PSYCHIATRIE UND PSYCHOLOGIE

19 Kapitel 19 PSYCHIATRIE UND PSYCHOLOGIE 19.1 Psychologie des Essens G. Schüßler 1. Einleitung Das menschliche Essverhalten ist im Gefüge von biolo...
Author: Jonas Scholz
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19 Kapitel 19

PSYCHIATRIE UND PSYCHOLOGIE 19.1 Psychologie des Essens G. Schüßler

1. Einleitung Das menschliche Essverhalten ist im Gefüge von biologischer Notwendigkeit, der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, soziokultureller Bedingungen und der persönlichen Geschichte des Individuums zu sehen. Das Essen ist eine lebenswichtige, weitgehend automatisierte Funktion, die durch Erfahrung und Lernen entstanden ist und den Menschen nur teilweise bewusst ist. Essen und Trinken haben eine kommunikative Funktion und erfolgen meist zusammen mit anderen Menschen. Der Akt des Essens hat eine hohe emotionale Bedeutung und ist meist mit lustvoller Befriedigung und Sättigung – „die anständige Lust“ – verbunden. Essstörungen erwachsen aus diesen Grundbedingungen (Schüßler, 2005).

2. Soziokulturelle Geschichte des Essens Vor etwa 150.000  Jahren gelang es dem Menschen, systematisch das Feuer selbst zu entzünden. Um 10.000 v. Chr. begann im Vorderen Orient das agrarische Zeitalter und damit eine bessere Absicherung des menschlichen Überlebens und eine Vervielfältigung der Bevölkerung. Die Ernährung war in Folge für den Großteil der Bevölkerung eher vegetarisch, wie z. B. in der griechischen und römischen Antike. Essen – vor allem tierische Nahrung – war immer mit dem Akt des Tötens verbunden, aber auch Pflanzen

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waren wie Tiere im magisch-ganzheitlichen Erleben des Menschen Verwandte – man konnte sich mit Zauberei (oder Seelenwanderung) ineinander verwandeln. So ist in Neuguinea Yams (ein Wurzelgewächs) und Mensch derselbe Begriff. Verwandte sind zur Solidarität verpflichtet. Menschen erwiesen Tieren Respekt, erlegten nur soviel Wild wie nötig, vergeudeten nichts, schonten Muttertiere usf. – trotzdem, die Bilanz blieb unausgeglichen und suchte religiös nach Ausgleich. Auch für Pflanzen galt Ähnliches, sie teilten dasselbe Schicksal. Essen ist folglich immer ein rituell-magischer Akt für Menschen gewesen (Hirschfelder, 2001; Müller, 2003). Im Rahmen eines biopsychosozialen Modells gehört das Essen sowohl zur Ebene der Natur als auch zur Kultur. Welche Kriterien die Ernährung erfüllen muss, teilt der Körper jedoch nicht unmittelbar und eindeutig mit. Tieren ist die Ernährungsweise weitgehend angeboren, natürlich festgelegt. Da den Menschen – im Gegensatz zu den Tieren – nur wenig Ernährungsweisen natürlich vorbestimmt oder angeboren sind, ist es möglich sich nur vegetarisch oder beinahe ausschließlich carnivor zu ernähren. Menschen müssen kulturelle und soziale Regeln schaffen, wie man sich „richtig“ ernährt. Aufgrund dieses omnivoren Charakters mit der biologischen „Nichtfestgestelltheit“ (Nietzsche) auf dem Gebiet der Ernährung sind Menschen von Natur aus dazu gezwungen, selbst zu bestimmen, also kulturell auszuwählen und zu bewerten. Bis auf

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einige Anzeichen von Essbarkeit wie Giftigkeit, Unverdaulichkeit und Sättigungsgrad, gibt es wenig natürliche Kriterien, die Nahrung zu bewerten. Essen ist damit zugleich immer eine natürliche und kulturelle Angelegenheit und lässt sich im biopsychosozialen Sinne weder auf organische noch auf kulturelle Eigenschaften alleine reduzieren. Plessner (1981) spricht anthropologisch von der Konzeption der „natürlichen Künstlichkeit“ des Menschen: Der Mensch ist „von biologischer Eindeutigkeit seines Verhaltens, wie sie Tiere zeigen, zu biologischer Mehrdeutigkeit emanzipiert“ (Plessner, 1981). Die soziokulturellen Regeln des Essens sind in allen uns bekannten Kulturen ähnlich: 1. Menschen essen nicht alles, wovon sie sich ernähren könnten, d. h. sie wählen Lebensmittel in einem soziokulturellen Kontext aus. 2. Menschen haben in allen Regionen der Erde Regeln dafür entwickelt, wie aus Lebensmitteln Speisen zubereitet werden („Regionale Küche“). 3. Essen wird seit Menschengedenken gemeinsam eingenommen, die Mahlzeit symbolisiert Gemeinschaftlichkeit und soziale Zugehörigkeit. Seit Anbeginn an lebten Menschen in Gruppen, mit der Familie als Kernform des sozialen Zusammenlebens mit Arbeitsteilung: Jagd – Männer; Sammeln, Hüten des Feuers – Frauen; Ältere organisierten die Arbeit, religiöse und politische Aufgaben. Gemeinsam war das Überleben möglich, in traditionellen Gesellschaften wurde nie alleine gegessen, gemeinsames Essen verbindet (z. B. Friedensmahl). Durch die Teilnahme an einer Mahlzeit, das Teilen der Nahrung erwirbt man Gemeinsamkeit, wird zum Mitglied (mit dem man das Brot teilt). Bis in die Neuzeit war die Gemeinsamkeit zu Tisch verbunden mit der Gemeinsamkeit des Erwirtschaftens, also der Beschaffung der Nahrung. Über den alltäglichen sozialen Rahmen hinaus hatten Mahlzei-

ten immer eine zentrale Bedeutung als religiöse Mahlzeiten, Friedens- oder Vertragsmahlzeiten, Mahlzeiten von sozial Gleichgestellten, Feste und private Mahlzeiten usw.

3. Sozialisation des Essens Sozialisation meint den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über die Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess. Dieser soziale Prozess prägt unseren Geschmack („daheim schmeckt‘s am besten“). Essen unterliegt generell der sozialen Ansteckung (social facilitation): Tiere (Hühner, Rinder, Affen usw.) wachsen in Gruppen gehalten schneller auf – wenn ein Tier satt ist und ein anderes hungriges kommt dazu, beginnt auch das satte wieder zu fressen. Dies gilt auch für Menschen. Ab der Geburt ist Nahrungsaufnahme eingebettet in die Interaktion, sie ist untrennbar verbunden mit Interaktion. Kleine Kinder essen das, was ihre Eltern gerne essen und dies prägt in der Regel den Geschmack für ein ganzes Leben. Wenn Kinder die vorgelebte Esskultur ihrer Eltern reproduzieren, so lernen sie nicht nur die gesunde, sondern auch die ungesunde Ernährungswelt ihrer Eltern. Kinder entwickeln sich im Bereich des Essens zu gesünderen Menschen, wenn sie unter förderlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wenn der sozioökonomische Status der Eltern höher ist und hinreichend emotionale Zuwendung vorhanden ist. Kinder, die nicht in intakten Familien aufwachsen, haben ein siebenfach erhöhtes Risiko Adipositas zu bekommen (Petermann et al., 2003). Wer hingegen als zwei- bis dreijähriges Kind gelernt hat mit Lebensmitteln umzugehen, ernährt sich auch als Jugendlicher oder junger Erwachsener abwechslungsreich und gesünder (Nicklaus et al., 2005). Mit zunehmendem Alter schwinden die elterlichen Einflüsse, das Ernährungsverhal-

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ten wird mehr durch die sozialen Peer-Groups (gleichaltrige Jugendliche) bestimmt. Nimmt die in einem Haushalt das Essen zubereitende Person viel Gemüse und Obst zu sich, so tun es auch Partner und Kinder, isst diese Person hingegen viel Fett, so essen auch Partner und Kinder viel Fett. Verstärkt wird dies nochmals, wenn viele Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden (Hannon et al., 2003). In der Geschichte des Essens finden sich einige Grundelemente des Essverhaltens, die sich heute – durch den Überfluss der Nahrung – verändern und auflösen: r r r r r r r

Regelmäßigkeit der Mahlzeiten sparsamer und sorgsamer Umgang mit Lebensmitteln saisonale Einflüsse auf das Ernährungsverhalten Reservierung besonderer Speisen für die Festtage die besondere Wertigkeit der Fleischspeisen die Zuteilung der Nahrungsmengen nach hierarchischen und sozialen Aspekten Abhängigkeit der Speisengestaltung vom Haushaltsbudget

4. Ernährungspsychologie Die Ernährungspsychologie befasst sich mit drei grundlegenden Fragen (Silverstone, 1975): 1. Why do we start eating? 2. Why do we stop eating? 3. Why do we eat what we eat? Der Begriff der Ernährungspsychologie (Nutrition Psychology) hat sich zwar heute eingebürgert, bezieht sich jedoch auf den falschen Begriff, den der Ernährung, also auf die tatsächliche und vom Esser erlebten Wirkungen der Nahrung. Mit dem Begriff Essen wird hingegen im Deutschen das Gesamte der Nahrungsaufnahme erfasst, einschließlich aller sozialen Bezüge, des Ambientes und des emotionalen Erlebens während und vor der Mahlzeit.

Von Geburt an besteht eine differenzierte Geschmackswahrnehmung mit hoher Präferenz für Süßes und einer Aversion gegen Salziges, Saures und Bitteres. Erst im Kleinkind- und Grundschulalter werden positive Reaktionen auf salzig und bitter gefunden, die auf Lernerfahrung zurückgehen (Cowart, 1981). Diese angeborenen Präferenzen haben sicherlich eine evolutionäre Begründung „eine sichere und schnelle Energiequelle ist bei süßen Nahrungsmitteln gegeben, während der Bittergeschmack mit riskanten Nahrungsmitteln verbunden ist“ (Rozin, 1976). Die Ausdifferenzierung der Geschmackspräferenzen erfolgt in der frühen und späten Kindheit und ist durch die Erfahrung mit bestimmten Speisen und Geschmacksrichtungen gegeben („mere exposure effect“). Dieses Erfahrungstraining über viele Jahre hinweg führt zu einer Gewohnheitsbildung und dies ist zweifelsohne der wichtigste Grund dafür, dass Essverhalten ein sehr stabiles nicht in kurzer Zeit zu veränderndes Verhalten ist. Diese Verhaltens- und Essenskontinuität über Generationen hinweg hatte bis in die Neuzeit eine hohe positive Überlebensbedeutung, wurde jedoch hochproblematisch, als sich dramatische Veränderungen der Ernährungsrealität seit dem Zweiten Weltkrieg (insbesondere das Überangebot an Nahrung) ergaben. So ist das „Leeressen eines Tellers“ bei fehlenden Konservierungsmöglichkeiten und drohender Nahrungsknappheit ein hoch zweckmäßiges Verhalten, ein derart trainiertes Kind hat jedoch in unserem heutigen Schlaraffenland zwangsläufig Übergewichtsprobleme. Wie lassen sich die fundamentalen Veränderungen des Essens im Rahmen der postindustriellen Nahrungsüberflusskultur beschreiben (Pudel et al., 2003)? Mit dem Fehlen der existenziellen Nahrungsmittelnot und Verknappung fehlt das existenzielle Grunderlebnis der Wertschätzung, wie unmittelbar Nahrungsaufnahme und Leben zusammenhängen. Die gemeinsame Mahlzeit und das emotionale Erlebnis des gemeinsamen Kochens und Essens tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Der Bezug zum Lebensmittel, sei681

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Abb. 1. Sättigungskaskade nach Blundell (1990)

ner Herkunft, seiner Herstellung wird durch die industrielle Erzeugung mehr und mehr aufgelöst. Lebensmittel in Supermärkten unterscheiden sich nicht mehr von anderen Konsumartikeln. Insgesamt wird also Nahrung zunehmend neutralisiert und entfremdet.

