Manuskript radioWissen

SENDUNG: Dienstag, 22.03.2016 9.30 - 9.50 Uhr

AUFNAHME: STUDIO: DEUTSCH Ab 8. Schuljahr

TITEL:

Frühlingsmotive in der Literatur "Frühling lässt sein blaues Band…"

AUTOR/IN:

Gabriele Bondy

REDAKTION:

Petra Herrmann

REGIE: PERSONEN:

Musik

Erzählerin 1. Zitator 2. Zitator Zitatorin

Zuspielungen

Besondere Anmerkungen: ED 25.03.2008

_____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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MUSIKAKZENT

ZITATOR Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht, Sie säuseln und weben Tag und Nacht, Sie schaffen an allen Enden. O frischer Duft, o neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muss sich alles, alles wenden. (Ludwig Uhland)

ERZÄHLERIN Ludwig Uhland. „Es tönen die Lieder, der Frühling kehrt wieder....“ Viele empfinden ihn als die schönste Zeit des Jahres. Almut beispielsweise, die immer einen Zettel mit ihren Lieblingsfrühlingsgedichten in greifbarer Nähe hat...

O-TON (Almut) Der Frühling überhaupt, der ist für mich präsent. So kleine Blümchen und Gräschen und Hälmchen, was da so lugt, da habe ich Assoziationen. Und im übrigen habe ich so einige Frühlingsgedichte, und ab und zu lese ich die durch. Ich möchte gern „Er ists“ von Eduard Mörike vorlesen. Er ists Frühling lässt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte; Süße wohlbekannte Düfte Streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, Wollen balde kommen. -

Horch, von fern ein leiser Harfenton!

Frühling, ja du bists. Dich hab ich vernommen. (Eduard Mörike) _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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ERZÄHLERIN Linde Lüfte locken in die Weite....und verführen zum selber Dichten und Reimen aus lauter Freude am Vorfrühling - auch wenn’s nur von München an den Chiemsee geht:

O-TON (Almut) Durch den Schnee im ICE Grad schee... Ein Schrebergärtlein an dem Gleise Befreit sich bald vom Schnee und Eise. Der Inn genießt sein Wasserbett Und spült sein Entlein aufs Parkett. Es fühlt den Boden untern Füßen Und lässt ganz keck den Bussard grüßen. MUSIKAKZENT („Veronika, der Lenz ist da...“, Comedian Harmonists / Kürzung nach Bedarf)

ERZÄHLERIN Ein Frühlingsgassenhauer im „Haidhauser Damenchor“, dem Gudrun angehört:

O-TON (Gudrun) Wenn ich Frühling höre, denke ich an den Schlager aus den 20er Jahren: „Frühling kommt, der Sperling piept. Duft aus Blütenkelchen.“ „Veronika, der Lenz ist da“, das find ich ist der Frühlingsgassenhauer, den wir auch nur im Frühling singen. In anderen Schlagern kommen einfach Zeilen vor ...die Liebe und der Mai...das ist für mich alles Frühling, die Liebe, der Mai, der Sperling piept, die Blumen blühen und der Lenz ist da.

MUSIK kurz hoch

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O-TON (Gudrun) Ich glaube, beim Menschen geht es immer auch um die Frühlingsgefühle, die mit Liebe gekoppelt sind oder mit Sehnsucht nach Liebe oder mit Leichtigkeit oder mit barfuß durch die Wiese laufen.

ERZÄHLERIN Bevor es um Frühlingsgefühle, Liebe und Leichtigkeit ging, sehnten sich die Menschen längst vergangener Zeiten vor allem nach Licht und Wärme. Für uns heute kaum vorstellbar, wie sie in dunklen, schlecht geheizten und schlecht gelüfteten Kammern froren. Der Frühling verhieß Wärme, ja die Auferstehung von Mensch und Natur. Das hat wohl keiner so bildhaft bedichtet wie Goethe mit Fausts „Osterspaziergang:“

O-TON CD

ZITATOR 2 Osterspaziergang Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, Im Tale grünet Hoffnungsglück; Der alte Winter, in seiner Schwäche, Zog sich in raue Berge zurück. Von dort her sendet er, fliehend, nur Ohnmächtige Schauer körnigen Eises In Streifen über die grünende Flur. Aber die Sonne duldet kein Weißes, Überall regt sich Bildung und Streben, Alles will sie mit Farben beleben.

