PROZESSANALYSE UND VERSUCHSPLANUNG

TECHNISCHE UNIVERSITÄT DRESDEN Institut für Verfahrenstechnik & Umwelttechnik PROZESSANALYSE UND VERSUCHSPLANUNG Arbeitsblätter zur Vorlesung Übungs...
Author: Emil Engel
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TECHNISCHE UNIVERSITÄT DRESDEN Institut für Verfahrenstechnik & Umwelttechnik

PROZESSANALYSE UND VERSUCHSPLANUNG

Arbeitsblätter zur Vorlesung Übungsaufgaben

Diese Unterlagen basieren in allen wesentlichen Teilen auf dem Skript von Herrn Prof. Dr.-Ing. W. Klöden, der bis Sommersemester 2012 Inhaber der Professur Verfahrensautomatisierung war und dem ich für die Überlassung der Lehrunterlagen danke.

Dr. rer. nat. Sibylle Böhlmann

Dresden, September 2015

Inhalt

Seite

0.

Inhaltsangabe

1 1.1 1.2 1.3

Einführung in die Prozessanalyse Ziele der Prozessanalyse Grundformen der Prozessanalyse Das mathematische Modell

1-1 1-1 1-1 1–3

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2

Theoretische Prozessanalyse Die Schritte der theoretischen Prozessanalyse Bilanzgleichungen Prozesse mit konzentrierten Bilanzgrößen Prozesse mit verteilten Bilanzgrößen Lösung der Modellgleichungen Prozesse mit konzentrierten Bilanzgrößen Prozesse mit verteilten Bilanzgrößen

2–1 2–1 2–4 2–5 2 – 12 2 – 18 2 – 18 2 – 26

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4

Experimentelle Prozessanalyse Einführung – die Schritte der experimentellen Prozessanalyse Bestimmung der Parameter in theoretischen Modellen Heuristische Methoden der Parameterbestimmung Ausgleichsverfahren Empirisch-statistische Standardmodelle Multiple Regressionsanalyse Grundlagen aus der mathematischen Statistik Voraussetzungen der Regressionsanalyse Die Parameterschätzung Beurteilung der Güte des Regressionsmodells

3–1 3–1 3–2 3–2 3–5 3–5 3–8 3–8 3 – 10 3 – 12 3 – 14

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

Versuchsplanung Einführung Versuchsplanung zur Modellbildung Eigenschaften von Versuchsplänen Vollständige Faktorenpläne auf zwei Niveaus Teilfaktorenpläne auf zwei Niveaus Zentrale zusammengesetzte Versuchspläne 2. Ordnung Versuchspläne für die Auswahl der signifikanten Einflussgrößen Problemstellung Versuchspläne nach PLACKETT und BURMAN Expertenbefragungen

4–1 4–1 4–2 4–2 4–6 4–9 4 – 11 4 – 16 4 – 16 4 – 16 4 – 19

Anlagen Tabellen T–1 T–2 T–3

Verteilungsfunktion der standardisierten Normalverteilung Quantile der t-Verteilung und der ÷2- Verteilung Quantile der F-Verteilung

Literatur L–1 L–2 L–3

Theoretische Prozessanalyse Experimentelle Prozessanalyse Statistische Versuchsplanung

Übungsaufgaben Ü–1 Ü–2 Ü–3 Ü–4 Ü–5 Ü–6 Ü–7

Übungsaufgaben 1. Übung Übungsaufgaben 2. Übung Übungsaufgaben 3. Übung Übungsaufgaben 4. Übung Übungsaufgaben 5. Übung Übungsaufgaben 6. Übung Übungsaufgaben 7. Übung

PAVP - Einleitung

1-1

1 EINFÜHRUNG IN DIE PROZESSANALYSE In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Grundbegriffe eingeführt und erläutert. Insbesondere werden Ziele und Grundstrategien der Prozessanalyse dargestellt. Der zentrale Begriff des mathematischen Modells wird erläutert. Einige Festlegungen für die nachfolgenden Darstellungen werden eingeführt. 1.1

Ziele der Prozessanalyse

Unter Prozessanalyse versteht man sowohl theoretische als auch experimentelle Verfahren zur Bildung mathematischer Modelle von Prozessen. Auf der Grundlage der mathematischen Modelle werden verfahrenstechnische Prozesse und Systeme entworfen, in ihrem Verhalten simuliert und optimiert. Die theoretische Prozessanalyse verfolgt das Ziel, einen komplizierten Prozess in einfacher zu beschreibende Elementarprozesse zu zerlegen und aus diesen Elementmodellen das Modell des Prozesses zu entwickeln. Die experimentelle Prozessanalyse verfolgt die Modellbildung auf der Grundlage experimenteller Daten mit Hilfe statistischer Methoden. Reale Prozessanalysen nutzen in geeigneter Weise sowohl theoretische als auch experimentelle Methoden. Die Wahl der Methoden wird durch die Anforderungen der Modellanwendung und die Eigenschaften des zu untersuchenden Prozesses bestimmt. Neben der Modellbildung verfolgen Prozessanalysen im erweiterten Sinne folgende Zielstellungen: S Verbesserung der Kenntnisse über die Elementarprozesse und deren Wechselwirkung im zu analysierenden Prozess (heuristische Funktion von Prozessanalysen). S Ermittlung von Reserven für die Verbesserung der Nutzung der energetischen und stofflichen Ressourcen. S Ermittlung und Bewertung der Wechselwirkungen zwischen Prozessen und der Umwelt. S Auffinden von Schwachstellen und Engpässen in der Prozessführung. In diesem Studienbrief wird nur der Fall behandelt, dass das Ziel einer Prozessanalyse in der Entwicklung eines mathematischen Prozessmodells besteht. Diese Zielstellung muss noch um folgende Forderungen ergänzt werden: S Die durch die Prozessanalyse gewonnenen mathematischen Modelle müssen hinreichend gut mit dem Verhalten des realen Prozesses übereinstimmen. S Die mathematischen Modelle müssen in ihrer formalen Struktur für die jeweilige Anwendung geeignet sein. 1.2

Grundformen der Prozessanalyse

In der einleitenden Definition wurde bereits auf die beiden Grundformen der Prozessanalyse, die theoretische und die experimentelle, hingewiesen. Diese beiden Grundformen unterscheiden sich in ihren methodischen Ansätzen wesentlich. Aber es muss immer wieder hervorgehoben werden, dass Elemente beider Grundformen bei der Analyse realer Prozesse verbunden werden müssen. Eine “reine” theoretische Prozessanalyse ist ebenso selten anzutreffen wie die “reine” experimentelle Form. Aus methodischen Erwägungen heraus ist es aber nützlich, die beiden Formen zu unterscheiden und ihre Elemente getrennt zu behandeln. Dieser Weg wird auch in diesem Studienbrief verfolgt.

1-2

PAVP - Einleitung

Der folgende Ablaufplan gibt eine erste Übersicht über die Elemente der theoretischen und der experimentellen Prozessanalyse, über die Struktur des Ablaufes einer Prozessanalyse und über die Anknüpfungspunkte zwischen bestimmten Schritten der beiden Grundformen.

Bild 1.1

Allgemeine Bearbeitungsschritte der Prozessanalyse

PAVP - Einleitung 1.3

1-3

Das mathematische Modell

Das mathematische Modell eines Prozesses ist ein System von Gleichungen (Differential-, Differenzengleichungen, algebraische Gleichungssysteme, usw.) oder anderer formal zu handhabender mathematischer Strukturen (Regelsysteme, Tabellen, Diagramme usw.), die das statische und/oder das dynamische Verhalten eines Prozesses mit einer für die Anwendung ausreichenden Genauigkeit beschreiben. Die große Bedeutung, die den mathematischen Modellen in den Ingenieurwissenschaften im Allgemeinen und in der Verfahrenstechnik im besonderen beizumessen ist, folgt aus der Tatsache, dass das mathematische Modell ein Abbild des realen Prozesses darstellt, das für viele Problembearbeitungsprozesse leichter zu handhaben ist als der reale Prozess. Mathematische Modelle sind für folgende Anwendungsbereiche innerhalb der Verfahrenstechnik von Bedeutung: ‘ ‘ ‘ ‘ ‘ ‘

Entwurf und Auslegung von Prozessen und Verfahren. Optimierung des statischen und/oder dynamischen Verhaltens von Prozessen und Verfahren. Vorhersage des Verhaltens von Prozessen und Verfahren unter bestimmten äußeren Bedingungen (z.B.: Untersuchung kritischer Zustände). Synthese von Automatisierungssystemen. Modellgestützte Steuerung. Entwicklung und Einsatz von Trainingssystemen für Bedienmannschaften.