5. Hunger, Appetit und Sättigung Die Nahrungsaufnahme ist ein komplexer psychophysiologischer (biopsychosozialer) Prozess. Appetit und Hunger (Startsignale zum Beginn der Nahrungsaufnahme) sowie Sättigung (Stoppsignal zur Beendigung der Nahrungsaufnahme) sind die subjektiven Wahrnehmungen, die das Essverhalten steuern. Menschen sind jedoch in der Lage zu essen, ohne Appetit zu verspüren und können ebenso ihre Nahrungsaufnahme beenden, ohne satt zu sein. Appetit umschreibt eine lustvolle Motivation zu essen, während Hunger ein existenzielles Verlangen ist. Hunger und Appetit-Gefühle sind außerordentlich schwer zu erfassen: sie unterliegen vielfältigen subjektiven Vorerfahrungen und Annahmen, diese Gefühle sind vollständig subjektiv (also nicht zu objektivieren). Die unterschiedlichen biopsychosozialen Mechanismen, die zur Sättigung führen, wurden von Blundell (1990) mit dem Modell der Sättigungskaskade vorgeschlagen. Beim Essen führen sensorisch-emotionale Erlebnisse wie Aussehen („das Auge isst mit“) und Geschmack zu unterschiedlichem Sättigungserleben: von leckerem und schmackhaftem Essen wird mehr gegessen; werden Nahrungsmittel mit

einer besonderen, anderen Qualität angeboten, wird weiter gegessen (z. B. Nachtisch). Kognitive Prozesse beschreiben die Bewertung des Essens und des Gegessenen („jetzt müsste es aber genug sein“). Die postingestionalen Effekte umfassen die physiologische Abfolge mit Magendehnung, Entleerungsrate des Magens, Ausschüttung von Hormonen und die Stimulation von Rezeptoren im Magen und Dünndarm. Die postresorptiven Prozesse beschreiben jene Mechanismen, die durch die Aufnahme der Nahrungsnährstoffe im Körper ausgelöst werden, so z. B. die Wirkung von Glukose oder Aminosäuren auf die zentrale Steuerung des Gehirns. Appetit und Sättigung sind jedoch erheblich durch Erfahrung und Lerngeschichte geprägt. Die Beobachtung, dass das Körpergewicht von Menschen sich über längere Zeiträume trotz unterschiedlicher Ernährungsmenge bemerkenswert stabil hält, hat zu der biopsychosozial begründeten Hypothese des „Set-Points“ geführt, einer Regulationstheorie, die beschreibt wie das Körpergewicht über Energiezufuhr und Energieverbrauch im Gleichgewicht gehalten wird. Wird die Nahrungszufuhr eingeschränkt, so erfolgt eine Reduzierung des Energieverbrauchs, die deutlich höher ist als durch den Verlust an Körpergewicht vorherzusagen wäre. Die Set-Point-Theorie ist ein zum Teil befriedigendes Modell um Gewichtsabweichungen und ihre psychophysischen Konsequenzen zu erschließen, jedoch nicht in allen Bereichen hinreichend. Die Set-Point Theorie wird aber einigen Beobachtungen nicht gerecht: Für manche Menschen ist es schwierig Gewicht zuzunehmen, hingegen ist

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Abb. 2. Biopsychosoziales Gefüge des Essens

es für die Mehrzahl allzu leicht ihr Gewicht zu steigern (Sims et al., 1968). Die Set-Point Theorie überbewertet somit die Stabilität der Gewichtsregulation (Palmer, 2005). In der historischen Minnesota-Studie von Keys et al. (1950) wurde bei gesunden Männern die Nahrung halbiert; eine Gewichtsreduktion von 25 % war bei den Männern mit einer Reduktion des Ruheumsatzes von 40 % verbunden. Wenn die jungen Männer nach Ende der Diät wieder so viel essen durften wie sie wollten, kehrte das Gewicht für die meisten rasch zum Ausgangsniveau zurück. Es bestehen also physiologische und psychologische Gegenregulationsmechanismen, die in Richtung einer Gewichtskonstanz wirken und somit die Stabilität (und damit auch die Überlebensfähigkeit) unter den Bedingungen von Restriktion erhalten. Durch die erhebliche Einschränkung der Nahrungszufuhr trat bei den gesunden Versuchspersonen nach der Hungerphase von 24 Wochen bei einem erheblichen Teil Veränderungen der Essgewohnheiten und eine gesteigerte gedankliche Beschäftigung mit dem Essen auf. Essen wurde für einige zum zentralen Lebensinhalt. Auch nachdem die Nahrungsmenge wieder normalisiert wurde, verblieb bei einigen eine schwere Störung der Sättigungsregulation (HeißhungerAnfälle, Schwierigkeiten Mahlzeiten zu beenden). Auch im psychischen Bereich ergaben sich bei den Versuchspersonen durch erhebliches Abnehmen Veränderungen wie Konzentrati-

onsstörungen, sozialer Rückzug, vermindertes sexuelles Interesse, Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen. In einem weiteren klassischen Experiment verfolgte man das Ziel, durch Überernährung eine Gewichtszunahme von 20 – 25 % zu erreichen (Sims, 1976). Für die Mehrzahl der Teilnehmer war eine 4 – 6-monatige Überernährung notwendig, um die gewünschte Gewichtszunahme zu erreichen. Nur bei einigen, die bereits ein Vorrisiko trugen (familiäre Vorgeschichte, Diabetes), kam es zu einer raschen Gewichtszunahme. Nach Rückkehr zur vorher üblichen Ernährung kehrte das Gewicht der Betroffenen meist schnell wieder zum Ausgangspunkt zurück.

6. Körperideal Gesellschaft und Kultur prägen die Vorstellung, wie der eigene Körper ideal und schön erscheine. Galten vor 100 oder 200 Jahren füllige (in unseren Augen!) Frauen als begehrenswert und schön, so wird heute von der Mehrzahl der Frauen ein Body-Mass-Index von 18 – 20 (also an der unteren Grenze des Normalbereiches) als ideal und schön bewertet. Für Männer liegt das akzeptierte Gewicht etwas höher, aber auch hier werden in der westlich-postindustriellen Gesellschaft zunehmend höhere Gewichtsbereiche sozial abgewertet und ein Fitness- und Schlankheitsideal aufgebaut. 683

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7. Was essen wir? Zu allen Zeiten haben Menschen gewusst, dass zwischen dem was und wie man isst und wie man sich fühlt ein Zusammenhang besteht. Essen war immer ein Mittel um Missbehagen zu beenden und Wohlbefinden herzustellen (jenseits der Befriedigung des Hungers). Dieses grundlegende individuelle Ernährungswissen hat sich im Laufe der Geschichte zu zwei unterschiedlichen Arten von Ernährungswissen erweitert: r

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die bereits in der Antike begründete Diätetik, in der spezifische Vorstellungen systematisiert wurden (über das was und wie viel man essen solle, um Gesundheit und Wohlbefinden herbeizuführen) das naturwissenschaftlich begründete Ernährungswissen, das seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts immer einflussreicher wurde und das Richtwerte für eine genügende und gesunde Nahrung vorgibt

Diese diätetischen Schulen gehen meist über die Nahrung hinaus und beschreiben Regeln für die Gestaltung anderer Lebensbereiche wie Kleidung, Sexualität, Reinigung, körperlicher Bewegung usw. und gründen meist auf theoretischphilosophischen Grundannahmen. Essen wird wie die alltägliche Lebensführung durch soziale und kulturelle Alltagsroutine geprägt, die gewohnheitsmäßig und unbewusst vollzogen wird. Essen bereitet Lust und Genuss, insbesondere durch die geruchlichen und geschmacklichen Empfindungen, die bei der Nahrungsaufnahme entstehen und in einem sozialen Kontext erlebt werden. Die kulturelle Bestimmung von Lebensmitteln folgt zwei Bedeutungsfeldern: der re MJHJÕTFO #FEFVUVOH im weitesten Sinn, in der Lebensmittel als rein/unrein, heilig/unheilig charakterisiert werden, und andererseits der TP[JBMFO#FEFVUVOH von Lebensmitteln, in der Nahrungsmitteln eine (niedrigere oder höhere)

Position im sozialen Raum zugewiesen wird, um soziokulturelle Unterschiede zu repräsentieren. Die Tabuisierung von Lebensmitteln, wie z. B. des Schweinefleisches in einigen Religionen, folgt beiden Bedeutungsebenen: das jüdische Schweinefleischverbot kam zu jener Zeit auf, als die eigene jüdische Identität begann und es sinnvoll war, sich von Völkern abzugrenzen (die Schweinefleisch aßen), um die Herausbildung einer eigenständigen Identität zu fördern. Meist wurde jedoch aufgrund einer Kosten-Nutzenbilanz entschieden, also Lebensmittel und Tiere als rein qualifiziert die in ihrer biologischen Verwertbarkeit und Erreichbarkeit auch sinnvoll waren. Esstabus sind in Kulturen (solange der kulturelle Rahmen stabil ist) recht beständig und haben wie einige religiöse Esstabus Jahrtausende überdauert. Elias (1978) hat in seinem Standardwerk über den Prozess der Zivilisation herausgearbeitet, dass nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch die Zubereitungsform und die Tischsitten ausgezeichnete Mittel der sozialen Unterscheidung waren und es immer noch sind. Mit der Modernen und der Pluralität der Lebenswelten ist es nicht mehr so einfach, sich durch die Lebensmittel und die Art der Zubereitung, sowie der Form des Verzehrs von anderen zu unterscheiden. Und dennoch hat das Essen (was und wie gegessen wird) unverändert hohe Bedeutung. Die oberen sozialen Schichten essen abwechslungsreicher, proteinreichere Produkte wie Milch und Joghurt, viel Obst und sie achten mehr auf ihr Gewicht. In den unteren Schichten isst man eher Butter, Zucker, Weißbrot, Fleisch und Wurstwaren, Übergewicht ist statistisch häufiger. Die sozialen Unterschiede einer Gesellschaft drücken sich in allen Lebensformen aber auch beim Essen deutlich aus. Der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel nimmt mit steigendem sozialen Status ab und es werden andere Lebensmittel bevorzugt (Bourdieu 1984).

