Ralf von Appen Der Wert der Musik

texte zur populären musik 4 Herausgegeben von Winfried Pape und Mechthild von Schoenebeck

Ralf von Appen (Dr. phil.) ist Musikwissenschaftler an der Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte, Theorie, Analyse und Ästhetik der populären Musik sowie Musikästhetik und Musikpsychologie.

Ralf von Appen Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären

Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften

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I n h al t I.

AUSGANGSPUNKTE

I.0

Ein erster Ausgangspunkt: Ich

11

I.1

Ein zweiter Ausgangspunkt: Der blinde Fleck der Popularmusikforschung Pop und Ästhetik: ein problematisches Verhältnis Andrew Chester Dörte Hartwich-Wiechell Dieter Baacke Tibor Kneif Weitere Entwicklungen Peter Wicke und Simon Frith Außereuropäische Beiträge zur Ästhetik populärer Musik Theodore Gracyk Resümee

15 16 21 23 25 26 29 31 34 37 40

Ein dritter Ausgangspunkt: Kneifs Bestimmung der Musikästhetik

45

I.2

II.

KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK

II.0 Methode und Stichprobe Qualitative Inhaltsanalyse Auswahl der Population und Charakterisierung der Textgrundlage Die Auswahl der zu untersuchenden Alben Die Auswahl der Kundenrezensionen Das Kategoriensystem Quantitative Inhaltsanalyse

53 53

II.1 Qualitäten der Songtexte Quantitative Ergebnisse Realismus und Weltbezug Kognitive Orientierung Lyrische Qualitäten Weitere Bewertungskriterien: Humor, Härte und Distinktionspotential Resümee

81 81 82 87 89

II.2 Kompositorische Qualitäten Quantitative Ergebnisse Formale, rhythmische und harmonische Gestaltungsmittel Komplexität und Einfachheit Melodische Qualitäten Langlebigkeit und Zeitlosigkeit Besonderheiten im HipHop

54 63 67 71 76

90 92 95 95 97 99 100 102 103

II.3 Interpretatorische Qualitäten Quantitative Ergebnisse Stimme, Gesang und Sprechgesang Qualitäten des Instrumentalspiels Qualitäten der Produktion, der Instrumentierung und des Arrangements

105 105 106 110

II.4 Authentizität und andere menschliche Qualitäten Quantitative Ergebnisse Authentizität als ethisches und soziales Phänomen Authentizität als Bewahrung des Individuellen Authentizität als Treue zu einer sozialen Gemeinschaft Ein Zwischenspiel: Authentizität im Zeichen der Postmoderne Authentizität als wahrhaftiger, persönlicher Ausdruck Weitere menschliche Qualitäten

115 115 117 118 122 126 129 131

II.5 Emotionale Qualitäten Quantitative Ergebnisse »Gefühl« »Energie« Resümee

135 136 139 151 159

II.6 Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile: das Interessante Quantitative Ergebnisse Originalität Neuheit Vielfalt Langeweile Originalität, Neuheit, Vielfalt und Langeweile aus psychobiologischer Sicht

112

163 163 165 168 175 178 179

II.7 Sonstiges Kombinierte Kriterien Weitere Kriterien von geringer Bedeutung

185 185 186

II.8 Bewertung der empirischen Studie Methodenreflexion Beantwortete und offene Fragen

189 189 193

III. ÄSTHETISCHE DIMENSIONEN DER MUSIKREZEPTION III.0 Einleitung Funktionen Die (neue) Ästhetik Martin Seel — Einige Grundzüge seiner Ästhetik

201 201 203 205

III.1 Das bloße Erscheinen: Musik als Objekt der Kontemplation Das kontemplative Urteil Das Beispiel Norah Jones Die Wertkriterien aus dem Blickwinkel der Kontemplation Das Rauschen als Extremfall Das Beispiel Neil Young Versenkung und Taumel

211 214 215 217 221 222 224

Das Rauschen im Techno und zuvor Resümee

227 229

III.2 Das atmosphärische Erscheinen: Musik als Objekt der Korrespondenz Die atmosphärische Macht der Musik Atmosphäre und Charakter Atmosphärisch-Situative Korrespondenzen Charakterliche Korrespondenzen und Identität Charakterliche Korrespondenzen und Distinktion Resümee

233 236 237 238 242 249 256

III.3 Das artistische Erscheinen: Musik als Objekt der Imagination Verstehen und ästhetische Erfahrung Exkurs: Gegen das Musikverstehen a) Situationspräsentation und Verfahrenspräsentation b) Imagination c) Die persönliche Bedeutsamkeit von Sichtweisen der Welt Die Rezeption artistischen Erscheinens in der Stichprobe Einige Beispiele Exkurs: Gegen das Verstehen populärer Musik Resümee