Wird das mathematische Modell durch ein Gleichungssystem repräsentiert, so spricht man von parametrischen Modellen. Die Modellparameter sind dabei als Konstanten bzw. als bekannte Funktionen der Zustandsgrößen anzunehmen. Im Falle der theoretischen Prozessanalyse handelt es sich bei den Modellparametern um Stoffwerte, Transportkoeffizienten oder andere Größen, die aus den Transportmodellen bzw. aus den kinetischen Ansätzen für die Elementarprozesse folgen. Im Falle der experimentellen Prozessanalyse sind die Modellparameter Konstanten, die sich theoretisch nicht mehr interpretieren lassen. Diese Konstanten werden durch die Anpassung des Modells an experimentelle Daten (die im Labor oder am Prozess gewonnen werden) bestimmt. Die Bestimmung (Schätzung) der Modellparameter auf der Grundlage experimenteller Daten setzt die Definition eines Gütemaßes für die Bewertung der Anpassung voraus. Modelle, die nicht die Form von Gleichungssystemen aufweisen, werden als nichtparametrische Modelle bezeichnet. In der Lehrveranstaltung wird im Allgemeinen vorausgesetzt, dass es sich bei den zu bildenden mathematischen Modellen um parametrische Modelle handeln soll. Dieser Modellform kommt aus der Sicht der oben genannten Anwendungsbereiche die größte Bedeutung zu. Parametrische Modelle lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten klassifizieren. Von besonderem Interesse ist die folgende Klassifikation, die Modellstruktur und Eigenschaften der Prozesse einander zuordnet:

1-4

PAVP - Einleitung Ortsabhängigkeit der Zustandsgrößen

Zeitabhängigkeit der Zustandsgrößen

Verteiltes Verhalten (Ortsabhängige Größen)

Konzentriertes Verhalten (Keine Ortsabhängigkeit)

Statisches Verhalten

Partielle Differentialgleichungen (Randwertprobleme)

Algebraische Gleichungen

Dynamisches Verhalten

Partielle Differentialgleichungen (Anfangs- und Randwertprobleme)

Gewöhnliche Differentialgleichungen (Anfangswertprobleme)

Tabelle 1.1

Klassifikation mathematischer Modelle nach Prozesseigenschaften

Eine weitere wichtige Einteilung ist die nach der Linearität bzw. Nichtlinearität der Modellgleichungen bezüglich der Zustandsgrößen und/oder der Modellparameter. Während die Klassifikation bezüglich der Zustandsgrößen die Wahl der Lösungsmethoden für die Modellgleichungen bestimmt, ist die zweite Klassifikation für die Wahl der Methoden zur Identifikation der Modellparameter aus experimentellen Daten von Bedeutung. Welche Form (im Sinne der in Tabelle 1.1 angegebenen Klassifikation) das mathematische Modell hat, das für eine Prozesseinheit zu entwickeln ist, hängt sowohl S von den Eigenschaften des Prozesses als auch S von den Zielen der Modellbildung ab. Die mathematische Modellbildung ist stets mit vereinfachenden Annahmen über die Eigenschaften der zu modellierenden Prozesse verbunden. Die vereinfachenden Annahmen lassen sich in zwei Klassen unterteilen: S Vereinfachende Annahmen über die elementaren Transport- und Umwandlungsprozesse. S Einführung mathematischer Näherungsverfahren bei der Lösung der Gleichungssysteme. Wenn man bei der Modellbildung eines Reaktors vereinfachend von dessen adiabaten Betrieb ausgeht, so vernachlässigt man den Verluststrom an die Umgebung. Diese Annahme ist also mit der Vernachlässigung eines Transportprozesses verbunden; sie würde zur ersten Klasse gehören. Wenn man dagegen die nichtlinearen Quellterme in den Bilanzgleichungen durch lineare Näherungen ersetzt, so handelt es sich um mathematische Vereinfachungen. Die Linearisierung gehört damit zur zweiten Klasse. Sie hat zur Folge, dass sich die mathematische Behandlung der Gleichungen i. a. zwar vereinfacht, der Gültigkeitsbereich des Modells aber eingeschränkt wird.

PAVP - Theoretische Prozessanalyse 2 2.1

2-1

THEORETISCHE PROZESSANALYSE Schritte einer theoretischen Prozessanalyse

In diesem Hauptabschnitt werden die methodischen Grundlagen der theoretischen Prozessanalyse vermittelt. Die Formulierung von Bilanzgleichungen steht dabei im Mittelpunkt. Es werden ausgewählte Probleme der Vereinfachung und der Lösung der Modellgleichungen behandelt. 2.1

Die Schritte der theoretischen Prozessanalyse

Die theoretische Prozessanalyse verfolgt das Ziel, Prozessmodelle zu entwickeln, die auf Modellvorstellungen über die Elementarprozesse (molekulare und konvektive Transportprozesse, Stoff- und Wärmeübergang, Stoff- und Energieumwandlungsprozesse usw.) beruhen (s. Definition des Begriffs “Prozessanalyse”). Grundlage dieser Vorgehensweise sind die Erhaltungssätze für Masse (Gesamtmasse und Komponentenmasse), Energie und Impuls. Die theoretische Prozessanalyse umfasst folgende Bearbeitungsschritte: 1. Festlegung der Bilanzräume. 2. Feststellung der Bilanzgrößen in den Bilanzräumen. 3. Festlegung der signifikanten Zustandsgrößen in den Bilanzräumen; Untersuchung der Kopplungen zwischen den Zustandsgrößen. 4. Sind die Zustandsgrößen ortsabhängig, so muss zum differentiellen Bilanzraum übergegangen werden. In diesem Fall sind Randbedingungen zu formulieren, die die Kopplungsbedingungen zu anderen Bilanzräumen beschreiben. 5. Analyse der elementaren Transportprozesse. Das Ergebnis dieser Analyse sind Beziehungen zwischen den Strömen und den Zustandsgrößen. 6. Analyse der elementaren Umwandlungsprozesse. Das Ergebnis sind Beziehungen zwischen den Quellströmen und den Zustandsgrößen. 7. Die Kopplungen der Bilanzräume untereinander und mit der Umgebung müssen durch Koppelströme beschrieben werden. Diese Ströme sind ebenfalls als Funktionen der Zustandsgrößen zu beschreiben. 8. Die in den einzelnen Beziehungen auftretenden Parameter (Stoffwerte, Übergangskoeffizienten, Abmessungen usw.) sind zu bestimmen. ( Hier besteht eine enge Beziehung zur experimentellen Prozessanalyse!) 9. Formulierung der Bilanzgleichungen für die einzelnen Bilanzgrößen in den Bilanzräumen. 10. Entscheidung über notwendige Modellvereinfachungen. 11. Auswahl von Lösungsverfahren für das Gleichungssystem. 12. Verifikation des entwickelten mathematischen Modells durch experimentelle Untersuchungen bzw. (zumindest) durch Plausibilitätsuntersuchung. Die aufgeführten Bearbeitungsschritte markieren den Rahmen des Entwicklungsprozesses eines theoretisch begründeten Prozessmodells (diese Modelle werden auch mitunter als “analytische Modelle” bezeichnet); die Schrittfolge definiert keinen strengen Algorithmus! Im allgemeinen sind die genannten Schritte in ihrer Feinstruktur aber so komplex, dass es nicht möglich ist, den Ablauf feiner zu untergliedern.

2-2

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Im Mittelpunkt der theoretischen Prozessanalyse steht die Formulierung der Bilanzgleichungen. Dieses Kernproblem wird in den nächsten Abschnitten behandelt. Zuvor ist es notwendig, einige Festlegungen für die folgenden Darlegungen zu treffen. Die allgemeinste Form der Darstellung einer Prozesseinheit ist im untenstehenden Bild 2.1 angegeben. Hierbei kommt es darauf an, die Variablen zu erklären, die im folgenden benötigt werden. Es handelt sich dabei um Vektoren. Vektoren werden immer als fettgedruckte, unterstrichene Kleinbuchstaben dargestellt. In Komponentenschreibweise kann man für den Spaltenvektor der Zustandsgrößen (kurz: Zustandsvektor) schreiben:

Bild 2.1 Allgemeine Darstellung einer Prozesseinheit Die in Bild 2.1 dargestellten Vektoren werden in der folgenden Tabelle definiert: Bezeichnung

Formelz.

Erläuterungen

Eingangsgrößen

xe

Diese Größen kennzeichnen die Zustände der eintretenden Ströme.

Zustandsgrößen

x

Diese Größen kennzeichnen den physikalischen Zustand des Stoffsystems in der Prozesseinheit.