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8. Der Einfluss der Ernährung auf die psychische Gesundheit Gesichert ist, dass die meisten psychischen Erkrankungen (Depressionen, Schizophrenie, Essstörungen, Demenzen) das Risiko erhöhen, sich in Menge und in Zusammensetzung unzureichend zu ernähren (Gray et al., 1989). Inwieweit Ernährungsgewohnheiten (z. B. Fisch- oder Gemüsekonsum) die Inzidenz bestimmter seelischer Erkrankungen beeinflusst, ist hingegen jedoch weithin unklar (Hausteiner et al., 2007). Kohlenhydrate führen als Langzeiteffekt zu einer verbesserten Stimmung, dies ist natürlich auf die primäre Abhängigkeit des Gehirns von den schnell erschließbaren Kohlenhydraten zurückzuführen. Besonderes Augenmerk gewinnt derzeit in der Forschung die Bedeutung essentiell-ungesättigter Fettsäuren, die notwendige Bausteine für eine normale Entwicklung und Funktion des Gehirns sind und nicht im Gehirn selbst synthetisiert werden können. In der Behandlung seelischer Störungen ist eine hinreichende gesunde Ernährung und eventuelle Substitution verstärkt zu beachten, eine Ernährungsanamnese und Beratung sollte gerade auch bei seelischen Störungen (nicht nur Essstörung) zur Routine gehören. Beim Essen werden unterschiedliche individuelle Gefühle (meist unbewusst) lebendig: Liebe oder Aggressivität („zum Fressen gern“), Abgrenzung („zum Erbrechen“), Genießen („auf der Zunge zergehen lassen“) u. v. a. Essen kann Vorbedingung für Zuwendung oder auch als Genuss gesehen werden, es kann aber auch mit Lust oder Ekel verbunden sein. In unseren westlichen Kulturen hat sich in den letzten Jahrhunderten das Essverhalten normiert, verfeinert und rationalisiert. In den letzten Jahrzehnten tritt das Essen als sinnliches Erlebnis hinter der Notwendigkeit des schnellen Essens (Fast Food) zurück. Während in vielen Kulturen unverändert Körperfülle als Zeichen von Wohlstand und Macht gilt, hat sich in den westlichen Kulturen im 20. Jahrhundert die Schlankheit – gerade des

weiblichen Körpers – zu einem zentralen Thema in den Massenmedien entwickelt. Die Fütterung durch die Mutter ist die erste wesentliche menschliche Kommunikation des Säuglings. Wie sehr Ernährungsgewohnheiten Zeitphänomene sind, wird am Beispiel der Säuglingsernährung deutlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ein strenger Fütterungsplan mit etwa fünf Mahlzeiten am Tag üblich, heute wird nach Bedarf gefüttert (gestillt), also je nach den vermuteten Grundbedürfnissen.

9. Ernährungsberatung (Therapie) Ernährungsberatung (Therapie) ist eine kommunikationspsychologische Aufgabe mit dem Ziel, die durch die Medizin und Ernährungswissenschaften gewonnenen Erkenntnisse zu vermitteln. Ernährungsteams sollten interdisziplinär aus Ärzten, Diaetologen, Ernährungswissenschaftlern und psychologisch geschulten Fachkräften bestehen. Ziel ist, die langfristige Veränderung von negativen Ernährungsgewohnheiten. Voraussetzung ist eine ausreichende Motivation des Patienten und praktische Anleitung in der Durchführung, sowie eine Überwachung des Therapie- und Ernährungsziels. Ernährungsberatung und Aufklärung ist in Anbetracht der steigenden Prävalenzzahlen von Adipositas und der Häufigkeit von Essstörungen in westlichen Gesellschaften notwendiger denn je (Pudel et al., 2004). Das der früheren Ernährungsaufklärung zugrunde liegende Prinzip „Vernünftige Menschen benötigen nur vernünftige Information um vernünftig zu essen“ hat aber in der Ernährungsberatung nicht zu den erhofften Ergebnissen geführt; zwischen Wissen und Verhalten klaffen große Lücken. Die „gesündere“ (mit einem hohen Anteil von Gemüse und Kohlenhydraten) versehene Nahrung früherer Jahrzehnte entsprach nicht rationalen Gründen, sondern den Notwendigkeiten des Nahrungsangebots. Wie Berichte dokumentieren (Deutsche Gesellschaft für Ernährung, 2000), essen die Menschen seit Jahrzehnten na685

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Tabelle 1. Merkmale der Essstörungen und Adipositas

Anorexia nervosa

Bulimia nervosa

Adipositas

Körperbild

Untergewicht, geschlechtslos, asketisch

leichtes Untergewicht bis Normalgewicht, weiblich attraktiv

Übergewicht, Gleichgültigkeit oder Abwertung gegenüber dem eigenen Körper

Sexualität

keine sexuellen Partnerschaften (Askese), sexuelle Kontakte oft Auslöser

sexuelle Partnerschaften bestehen bei oft mangelnder Erlebnisfähigkeit

Partnerschaften bestehen, Essen ist der wichtigste gemeinsame Bereich

Essverhalten

Abnehmenwollen, Kontrollzwang

Nicht-zunehmen-Wollen, Kontrollzwang

Binge-eating (⅓), häufiges und Zu-viel-Essen

soziales Verhalten

Furcht vor Überwältigung, Abgrenzung von anderen, Streben nach „Besonderem“

Furcht vor Ablehnung und Verlassenwerden; Bestreben anderen zu gefallen

Essen als Abwehr von Unlust, sozialer Rückzug

subjektives Leiden

kein Leidensdruck, Verleugnung (Magersucht ist ichsynton), klagen nur über sekundäre Beschwerden

starker Leidensdruck mit Schuld- und Schamgefühlen

Verleugnung des Problems bzw. häufig seelische Beeinträchtigung

hezu unverändert, oft jedoch von einem schlechten Gewissen begleitet. Essen ist eine emotionale Angelegenheit, Ernährung und Essen sind also keine Synonyme, und da Ernährungsberatung auf das Essen hinzielt, muss mehr der emotionale Hintergrund des Essens mitbeleuchtet und verändert werden. Obwohl der geringe Wert von Diäten seit langem klar ist, führt ein erheblicher Teil der Bevölkerung unverändert Schlankheitsdiäten durch: sie werden im Rahmen der Diät durch eine Gewichtsabnahme belohnt und die Mehrzahl gibt sich danach bei erneuter Gewichtszunahme selbst die Schuld am Misserfolg der Diät. Die üblichen Reduktionsdiäten haben kaum bleibende Gewichtsreduktion zur Folge, da sie die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten nicht mitberücksichtigen. Das treibende Motiv für derartige Diäten ist das Streben, Anerkennung mittels einer schlankeren, attraktiveren Figur zu gewinnen. Die Beschreibung dieses Schönheitsideals und die immer wiederkehrenden Diäten (JojoEffekt) sind heute als eindeutige Risikokonstellation für das Auftreten von Binge-EatingDisorder (Essanfälle ohne Kompensation) und

Bulimia nervosa (Essanfälle mit nachfolgendem Versuch die Nahrungsmenge zu kompensieren, z. B. Erbrechen) gesichert. Die Prävalenz der Bulimie wird auf etwa 3 – 4 % der weiblichen Bevölkerung geschätzt. Die Binge-Eating-Disorder liegt deutlich darüber. Die Störungen belegen, dass Menschen aufgrund von sozialen Motiven durchaus in der Lage sind, ihr Essverhalten radikal zu ändern, auch mit der Gefahr, ernsthafte gesundheitliche Risiken einzugehen. Ernährung und Essen stehen damit beispielgebend für den Widerspruch zwischen Wissen und Emotion. Wenn Essen also ein überwiegend emotional gesteuertes Verhalten ist, das auf die Befriedigung dieses Bedürfnisses abzielt, müssen alle Aufklärungsprogramme auch diese emotionale Dimension berücksichtigen. In der Überflussgesellschaft kollidieren evolutionsbiologische Programme mit segensreichen Erfindungen der Menschen, die harte körperliche Arbeit und leere Teller abgeschafft haben.

10. Essstörungen Im Bereich der Essstörungen werden Anorexia nervosa und Bulimia nervosa zu den psychoso-

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matischen Störungen gezählt, es sind Störungen der Nahrungsaufnahme und der Einstellung zur Nahrung. Anorexie ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten und aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Zentral ist das veränderte Körperschema, in dem die Gewichtsschwelle für sich selbst sehr niedrig gelegt wird. Das Krankheitsbild wurde bereits in der Antike und im Mittelalter an Fallbeispielen dargestellt. Die ersten medizinischen Beschreibungen erfolgten im 17. und 18.  Jahrhundert. Und in der heutigen westlichen Lebensart hat die Erkrankung ihre größte Häufigkeit erfahren. Länder, die den westlichen Lebensstil übernehmen, erreichen sehr bald ähnliche Prävalenz- und Inzidenzzahlen wie sie aus westlichen Ländern (Prävalenz für Frauen in der Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter) knapp unter 1 % bekannt sind. Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch wiederholte Essanfälle bei gleichzeitig übertriebener Beschäftigung mit dem Körpergewicht. Das Körpergewicht ist jedoch in der Regel normal. Binge-Eating-Attacken sind verbunden mit der andauernden Beschäftigung mit dem Essen und der unwiderstehlichen Gier nach Lebensmitteln. Die Erkrankung besteht erst seit den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, ist also offensichtlich an kulturelle Zeitphänomene gebunden. Die Prävalenzrate bei 20 – 40-jährigen Frauen ist bei 2 – 4 % hoch. Auch hier gilt dasselbe Phänomen, dass Länder, die sich dem westlichen Lebensstil anschließen, binnen kurzer Zeit ähnliche Prävalenzraten aufweisen. Adipositas gilt nicht als psychische Störung, da sie ein multikausales biopsychosoziales Ursachen- und Auswirkungsbündel besitzt. Adipositas besteht, wenn der Body-Mass-Index größer als 30 kg/m2 ist. Adipositas wird als multikausale biopsychosoziale Störung verstanden, das Übergewicht hat sich mit der vermehrten Verfügbarkeit von Nahrung in den letzten Jahrzehnten in den meisten Ländern der Erde dramatisch gesteigert. Aufgrund genetischer Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass der genetische

Tabelle 2. Übergewicht als bio-psychosoziales Geschehen Übergewicht ist multikausal: Veranlagung, Umwelt, Lebensweise und individuelle Entwicklung wirken zusammen. Unterschiedliche genetische Muster Genetik A: Verwertung der Nahrung wird beeinflusst Genetik B: Sättigung wird geregelt Unterschiedliche komplexe Hormoninteraktionen: Leptin, Insulin, NPY, Ghrelin – Minderung/Steigerung des Appetits Ändert sich ein Hormon, ändern sich in der Gegenregulation die anderen Hormone Auch psychophysiologische Ereignisse (Schlafmangel, Emotionen) beeinflussen die Hormonausschüttung/ Hemmung. In der individuellen Entwicklung werden Muster verändert/geprägt.