MUSIKAKZENT

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ZITATOR Kirschblüte bei der Nacht

Ich sah mit betrachtendem Gemüte Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte, In kühler Nacht beim Mondenschein; Ich glaubt, es könne nichts von größrer Weiße sein. .... Wie sehr ich mich am Irdischen ergötze, Dacht ich, hat E r dennoch weit größre Schätze. Die größte Schönheit dieser Erden Kann mit der h i m m l i s c h e n doch nicht verglichen werden. (Barthold Hinrich Brockes)

ERZÄHLERIN Barthold Hinrich Brockes – ein Meister des Naturgedichts, der den Dichtern von Klassik und Romantik die Augen öffnete. Ob Goethe, Herder, Mörike, Hölty oder Eichendorff sie sind alle durch seine Schule des genauen Hinsehens gegangen. Die Dichter der Barockzeit empfanden den Frühling in seiner Pracht immer auch als „Beweis für Gottes Güte und Schöpfungskraft“. Georg Philipp Hersdörffer.

ZITATORIN Ach Gott der du mit so viel Gut Bekrönst des Jahres Zeiten Laß uns auch mit erfreutem Muth Zum Paradeiß bereiten. (Georg Philipp Hersdörffer)

ERZÄHLER Ab dem Ende des 18.Jahrhunderts wurde die literarische Beschreibung der Natur immer mehr auch zur Beschreibung des eigenen Seelenzustandes...und der Frühling zum Symbol der Verheißung, der Hoffnung auf Glück - an der Luft und in der Liebe. Johann Wolfgang von Goethe: _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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ZITATOR Frühzeitiger Frühling

Tage der Wonne, Kommt ihr so bald? Schenkt mir die Sonne, Hügel und Wald? .... O-TON (Anatol Regnier) Mein Bezug zu Gedichten ist eigentlich das ganze Jahr über sehr eng, weil ich Gedichte über alles liebe und auch sehr viele auswendig kann und sie mich eigentlich immer begleiten. Hauptsache, es sind gute Gedichte von Schiller, Goethe und Brecht und Hölderlin und Heine...Das hier ist auch sehr schön, von Max Dauthendey:

Die Amseln haben Sonne getrunken

Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne, In allen Seelen badet die Sonne, Alle Wasser stehen in Flammen, Frühling bringt Wasser und Feuer Liebend zusammen. O-Ton „Frühlingserwachen“ Szenenausschnitt

2. ZITATOR Wie sollt’ ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, dass mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und – ich schwöre dir, Melchior – ich weiß nicht was.

ERZÄHLERIN Anatol Regnier ist mit Dichtung aufgewachsen und Frank Wedekind, dem Autor von „Frühlingserwachen“ nicht nur familiär, sondern auch als eindrucksvoller Interpret und Biograf eng verbunden:

O-TON (Anatol Regnier) Das Stück kenne ich in- und auswendig. Habe mich sehr viel damit beschäftigt, habe sehr viel darüber nachgedacht. Muss sagen, dass ich es nach wie vor für ein großartiges Stück halte, für ein modernes Stück, schon von der Form her mit den vielen kurzen filmartigen Szenen, den ganz knappen Dialogen und natürlich der beißenden Gesellschaftskritik. Es ist ja überhaupt nichts Romantisches, sondern es ist eine bittere Kritik an der Elterngeneration, die es nicht fertig bringt, ihre Kinder zu verstehen und es nicht fertig bringt zu akzeptieren, dass ihre Kinder schon im frühen Alter sexuelle Wesen sind. Das ist ja eigentlich das Erschütternde, dass die Eltern aus dem Schutzbedürfnis der ihnen anbefohlenen Kinder „das Böse der Welt“ – die Sexualität, das Erwachsenwerden – fernhalten wollen und sie dadurch ins Verderben stürzen.