259 260 263 265 267 268 273 275 280 285

III.4 Der Wert der Musik

289

Epilog: Ich (und der Apfelmann)

293

Literaturverzeichnis

297

Auswahldiskographie

319

ANHANG

321

I. A U S G A N G S P U N K T E

Musik übersteigt menschliche Logik. Es muss aber ein Geheimnis bleiben, wieso man Musik so liebt. Man darf es nicht selbst aufdecken (Björk in Venker 2003: 144). Es gehört zu den besonderen Bedürfnissen des Menschen, wissen zu wollen, warum er zu diesem oder jenem Verhalten neigt, was der Grund seiner Vorlieben und Abneigungen ist, weshalb er lacht oder weint, obgleich doch »nur« Musik erklungen ist. Aufklärung über sich selbst ist das Grundmotiv allen Fragens und damit aller Wissenschaft (Rösing/Petersen 2000: 16). Im Philosophieren können wir jederzeit bei uns selbst beginnen. Wir dürfen nur nicht bei uns bleiben (Seel 2002a: 196).

I.0 Ein erster Ausgangspunkt: Ich Regen prasselt auf das Dach, das Wasser spritzt zwischen den Autos, die Scheibenwischer kommen kaum nach, außerdem hinken sie dem Rhythmus der Musik mit jedem Takt mehr hinterher. Es ist kalt, selbst die sprichwörtlichen Hunde wollte man jetzt nicht auf die Straße jagen. Bis Hamburg sind's noch rund vierzig Minuten, dann Parkplatz suchen, Karte kaufen (hoffentlich gibt's noch welche), eine Stunde 'rumstehen. Zwei Stunden Musik. Wieder raus in das Sauwetter, Stadtverkehr, 100 Kilometer zurückfahren, mit diesem penetranten Pfeifen in den Ohren, verrauchten Klamotten und schmerzenden Füßen — aber bestimmt glücklich! Die zwei Stunden des Konzerts werden für alles entschädigen, hoffentlich! Aber warum bloß? Pathologisch scheint es nicht zu sein, zumindest geht es jährlich etwa 34 Millionen Konzertbesuchern und knapp 26 Millionen CD-Käufern in Deutschland ähnlich (Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2004: 4 u. 17). Was ist an der Musik, das mich und all die anderen viel Zeit, viel Geld und nicht-erneuerbare Energien opfern lässt? Warum riskieren Menschen vor den Bühnen und in den Discos ihr Gehör, warum gehen sie das Risiko empfindlicher Freiheitsstrafen wegen illegaler Downloads ein? Warum streiten sie sich wegen abweichender Vorlieben, warum bewundern sie Popstars mehr als Nobelpreisträger, warum wissen sie, wenn sie die Plattensammlung ihres Nachbarn gesehen haben, dass sie mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben wollen? Was bietet Musik dem Menschen und wie soll sie beschaffen sein, damit sie die hohen Erwartungen erfüllt?

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I. AUSGANGSPUNKTE Wer Antworten auf solche Fragen sucht, mag mit der Suche in der wissenschaftlichen Disziplin der Musikästhetik beginnen. Doch ein Blick in die Fachzeitschrift Musik & Ästhetik, in das aktuelle Handbuch Musikästhetik (Motte-Haber 2004a) oder in den betreffenden Artikel der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Nowak 1997 u. Behne 1997) zeigt, dass die dort beschriebene Gegenwart sich leider nicht mit der Gegenwart der Hörer populärer Musik deckt — und diese Majorität sollte man doch eigentlich nicht unberücksichtigt lassen. Also versuchen wir es einmal bei der sogenannten Popularmusikforschung. Aber auch dort will man nicht weiterhelfen: Ästhetik? Um diese als Ideologie enttarnte elitäre Kunsttheorie aus der Welt zu räumen, die stets das zum wertvollen Werk erklärt, was dem gut situierten Musikwissenschaftler und der sozialen Klasse, aus der er stammt, gerade gefällt und zur Abgrenzung von den vermeintlichen Banausen dient, sei man doch überhaupt erst angetreten! Den Fehler, das objektive (und angeblich objektiv gute) Werk in Form einer Partitur in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu stellen und darüber die kulturelle, soziale, mediale, psychologische und körperliche Bedingtheit des Musikhörens zu verleugnen, wolle man im Umgang mit Pop und Rock nicht wiederholen! Überhaupt, so erklärt uns auch der MGG-Artikel, sei die philosophische Ästhetik mit dem Aufkommen der empirischen, an naturwissenschaftlichen Erkenntnisidealen orientierten Einzelwissenschaften stark unter Legitimationsdruck geraten. Die Frage der »spekulativen« Philosophie, was »das Schöne« und die Kunst sei, sei weitgehend von der in Experimenten und mit Fragebögen zu bearbeitenden Frage abgelöst worden, was verschiedenen Menschen und Teilkulturen in verschiedenen Situationen jeweils als schön gelte (auf den Kunstbegriff wird dabei sicherheitshalber verzichtet). Entsprechend hat man den Abschnitt über Werturteile lieber einen ausgewiesenen Musikpsychologen verfassen lassen (vgl. Nowak 1997: 972 u. Behne 1997). Also setzen wir die Suche in Musikpsychologie und -soziologie fort, wobei wir erfahren, dass unsere Musikvorlieben davon abhängen, welche Bildung wir genießen durften, welchen Geschlechts und wie alt wir sind, dass Persönlichkeitsfaktoren wie Neurotizismus, Psychotizismus oder das persönliche Arousal-Bedürfnis bei Präferenzentscheidungen eine wichtige Rolle spielen, dass sich unser Urteil in Abhängigkeit von der momentanen Stimmung ändert und es von Minder- und Mehrheiten in starkem Maße manipuliert werden kann, dass wir uns über unsere Lieblingsmusik gesellschaftlich repräsentieren und abgrenzen, dass also das Urteil auch davon abhängt, wem gegenüber wir es äußern usf. Am Ende bedanken wir uns für die vielen wertvollen Informationen, werden aber das Gefühl nicht los, dass dies nicht