Einfluss auf Gewichtszunahme etwa bei 25 % liegt, die restliche Variation eher auf erworbene (epigenetische) Einflüsse zurückzuführen ist. Bezüglich der übermäßigen Nahrungsmittelzufuhr muss jedoch zwischen einer erhöhten Fett- und einer erhöhten Kohlenhydrat-(Zucker) Zufuhr unterschieden werden. Fett als wesentlicher Geschmacksträger hat für viele Menschen eine hohe emotionale Bedeutung, führt jedoch leider bei erhöhter Zufuhr zu einem deutlich höheren Körpergewicht (bzw. erhöhtem BMI). Hingegen führt eine steigende Kohlenhydratzufuhr nicht in diesem Maße zu einem erhöhten Anteil von Übergewicht, da nach der Gabe von Kohlenhydraten die Oxidation von Kohlenhydraten gesteigert wird, während eine erhöhte Fettzufuhr keine erhöhte Fettoxidation zur Folge hat. Dieses Ungleichgewicht wird dadurch verstärkt, dass Fette offenbar im Vergleich zu Kohlenhydraten eine geringere Sättigungswirkung ausüben. Schon immer wird Übergewicht mit erhöhter Nahrungsaufnahme und verminderter körperlicher Bewegung in Verbindung gebracht. Übergewicht als medizinisches Risiko und damit als Prävention zum Therapiefeld beginnt in der Regel bei einem BMI von deutlich über 30, auch 687

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wenn per Definition bereits ein BMI von 25 – 29,9 als Übergewicht bezeichnet wird. Die psychosozialen Auswirkungen des Übergewichts sind erheblich, man findet bei adipösen PatientInnen gehäuft ängstliche und depressive Störungsbilder, Lebenszufriedenheit und Selbstwertgefühl sind deutlich gemildert (Sarlio-Lähteenkorva et al., 1995). Bei vielen Adipösen findet sich eine verminderte Wahrnehmung der Körpergefühle (Sättigungsgefühl) sowie eine durch Belastung (Kummerspeck usw.) ausgelöste Nahrungsaufnahme auf dem Hintergrund des erlernten und erworbenen Essverhaltens in meist übergewichtigen Familien. In der multikausalen Verursachungskette des Übergewichtes haben also psychosoziale Faktoren einen entscheidenden Stellenwert.

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19.2 Essstörungen J. F. Kinzl

1. Einleitung

2. Hungern, Fasten, Diäthalten

Essen gehört zu den Grundbedürfnissen eines jeden Menschen, ist eigentlich die natürlichste Sache der Welt und wird auch von den meisten Menschen als normal und mit Genuss erlebt. Das menschliche Essverhalten wird dabei von vielen Motiven gesteuert. Neben der Befriedigung von Hungergefühlen spielen eine Reihe von anderen Faktoren wie Erziehung, Gewohnheiten, Religion, Preis, individuelle Vorlieben, Abneigungen, Stimmungen und andere mehr eine Rolle (Pudel et al., 1998). Aber das gesunde und das gestörte Essverhalten haben auch Funktionen, die mit dem Essen im engeren Sinne nicht viel zu tun haben. So dient das Essen

Beim Hungern ist das Interesse des Betroffenen meistens auf Nahrungssuche gerichtet. Negative Gefühle wie Ärger, Unlust, aber auch Depression und Aggression treten auf. Neben dem Hungern als Ausdruck des Fehlens an Nahrung (leider in vielen Teil der Welt noch Tatsache) gibt es freiwillig gewählte Hungerkuren, die meist als Reaktion mit Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen und dem Körpergewicht durchgeführt werden. So wird das Einhalten von Diäten oder Fasten von vielen Menschen, vor allem Frauen häufig durchgeführt, um Gewicht abzunehmen („kollektives Diätverhalten“). Das Diäthalten an sich ist noch keine Essstörung; es ist aber bekannt, dass viele Essstörungen mit einer Diät beginnen, ohne dass jede Diät zu einer Essstörung führen muss (Westenhöfer, 1996). Gerade bei Mädchen und jungen Frauen, die psychische Probleme haben, kann das Diäthalten oder Hungern zur Entwicklung einer Essstörung beitragen (Buddeberg-Fischer, 2000, Kinzl et al., 1998). Eine amerikanische Studie (Keys et al., 1950) konnte zeigen, dass eine lang dauernde massive Einschränkung der Nahrungszufuhr zu typischen Hungersymptomen führen kann, wie veränderter Einstellung zu Essen (wie starke Beschäftigung mit Essen, Essanfälle), emotionalen Störungen (wie Freudlosigkeit, Gereiztheit, Ängstlichkeit), kognitiven Störungen (wie Störung der Kritikfähigkeit, Verlangsamung von Denkprozessen) und körperlichen Störungen (wie z. B. Bauchbeschwerden, Kältegefühl, Störung der Sexualität). Viele dieser somato-psychischen Veränderungen sind wahrscheinlich Ausdruck eines Serotonin-Mangel-Syndroms, vor allem bedingt durch die Einschränkung der Kohlenhydratzufuhr.

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der Beziehungsgestaltung, wie z. B. „mit jemandem Essen gehen“, „mit jemandem den Tisch teilen“, oder das gemeinsame Abendessen als Ort, wo sich die Familienmitglieder treffen usw. als Machtmittel und Kontrolle der Umgebung, wie z. B. die Weigerung zu essen bei Magersüchtigen zur Affektregulation, wie z. B. zur Abwehr negativer Gefühle, als Trost bei Langeweile oder Einsamkeit oder zur Beruhigung bei Stress usw. zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls zur Herstellung von Autonomie

Die Regulation des Essverhaltens ist sehr komplex und viele Faktoren, die zur Auslösung, Aufrechterhaltung und Beendigung des Essverhaltens führen, sind noch nicht bekannt. Neben Hormonen und Neurotransmittern (= Überträgerstoffe im Gehirn) spielen Lernprozesse eine wichtige Rolle.

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Tabelle 1. Charakteristika gestörten Essverhaltens 1. Eine vermehrte Beschäftigung mit Essen, Nahrung, Kalorien („niemand denkt so viel an Essen, wie der, der Diät hält, hungert oder fastet“). 2. Zunehmende Essprobleme: ein unbeschwertes Genießen des Essens ist immer weniger möglich („niemand klagt soviel über Essprobleme, wie der, der Diät hält“). 3. Angst vor Gewichtszunahme („niemand hat so viel Angst vor einer Gewichtszunahme, wie der, der Diät hält oder hungert“). 4. Verlust gesunder Hunger- und Sättigungsgefühle („niemand ist mehr gefährdet, die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren, wie der, der hungert oder fastet“). 5. Vermeiden von Essen in Gesellschaft. 6. Angst, Scham- und Schuldgefühle beim Essen, das Gefühl versagt zu haben, weil gegessen wurde. Tabelle 2. Diagnosekriterien für eine Essstörung 1. Gewicht: zur Bestimmung wird meist der BodyMass-Index (BMI = Körpergewicht dividiert durch Körpergröße zum Quadrat) verwendet. Dabei unterscheidet man: Untergewicht (BMI < 18,9), Normalgewicht (BMI 19 – 24,9), Übergewicht (BMI 25 – 29,9) und Adipositas (BMI > 30). 2. Essverhalten (gesundes vs. gestörtes Essverhalten). 3. Seelische Bedeutung des Essverhaltens und/oder des Körpergewichts für den Betroffenen (z. B. „Was bin ich ohne Magersucht wert?“).

Es bestehen fließende Übergänge von einem normalen zu einem gestörten Essverhalten. (siehe Tabelle 1).

3. Formen von Essstörungen 3.1. Allgemeines Eine Essstörung liegt dann vor, wenn jemand das Essen als Ersatz für etwas anderes einsetzt. Eine Essstörung ist keine Ernährungsstörung. Für die Diagnose einer Essstörung werden üblicherweise drei Faktoren herangezogen (siehe Tabelle 2). Im Verlaufe des essgestörten Verhaltens treten erste frühe Anzeichen der jeweiligen Essstörung auf (siehe Tabelle 3).

Tabelle 3. Frühe Anzeichen einer Essstörung 1. Meist diffus und deshalb schwer erkennbar. 2. Auffallende Essgewohnheiten wie sehr langsames oder sehr schnelles Essen. 3. Vermehrte Beschäftigung mit Ernährung und Kalorien. 4. Vermeidung von Essen in Gesellschaft. 5. Appetitlosigkeit, Völlegefühl. 6. Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme oder Gewichtsschwankungen. 7. Freudlosigkeit, sozialer Rückzug. 8. Überaktivität oder vermehrte Passivität. Tabelle 4. Hinweise auf Suchtcharakter der verschiedenen Essstörungen 1. Das Denken, Fühlen und Handeln dreht sich bei den schweren Essstörungen um die Einnahme (oder Verweigerung) der Substanz „Essen“. 2. Es kommt zum Auftreten von Entzugssymptomen, wenn das gestörte Essverhalten beendet wird (wie z. B. Unruhe, Angst). 3. Bei der Magersucht muss die Dosis im Sinne einer immer stärkeren Gewichtsabnahme immer mehr gesteigert werden, weil es nur dann zu einer gewissen, aber auch nur kurz dauernden inneren Ruhe kommt (Dosissteigerung, Toleranzentwicklung). 4. Das gestörte Essverhalten (Nichtessen oder Essanfälle) wird trotz negativer Folgen für den Körper und die Seele bzw. für das Sozialverhalten fortgesetzt. 5. Das Essverhalten kann (bei der Bulimie und bei der Binge-Eating-Störung) nicht kontrolliert werden (Kontrollverlust).

Ob es sich bei den Essstörungen um eine Suchtkrankheit, eine Angststörung oder eine Zwangsstörung handelt, ist Thema vieler Diskussionen, wobei es deutliche Hinweise darauf gibt, dass einerseits interindividuelle Unterschiede bestehen und andererseits Mischformen vorkommen. Viele Kriterien weisen auf einen Suchtcharakter der verschiedenen Essstörungen hin (Kinzl et al., 2000) (siehe Tabelle 4). Für das Vorliegen einer Angststörung bei den Essstörungen spricht, dass neben einer ausgeprägten Gewichtsphobie – bei der Anorexie und der Bulimie – ein starkes Vermeidungsverhalten bei der Anorexie bzgl. des Essens besteht, und meist eine ängstliche oder selbstunsicher-

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vermeidende Persönlichkeitsstruktur bei den Essgestörten nachzuweisen ist. Für das Vorliegen einer Zwangsstörung bei den Essstörungen spricht, dass das Essverhalten einen stark zwanghaften Charakter hat, eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur häufig zu finden ist und nach der Überwindung der Essstörung andere Zwangssymptome nicht selten sind.

3.2. Entstehung der Essstörungen Wie andere psychische oder psychosomatische Krankheiten sind Essstörungen multifaktoriell bedingt. Neben genetischen und konstitutionellen Ursachen kommt psychischen und psychosozialen Faktoren eine entscheidende Bedeutung bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung zu. Essstörungen finden sich vor allem bei weiblichen Jugendlichen und jungen Frauen, wobei alle Formen von Essstörungen in den letzten Jahrzehnten sowohl an Häufigkeit als auch an Schwere zugenommen haben. Besonders subklinische Ausprägungen (= Vorformen von Essstörungen) sind bei allen Essstörungen besonders häufig. Die Zunahme der Häufigkeitsraten in den letzten Jahren ist bei allen Essstörungen besonders durch psychosoziale Faktoren erklärbar. So spielen bei Anorexie und Bulimie die Faktoren Schlankheitsideal – vermittelt durch die Medien (wobei Schlankheit mit Schönheit gleichgesetzt wird) – und die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine besondere Rolle, wobei die Selbstverwirklichungsansprüche und die Mehrfachbelastungen durch Beruf und Familie bei den Frauen besonders zu erwähnen sind. Zur Zunahme der Häufigkeitsraten bei der Adipositas tragen die starke Abnahme des Ausmaßes an körperlicher und/oder sportlicher Aktivität in unserer westlichen Gesellschaft und die überall und zu jeder Tageszeit verfügbare, vor allem fettreiche Nahrung, die noch dazu oft in Übermenge („Super size“) genossen wird, besonders bei.