Ausgangsgrößen

y

Diese Größen kennzeichnen die Zustände der die Prozesseinheit verlassenden Ströme.

Steuergrößen

u

Diese Größen beeinflussen den Prozessablauf; sie sind (in gewissen Grenzen) frei einstellbar.

Störgrößen

z

Diese Größen beeinflussen den Prozessverlauf; sie sind aber nicht einstellbar.

2-3

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Die Zustandsvektoren der ein- und austretenden Ströme werden auch als “Stromvektoren” bezeichnet. Im folgenden Beispiel werden die eingeführten Größen erläutert: Durch die dargestellte Destillationskolonne soll ein Gemisch zweier Flüssigkeiten getrennt werden. Damit ergeben sich folgende den Prozess charakterisierende Größen:

Typ

Bedeutung im Beispiel

Eingangsgrößen

Einlaufkonzentrationen, Temperatur

Ausgangsgrößen

Kopfkonzentrationen, Sumpfkonzentrationen, Temperaturen

Zustandsgrößen

Konzentrationen, Siedetemperaturen auf den Kolonnenböden, Druck in der Kolonne

Steuergrößen

Rücklaufverhältnis

Störgrößen

Umgebungstemperatur (Verluste!)

2-4 2.2

PAVP - Theoretische Prozessanalyse Bilanzgleichungen

Die Formulierung der Bilanzgleichungen beruht auf den Erhaltungssätzen für folgende Bilanzgrößen: S Masse S Energie S Impuls In verbaler Form kann man einen Erhaltungssatz wie folgt formulieren:

Resultierender konvektiver Strom Zeitliche Änderung einer + Bilanzgröße im Bilanzraum = Resultierender molekularer Strom + Quellstrom + {Übergangsstrom} Die Bilanzgleichungen sind die mathematischen Formulierungen der jeweiligen Erhaltungssätze zugeschnitten auf die jeweiligen Bilanzgrößen. Für die folgenden Darlegungen sind einige Festlegungen zu treffen: S

S

S

S

Ein Bilanzraum ist ein homogenes Volumenelement, das bezüglich einer oder mehrerer Bilanzgrößen eine bestimmte Speicherkapazität besitzt. Für den Fall, dass sich kein homogener makroskopischer Bilanzraum definieren lässt, muss zum “differentiellen” Bilanzraum übergegangen werden (s. Abschnitt 2.4.). Über die Bilanzraumgrenzen (das können zum einen die Grenzen des Apparates und zum anderen Phasengrenzen zwischen aneinander grenzenden homogenen Phasen sein) treten die Ströme der Bilanzgrößen ein und aus. Der spezifische Charakter der Grenzen bestimmt den Charakter dieser Ströme. Die “resultierenden Ströme” ergeben sich als Differenzen von ein- und austretenden Strömen, bezogen auf die Bilanzraumgrenzen. Es ist zwischen intensiven und extensiven Bilanzgrößen zu unterscheiden. Die intensiven Bilanzgrößen entstehen aus den extensiven dadurch, dass sie auf die Massen- bzw. Volumeneinheit bezogen werden. Die Bilanzgleichungen werden für extensive Bilanzgrößen formuliert! Zwischen den intensiven Bilanzgrößen und den Zustandsgrößen gibt es Koppelbeziehungen (die aus empirischen Zustandsgleichungen folgen). Die Bilanzgleichungen werden über diese Koppelbeziehungen in Gleichungssysteme für die Zustandsgrößen überführt. Für Systeme mit verteilten (also ortsabhängigen) Zustandsgrößen ist es notwendig, den Begriff der Stromdichte einzuführen, mit dem der auf ein Flächenelement bezogene Strom in der Normalenrichtung dieses Flächenelements ausgedrückt werden kann (s. Abschnitt 2.4).

2-5

PAVP - Theoretische Prozessanalyse 2.3

Prozesse mit konzentrierten Bilanzgrößen

Im folgenden sollen die Bilanzgleichungen für den Fall abgeleitet werden, dass die Bilanzgrößen (und damit auch die Zustandsgrößen) keine Funktionen der Ortsvariablen sind. Die allgemeine Form einer Bilanzgleichung ergibt in diesem Fall wie folgt:

(2.1)

Molekulare Ströme treten bei konzentriertem Prozessverhalten nicht auf, da die “ideale Durchmischung” die Triebkräfte für diese Ströme abbaut. Die Quellströme und die Übergangsströme sind sowohl als Quellen bzw. eintretende Ströme als auch als Senken bzw. austretende Ströme möglich; daher das gemischte Vorzeichen vor diesen Strömen. Die Bilanz muss für jede zu berücksichtigende Bilanzgröße und für jeden Bilanzraum aufgestellt werden. Für die Ströme und die extensiven Bilanzgrößen sind die notwendigen Kopplungsbeziehungen zu den Zustandsgrößen aus den thermodynamischen, strömungsmechanischen und geometrischen Zusammenhängen herzuleiten. Dieses Problem der theoretischen Prozessanalyse ist für jeden Prozess neu zu lösen. Ebenso müssen die kinetischen Terme für die Quellströme aus den Reaktionsgleichungen der ablaufenden chemischen Reaktionen hergeleitet werden.

#

Beispiel 1:

Abkühlung der Flüssigkeit in einem Behälter Die im dargestellten Behälter gespeicherte Flüssigkeit kühlt sich ab. Der Wärmetransport erfolgt im wesentlichen über die Mantelfläche des Behälters. Es wird davon ausgegangen, dass die Dichte und die spezifische Wärme konstant sind. Weiterhin wird der Fall betrachtet, dass sich die Umgebungstemperatur nicht ändert. Unter diesen Annahmen und Voraussetzungen kann die Energiebilanz nach (2.1) formuliert werden, die im vorliegenden Fall auch als Wärmeenergiebilanz bezeichnet werden kann, da nur diese Energieform am Prozess beteiligt ist.

2-6

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Zwischen der gespeicherten Energie und den Strömen lassen sich folgende Kopplungsbeziehungen zur Temperatur als Zustandsgröße angeben, die aus der Definition der Enthalpie und der Grundgleichung der Wärmeübertragung folgen:

m cp AM TU k

gespeicherte Masse der Flüssigkeit spezifische Wärme Fläche des Behältermantels Umgebungstemperatur Wärmedurchgangszahl

Damit ergibt sich folgende Differentialgleichung:

Diese Gleichung lässt sich weiter umformen; nach einigen Schritten erhält man:

Die Integration dieser Differentialgleichung ist durch Separation der Variablen möglich. Man erhält zunächst:

Dabei bezeichnet T0 die Temperatur im Behälter zum Zeitpunkt t=0 (Anfangsbedingung). Die Integration liefert:

Das mathematische Modell des Abkühlungsprozesses ergibt sich dann wie folgt:

2-7

PAVP - Theoretische Prozessanalyse #

Beispiel 2

Erwärmung einer Flüssigkeit in einem beheizten Behälter. Die in den Behälter eintretende Flüssigkeit wird erwärmt. Dazu wird der Behälter mit Sattdampf beheizt, der die Temperatur TH hat. Die Unterkühlung des Kondensats sei zu vernachlässigen. Weiterhin werde angenommen, dass spezifische Wärme und Dichte konstant sind. Es ist zu beachten, dass die Temperatur am Austritt des Behälters gleich der Temperatur im Behälter ist, da bei konzentrierten Zustandsgrößen keine Ortsabhängigkeit besteht!

Bei diesem Beispiel sind zwei Bilanzgrößen, die Masse und die Energie, zu berücksichtigen; entsprechend sind zwei Bilanzgleichungen zu formulieren. S Die Massebilanz Wenn man (2.1) auf die Masse anwendet, so erhält man:

Unter der oben genannten Voraussetzung konstanter Dichte kann man diese Gleichung durch die Dichte dividieren und erhält dann

Für den austretenden Volumenstrom erhält man aus der BERNOULLI-Gleichung

hv Ventilbeiwert Aventil Ventilquerschnitt Für das Volumen gilt

Damit liefert die Massebilanz eine Differentialgleichung für die Höhe:

!

