich selbst, sind sehr selbstkritisch und haben Schwierigkeiten mit basalen Aspekten der Selbstfürsorge. Deshalb wird der Förderung eines Selbstmitgefühls innerhalb dieses Behandlungsbausteins Raum gegeben, da dies gerade im Umgang mit Rückschlägen eine wichtige Ressource darstellt. Im Bereich kognitiver Fertigkeiten kann durch Reflexion des eigenen rigiden Denkstils und durch praktische Übungen eine Verbesserung der kognitiven Flexibilität und der Problemlösefertigkeiten gefördert werden. Die Patientin sollte schließlich ermutigt werden, erlernte Problemlösefertigkeiten auch auf den Umgang mit ihrer Essstörung anzuwenden, beispielsweise auf ihr Essverhalten oder den Umgang mit Rückschlägen im Genesungsprozess.

Aktuelle psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungsansätze 295

21 Emmelkamp PM. Technological innovations in clinical assessment and psychotherapy. Psychother Psychosom 2005; 74: 336–343 22 Startup H, Sternheim L, Schmidt U. Maudsley Model of Anorexia Nervosa Treatment: Staying Well. Section of Eating Disorders, Institute of Psychiatry, King’s College London Unpublished treatment manual 23 Miller WR, Rollnick S. Motivational Interviewing. Preparing people for change. New York: Guilford Press; 2002 24 Seligmann MEP. Flourish: A Visionary New Understanding of Happiness and Well-being. New York: Free Press; 2011

Heruntergeladen von: Stephan Zipfel, Eberhard Karls Universität. Urheberrechtlich geschützt.

17 Fichter MM, Quadflieg N, Nisslmuller K et al. Does internet-based prevention reduce the risk of relapse for anorexia nervosa? Behav Res Ther 2012; 50: 180–190 18 Walsh BT, Kaplan AS, Attia E et al. Fluoxetine after weight restoration in anorexia nervosa: a randomized controlled trial. JAMA 2006; 295: 2605–2612 19 Schmidt U, Treasure J. Anorexia nervosa: Valued and visible. A cognitive-interpersonal maintenance model and its implications for research and practice. Brit J Clin Psychol 2006; 45: 343–366 20 Schmidt U, Oldershaw A, Jichi F et al. Out-patient psychological therapies for adults with anorexia nervosa: randomised controlled trial. BJP 2012; 201: 392–399

Giel K et al. Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa. Psychother Psych Med 2013; 63: 290–295

Suggest Documents