Tabelle 5. Charakteristika der Magersucht 1. Starke Gewichtsabnahme gefolgt von einem deutlichen Untergewicht (BMI < 17,5). 2. Probleme und Angst vor Gewichtszunahme (Gewichtsphobie). 3. Störung des Körperschemas, d. h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist stark verzerrt. 4. Übermäßige gedankliche Beschäftigung mit Essen. 5. Störung des Essverhaltens: die Betroffenen bevorzugen stark einseitige, zunehmend kalorienreduzierte, vor allem kohlenhydrat- und fettarme Kost. Die Lebensmittel werden meist in erlaubte, d. h. kalorienarme und in verbotene, d. h. kalorienreiche Nahrungsmittel eingeteilt, wobei der Anteil der erlaubten Nahrungsmittel mit der Zeit immer mehr abnimmt. 6. Freudlosigkeit, sozialer Rückzug. 7. „Vita-minima–Symptome“: Hypotonie, Hypothermie, Bradykardie. 8. Ausbleiben der Regelblutung (Amenorrhoe). 9. Lanugobehaarung („Babyflaum“). 10. Hyperaktivität: diese dient dem Energieverbrauch, aber auch der Ablenkung von Hunger und Essen, dem Zeigen von Stärke und Leistungsfähigkeit und der Erzeugung von Körperwärme durch Muskelaktivität. 11. Fehlendes Krankheitsgefühl und fehlende Krankheitseinsicht.

3.3. Folgende Formen von Essstörungen werden unterschieden: 1. Anorexia nervosa oder Magersucht 2. Bulimia nervosa oder Fress-Brech-Sucht 3. Orthorexia nervosa oder „krankhaftes Gesundessen“ 4. Adipositas oder Fettsucht 3.3.1. Anorexia nervosa oder Magersucht Die zentralen Charakteristika der Magersucht sind in Tabelle 5 dargestellt. Es werden zwei Formen der Magersucht unterschieden: 1. Restriktiver oder asketischer Typ: dabei wird das Körpergewicht vor allem durch Hungern und körperliche Überaktivität reduziert. 691

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Tabelle 6. Risikofaktoren für die Entstehung einer Magersucht 1. Geringes Selbstwertgefühl: die Askese, d. h. die starke Einschränkung der Nahrungszufuhr, gibt den Betroffenen das Gefühl, zu einer besonderen Leistung fähig zu sein. Es gibt ihnen auch das Gefühl von Autonomie, gerade dann, wenn eine starke Abhängigkeit von den wichtigsten Bezugspersonen besteht und eine gesunde Abgrenzung von diesen nicht gelungen ist. 2. Hoher Leistungsdruck („Perfektionismus“). 3. Krankhaftes Schönheitsideal (Motto: „Dünnsein ist nicht alles, aber ohne Dünnsein ist alles nichts“). 4. Fehlende familiäre Essensrituale.

2. Bulimischer Typ: dieser Typ ist neben dem Hungern und dem Konsum kalorienarmer Nahrungsmittel durch die zeitweilige Einnahme von Abführmitteln oder Erbrechen gekennzeichnet. Die gefährlichste Komplikation der Magersucht stellt die Osteoporose (= Knochenschwund) dar, die als Folge der Hormonstörungen und der körperlichen Auszehrung auftritt und oft mit spontanen Knochenbrüchen vergesellschaftet ist. Eine lang dauernde Amenorrhoe kann auch zu einer erhöhten Infertilität beitragen. Die Risikofaktoren für die Entstehung einer Magersucht sind in Tabelle 6 dargestellt. 3.3.2. Bulimia nervosa oder Fress-Brech-Sucht Die Hauptmerkmale der Bulimie sind in Tabelle 7 dargestellt. Grundsätzlich werden zwei Formen der Fress-Brech-Sucht unterschieden: 1. t1VSHJOH5ZQi : Hier zeigen sich regelmäßige Episoden von Essanfällen, in denen große Mengen meist kalorien-, fett- und kohlenhydratreicher Kost verzehrt werden, die anschließend durch Erbrechen, oder Abführmittel wieder entfernt werden.

Tabelle 7. Charakteristika der Bulimia nervosa 1. Häufige Essanfälle von meist fett- und kohlenhydratreicher Kost, verbunden mit einem Kontrollverlust während des Essens. 2. Kompensatorische Verhaltensweisen wie Erbrechen, Abführmittelmissbrauch, gezügeltes Essverhalten oder zeitweilige Überaktivität zur Verhinderung einer Gewichtszunahme 3. Übermäßige Beschäftigung mit dem eigenen Körper. 4. Weitgehende Abhängigkeit des Selbstwertgefühls vom Aussehen, verbunden mit einer starken Gewichtsangst. 5. Stimmungsschwankungen. 6. Das Körpergewicht liegt meist im Normalgewichtsbereich; es kann aber auch ein leichtes Untergewicht oder leichtes Übergewicht bestehen.

2. t/PO1VSHJOH5ZQi Die Betroffenen zeigen während der aktuellen Episoden der Bulimie andere unangemessene, der Gewichtszunahme entgegensteuernde Maßnahmen wie Fasten, Hungern oder übermäßige körperliche Aktivität, aber nur gelegentliches Erbrechen oder nur seltener Abführmittelgebrauch. 3.3.3. Orthorexia nervosa oder krankhaftes Gesundessen Bei der Orthorexie handelt es sich um eine Essstörung, bei der die ständige Sorge um die Gesundheit zu einer krankhaften Fixierung auf gesundes Essen geführt hat (Bratman, 2000). „Ortho“ bedeutet „mittel“, „gerade“ oder „richtig“; „orexia“ bezieht sich auf den Appetit. Charakteristisch ist eine Art der Besessenheit, und das Verhalten, die Nahrungsmittel in „gut“ und „schlecht“, „gesund“ und „ungesund“ einzuteilen. Die charakteristischen Verhaltensweisen für die Orthorexie sind in Tabelle 8 dargestellt. Von dieser Essstörung sind wahrscheinlich mehr Frauen als Männer betroffen, und davon wieder vor allem Frauen aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht, bei denen der Faktor Gesundheit eine besondere Rolle spielt.

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Tabelle 8. Charakteristika der Orthorexia nervosa

3.3.4. Adipositas oder Fettleibigkeit

falschen Essens, vor allem zu fettes Essen, bei zu wenig Bewegung“. Wie schon erwähnt spielen für die Entwicklung einer Adipositas viele Faktoren zusammen, wobei aus Zwillingsuntersuchungen bekannt ist, dass bei der Adipositas den genetisch-konstitutionellen Faktoren eine große Bedeutung zukommt, für die starke Zunahme der Häufigkeitsraten an Adipositas in den letzten Jahren der Lebensstil (falsches und zu üppiges Essverhalten, wenig körperliche Bewegung, Stress) aber der wesentliche Faktor ist. Übergewicht und Adipositas gelten als Zivilisationskrankheiten ersten Ranges. Neuere Untersuchungen konnten zeigen, dass im Gehirn eines Übergewichtigen ähnliche Prozesse ablaufen wie bei Drogenabhängigen, wobei das emotionale Belohnungssystem eine zentrale Rolle bei der Steuerung des Essverhaltens spielt (Grimm, 2006). Der Botenstoff Dopamin scheint dabei eine wichtige Rolle bei der Gewichtskontrolle zu spielen. Mit Hilfe der Positronen-Emissionstomografie konnte gezeigt werden, dass das jeweilige Körpergewicht sehr eng mit einem bestimmten Dopaminrezeptor zusammenhängt (Volkow, 2005). Die Forscherin vermutet, dass viele Adipöse unter einem Dopaminmangel leiden und deswegen ständig nach neuer Belohnung, d. h. nach Essen suchen. Folgende Essstörungen lassen sich bei Adipösen gehäuft finden (Kinzl et al., 2004):

Die Adipositas ist durch eine übermäßige Anhäufung von Fett im Körper charakterisiert (BMI>30). Die Adipositas an sich ist keine Essstörung, jedoch weist ein großer Teil der Adipösen, vor allem bei starkem Übergewicht, ein gestörtes Essverhalten auf. Übermäßiges Körpergewicht ist die Folge einer positiven Energiebilanz, d. h. Adipöse essen zu viel und/oder bewegen sich zu wenig. Dieses Zuviel an Energie wird in körpereigenes Fett umgewandelt und in den Fettzellen gespeichert. Die Situation vieler Adipöser könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: „Zu viel des

1. t#JOHF&BUJOH4UÕSVOHioder „Syndrom der Fressorgien“ („Rauschesser“): Diese Störung ist gekennzeichnet durch wiederholte Episoden von Essanfällen verbunden mit dem Gefühl des Kontrollverlustes über das Essverhalten und einem fehlenden kompensatorischen Verhalten (kein Erbrechen, kein Fasten); meist wird schnell gegessen und nach dem Essen treten Ekel oder Schamgefühle auf. Ausgelöst werden diese Essanfälle, die meist abends auftreten, häufig durch emotionale Ereignisse wie Langeweile, Einsamkeit, Ärger. Von dieser Essstörung sind

1. Der gesundheitliche Wert der Speisen ist wichtiger als das Essvergnügen. 2. Bestimmte Genüsse oder Lieblingsspeisen werden nicht mehr gegessen, weil andere Lebensmittel besser (= gesünder) sind. 3. Die Anzahl der Nahrungsmittel, die gegessen werden, sinkt laufend und begrenzt sich schließlich auf ganz wenige Nahrungsmittelgruppen wie Obst und Gemüse. 4. Die Betroffenen fühlen Frieden und ein Gefühl der totalen Kontrolle, wenn sie nur mehr gesund essen. 5. Dieses gesunde Essverhalten führt oft zu gesellschaftlicher Isolation. 6. Die Betroffenen verbringen am Tag mehrere Stunden damit, über gesunde Nahrungsmittel nachzudenken. 7. Speisepläne werden immer im Voraus für die nächsten Tage zusammengestellt.

Sehr oft beginnt dieses gestörte Essverhalten mit dem Wunsch, den allgemeinen Gesundheitszustand zu verbessern und chronische Befindlichkeitsstörungen oder Krankheiten zu bekämpfen. Auch aktuelle Berichterstattungen in den Medien über Lebensmittelskandale und problematische Tierhaltungen können dazu beitragen, dass aus einem normalen Ernährungsbewusstsein ein übertriebener Gesundheitsfanatismus wird (Kinzl et al., 2004).