Wärmebilanz Die Anwendung von (2.1) liefert zunächst folgende allgemeine Bilanzgleichung:

2-8

PAVP - Theoretische Prozessanalyse Unter Anwendung der bereits im Beispiel 1 eingeführten Kopplungsbeziehungen kann diese Gleichung wie folgt geschrieben werden ( m=ñV wird eingesetzt) :

Die linke Seite der Gleichung muss nach der Produktregel differenziert werden:

Im letzten Term wurde für die zeitliche Änderung des Volumens die oben hergeleitete Massebilanz eingesetzt. Wenn man diesen Term für die linke Seite der Differentialgleichung heranzieht, erhält man

und daraus die Differentialgleichung für die Temperatur:

Diese Differentialgleichung bildet gemeinsam mit der für die Höhe (s. o.) das Modellgleichungssystem für den Prozess. Beide Differentialgleichungen erster Ordnung sind gekoppelt (die Höhe taucht als gesuchte Funktion der Zeit in beiden Differentialgleichungen auf). Es handelt sich um ein Anfangswertproblem mit zwei gesuchten Lösungsfunktionen. Für die Lösung ist es notwendig, dass die Größen H( t=0 ) und T( t=0 ) bekannt sind. Dieses System ist nicht mehr durch ein analytisches Lösungsverfahren zu behandeln. Es müssen numerische Lösungsverfahren herangezogen werden (s. 2.5.1).

#

Beispiel 3:

S

bei vorgegebenem Strom der dünnen Lösung ist die notwendige Übertragerfläche zu bestimmen, unter Vorgabe eines Gütekriteriums (Gewinn) ist die optimale Übertragerfläche zu bestimmen.

S

Anwendung eines stationären Modells für Auslegung und Optimierung. Der abgebildete Verdampfer dient der Eindickung der Lösung eines Feststoffes. Es sind folgende Grundaufgaben zu lösen:

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

S S !

2-9

Dabei gelten folgende Voraussetzungen: S Die Stoffwerte der Lösung und des Lösungsmitteldampfes können als konstant angenommen werden. Die k-Zahl sei ebenfalls bekannt. S Die Siedepunktserhöhung durch den gelösten Stoff sei zu vernachlässigen, so dass der Siedezustand durch die Siedetemperatur des reinen Lösungsmittels gekennzeichnet werden kann. Im gesamten Bilanzraum herrscht Siedezustand. Die Eintrittskonzentration des Feststoffes x0 und die Zielkonzentration x a in der eingedickten Lösung sind vorgegeben. Die Beheizung erfolgt durch Sattdampf; die Kondensatunterkühlung ist zu vernachlässigen. Bildung des stationären Modells Für die zu lösenden Grundaufgaben ist das stationäre Prozessmodell erforderlich. Bei der Modellbildung kann man diesem Umstand von vornherein Rechnung tragen, indem man die Speicherterme nicht berücksichtigt. Das stationäre Modell besteht dann aus folgenden Bilanzen: Gesamtmasse-Bilanz: -

Komponentenbilanz für den gelösten Feststoff:

Aus beiden Bilanzen folgt:

-

Die Energiebilanzen müssen für die beiden Bilanzräume “Eindampfbereich” und “Heizregister” getrennt formuliert werden. Energiebilanz für den Eindampfbereich: Die Lösung trete im Siedezustand aus. Damit folgt:

2 - 10

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

-

A Wärmeübertragungsfläche r Verdampfungswärme des Lösungsmittels Ts Siedetemperatur Wärmebilanz für das Heizregister:

Diese vier Modellgleichungen sind für die Lösung der folgenden Aufgaben notwendig. !

Auslegung der Wärmeübertragerfläche. Setzt man in die Wärmebilanz die Beziehungen für ein, so erhält man eine Beziehung, die die Wärmeübertragerfläche als Funktion des Eintrittsstroms darstellt:

Mit dieser Beziehung kann man bei vorgegebener Verdampferbelastung dige Übertragungsfläche berechnen. !

die notwen-

Optimale Prozessgestaltung Im folgenden wird davon ausgegangen, dass nicht vorgegeben wird. Es ist aber ein Gewinnkriterium gegeben, das folgende Form besitzt:

Dabei bezeichnet G den jährlichen Gewinn, E den jährlichen Erlös für das Produkt, die anteiligen Apparatekosten und die jährlichen Betriebskosten. Das Bewertungsmodell lässt sich weiter verfeinern:

Die einzelnen Größen besitzen dabei folgende Bedeutung: g Produktpreis cA Spezifische Apparatekosten cH Spezifische Heizmittelkosten Jährliche Tilgungsrate der Investitionskosten für den Verdampfer fA d Jährliche Betriebsdauer des Verdampfers p Kostenexponent; dieser Exponent berücksichtigt, dass die Kosten für den Gesamtapparat exponentiell mit der Übertragerfläche wachsen. Die in dem Kriterium enthaltenen Entscheidungsvariablen ( ) sind nicht unabhängig voneinander; die bestehenden Zusammenhänge werden durch die stationären Modellgleichungen beschrieben. Diese Gleichungen stellen damit aus der Sicht des zu lösenden Optimierungsproblems Nebenbedingungen in Gleichungsform dar. Wenn man die Modellgleichungen in das Bewertungsmodell einsetzt, so erhält man folgende Beziehung:

2 - 11

PAVP - Theoretische Prozessanalyse Die Konstanten ergeben sich aus den Modellgleichungen wie folgt:

Die optimale Fläche für die Wärmeübertragung im Verdampfer folgt aus der notwendigen Bedingung für das Maximum:

Nach kurzer Rechnung folgt für die optimale Fläche:

Durch die Diskussion der zweiten Ableitung kann man zeigen, dass es sich bei der Lösung um ein Maximum handelt (hinreichende Bedingung):

Da

gilt, folgt sofort:

Das ist die hinreichende Bedingung dafür, dass die optimale Lösung ein Maximum beschreibt und damit das Zielkriterium erfüllt.

2 - 12 2.4

PAVP - Theoretische Prozessanalyse Prozesse mit verteilten Bilanzgrößen

Für den Fall, dass die Bilanzgrößen und damit auch die Zustandsgrößen von den Ortskoordinaten abhängig sind, müssen die Betrachtungen auf einen Bilanzraum übertragen werden, für den die Näherung konzentrierter Größen gilt. Das gilt für differentiell kleine Bilanzräume. Die Bilanzgleichungen, die man so erhält, sind sogenannte “lokale Bilanzen”; sie beschreiben den Prozess quasi in einem Punkt des Raumes. Diese Bilanzen haben entsprechend die Form partieller Differentialgleichungen. Für die Lösung dieser Gleichungen ist die Formulierung von Randbedingungen notwendig. Diese lassen sich durch Bilanzen an den Grenzen des makroskopischen Bilanzraumes (das sind in der Regel Phasengrenzen) gewinnen. Sehr häufig stellt die Formulierung der Randbedingungen ein schwieriges Problem innerhalb theoretischer Prozessanalysen dar. Zur Formulierung der Bilanzgleichungen für ein differentielles Volumenelement wird der Begriff der Stromdichte eingeführt. Die Stromdichte ist ein Vektor, der den auf ein Flächenelement bezogenen Strom in der Normalenrichtung dieses Flächenelements beschreibt:

(2.2)

Unter den getroffenen Voraussetzungen lassen sich Koppelbeziehungen zwischen den Stromdichten und den Bilanzgrößen angeben. Dabei beschränken wir uns auf den Fall skalarer Bilanzgrößen (der Impuls ist eine vektorielle Größe; damit werden die Beziehungen etwas komplizierter). Wenn à eine intensive, skalare Bilanzgröße (Volumenkonzentration, spezifische innere Energie usw.) bezeichnet, so lassen sich folgende allgemeine Formulierungen für die Stromdichten bzw. die Ströme angeben: !

Molekulare Stromdichte (2.3)

kL Leitkoeffizient Die molekulare Stromdichte beschreibt den durch molekulare Triebkräfte bewirkten Stoff- und Energietransport. !

Konvektive Stromdichte (2.4)

2 - 13

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

v Vektor der Strömungsgeschwindigkeit Die konvektive Stromdichte beschreibt den Stoff- und Energietransport, der durch die Strömung von Fluiden bewirkt wird. !

Übergangsstromdichte (2.5)

kü Übergangskoeffizient ÄÃ Triebkraft Übergangsströme treten als stoffliche und energetische Koppelströme zwischen den Bilanzräumen untereinander bzw. zwischen Bilanzräumen und der Umgebung auf. Sie werden durch die Potentialdifferenzen (Triebkräfte) der Bilanzgrößen, die zwischen den aneinander grenzenden Bilanzräumen bestehen, verursacht. !