O-TON SZENE KURZ HOCH

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN Liebessehnsucht und Liebesleid, Gefühlsverwirrungen, die in jedem Alter schmerzlich sind. Seelenverwandte finden mitunter im Gedicht Bestätigung und Trost gleichermaßen. Symbolisiert doch im jahreszeitlichen Gedicht der Winter Erstarrung und der Frühling Leben: Else Lasker-Schüler: „Lenzleid“

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O-TON (Christa) Lenzleid

Dass Du Lenz gefühlt hast Unter meiner Winterhülle, Dass Du den Lenz erkannt hast In meiner Todstille. Nicht wahr, das ist Gram Winter sein, eh‘ der Sommer kam, Eh‘ der Lenz sich ausgejauchzt hat. O Du! schenk mir Deinen gold‘nen Tag Von Deines Blutes blühendem Rot. Meine Seele friert vom Hunger, Ist satt vom Reif. O, Du! giesse Dein Lenzblut Durch meine Starre, Durch meinen Scheintod, ich harre Schon Ewigkeiten auf Dich! (Else Lasker-Schüler)

O-TON (Christa) Gedichte von der Else Lasker-Schüler, die sind mir sehr nahe, weil ich mich da oft gut beschrieben fühle. Diese schönen Formulierungen, dass sie ein Gegenüber hat, das sie ein Du gefunden hat, dem sie sagen kann. Ich habe das Gefühl, dass du mich siehst und dass du mich siehst in meiner Winterstarre, dass du jetzt meine Hoffnung bist, mich da rauszuholen. Das sind auch Gefühle, denk ich, die viele Leute auch mit dem Frühling verbinden, mit etwas Neuem, mit etwas Aufbrechen, eben dieses Starre, die Winterstarre, der Reif, der sich auf die Seele legt, dass der durchbrochen wird.

MUSIKAKZENT

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ERZÄHLERIN Dass mit dem Frühling auch jede Menge Tiere aus dem Winterschlaf erwachen, erfreut den englischen Zoologen Gerald Durell so sehr, dass er gleich zum Dichter wird:

ZITATOR Im Frühlingsfieber

Der Frühling kam, als die Zeit reif war, wie ein Fieber; es war, als räkelte und wälzte sich die Insel unbehaglich im warmen, feuchten Bett des Winters und erwachte dann mit einem Schlag zu sprühendem Leben, während sich über ihr ein Himmel spannte, so blau wie eine Hyazinthenknospe, an dem eine dunstverhüllte Sonne aufging, so durchsichtig und von einem so zarten Gelb wie ein gerade fertig gesponnener Seidenraupenkokon. Für mich war der Frühling die schönste Zeit; das Tierleben auf der Insel war voller Betriebsamkeit, und die Luft vibrierte vor Hoffnung. (Gerald Durell)

ERZÄHLERIN Doch welches Glück, noch nicht von unruhverheißender Hoffnung befallen zu sein, sondern ganz bei sich und in der Gegenwart bleiben zu können...wie „Werther“ in Goethes Briefroman :

ZITATOR (Werther) Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen sind wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken...

ERZÄHLERIN Die „wunderbare Heiterkeit“ wird Werther freilich in dem Moment verlieren, in dem er sich in - die mit einem anderen verlobte - Lotte verliebt. Wir kennen das _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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traurige Ende des Romanhelden. Während seinem Autor die Lebensbalance immer wieder gelang, indem er sich zumindest zeitweise von den Frauen losriss und die Einsamkeit suchte, um so wieder zu sich zu finden. Seelenruhe, trotz reich bewegten Liebeslebens, hat Henry Miller gut 150 Jahre später mitten in Paris gefunden.

ZITATOR „Der dritte oder vierte Frühlingstag“ Es ist heute der dritte oder vierte Frühlingstag, und ich sitze im vollen Sonnenschein an der Place Clichy. Heute, wo ich so in der Sonne sitze, sage ich euch, dass es einen Dreck ausmacht, ob die Welt vor die Hunde geht oder nicht, dass es gar nichts bedeutet, ob die Welt recht oder unrecht hat, ob sie gut oder schlecht ist, und ich bin, was ich bin. Die Welt ist, was sie ist, und ich bin, was ich bin. Ich sage das nicht mit gekreuzten Beinen wie ein da hockender Buddha, sondern aus einer fröhlichen und gut fundierten Weisheit heraus, aus einer inneren Sicherheit. Dieses Äußere dort und dieses Innere in mir, all dieses, alles, ist das Ergebnis unerklärlicher Kräfte. (Henry Miller)