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mehr Frauen als Männer betroffen (Kinzl et al., 1998). 2. t0WFSFBUFSTi oder „Chronische Überesser“ (Fairburn et al., 1995): Bei dieser Essstörung essen die Betroffenen bei den Hauptmahlzeiten zu viel, besonders dann, wenn es ihnen gut schmeckt. Die Betroffenen könnten jederzeit willentlich mit dem Essen aufhören, wollen aber nicht, weil es ihnen schmeckt. Deutlich mehr Männer als Frauen können zu dieser Gruppe gezählt werden. 3. t/JHIU&BUJOH4ZOESPNi oder „Syndrom nächtlichen Essens“ (Stunkard et al., 1996): Diese Essstörung ist gekennzeichnet durch nächtliche Essanfälle verbunden mit Einund Durchschlafstörungen sowie morgendlichen Appetitminderungen. Es konnte gezeigt werden, dass besonders akute emotionale Störungen zu einem Übermaß an nächtlichem Essen führen. Die Störung findet sich deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern. 4. t$SBWJOHi oder Essgier: Dabei besteht ein fast unbändiges Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln, vor allem der Wunsch nach Süßem. Dieses Essverhalten findet man häufiger bei Frauen, vor allem während der Schwangerschaft oder prämenstruell.

3.4. Therapie der Essstörungen Wichtigstes Ziel ist es, die Zeichen von essgestörtem Verhalten frühzeitig zu erfassen, da ein früher Behandlungsbeginn bei den Essstörungen die Heilungschancen deutlich erhöht. Die Prognose ist bei allen Essstörungen eher als schlecht einzustufen: etwa ein Drittel der Betroffenen wird wieder ganz gesund, ein Drittel bessert sich deutlich, aber ein Drittel bleibt krank oder stirbt.

3.4.1. Therapie der Essstörungen Anorexie, Bulimie und Orthorexie Die Therapie dieser Essstörungen steht grundsätzlich auf zwei Säulen: 1. Ernährungsmanagement: dabei ist das Ziel die Erreichung eines gesunden Körpergewichtes und eines Essverhaltens, welches in ausgewogener Weise aus Kohlenhydraten, Eiweiß und Fetten zusammen gesetzt ist. Auch soll die meist existierende „schwarze Liste der verbotenen Speisen“ schrittweise abgebaut werden und regelmäßige Mahlzeiten eingehalten werden. Folgende Behandlungselemente werden dabei angewandt: r Informationsvermittlung zum Verständnis der Essstörung wie z. B. Zusammenhang zwischen der starken Einschränkung der Nahrungszufuhr und dem Heißhunger („somato-psychische Zusammenhänge“) r Ernährungsberatung mit dem Ziel einer ausgewogenen Mischkost r Stimuluskontrolltechniken (bei der Bulimie): Bedingungen, unter denen das problematische Essverhalten (z. B. Süßhunger) auftritt, werden herausgearbeitet und bearbeitet r Aufzeigen der Bedeutung eines bestimmten Körpergewichts wie z. B. Gegenregulationen des Körpers bei Unterschreitung eines bestimmten Körpergewichts und zu starker Einschränkung der Nahrungszufuhr („Yo-Yo-Effekt“) r Folgeschäden im Zusammenhang mit der Essstörung wie z. B. Kreislaufprobleme, Haarausfall, Ausbleiben der Menstruationsblutung, Zahnschäden, emotionale Probleme usw. Bei den schweren Formen der Magersucht und der Fress-Brechsucht wird das „Auffüttern“ zunächst mit hochkalorischer Sondenkost durchgeführt, wobei bei der Ano-

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rexie üblicherweise etwa 3200 Kalorien pro Tag, bei der Bulimie etwa 2200 Kalorien pro Tag verabreicht werden. Die Nahrung wird von den Betroffenen getrunken, nur in ganz schweren Fällen ist die Zufuhr über eine Nasensonde über einen gewissen Zeitraum notwendig. Die Ernährung in flüssiger Form ist aus zwei Gründen sinnvoll: r die notwendigen Mengen könnten in fester Form nicht in ausreichender Menge zugeführt werden r durch die flüssige Kost kann das gestörte Essverhalten umgangen werden Durch das Erleben, dass die Zufuhr normaler Nahrungsmengen nicht zu der gefürchteten extremen Gewichtszunahme führt („die beste Korrektur von Angst ist die Überprüfung in der Realität“; d. h. die gefürchtete extreme Gewichtszunahme tritt bei normalem Essverhalten nicht ein), kann meist nach einigen Wochen auf feste Normalkost umgestellt werden. Zu der normokalorischen Mischkost trinken die Magersüchtigen noch zwischendurch die Sondenkost (etwa 800 –1000 Kalorien), um die notwendige Gewichtszunahme zu erreichen. Wenn das mit der/dem Essgestörten vereinbarte Zielgewicht etwa erreicht wurde, essen die Betroffenen nur mehr – normokalorische – Normalkost mit dem Ziel, ein stabiles Gewicht, welches – meist im unteren – Normbereich liegt, langfristig mit „gesundem, normalem Essverhalten“ halten zu können. 2. Psychotherapie: Dabei sollen die der Essstörung zugrunde liegenden Konflikte und die Essstörung aufrecht erhaltenden Probleme identifiziert und behandelt werden, wobei sich vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken (z. B. zur Bearbeitung der verzerrten Einstellungen bezüglich der eigenen Person) unter Beachtung der jeweiligen Psychodynamik der Essstörung bewährt haben (Jacobi et al., 1996). Die am häufigsten zu bearbeitenden Problembereiche sind: ein niedriges Selbstwert-

Tabelle 9. Kriterien für eine stationäre Aufnahme 1. Kritischer Gewichtsverlust (> 10 % in den letzten 3 – 6 Monaten). 2. Fehlende Kontrolle über das Essverhalten. 3. Selbstschädigendes Verhalten (z. B. Ritzen, Schneiden) oder Selbstmordgefährdung. 4. Schwer wiegende Komplikationen wie Elektrolytentgleisungen. 5. Notwendigkeit einer Herausnahme aus einem krank machenden Familienklima. 6. Vorliegen einer Schwangerschaft. 7. Bei Misslingen einer ambulanten Psychotherapie. 8. Bei Wunsch der Essgestörten, sich selbst in eine stationäre Behandlung zu begeben.

gefühl, Perfektionismusstreben, extremes Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie, Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz, mangelnde Selbständigkeit, erhöhte Impulsivität, Schwierigkeiten im familiären Bereich und Probleme in der Sexualität. Für diese Problemfelder suchen dann die Essgestörten und Therapeuten gemeinsam eine passende individuelle Lösung. Eine stationäre Behandlung in einer Spezialabteilung kann unter bestimmten Bedingungen sinnvoll und notwendig sein (siehe Tabelle 9). 3.4.2. Therapie der Adipositas Erfolgreiche Behandlungen der Fettsucht erfordern 1. &JOFMBOHGSJTUJHF7FSÅOEFSVOHEFT&TTWFS haltens: am ehesten bewährt hat sich eine ausgewogene, fettarme, kohlenhydratliberale Mischkost, wobei der Kaloriengehalt nicht zu niedrig angesetzt werden darf, da sonst häufige Hungergefühle auftreten, die letztendlich dazu führen, dass wieder mehr gegessen wird. 2. &JOF4UFJHFSVOHEFSLÕSQFSMJDIFO" LUJWJUÅU dabei soll neben einer regelmäßigen sportlichen Aktivität (mindestens 3 Stunden pro Woche) ein insgesamt aktiverer Lebensstil 695

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angestrebt werde. Bei der Lebensstilveränderung soll auch dem Stress und dem Rauchen Aufmerksamkeit geschenkt werden. 3. Entscheidend ist weniger, welche „Diät“ oder welche Sportarten ausgeübt werden, vielmehr ist die Dauer, d. h. das Durchhal ten das entscheidende Kriterium. Um sehr lange durchzuhalten muss man schon sehr davon überzeugt sein, das Richtige zu tun. Ohne ausreichende innere Motivation, d. h. ohne ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft, geht es nicht. Die Problematik liegt darin, dass eine langfristige Veränderung von Gewohnheiten notwendig ist. Jeder weiß aber, wie schwer es ist, Gewohnheiten, vor allem schlechte, zu verändern. Dazu ist ein hoher Aufwand (meist sind viele Veränderungen notwendig), ein massiver Auslöser (Einengung durch die Krankheit) und ein dauerndes Ankämpfen gegen alte Verhaltensmuster notwendig, was besonders in Belastungszeiten schwierig ist. „Wirklich abnehmen und schlank bleiben kann nur derjenige, der mehr verändert als seinen täglichen Speiseplan“.

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19.3 Pica – qualitative Normabweichungen des Appetits T. Knecht

1. Einleitung Beim Thema Essstörungen wird meist nur an die beiden quantitativen Störungen des Appetits, nämlich an Anorexie und Bulimie gedacht. Die dritte große Essstörung Pica (eine qualitative Abweichung des Ernährungsinstinktes) führt im Vergleich ein ausgesprochenes Schattendasein – eine Ungleichgewichtung, welche zumindest aufgrund der globalen epidemiologischen Datenlage nicht gerechtfertigt ist: während die Prävalenzen von Anorexie und Bulimie unter erwachsenen Frauen relativ gut bekannt sind, nämlich 0,5 –1 % respektive 1– 3 % (Sass et al., 1996), bestehen betreffend des Vorkommens von Pica nur sehr vage, aber zum Teil erstaunlich hoch angesetzte Angaben. Die Punktprävalenz könne je nach gewählter Population 0 bis 66 % betragen; die Lebenszeitinzidenz sogar 0 bis 100 %, je nachdem, welche Kriterien man zugrunde legt (Sayetta, 1986). Allerdings sind die Risikogruppen für Pica deutlich andere als für Anorexie und Bulimie. Die letzteren Störungsbilder haben eine klare Affinität zu den Wohlstandsgesellschaften des Westens – die Pica scheint in ärmeren Ländern und in niedrigen Sozialschichten häufiger aufzutreten. Außerdem zeigt sie eine gewisse Affinität zu Kindern mit dunkler Hautfarbe (Robischon, 1971). Eine Gemeinsamkeit von Pica und quantitativen Essstörungen stellt das gehäufte Auftreten bei Frauen aller Altersstufen dar. Die Ungleichverteilung auf die beiden Geschlechter ist jedoch bei der Pica weniger ausgeprägt als bei Anorexie und Bulimie, wo sie in der Größenordnung von 10 : 1 liegt. Als besondere Risikogruppe konnten geistig Behinderte mit einer Pica-Prävalenz von 36 % identifiziert werden (Danford et al., 1982). Noch größer ist das Vorkommen der Pica unter Autisten mit einem Auftreten von 60 % (Kinnell,

1985). Eine vergleichbar hohe Prävalenz wurde nur noch unter schwangeren Angehörigen der Unterschicht angetroffen (Wakham et al., 1992).