Quellströme (Senkenströme) Für diese Ströme, die im Bilanzraum durch chemische Reaktionen entstehen, kann kein allgemeiner Ansatz formuliert werden. Diese Ströme werden durch kinetische Ansätze, die auf den Modellen der spezifischen Umwandlungsprozesse beruhen, beschrieben. Die Quellstromdichte, die durch die kinetischen Ansätze beschrieben wird, ist wie folgt definiert:

Quellströme mit negativem Vorzeichen werden als Senken (oder Senkenströme) bezeichnet. Da die Bilanzgleichungen zunächst für ein differentielles Volumenelement formuliert werden müssen, hängt ihre Darstellung von der Art des Koordinatensystems ab. Die Herleitungen sind für kartesische Koordinaten besonders einfach, da hierbei das differentielle Volumenelement als Produkt der differentiellen Kantenlängen ausgedrückt werden kann: dV = dx dy dz Es wird eine beliebige intensive, skalare Bilanzgröße à betrachtet. Für die molekularen und konvektiven Stromdichten gelten die Beziehungen (2.3) und (2.4). Soll die Bilanz um das differentielle Volumenelement formuliert werden, müssen zwei Sachverhalte beachtet werden: S Für die Bilanz werden die Ströme benötigt, die über die Bilanzraumgrenzen ein- und austreten. Für diese gilt:

S

Dabei ist dA das differentielle Flächenelement, über das der Strom ein- bzw. austritt. Für den differentiellen Quellstrom gilt:

S

Bei der Bilanzierung sind alle Koordinatenrichtungen zu berücksichtigen.

2 - 14

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Im folgenden Bild ist die Bilanzierung am differentiellen kartesischen Volumenelement für die x-Richtung dargestellt:

Bild 2.2

Bilanz am differentiellen kartesischen Volumenelement

Für die Stromdichte in x-Richtung sowie für deren Zuwachs am Austritt aus dem Volumenelement gilt:

(2.6)

Diese Beziehungen lassen sich analog auch für die y- und z-Richtung herleiten. Nun muss von den Stromdichten zu den Strömen übergegangen werden. Für die Differenzen zwischen Ein- und Ausgangsströmen am differentiellen Volumenelement gelten folgende Beziehungen:

Analog folgt für die anderen Ströme:

Wenn man das allgemeine Bilanzprinzip (s. Abschnitt 2.2) in der Form

2 - 15

PAVP - Theoretische Prozessanalyse anwendet, so ergibt sich

Wenn Gleichung (2.6) für alle drei Ortskoordinaten in diese Beziehung eingesetzt wird und kL=const. angenommen werden kann, so folgt:

(2.7) Das ist die Bilanzgleichung für eine intensive, skalare Bilanzgröße in kartesischen Koordinaten. Oftmals benötigt man andere Koordinatensysteme. Es ist dann hilfreich, die allgemeine Bilanzgleichung in einer koordinatenfreien Schreibweise zur Verfügung zu haben. Dabei werden die bekannten Vektoroperatoren1 grad und div benutzt. Es folgt dann:

(2.8)

‘

Berücksichtigung von Übergangsströmen in den Bilanzgleichungen

Wenn die Bilanzgrößen und damit auch die Zustandsgrößen im Bilanzraum zwar als verteilt anzusehen sind, von einer oder mehreren Ortskoordinaten aber nicht abhängen, so ist der Bilanzraum in diesen Richtungen als "makroskopisch" anzunehmen. Die eventuell dadurch zu berücksichtigenden Ströme über die Grenzflächen zwischen den Bilanzräumen sind dann in den Bilanzgleichungen explizit zu berücksichtigen (sie tauchen sonst in den Randbedingungen auf). Im folgenden Bild sind die beschriebenen Verhältnisse für einen Bilanzraum in kartesischen Koordinaten dargestellt:

1

S. hierzu „TEUBNER-Taschenbuch der Mathematik“, Stuttgart, 1996, S. 375, ff.

2 - 16

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Bild 2.3: Volumenelement mit Übergangsstrom Bei der Herleitung kann von Gleichung (2.6) ausgegangen werden. In die Bilanzgleichung geht aber neben den molekularen und konvektiven Strömen noch der Übergangsstrom ein. Dafür ist Gleichung (2.5) zu berücksichtigen. Damit ergibt sich folgende Bilanzgleichung: (2.9)

Es gelten folgende Definitionen:

Randbedingungen müssen lediglich für die Koordinatenrichtungen formuliert werden, für die die Bilanzgrößen verteilt vorliegen. ‘ Anfangsbedingungen Soll das dynamische Problem gelöst werden, so müssen die Anfangsprofile der Zustandsgrößen, von denen die Bilanzgrößen abhängen, als Funktionen der Ortskoordinaten bekannt sein. ‘ Randbedingungen Die für Probleme zweiter Ordnung ( Wärmeleitung, Diffusion, reibungsbehaftete Strömungen) typischen Randbedingungen lassen sich in der folgenden allgemeinen Form darstellen:

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

2 - 17

Es lassen sich nun folgende drei Fälle unterscheiden: ‚

b=0 :

‚

a=0 :

‚

a,b … 0:

!

Beispiel:

DIRICHLET-Randbedingung - die Zustandsgrößen auf dem Rand des Integrationsgebietes werden spezifiziert NEUMANN -Randbedingung - die molekularen Ströme der Bilanzgrößen über die Grenzen des Integrationsgebietes werden spezifiziert. CAUCHY -Randbedingung - sowohl molekulare als auch konvektive Ströme, die die Grenzen des Integrationsgebietes überschreiten, werden spezifiziert.

Wärmeleitung in ebener Wand In der nebenstehenden Abbildung ist ein Ausschnitt einer ebenen Wand dargestellt. Der Wärmetransport erfolge ausschließlich durch Leitung. Die Temperatur am linken Rand sei konstant; am rechten Rand werde die Wand von einem Fluid angeströmt, so dass ein Wärmeübergang von der Wand an das Fluid erfolgt. Die Kerntemperatur im Fluid sei konstant. Damit lassen sich folgende Beziehungen angeben:

2 - 18

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Da der Transport nur in einer Richtung erfolgt, verschwinden die Terme für den molekularen Transport in y- und z-Richtung. Damit folgt auf der Basis von Gleichung (2.7): (2.10)

Das ist die FOURIER’sche Differentialgleichung. Unter den oben getroffenen Voraussetzungen lassen sich die folgenden Rand- und Anfangsbedingungen herleiten:

(2.11)

2.5 2.5.1

Lösung der Modellgleichungen Prozesse mit konzentrierten Bilanzgrößen

Im Abschnitt 2.3 wurde gezeigt, dass die aus den Bilanzgleichungen hervorgehenden Modellgleichungen für Prozesse mit konzentrierten Bilanz- bzw. Zustandsgrößen die Form gewöhnlicher Differentialgleichungssysteme erster Ordnung besitzen. Für diese Gleichungssysteme, die aus mathematischer Sicht zur Klasse der Anfangswertprobleme gehören, kann man auf zwei unterschiedlichen Wegen zu Lösungsdarstellungen gelangen: S

S

Die Lösung wird nach einem analytischen Lösungsverfahren gewonnen. Dieser Weg ist vor allem dann von Interesse, wenn es sich um lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten handelt. Ansonsten gelingt die Lösung nur in gewissen Spezialfällen. Diese sind in der Literatur zu finden.1 Kenntnisse zu analytischen Lösungsverfahren werden vorausgesetzt, und es werden Beispiele in den Übungen 1-3 behandelt. Die Lösung wird durch ein numerisches Näherungsverfahren gewonnen.

Der letztgenannte Weg ist für die meisten Modellgleichungssysteme, die für den Verfahrenstechniker von Interesse sind, der einzig gangbare Weg, um zu einer Darstellung der Lösung zu gelangen. Auf diesen Weg soll darum hier näher eingegangen werden. Das zu lösende Anfangswertproblem hat die folgende allgemeine Form:

1

Boyce, W.E.; DiPrima, C. “Gewöhnliche Differentialgleichungen”, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 1995

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

2 - 19

(2.12)

Die für diese Systeme entwickelten numerischen Lösungsverfahren werden ausführlich in der Literatur1 beschrieben. Hier sollen einige davon näher ausgeführt werden. Für die anschauliche Erklärung der Verfahren ist es zweckmäßig anzunehmen, dass das Modellgleichungssystem nur aus einer Differentialgleichung besteht. Die Verfahren lassen sich aber sehr leicht auf Systeme von Differentialgleichungen verallgemeinern. Unter der getroffenen Voraussetzung nimmt das zu lösende Problem folgende Form an:

! Das EULER-Verfahren Das einfachste numerische Lösungsverfahren beruht auf der Approximation des Differentialquotienten durch den Differenzenquotienten. In der nebenstehenden Abbildung ist der Ablauf des Verfahrens dargestellt:

Bild 2.4 Graphische Darstellung des EULER Verfahrens 1

Schwetlick, H.; Kretschmar, H. “Numerische Verfahren für Naturwissenschaftler und Ingenieure”, Leipzig, 1991

2 - 20

PAVP - Theoretische Prozessanalyse

Aus der getroffenen Näherung ergibt sich die folgende Berechnungsvorschrift für dieses numerische Näherungsverfahren: (2.13) !