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I.0 EIN ERSTER AUSGANGSPUNKT: ICH alles sein kann, dass wir immer noch nicht wissen, warum wir das Konzert gestern Abend so großartig fanden und warum uns der erste Song auf der neuen Lieblings-CD besser gefällt als der zweite. Pop und Ästhetik: schließen sie sich denn wirklich aus? Die Antwort muss wohl »Ja« lauten — aber nur, solange man einem Ästhetik-Begriff anhängt, den die wissenschaftliche Ästhetik selbst seit circa 20 Jahren überwunden hat — dies erfahren wir auf unserer weiteren Suche von den Philosophen, von denen wir bezüglich unserer Lust an populären Musikformen eigentlich keine Aufklärung erwartet hatten. Das Interesse philosophischer Ästhetik gelte nach aktueller Auffassung ganz allgemein den Möglichkeiten und Gewinnen, die uns eine Wahrnehmungsform bietet, der es um den Vollzug dieser Wahrnehmung selbst gehe (s. Kap. III.0). Da wir der Meinung sind, dass wir Musik durchaus gerne hören, um Musik zu hören, und da dies offenbar die Fragen sind, um die es uns ursprünglich ging, bitten wir darum, uns hier einmal etwas genauer umschauen zu dürfen, denn hier sind wir vermutlich richtig. Doch bevor wir uns in die Gedanken gegenwärtiger Ästhetik vertiefen dürfen, rät man uns dringend, nicht den direkten Weg einzuschlagen, sondern empfiehlt den Gang über zwei Vorräume: »Umwege erhöhen die Ortskenntnis« steht über der Tür des ersten und mit »Erkenne Dich selbst (im Spiegel der Anderen)!« ist der zweite überschrieben. Man wolle uns vor dem Vorwurf beschützen, nicht zu wissen, was die Vorfahren und die Gegner gedacht haben — dazu sei der erste Raum gut (Kap. I.1). Der zweite aber helfe, sich der eigenen Ansichten bewusster zu werden, und bewahre zugleich davor, sie nicht für allgemein verbreitet und einzig wahr zu halten (Kap. II). Wir sollten uns die dortige Ausstellung fremder und vertrauter Sichtweisen genauestens ansehen, denn Antworten, die nur für uns und nicht auch für andere Geltung hätten, seien keine. Wir müssten dort ganz leise sein, den anderen genau zuhören und uns selbst für eine Weile in den Hintergrund stellen. Dann könnten wir uns aus der Distanz besser erkennen und uns zugleich zum Anwalt der Exponate aus Raum II machen. Von ihnen, so werden wir ermuntert, sollten wir als Zeugen reichlich in den dritten, unseren Ziel-Raum (Kap. III) mitnehmen, um für die Lösung der uns bewegenden Rätsel gut gerüstet zu sein und um immer wieder zu überprüfen, ob die eigene Wahrheit auch die der anderen sei. Am Ausgang aber müssten wir die anderen zurücklassen und noch einmal allein in den Spiegel schauen, um uns selbst wieder in den Blick zu nehmen und gewissenhaft zu fragen, ob der Gang durch das Haus der Ästhetik der richtige Weg war. Also los!

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