2. Historisches Eine ausführliche Darstellung der Begriffsgeschichte von Pica stammt von Parry-Jones und Mitarb. (1992): Sie halten fest, dass die früheste Erwähnung des Pica-Phänomens in englischer Sprache aus dem Jahre 1398 stammt, als John Trevisa das enzyklopädische Monumentalwerk „De proprietatibus rerum“ von Bartholomäus de Glanville aus dem 13.  Jahrhundert übersetzte. Der Pica-Begriff (Pica lat. für Elster) tauchte erstmals 1563 im Oxford-English-Dictionary auf. Der französische Arzt Jean Liébault beschrieb in einem dreibändigen Werk über Frauenkrankheiten von 1582 das Auftreten von seltsamen Gelüsten in bestimmten Phasen der Schwangerschaft. Dabei stellte er starke Appetitregungen nach Erde, rohem Fleisch, Gips, Mehl, Essig, Gewürzen und weiteren Dingen heraus. Im folgenden Jahrhundert wurde Pica vor allem als Schwangerschaftsstörung aufgefasst, wobei J. Primerose 1651 darauf hinwies, dass sogar die Ehegatten von Schwangeren ähnlich seltsame Gelüste im Sinne einer Couvade entwickeln könnten. Der Italiener M. Alberti machte 1727 darauf aufmerksam, dass diese Störung keineswegs auf Schwangere beschränkt sei, sondern ganz unabhängig davon auch bei Männern, Knaben und Kleinkindern auftreten könne. D. Mason publizierte 1833 die Theorie, dass das Essen von Erde und Lehm der Aufnahme von Eisen und alkalischen Substanzen dienen könnte. Das Lehmessen als ritueller Brauch wurde später, d. h. 1865 vom Afrikaforscher Li697

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vingstone bei Eingeborenen von Sansibar beobachtet. 1911 wies E. Bleuler auf das gehäufte Vorkommen der Koprophagie bei der von ihm theoretisch neukonzipierten und benannten Gruppe der Schizophrenien hin.

3. Definition und Diagnostik Pica kann als eine spezifische Essstörung definiert werden, die in der anhaltenden, dranghaften Einnahme besonderer Substanzen und Objekte besteht, welche nach ihrer stofflichen Natur grundsätzlich essbar oder aber auch ungenießbar sein können. Das diagnostische und statische Manual psychischer Krankheiten DSM-IV (Sass et al., 1996) nennt dazu die folgenden vier diagnostischen Kategorien: 1. ständiges Essen ungenießbarer Stoffe, das mindestens einen Monat lang anhält 2. das Essen ungenießbarer Stoffe ist für die Entwicklungsstufe unangemessen 3. das Essverhalten ist nicht Teil einer kulturell anerkannten Praxis 4. tritt die Störung des Essverhaltens ausschließlich im Verlauf einer anderen psychischen Störung (z. B. geistige Behinderung, tief greifende Entwicklungsstörung, Schizophrenie) auf, muss sie schwer genug sein, um für sich allein genommen klinische Beachtung zu rechtfertigen Auch wenn offenbar praktikable diagnostische Kriterien verfügbar sind, ist die Diagnose oft alles andere als leicht zu stellen. Nur unter besonderen Umständen (z. B. im Behindertenheim) ist das Pica-Verhalten direkt beobachtbar. In andern Fällen darf kaum damit gerechnet werden, dass der Patient seine Problematik offen deklariert – ist Pica-Verhalten doch in vielen Fällen mit starken Schamgefühlen besetzt. Von daher sind es meist die Komplikationen dieser Störung, die den Patienten zum Arzt führen und

für entsprechende Leitsymptome sorgen. So stellt beispielsweise starkes Erbrechen, welches innerhalb von 20 Minuten auftritt, das häufigste Symptom der Zigaretten-Pica dar (Mc Gee et al., 1995). Andererseits kann eine Backpulver-Pica bei einer Schwangeren ein Zustandsbild erzeugen, welches von einer Präeklampsie kaum zu unterscheiden ist (Barton et al., 1992). So bedarf es außer den pathophysiologischen Kenntnissen oft eines gewissen detektivischen Scharfsinns, um von den vorhandenen Symptomen auf die zugrunde liegende Verhaltensproblematik zu schließen. Angesichts der gewaltigen Vielfalt von PicaFormen stellt sich die Frage nach einer praktikablen Einteilung. Für klassische und gut bekannte Pica-Formen sind spezifische Krankheitsbezeichnungen auf der Grundlage griechischer Wortstämme geschaffen worden: Acuphagie = Schlucken von spitzen Gegenständen Amylophagie = Essen von Stärke Cautopyreiophagie = Essen von abgebrannten Zündholzköpfchen Koniophagie = Essen von Staub Geomelophagie = Essen von rohen Kartoffeln Geophagie = Essen von Erde, Lehm Gooberphagie = Übermäßiges Essen von Erdnüssen Hyalophagie = Essen von Glas Koprophagie = Essen von Exkrementen Lithophagie = Essen von Steinen Pagophagie = Essen von Eis, Schnee Plumbophagie = Essen von Blei, respektive bleihaltiger Farbe Stachtophagie = Essen von Asche Trichophagie = Essen von Haaren Xylophagie = Essen von Holz Moore et al. (1994) und Lacey (1990) führen noch eine Reihe weiterer Substanzen auf, welche von Picazisten präferiert werden: Lufterfrischer, Backpulver, Kreide, Zement, Gips, Mehl, Kohlepapier, Salz, Seife, Zahnpasta, Schaumstoff, Tü-

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cher, Baumwolle, Detergentien, Gras, Insekten, Metall, Papier, Milchpulver, Kaffeesatz, usw. Für diese Substanzen existieren keine festgefügten Störungsbezeichnungen, so dass die entsprechenden Diagnosen gewöhnlich als zusammengesetzte Substantive formuliert werden, z. B. Zahnpasta-Pica. Zwei Sonderformen, die rein phänomenologisch durchaus dem Pica-Syndrom entsprechen, bei denen jedoch eine sehr spezielle Psychogenese vorliegt, sind erwähnenswert: r

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die "DVQIBHJF nach Kinnell (1985) stellt gewöhnlich den Versuch von Anstaltsinsassen dar, durch das Verschlucken von spitzen oder scharfkantigen Gegenständen eine medizinische Notfallsituation zu schaffen, wodurch eine Verlegung in einen offenen Rahmen unumgänglich und der Weg in die Freiheit gebahnt werden soll die Koprophagie, d. h. Einnehmen von Exkrementen tritt bei geistig schwer Behinderten und schwer derangierten Psychotikern auf; handelt es sich um sozial unauffällige Menschen, so liefert meist eine sexuelle Paraphilie den entsprechenden Hintergrund

4. Biologische Bedeutung von Pica-Verhalten Auf den ersten Blick fällt es schwer, das Phänomen Pica psychologisch zu erfassen – umso mehr, als es sich dabei um ein vorwiegend verdecktes Verhalten handelt, welches aus Gründen des Schamgefühls vor der Umwelt verborgen gehalten wird. So wiesen zunächst Beobachtungen bei Tieren den Weg zu einem profunderen Verständnis dieser rätselhaften Essstörungen (Knecht, 2000). Pica-artiges Verhalten findet man bei verschiedenen Klassen von Wirbeltieren, z. B. bei Fischen: Haie sind dafür bekannt, sich verschiedenste ungenießbare Objekte einzuverleiben. Hier dürfte in erster Linie eine Anfälligkeit des Beuteschemas für optische Täuschungen vor-

liegen. In der Klasse der Reptilien ist insbesondere die Geophagie bekannt, welche gerade bei Schlangen am ehesten als Mittel zur Pufferung des Mageninhaltes dienen dürfte, zumal es sich um reine Fleischfresser handelt. Anhaltspunkte für komplexere Bedingungsgefüge ergeben sich in der Klasse der Vögel, in der vor allem die Geophagie und die Lithophagie anzutreffen sind. So werden von getreidefressenden Vögeln, die mangels Zähnen einen sogenannten Kaumagen entwickelt haben, kleine Steine aufgenommen, wodurch die Nahrungspartikel feiner zerrieben werden. Die Kaliber dieser Steine reichen von 0,5 mm bei Sperlingen bis zu 2,5 cm bei Straussen. Anders verhält es sich beim Lehmfressen von südamerikanischen Blaukopfpapageien: hier konnte gezeigt werden, dass die bevorzugten Lehme aufgrund ihres Gehaltes an Mineralien wie Smectit und Kaolin eine ausgesprochen hohe Kationenaustauschkapazität aufweisen, wodurch die Detoxifikation von Nüssen, Früchten, usw., welche Alkaloide wie Tannin und Chinin enthalten, ermöglicht wird. Auf diesem Weg gelingt es den betreffenden Vögeln, das Spektrum ihrer Kalorienträger auszuweiten, was ihnen die Besetzung weiterer ökologischer Nischen ermöglicht. Bei Säugetieren wurden verschiedene Mechanismen hinter picaähnlichem Verhalten festgestellt. Bei Ratten wird die Geophagie vor allem unter Stressbedingungen beobachtet, so dass hier eine Art Übersprunghandlung zur Spannungsabfuhr vermutet werden kann. Daneben hat bei diesen Tieren die Koprophagie, das Verschlingen der eigenen Fäzes auch eine alimentäre Bedeutung. Es wurde gezeigt, dass dadurch in Hungerzeiten eine bessere Futterverwertung ermöglicht wird, was wahrscheinlich auf die Rückgewinnung der Verdauungsenzyme zurückzuführen ist. Andere Nager sollen auf diesem Weg Vitamin K, welches in der Blinddarmflora produziert wird, recyceln. Koprophagie wurde des Weiteren auch bei Pferden und bei Menschenaffen beobachtet. Bei Fohlen scheint sie ein entwicklungsspezifisches Phänomen zu sein, welches 699

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meist vor der 19. Woche auftritt, wobei der Kot des Muttertiers bevorzugt wird. Hier besteht die Vermutung, dass dadurch der Bedarf an Deoxycholsäure gedeckt wird; daneben könnten aber auf diesem Weg auch bestimmte Nährstoffe erschlossen und eine speziesspezfische Darmflora aufgebaut werden. Gorillas haben als Blattfresser einen wesentlich längeren Verdauungstrakt als beispielsweise die frugivoren Schimpansen. Da Blätter deutlich energieärmer und schwerer aufschließbar sind, dürfte hier die Koprophagie eine wirksame Sparmaßnahme zur besseren Ausnutzung der Energieträger darstellen. Hunde fressen Gras, wenn sie unter dyspeptischen Beschwerden leiden – ein Verhalten, dem durchaus ein gewisser selbsttherapeutischer Charakter zugesprochen werden darf. Noch deutlicher wird dies bei Rindern, welche an Osteomalazie leiden und sogar Knochen fressen, wobei dieses Phänomen verschwindet, sobald sie mit einer phosphorreichen Diät versorgt werden.