Das HEUN-Verfahren

Bei diesem numerischen Näherungsverfahren wird die Approximation des Differentialquotienten durch den Differenzenquotienten nur als eine erste Näherung herangezogen. Mit dieser Näherung wird in einem weiteren Schritt eine zweite Näherung berechnet. Als Näherung für die Lösung eines Integrationsschrittes wird der arithmetische Mittelwert dieser beiden Näherungen bestimmt. In der folgenden Abbildung ist diese Vorgehensweise dargestellt:

Bild 2.5 Graphische Darstellung des HEUN Verfahrens

2 - 21

PAVP - Theoretische Prozessanalyse Es folgt aus der dargestellten Vorgehensweise die Berechnungsvorschrift

(2.14)

Die nach diesem Verfahren berechneten Näherungen sind, bei gleicher Schrittweite, genauer als die mit dem EULER-Verfahren berechneten. ! Das RUNGE -KUTTA-Verfahren 4. Ordnung Wenn man die rechte Seite der zu lösenden Differentialgleichung in eine TAYLOR-Reihe entwickelt und diese Entwicklung nach einer endlichen Anzahl von Gliedern abbricht, kann man, je nach Anzahl der berücksichtigten Reihenterme, eine Gruppe von Näherungsverfahren ableiten, die als RUNGE-KUTTA -Verfahren (unterschiedlicher Ordnung) bekannt sind. Das am häufigsten angewandte Verfahren ist das der 4. Ordnung. Im Folgenden sind die Formeln für den Fall des Differentialgleichungssystems angegeben:

(2.15)

Für die Ausführung der numerischen Integration von Systemen gewöhnlicher Differentialgleichungen existiert eine Reihe geeigneter Software-Tools1.


0.9!). Im Folgenden werden die Residuen Das Histogramm mit einer Klassenanzahl von K=10 ergibt die nebenstehende Darstellung. Zusätzlich angegeben ist die Dichtefunktion der Normalverteilung mit Erwartungswert 0 und einer Streuung, die der der Residuen entspricht. Die Testgröße für den ÷2-Anpassungstest gemäß (3.14) ergibt sich zu ÷2 = 8,91 und das Quantil der ÷ 2 -V er t ei l ung zu . Damit ist gegen die Normalverteilung der Residuen nichts einzuwenden.

auf Normalverteilung untersucht.

3 - 20

PAVP - Experimentelle Prozessanalyse

Schließlich sei weiterhin angenommen, dass die Streuung der Prozessausgangsgröße durch sechsfache Wiederholung eines Versuches zu sw2 = 0,00008 ermittelt wurde. Die Untersuchung des angegebenen linearen Modells bzgl. der Adäquatheit nach (3.15) führt zu folgendem Ergebnis:

Weitere Modellansätze für dieses Beispiel werden in der 6. Übung behandelt.

4-1

PAVP - Versuchsplanung 4.

VERSUCHSPLANUNG

In diesem Hauptabschnitt werden die Grundlagen der statistischen Versuchsplanung dargestellt. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung von Versuchsplänen für empirisch-statistische Standardmodelle, wie sie im vorangegangenen Abschnitt eingeführt wurden. Daneben werden auch Pläne für die Untersuchung der Signifikanz von Einflussgrößen beschrieben. Zum Abschluss wird das Problem der Bewertung der Signifikanz von Einflussgrößen durch Expertenbefragung behandelt. 4.1

Einführung

Die Methoden der Versuchsplanung umfassen im erweiterten Sinne alle Maßnahmen und Methoden, die die Vorbereitung und Durchführung von Versuchen zum Ziel haben. In diesem Sinne sind auch organisatorisch-strategische Fragestellungen Gegenstand der Versuchsplanung. Versuchsplanung im engeren Sinne und bezogen auf die Bildung parametrischer Modelle für das stationäre Prozessverhalten ist der Entwurf eines Versuchsprogramms in Form einer Menge von Versuchspunkten im Raum der Einflussgrößen nach bestimmten Gütekriterien. Die Methoden der Versuchsplanung verfolgen die rationelle und systematische Organisation der Gewinnung experimenteller Daten, die für die Lösung folgender Probleme benötigt werden: Schätzung der Parameter in experimentellen Modellen und Verifikation dieser Modelle. Ermittlung und Bewertung der Einflussgrößen. Suche nach einem optimalen Arbeitspunkt (Experimentelle Optimierung). Die Entwicklung eines Versuchsplanes kann in ihren Etappen nicht so klar umrissen werden, dass man sie in Form eines Ablaufplanes darstellen könnte. Es lassen sich aber heuristische Regeln formulieren, die für die Entwicklung von Versuchsplänen durchaus hilfreich sein können. So hat HIMMELBLAU 1 empfohlen, dass der Experimentator in der Planungsphase eines Versuchsprogramms Antworten auf folgende Fragen finden sollte: S Welche primären Fragestellungen liegen den Experimenten zugrunde? S Welche statistischen Analysen führen zu den gewünschten Aussagen? S Welcher Zeitraum steht für die Versuche zur Verfügung? S Wie hoch sind die maximal zulässigen Kosten? S Welche Konsequenzen sind zu erwarten, wenn ein vermuteter Effekt nicht gefunden wird? S In welchen Grenzen sind die Einflussgrößen einstellbar; welchen sonstigen Beschränkungen unterliegen sie? S Sind nur die Effekte der Einflussgrößen gesucht oder ist ein Optimum der Zielgröße zu finden? S Gibt es bereits Informationen über ähnliche Versuche? S Wie werden Einfluss- und Zielgrößen gemessen? S Wie können Störfaktoren eliminiert werden? S Sind die Einflussgrößen unabhängig zu verändern?

1

Himmelblau, D.M.

“Process Analysis by Statistical Methods”, New York, 1970.

4-2

PAVP - Versuchsplanung

Es lassen sich aus dieser Check-Liste folgende drei Problemfelder der Versuchsplanung ableiten: S Organisatorische und wirtschaftliche Probleme S Messtechnische und rechentechnische Probleme S Mathematisch-statistische Probleme Das letztgenannte Problemfeld soll im folgenden behandelt werden. Es geht dabei um das Feld der statistischen Versuchsplanung. Die Methoden der statistischen Versuchsplanung verfolgen das allgemeine Ziel, S Anzahl, S Wiederholungsgrad und S Anordnung der Versuchspunkte so zu wählen, dass bestimmte Kriterien erfüllt werden. Die so konstruierten Versuchspläne besitzen dann bezüglich der gewählten Kriterien optimale Eigenschaften. Die für die statistische Versuchsplanung anzuwendenden Kriterien beziehen sich auf die anzustrebende Güte der Ergebnisse der Modellbildung (Güte der Parameterschätzung, der Vorhersage der Zielgröße usw.) bzw. auf den experimentellen Aufwand. Statistische Versuchspläne werden somit auf der Basis definierter Anforderungen konstruiert, die sich aus der zu verfolgenden Zielstellung ergeben. Entscheidungsgrößen des Planungsprozesses sind im allgemeinen der Umfang des Versuchsprogramms und/oder die Anordnung der Versuchspunkte im Raum der Einflussgrößen. 4.2

Versuchsplanung zur Modellbildung

Im folgenden werden Konstruktion und Auswertung von Versuchsplänen behandelt, die als Grundlage für die Parameterschätzung in empirisch-statistischen Modellansätzen dienen sollen. Ihre Realisierung am konkreten Prozess liefert den Vektor der Versuchsergebnisse. Das Ziel besteht darin, die Versuchspunkte so anzuordnen, dass der Informationsgewinn möglichst groß wird. Weiterhin wird auch das Ziel verfolgt, den experimentellen Aufwand möglichst gering zu halten. 4.2.1

Eigenschaften von Versuchsplänen

‘

Zentraler Versuchsplan:

Der nebenstehende Vektor heißt Zentrum des Versuchsplanes:

Wenn plan.

gilt, so heißt der Plan ein zentraler Versuchs-

4-3

PAVP - Versuchsplanung

‘ Orthogonaler Versuchsplan: Gilt für die Termmatrix F nach (3.9) die folgende Beziehung, so heißt der Versuchsplan orthogonal bzgl. des parameterlinearen Modells (3.4).