Musikakzent

ZITATORIN Eine Farbe liegt draußen Über dem einsamen Feld Wissenschaft erfasst sie nicht Menschennatur sie fühlt. (Emily Dickinson)

ERZÄHLERIN Das Frühlingsgefühl, das die Menschen ergreift, nennt die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson zwar durchaus gesund. Doch romantischen, gar ekstatischen poetischen Beschreibungen steht sie eher zurückhaltend gegenüber. Für sie ist der Mensch schon nicht mehr eins mit der Natur. Eher ein Beobachter. Ganz im _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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Gegensatz zu Theodor Storm, der sich in „Blume, Blatt und Baum“ noch hineinfühlen konnte. „April“ Das ist die Drossel, die da schlägt, Der Frühling, der mein Herz bewegt; Ich fühle, die sich hold bezeigen, Die Geister aus der Erde steigen. Das Leben fließet wie ein Traum – Mir ist wie Blume, Blatt und Baum (Theodor Storm)

ERZÄHLERIN Natur allein reicht nicht, um Kunst zu produzieren. Und überhaupt sei der ganze Frühling nicht die beste Zeit, um zu arbeiten: zu viele Gefühle, zu viel Blühen, zu viel äußerer und innerer Überschwang. Eine Botschaft, die uns Thomas Mann in seiner Erzählung „Tonio Kröger“ übermittelt:

ZITATOR Sehen Sie, auch mich macht der Frühling nervös, auch mich setzt die holde Trivialität der Erinnerungen und Empfindungen, die er erweckt, in Verwirrung; nur, dass ich es nicht über mich gewinne, ihn dafür zu schelten und zu verachten; denn die Sache ist die, dass ich mich vor ihm schäme, mich schäme vor seiner reinen Natürlichkeit und seiner siegenden Jugend. (Thomas Mann)

ERZÄHLERIN Solches Kopfzerbrechen bereitete der Frühling dem von Thomas Mann so verehrten Goethe jedenfalls nicht. Kaum sprossen Buschwindröschen, Hyazinthen oder Veilchen empor, überkam ihm die Lust am Fabulieren:

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(ZITATORIN „Mailied“

ERZÄHLERIN Der irische Dichter O. Henry mag vomrWonnemonat Mai nicht mehr schwärmen...eine Tendenz, die im 20.Jahrhundert immer mehr Schule machte:

ZITATOR Wenn der Dichter dir das Lob des Monats Mai singen sollte, dann, bitte, hau ihm ein blaues Auge. Dieser Monat wird von den Geistern des Übermuts und des Wahnsinns beherrscht... Im Mai mahnt uns die Natur mit erhobenem Zeigefinger, uns daran zu erinnern, das wir keine Götter sind... Im Mai schießt Cupido mit verbundenen Augen – Millionäre heiraten Stenotypistinnen; weise Professoren umwerben die Kaugummi kauenden, weißbeschürzten Mädchen hinter den Theken von Imbißstuben...Burschen mit Leitern stehlen sich leichtfüßig über Rasen, Julias warten hinter vergitterten Fenstern...sogar verheiratete Männer werden, was man an ihnen gar nicht gewohnt ist, zärtlich und sentimental, schlagen ihren Ehehälften auf den Rücken und grölen: "Na, altes Mädchen, wie ist’s?“ (O.Henry) MUSIKAKZENT

ZITATORIN

Halt ein maßloser Frühling, Der uns mit Blühen tötet! (Um Haus und Stamm und Fels drängt sich Holunder, Von allen Mauern stürzt sich die Akazie In rosigen Kaskaden, Und labyrinthisch schlingt sich um Betörte Der zaubernde Jasmin. Die Wiesen schwellen bunt und schäumen über. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de

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Saft quillt aus tausend Kelchen Und Trunkenheit. Der Äther singt, die Erde selber taumelt. Stürzt sie der Sonne zu?) Halt ein! (Richarda Huch)

ERZÄHLERIN Die israelische Sängerin Nizza Thobi hat das jiddische Lied „Friling“ in ihrem Repertoire:

O-TON (Nizza Thobi) „Friling“ Frühling (Lied kurz anspielen, drunter liegenlassen / Kürzung nach Bedarf)

Ich irre im Ghetto von Gasse zu Gasse Und kann ihn nirgends finden. Mein Liebster ist nicht da. Wie kann man es ertragen? O Menschen, sagt wenigstens ein Wort. Jetzt leuchtet der blaue Himmel über meinem Heim. Was habe ich davon? Ich steh wie ein Bettler an jedem Tor Und bettle um ein bisschen Sonne. O Frühling, nimm mir meine Trauer Und bring meinen Liebsten, meinen Treuen zurück. O Frühling, auf deinen blauen Flügeln Nimm mein Herz mit und gib mir mein Glück zurück.

MUSIKAKZENT Mein Treuer, mein Liebster, wo bist du verlorengegangen? Du gehst mir nicht aus dem Sinn.) (Shmerke Kaczerginski / Katscherginzki)

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O-TON (Nizza Thobi) Den Text hat Shmerke Kaczerginski geschrieben, im April, nach dem Tod seiner Frau Barbara aus dem Haus Kaufmann. Der Komponist war Abraham Brondo. Er wurde 1943 ermordet. Zum ersten Mal wurde das Lied in einem Theater im Ghetto Wilna, in einem Theaterstück „Diogenes im Fass“ vorgetragen. Auf der Suche nach seiner Frau wendet sich Kaczerginski an die Natur, an den Frühling, weil ihm die Menschen in seiner Umgebung kein Gehör schenken.

ERZÄHLERIN Eine persönliche Krise, die wachsende kommerzielle Ausbeutung der des Frühlings...Marie Luise Kaschnitz jedenfalls hat nicht den rechten Nerv für die schönste Zeit des Jahres:

ZITATORIN Ende April Dass draußen die Amseln singen, dass der Frühling, mit grünen Schleiern über den Büschen, kommt, eigentlich schon da ist, muss ich doch erwähnen, obwohl er mir heuer nicht unter die Haut geht, keinerlei Rührung in der Art „dass ich das noch einmal erleben darf“ erweckt. Schlechte Laune könnte man sagen, finstere Laune, sogar im Park, den ich fast täglich durchstreife, obwohl mir dieses Jahr schon das spießige Osterhasengärtlein auf die Nerven gegangen ist. Gebüsche in bunter, eiförmiger Umzäunung, ein Wärte versteckt die von den Eltern mitgebrachten Eier, während ein zweiter die Kinder dazu überredet, die faul herumhoppelnden Stallhasen zu streicheln – bald darauf findet die Frühlingsblumenausstellung, dann die Azaleenausstellung statt...(Marie Luise Kaschnitz)

ERZÄHLERIN Nicht dass die Lyrikerin Alma Larsen den Frühling satt hätte, doch sie übt sich bei der poetischen Umsetzung dieses Themas in strikter Zurückhaltung:

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O-TON (Alma Larsen) Also, das ruft bei mir eher Abwehr hervor. Ich habe, als ich anfing zu schreiben, eine Liste gemacht, auf der lauter Stichwörter – im wahrsten Sinne des Wortes – standen. Da stand drauf: Mond, Schatten, Frühling...lauter solche Stimmungsbegriffe, die früher in Gedichten abgehandelt wurden und die ich auf gar keinen Fall benutzen wollte bei meinen Texten. Im Laufe des Schreibens hat sich das natürlich wieder ein bisschen relativiert. Aber es gibt bei mir kein Gedicht, in dem Frühling drin vorkommt.

ERZÄHLERIN Blauer Himmel, Hoffnungsglück, Veilchen, Tulpen und Aurelien, Herz und Schmerz...fast alles ist bedichtet worden. Das Leiden aber an der eigenen Vergänglichkeit, die Angst, den letzten Frühling bereits erlebt zu haben, beschreibt Gottfried Benn so, dass es uns fröstelt, mitten im Mai:

ZITATOR Brief nach Meran Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme, dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum, Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne – Dem Tal den Schimmer und dem Ich den Traum. (Gottfried Benn) MUSIKAKZENT

ENDE

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