5. Ätiopathogenetische Aspekte Wie aus den oben angeführten zoologischen Beispielen hervorgeht, steht picaartiges Verhalten zumindest auf animalischer Stufe durchaus im Dienste physiologischer, allenfalls pathophysiologischer Prozesse. Es soll nun nicht voreilig geschlossen werden, dass es sich beim Menschen genauso verhalten muss, doch mutet es durchaus zweckmäßig an, wenn Kinder mit Parathormonmangel Gips oder Kreide essen. Bei der Aufnahme von bleihaltiger Farbe mit den Konsequenzen einer Bleivergiftung kann jedoch nicht mehr von Zweckmäßigkeit gesprochen werden. So wurden picazistische Phänomene beim Menschen tatsächlich lange nicht verstanden, soweit sie nicht durch Traditionen oder volksheilkundliche Glaubensüberzeugungen begründet waren. Unter dem Aspekt des überlieferten Brauchtums wurde schon frühzeitig klar, dass nicht jede Form von Pica als pathologisch zu werten ist. Einerseits können

kollektive Formen von picaartigem Verhalten durchaus sinnvolle Anpassungen an bestimmte Lebenssituationen sein, andererseits zeigte die neuere Forschung, dass sich hinter einer Pica pathologische Zustände verbergen können und zwar sowohl somatisch-medizinische Mangelzustände wie auch psychopathologische Krankheitsbilder. Als gesichert darf gelten, dass viele Fälle von Pica durch ein Erklärungsmodell verständlich werden, welches man als t3FTUPSJOHi"OTBU[ bezeichnet. „To restore“ bedeutet auf Deutsch soviel wie „zurückerstatten, wiederherstellen“, d. h. ein Organismus führt sich aus spontanem Antrieb jene Substanzen zu, bezüglich derer ein Mangel besteht. Global gesehen dürfte Eisenmangel (Sideropenie) die häufigste Defizienz sein, welche hinter einer Pica steht. Seltener wird Pica durch einen Mangel an anderen Mineralstoffen wie z. B. Zink, Kalzium, Natrium, Kalium, Kupfer, Kobalt ausgelöst. Ein plausibles Erklärungsmodell bietet die Bonsdorff’sche Hypothese (Bonsdorff, 1977): Spurenelemente wie Eisen können als obligatorische Co-Faktoren von Schlüsselenzymen der Neurotransmittersynthese (z. B. Tyrosin-Hydroxylase) verhaltenswirksam werden, insbesondere wenn sie ihre Funktion im Bereich des lateralen Hypothalamus (Appetitzentrum) ausüben. Längst nicht jede Form von Pica kann indessen auf diese Weise erschöpfend erklärt werden: So ist Pica-Verhalten bei Schwerstbehinderten in erster Linie auf eine 8BISOFINVOHT VOE Diskriminationsschwäche zurückzuführen. In andern Fällen kommt ein Lerneffekt via PQFSBOUFT,POEJUJPOJFSFO in Frage, so bei der Zigaretten-Pica, bei welcher das einverleibte Objekt mit dem zentralaktiven Nikotin als neurochemischer Verstärker wirkt. Unter FOUXJDLMVOHTQTZDIPMPHJTDIFN (F sichtspunkt könnten bestimmte Fälle von Pica auch als Überdauern des kindlichen „Hand-zuMund-Verhaltens“ interpretiert werden, welches vor allem unter Stressbedingungen vermehrt auftritt (Singhi et al., 1981).

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Des weiteren kann Pica-Verhalten im Rahmen von SBVNGPSEFSOEFO1SP[FTTFO JN4DIMÅ GFOMBQQFO auftreten. Die orale Enthemmung mit picazistischem Einschlag kann dann als QBSUJFMMFT ,MÛWFS#VDZ4ZOESPN interpretiert werden, zumal die Amygdala in diesen Fällen lädiert ist und ihre modulierende Kontrolle des Ernährungsinstinktes nicht mehr vollwertig wahrnehmen kann (Nicolai et al., 1991). Schließlich ist auch noch das Auftreten von Pica bei normal intelligenten psychiatrischen Patienten plausibel zu machen. So wurde eine symptomatische Pica schon bei Schizophrenen, Depressiven, Zwangskranken und Autisten beschrieben (Knecht, 1999). Störungen im Transmitterhaushalt – etwa auf der Basis eines Eisen- oder Kupfermangels – wären dabei Erklärungsmöglichkeiten, doch sind sie längst nicht immer nachweisbar. Diese sekundären Pica-Formen bleiben noch Gegenstand weiterer Forschungen, zumal vorerst verschiedene Deutungsmöglichkeiten denkbar sind. Im Falle der massiven Poly-Pica eines Schizophrenen boten sich folgende Interpretationsmöglichkeiten an (Knecht, 2001): r r r

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neurochemisch ausgelöste Kompensationsversuche des Transmitterhaushaltes Desintegration des Ernährungsinstinktes bei Schwäche der kortikalen Kontrolle Übersprungshandlung zur Spannungsregulierung bei widersprüchlichen Triebimpulsen wahnhaft motivierte Symbolhandlungen, z. B. magische Abwehr bizarre Form der Selbstkasteiung

Arieti (1944) verstand solche Verhaltensphänomene als Regressionszeichen bei Versagen der höheren Steuerungsinstanzen im Gehirn. Lyketsos et al. (1985) schilderten die Koprophagie einer Schizophrenen als Selbstbestrafungsmechanismus, wenn sie inzestuöse Geschlechtsszenen halluzinierte.

6. Komplikationen Der Krankheitswert der Pica leitet sich in erster Linie aus den Komplikationsmöglichkeiten ab, deren Zahl in Anbetracht der Vielfalt der PicaObjekte unübersehbar groß ist. Folgeschäden können jedoch je nach Form, Größe und stofflicher Natur der einverleibten Objekte breit variieren. So können großvolumige Fremdkörper direkt den Bolustod bewirken, während kleinere die Gefahr mit sich bringen, durch Aspiration in die Luftröhre bzw. Bronchien zu geraten. Schwermetalle wie z. B. Blei oder Quecksilber führen aufgrund ihrer Wasserlöslichkeit zu Intoxikationen mit Folgeschäden an Knochenmark, zentralem und peripherem Nervensystem. Seltene Formen der Pica können auch zu Intoxikationen mit weniger giftigen körpereigenen Substanzen führen, so z. B. die Cautopyreiophagie (Einnahme von abgebrannten Zündholzköpfchen), welche zu einer lebensbedrohlichen Hyperkaliämie führen kann. Andererseits kann es auch sekundär zu gefährlichen Mangelzuständen kommen, dies z. B. bei Lehmessern, die manchmal eine Hypokaliämie erleiden, welche eine diffuse Myopathie nach sich ziehen kann (Severance et al., 1988). Führt das Pica-Verhalten zu unstillbarem Erbrechen, kann dies zu metabolischer Alkalose führen. Bekannt ist, dass die Geophagie eine erhebliche Gefahr der Infestation mit verschiedenen Darmparasiten mit sich bringen kann: in unseren Breiten können dies in erster Linie der Pferdespulwurm, der Peitschenwurm, der Hundebandwurm oder auch Lamblien sein. Werden scharfe Gegenstände wie z. B. Zahnstocher, metallisches Besteck, usw. eingenommen, besteht die Gefahr innerer Verletzungen. Gefürchtete Komplikationen sind Ileus mit nekrotisierender Enterokolitis, Mucosa-Verletzungen mit Hämorrhagie oder sogar Perforation der Hohlorgane mit Durchbruch in die Bauchhöhle und Peritonitis. Werden längliche oder besonders voluminöse Objekte wie Haare, Schnüre, Styroporstü701

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cke, usw. verschlungen, so kann sich im Magen ein Bezoar bilden. Wenn sich dieser peristaltisch nicht weiterbewegen lässt, muss er unter Umständen operativ entfernt werden. Im Falle der Trichophagie (Haare) kann es zum sogenannten Trichobezoar kommen, was eine Durchwanderungsperitonitis im Magen-/Darmtrakt zur Folge haben kann und als „Rapunzel“-Syndrom bezeichnet wird (Vaughan et al., 1968). Beruht die Pica auf einem einfachen Eisenmangel, so sind die klinischen Zeichen der Sideropenie zu erwarten: Anämie, Zungenpapillenatrophie, Zungenbrennen, Mundwinkelcheilitis, u. a.

7. Therapie Die Therapie der Pica weist zwei grundlegend verschiedene Aspekte auf: die prompte Behandlung der verschiedenen Komplikationen und eine möglichst kausale, gegen die Grundstörung gerichtete Therapie. Dementsprechend kann die Behandlung kausal oder symptomatisch sein, kann kurativ auf völlige Beseitigung der Störungsursache zielen oder allenfalls palliativ sein, wenn die Ursache dieser Verhaltensanomalie nicht sanierbar ist (z. B. bei inoperablem Hirntumor). Im einfachsten Fall verschwindet das Pica-Verhalten prompt durch Beseitigung gesicherter Mangelzustände. Kommt es durch die einverleibten Pica-Objekte zu inneren Verletzungen oder Verschlüssen des Magen-Darmtraktes, z. B. durch Bezoarbildung, so sind chirurgische oder endoskopische Interventionen erforderlich. Im Falle des inoperablen Hirntumors und bei partiellem Klüver-Bucy-Syndrom kann das Pica-Verhalten durch die Gabe von Carbamazepin in einschleichender Dosierung auf ca. 800 –1200 mg/d günstig beeinflusst werden. Tritt Pica im Rahmen einer psychiatrischen Grundstörung auf, so bestehen gute Aussichten, dass eine spezifische Pharmakotherapie nicht nur die vertraute psychiatrische Symptomatik, sondern auch die Essstörung normalisiert. So können bei Schizophrenen vorab atypische

Neuroleptika, allenfalls Elektrokrampfbehandlung empfohlen werden. Bei Menschen, die im Rahmen von schweren depressiven Episoden zum Pica-Verhalten übergehen, sind in erster Linie klassische Antidepressiva empfehlenswert, während bei Zwangskranken mit Pica eher die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) erfolgsversprechend sind, wobei die Dosis aber deutlich höher als bei klassischen Depressionen anzusetzen ist (Knecht, 1999). Bei geistig Behinderten kann unter Umständen bereits eine mit verschiedenen Spurenelementen angereicherte Diät eine signifikante Besserung bringen (Bugle et al., 1993). Daneben bestehen aber auch etliche Erfahrungen mit verhaltens- und milieutherapeutischen Ansätzen, welche je nach Bedarfslage einzeln oder zu ganzen Maßnahmepaketen zusammengefasst werden können: Priorität hat die Elimination der picafähigen Objekte sowie eine Umgebungsanreicherung mit adäquatem, d. h. nicht-picafähigem Spielzeug. Dazu kommt eine straffe Tagesstrukturierung mit intensiver Bezugspersonenarbeit. Schließlich wurden verschiedene verhaltenstherapeutische Ansätze entwickelt, welche je nach Indikation miteinbezogen werden können: r r r r

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Toilettentraining bei Koprophagie und Kotschmieren „Habit Reversal“ (Ersatz des Pica-Verhaltens durch ein inkompatibles Verhaltensmuster) Diskriminationstraining bei Wahrnehmungsstörungen Response-Interruption (jeder Ansatz zu Pica-Verhalten wird konsequent abgeblockt) Positive-Practice-Overcorrection (Einübung alternativer Verhaltensweisen) Negative-Practice (Unerwünschtes Verhalten wird bis zum Überdruss forciert – Knecht, 1999)

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Bei voller Ausschöpfung des gesamten Spektrums an Interventionsmöglichkeiten sollte es in den meisten Fällen möglich sein, auf mechanische Zwangsmittel wie Isolation, Fixation durch Bettgurte, Gesichtsmasken und ähnliches zu verzichten.

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