( 4.1 )

Für orthogonale Pläne gestaltet sich wegen der Diagonalform dieser Matrix die Berechnung der Koeffizienten besonders einfach. Wird ein Koeffizient im Modell gestrichen, müssen die anderen nicht neu berechnet werden. ‘ Drehbarer Versuchsplan: Die Parameter eines empirisch-statistischen Modells, die nach der bekannten Gleichung geschätzt werden, sind ihrem Wesen nach Punktschätzungen für Zufallsgrößen. Wenn diese Parameter für die Vorhersage der Prozessausgangsgröße durch das Modell herangezogen werden, wird diese Vorhersage darum mit einem gewissen Fehler behaftet sein, der sowohl von den Fehlern der Parameterschätzung als auch von der Modellform abhängt und den man durch die Varianz der Modellvorhersage beschreiben kann. Für diese Varianz kann man folgende Beziehung herleiten:

( 4.2 )

Als Schätzung für

2

kann man die Reststreuung des Modells heranziehen. Der Vektor

ist der Vektor der Ansatzterme und hat demzufolge die folgende Komponentendarstellung:

Die Eigenschaft der Drehbarkeit eines Versuchsplans lässt sich damit wie folgt einführen:

4-4

PAVP - Versuchsplanung

( 4.3 )

Die Streuung der Vorhersage des Modells ist damit isotrop, also nicht von der Richtung im Raum der Einflussgrößen abhängig. Ist ein Plan drehbar, so lässt sich die folgende Größe, die als Informationsprofil des Planes bezeichnet wird, definieren:

Das Informationsprofil erlaubt die Beurteilung der Güte der Vorhersage des Modells als Funktion des Abstandes vom Zentrum des Planes. Ein Vergleich mit Formel (4.2) zeigt, dass sich der Informationsgehalt und die Streuung der Vorhersage reziprok verhalten. ‘

Optimale Versuchspläne

Die Eigenschaften der Orthogonalität und der Drehbarkeit sind nützliche Eigenschaften eines Versuchsplanes; sie definieren aber keine Gütemaße, die einen Plan in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Planform und Genauigkeit des Modells zu bewerten gestatten. Dafür müssen weitergehende Anforderungen formuliert werden. Es sollen im Folgenden die wichtigsten Kriterien vorgestellt werden. Für die Beschreibung wird der Begriff der Informationsmatrix M (X) mit folgender Definition eingeführt: ‚

.

Kriterium der A-Optimalität

Die Diagonalelemente der Inversen der Informationsmatrix sind den Streuungen der Koeffizientenschätzungen proportional. Wenn man als Ziel der Entwicklung eines Versuchsplanes fordert, dass die Summe dieser Streuungen ein Minimum annehmen soll, so ist die Spur (die Summe der Elemente der Hauptdiagonalen) der inversen Informationsmatrix zu minimieren:

‚

Kriterium der D-Optimalität

Die Determinante der inversen Informationsmatrix ist ein Maß für die “verallgemeinerte Varianz” der Parameterschätzung. Es ist anzustreben, dass diese verallgemeinerte Varianz einen

4-5

PAVP - Versuchsplanung

möglichst geringen Wert annimmt. Auf der Basis dieser Überlegungen lässt sich das Kriterium der D-Optimalität wie folgt definieren:

( 4.4 )

‚

Kriterium der G-Optimalität

Eine weitere Forderung könnte sein, dass die maximale Varianz der Modellvorhersage in einem definierten Vorhersagegebiet zu minimieren ist. Unter Anwendung der Gleichung für die Varianz (s.o.) lässt sich damit folgendes Optimierungskriterium formulieren (das sogenannte Kriterium der G-Optimalität):

( 4.5 )

Die aufgeführten Kriterien zeigen, dass es offenbar gelingt, durch die Wahl der Planmatrix X die Güte der Parameterschätzung und/oder der Vorhersage des Modells zu beeinflussen. Sie zeigen aber auch, dass die Lösung dieser Aufgabe die Festlegung auf eine bestimmte Modellform voraussetzt. Die Frage nach einem optimalen Versuchsplan ist darum nur im Zusammenhang mit einer bestimmten Modellform sinnvoll zu stellen! ‘ Das Problem der optimalen Versuchsanzahl Bei den bisher diskutierten Optimierungsproblemen stand als Freiheitsgrad die Planmatrix zur Verfügung, d. h. die optimale Anordnung von n Versuchen im Raum der Einflussgrößen. Man kann auch die Anzahl der Versuche in die Formulierung des Optimierungsproblems einbeziehen. Jeder Versuch verursacht einen bestimmten Aufwand, bringt aber auch einen definierten Informationsgewinn. Letzteren kann man beispielsweise durch die Reduktion der Streuung der Koeffizientenschätzung bewerten. Es könnte damit die folgende Zielstellung formuliert werden:

Die Faktoren c1 und c2 sind die spezifischen Kosten für einen Versuch bzw. für die Unsicherheit der Koeffizienten.

4-6 4.2.2

PAVP - Versuchsplanung Vollständige Faktorenpläne auf zwei Niveaus

# Normierung der Variablen Für die Darstellung konkreter Versuchspläne ist es nützlich, die Einflussgrößen zu normieren. Die Normierungsbeziehungen zwischen den primären Einflussgrößen und den normierten Einflussgrößen

lassen sich aus folgenden Bedingungen

herleiten. Dabei geht es darum, die Konstanten für folgende lineare Beziehungen aus den genannten Bedingungen zu bestimmen Nach kurzer Rechnung folgt: (4.6)

# Konstruktion vollständiger Faktorenpläne auf zwei Niveaus Die im weiteren zu behandelnden Versuchspläne sind für die Bestimmung der Parameter in folgenden Modellen

(4.7)

geeignet. Diese Modelle enthalten neben den linearen Termen auch die linearen Wechselwirkungen; das sind die Produkte der Einflussgrößen, bei denen die einzelnen Faktoren höchstens in der ersten Potenz auftreten. Das lineare Standardmodell ergibt sich als Spezialfall, wenn alle Wechselwirkungen verschwinden. Das Konstruktionsprinzip lässt sich rekursiv definieren. S Der vollständige Faktorenplan auf zwei Niveaus für eine Einflussgröße ist durch die Planmatrix

S

gegeben. Den vollständigen Faktorenplan auf zwei Niveaus für i+1 Einflussgrößen erhält man aus dem Plan für i Einflussgrößen durch Verdopplung dieses Planes.

4-7

PAVP - Versuchsplanung S

In der ersten Hälfte des neuen Planes wird die (i+1)-te Einflussgröße auf das Niveau +1 festgelegt, in der zweiten Hälfte auf das Niveau -1.

Die Anzahl der Versuche ergibt sich zu n = 2m. Das entspricht gerade der Anzahl von Termen bzw. der Anzahl an zu schätzenden Koeffizienten, denn es gilt:

# Eigenschaften der Pläne Nach dem Satz von KIEFER und WOLFOWITZ2 gilt , dass die folgenden drei Aussagen äquivalent sind:

(4.8)

Der Vektor f(x) ist der Vektor der Ansatzfunktionen, so wie er im Zusammenhang mit Gleichung (4.2) eingeführt wurde; p+1 ist die Anzahl der Parameter. Mit Hilfe der Teile b) und c) von (4.8) lassen sich G-optimale Pläne konstruieren. Sie können aber auch genutzt werden um Pläne auf diese Eigenschaft hin zu untersuchen. Wenn man (4.8) bezüglich des Ansatzes (4.7) anwendet, so werden die Teile b) und c) offenbar erfüllt, wenn gilt:

2

Zu diesem Satz:

Bandemer,H.; Bellmann, A.“Statistische Versuchsplanung”; Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig, 1997, S.90 ff

4-8

PAVP - Versuchsplanung

Daraus folgt, dass der Plan X genau dann G-optimal sein wird, wenn die Einheitsmatrix ist. Die vollständigen Faktorenpläne auf zwei Niveaus sind orthogonale Pläne, so dass gilt: ( 4.9 )

Damit ist die für die G-Optimalität notwendige Bedingung erfüllt. Es lässt sich auf der Grundlage von (4.8) weiter zeigen, dass die Pläne nicht nur G-optimal sondern auch D-optimal sind. Aus der Beziehung (4.9) folgt zusammen mit Gleichung (3.10) eine einfache Vorschrift für die Berechnung der Modellparameter:

!

Beispiel

Für das Modell eines Polykondensationsprozesses sollen die Modellparameter bestimmt werden. Das Modell hat folgende Form:

Die Bedeutung der Variablen und die Variationsbereiche sind folgender Tabelle zu entnehmen: Variable

Bedeutung

[ça]

Polykondensationsgrad

p T

Einheit

xmin

xmax

-

-

-

Druck im Reaktor

Pa

150

250

Temperatur im Reaktor

°C

275

285

Als vollständiger Faktorenplan auf zwei Niveaus ergibt sich

Die graphische Darstellung des Planes in der Ebene der Einflussgrößen zeigt das folgende Bild

4-9

PAVP - Versuchsplanung

Die Tabelle der Versuchspunkte mit den nicht normierten Variablen ergibt sich zu

4.2.3

p (in Pa)

T (in °C)

250

285

150

285

250

275

150

275

Teilfaktorenpläne auf zwei Niveaus

Teilfaktorenpläne bestehen aus einer Teilmenge der Versuchspunkte eines vollständigen Faktorenplanes, die nach bestimmten Regeln ausgewählt wird. Sie sind für Modelle des angegebenen Grundtyps geeignet, die nicht alle Wechselwirkungen enthalten. Der Ausschluss von bestimmten Wechselwirkungen muss durch Vorüberlegungen oder durch Erfahrung abgesichert werden. In der Regel kann man auf die höchste Wechselwirkung verzichten. Die nicht im Modell enthaltenen Wechselwirkungen kann man dann nutzen, um nach den durch sie definierten Bildungsgesetzen (den sogenannten Generatoren) Einflussgrößen zu variieren. Durch die Anwendung von Teilfaktorenplänen erreicht man eine Reduktion des experimentellen Aufwandes. # S

Konstruktionsprinzip für Teilfaktorenpläne auf zwei Niveaus: Auswahl einer (oder mehrerer) Wechselwirkung(en), die nicht im Modell enthalten sind (das sind die “Generatoren”). S Den gewählten p Generatoren werden p Einflussgrößen zugeordnet. S Für die verbleibenden (m-p) Einflussgrößen wird ein vollständiger Faktorenplan auf zwei Niveaus konstruiert. S Die p Einflussgrößen, die durch Generatoren definiert worden sind, lassen sich in ihren Niveaus aus den Werten der Einflussgrößen des vollständigen Faktorenplans bestimmen. Dabei kommt die jeweilige Generatordefinition zur Anwendung. Die Anzahl der Versuche ergibt sich zu n = 2 (m-p). # Eigenschaften der Teilfaktorenpläne Durch die Generatordefinition entstehen “Vermengungen” der Koeffizienten. Jeder Spalte der Matrix F ist ein Koeffizient zugeordnet. Wenn zwei oder mehrere Spalten übereinstimmen, so lassen sich die zugeordneten Koeffizienten nicht mehr unabhängig voneinander bestimmen. Es gilt folgende Definition: Der Kontrast I ist das Produkt der Spalten der F-Matrix, das den gleichen Werteverlauf wie die erste Spalte der F-Matrix besitzt; der Kontrast ist dem Werteverlauf nach somit ein Einheitsvektor mit entsprechender Anzahl von Komponenten.

4 - 10

PAVP - Versuchsplanung Für die definierende Beziehung gilt dann (4.10)

Je nach der Ordnung p der Reduktion kann man mehrere Kontraste und entsprechende definierende Beziehungen formulieren. Die Bestimmung der Vermengungen kann wie folgt vorgenommen werden: S Der Kontrast wird sukzessive mit den Faktoren multipliziert, wobei die Faktoren vertauscht werden dürfen und die folgende Beziehung zu beachten ist:

S

Aus den Indizes der linken und der rechten Seiten folgen die Vermengungsregeln:

(4.11)

!

Beispiel

Es soll ein - Plan mit dem Generator Es ergibt sich die nebenstehende Planmatrix.

konstruiert werden.

Der Kontrast nach (4.10) folgt aus dem Generator

Damit lassen sich die nachfolgenden Vermengungen finden:

PAVP - Versuchsplanung

4 - 11

Die Koeffizienten sind die Koeffizienten des Modells, die auf der Basis des Teilfaktorenplans geschätzt werden. Für diese Koeffizienten gelten die ermittelten Vermengungen. 4.2.4 Zentrale zusammengesetzte Versuchspläne 2. Ordnung In den bisher behandelten Modellansätzen traten die Einflussgrößen nur in der ersten Potenz auf. Soll das Modell einen größeren Gültigkeitsbereich überstreichen, müssen auch die quadratischen Terme für die Einflussgrößen und die quadratischen Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Von besonderem Interesse sind die Modelle, die aus dem vollständigen linearen Ansatz (einschließlich der linearen Wechselwirkungen aller Ordnungen) und den quadratischen Termen der Einflussgrößen bestehen:

(4.12) Als prinzipiell geeignete Pläne müssen zunächst die vollständigen Faktorenpläne auf drei Niveaus angesehen werden. Diese Pläne berücksichtigen aber auch die quadratischen Wechselwirkungen, die im Ansatz (4.12) gar nicht vorkommen. Darum sind diese Pläne in der Regel nicht effizient für Ansätze der Form (4.12). # Vollständige Faktorenpläne auf drei Niveaus Vollständige Faktorenpläne auf drei Niveaus werden analog zu denen auf zwei Niveaus konstruiert (s. Abschnitt 4.2.2), nur dass jetzt drei Niveaus (im normierten Fall mit -1, 0 und +1 bezeichnet) zu berücksichtigen sind. Der Plan für eine Einflussgröße besteht demzufolge aus der Planmatrix

4 - 12

PAVP - Versuchsplanung

Der Plan für (i+1) Einflussgrößen entsteht aus dem für i Einflussgrößen durch Verdreifachung; im ersten Drittel hat die neue Größe den Wert 1, im zweiten Drittel den Wert 0 und im letzten Drittel den Wert -1. Die Anzahl der Versuchspunkte ergibt sich für diese Pläne zu . Für die vollständigen Faktorenpläne auf drei Niveaus lassen sich analog zu denen auf zwei Niveaus auch Teilfaktorenpläne konstruieren. Auch dabei werden Generatoren über Wechselwirkungen definiert, die im Modell nicht enthalten sind. ! Beispiel Im folgenden Bild ist der vollständige Faktorenplan auf drei Niveaus für zwei Einflussgrößen im Variationsbereich der Einflussgrößen dargestellt..

Für die Planmatrix folgt:

PAVP - Versuchsplanung

4 - 13

# Zentrale zusammengesetzte Pläne 2. Ordnung Ein zusammengesetzter Versuchsplan entsteht durch Überlagerung von Plänen, die nach unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien gewonnen wurden. Da Modellansätze der Form (4.12) das lineare Modell enthalten, erscheint es angebracht, für diesen Teil des Modells einen vollständigen Faktorenplan oder einen Teilfaktorenplan auf zwei Niveaus vorzusehen. Da der Ansatz nur die “einfachen” quadratischen Terme enthält, Wechselwirkungen höherer Ordnung also nicht zu berücksichtigen sind, kann für diesen Teil des Modells ein “traditioneller” Versuchsplan vorgesehen werden, bei dem nur ein Faktor verändert wird, während die anderen im Zentrum des Planes fixiert werden. Für zwei Einflussgrößen kann man diese Konstruktion wie folgt graphisch darstellen:

Bild 4.1

Konstruktion eines zentralen zusammengesetzten Plans für zwei Einflussgrößen

Damit ergibt sich als Konstruktionsprinzip: S S

Für die m Einflussgrößen ist ein vollständiger Faktorenplan oder ein Teilfaktorenplan auf zwei Niveaus zu konstruieren (s. Abschnitt 4.2.2); dieser Teil heißt der Kern des Planes. Es ist ein “traditioneller” Versuchsplan auf drei Niveaus zu konstruieren, wobei jeweils eine Einflussgröße auf die Achspunkte eingestellt wird, während die anderen (m-1) Einflussgrößen im Zentrum fixiert werden. Der Versuchspunkt, bei dem alle Einstellungen im Zentrum liegen (der sogenannte Zentrumsversuch) wird einmal in der Planmatrix berücksichtigt.

4 - 14

PAVP - Versuchsplanung

Die Planmatrix kann man dann in allgemeiner Form wie folgt schreiben: Im ersten Abschnitt enthält die Planmatrix den vollständigen Faktorenplan auf zwei Niveaus.

In dieser Zeile beginnt der Abschnitt mit den Achspunktversuchen: nur eine Größe wird variiert; die anderen verbleiben im Zentrum.

Der letzte Versuch ist der Zentrumsversuch.

Als Anzahl der Versuche ergibt sich:

( 4.13 )

Diese Pläne verfügen über zwei Freiheitsgrade; über den Abstand der Achspunktversuche vom Zentrum (á) und über die Anzahl der Wiederholungen des Zentrumsversuchs. Diese Parameter lassen sich so bestimmen, dass sich bestimmte Eigenschaften des Planes einstellen. In den folgenden Tabellen sind die Planparameter für die wichtigen Fälle orthogonaler und drehbarer zentraler zusammengesetzter Pläne 2. Ordnung angegeben.