Prof. Dr. Famulla: Berufsorientierung als Bildungsstandard?

5. Fachtagung SWA-Programm: Gute Beispiele zur Berufsorientierung; Prof. Dr. Famulla: „Berufsorientierung als Bildungsstandard?“ Prof. Dr. Famulla: „...
Author: Pamela Ziegler
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5. Fachtagung SWA-Programm: Gute Beispiele zur Berufsorientierung; Prof. Dr. Famulla: „Berufsorientierung als Bildungsstandard?“

Prof. Dr. Famulla: „Berufsorientierung als Bildungsstandard?“ Prof. Dr. Gerd-E. Famulla, Leiter der wissenschaftlichen Begleitung, Universität Flensburg Meine sehr geehrten Damen und Herren, in meinem Vortrag möchte ich vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Erkenntnisse und Erfahrungen des SWA-Programms der Frage nachgehen, welche konkreten Herausforderungen und Aufgaben sich bei der Entwicklung eines Bildungsstandards Berufsorientierung stellen. Hierzu möchte ich Ihnen zunächst fünf Teilfragen nennen, auf die ich dann im Folgenden in Form von acht Thesen näher eingehen werde: 1. Warum ist schulische Arbeits- und Berufsorientierung heute noch bedeutsamer geworden? 2. Welche Gründe sprechen für die Entwicklung von nationalen Bildungsstandards im Lernfeld Arbeits- und Berufsorientierung? 3. Welchen Punkten in den vorliegenden Expertisen und Empfehlungen für nationale Bildungsstandards kommt ein besonderes Gewicht zu? 4. Wo liegen besondere Herausforderungen für das Lernfeld Arbeits- und Berufsorientierung bei der Entwicklung von Bildungsstandards? 5. Mit welchen Voraussetzungen und Vorarbeiten kann die Arbeit an Bildungsstandards im Lernfeld Arbeits- und Berufsorientierung aufgenommen werden? 1. These: Berufsorientierung ist Teil der schulischen Allgemeinbildung und zugleich das Bindeglied zwischen Schule und Arbeitswelt. Das Lernfeld Arbeits- und Berufsorientierung ist stärker vom Strukturwandel tangiert als jedes andere Lernfeld oder Unterrichtsfach: Auf welche Arbeit, welche Berufe, welche Qualifikationen und Kompetenzen richten wir die Orientierung aus oder bieten den Schülerinnen und Schülern zumindest ausreichende und qualifizierte Möglichkeiten, sich schon vor Eintritt in Ausbildung, Arbeit und Beruf auf diese Anforderungen vorzubereiten? Vor dem Hintergrund gegenwärtig sich vollziehender weitreichender Veränderungsprozesse – Stichworte hierzu: Globalisierung, Informatisierung, Flexibilisierung – registrieren wir zunächst einen Rückgang so genannter Normalarbeitsverhältnisse mit voller Arbeitszeit und sozialer Sicherung in dem einmal gelernten Beruf („Lebensberuf“). Festzustellen ist des Weiteren ein drastischer Wandel der Qualifikations- und Beschäftigungsstruktur. Es gibt einen Trend zur Höherqualifizierung mit der Folge, dass bis 2015 ca. 1 Mio. Akademiker mehr gebraucht und Arbeitsplätze mit niedrigen Qualifikationsanforderungen weiter abgebaut werden. Der Bildungserfolg junger Menschen wird immer wichtiger, die Beschäftigungschancen für Jugendliche ohne Abschluss sinken. Zur Zeit wird jeder 5. Ausbildungsvertrag gelöst und circa. 30 Prozent der Studienanfänger erwerben keinen Studienabschluss. Zunehmend wird deutlich, dass mit dem Strukturwandel in Arbeit und Beruf neue Herausforderungen und Aufgaben im Bereich der Berufsorientierung erwachsen. Nun obliegt die Arbeits- und Berufsorientierung zwar in erster Linie den verantwortlichen Lehrkräften an den allgemein bildenden Schulen, doch zunehmend wird auch erkennbar, 1

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dass Lehrkräfte nicht mehr die traditionelle Lehrerrolle spielen können, um den Jugendlichen das „richtige Wissen“ über die Arbeits- und Berufswelt für ihre Berufswahlentscheidung zu „vermitteln“,



dass Jugendliche zur Arbeits- und Berufswelt nicht mehr „hingeführt“ werden (wie es noch 1966 beim Vorschlag des Deutschen Ausschusses für das Bildungswesen zur Einführung eines Faches Arbeitslehre hieß),



dass Berufswahl nicht mehr als ein bloß punktuelles Ereignis am Ende der Schullaufbahn verstanden werden kann,



dass ein Unterrichtsfach oder eine Lehrkraft in der Schule nicht die alleinige Verantwortung für die Arbeits- und Berufsorientierung übernehmen kann



und dass schließlich auch die Schule allein ohne Kooperationspartner diese Aufgabe und Verantwortung nicht wahrnehmen kann.

Diese Einsichten sind nicht neu, aber sie bilden doch die zentralen Herausforderungen im Alltag der Schule. Sie bilden nicht zuletzt die Anstöße für Maßnahmen und Projekte, wie sie im SWAProgramm realisiert werden, um alltagstaugliche Antworten auf diese Herausforderungen zu entwickeln, zu erproben und dauerhaft zu implementieren. Schon jetzt ist klar: Berufsorientierung braucht die fachliche und überfachliche Verantwortung im Kollegium, die Kooperation zwischen Schule und Arbeitswelt und die Weiterbildung und Unterstützung der Lehrkräfte mit entsprechenden Ressourcen. Aber brauchen wir auch einen „Bildungsstandard Berufsorientierung“? 2. These: Mit der Erarbeitung von Bildungsstandards in der Arbeits- und Berufsorientierung könnte durch klare Kompetenzbeschreibungen der bislang hypothetisch benutzte Begriff der „Berufsorientierung“ konkretisiert werden. Kurz gefasst, Bildungsstandards sind die gemeinsame Antwort der KMK auf die PISA-Studie, die Mängel und Probleme des deutschen Schulwesens in einem internationalen Vergleich offen legte. Mit den Bildungsstandards – und hier beziehe ich mich zugleich auf Kernpunkte der sogenannten Klieme-Studie, die im Auftrag der Bundesregierung gleichsam als Grundlage zur Erarbeitung von Bildungsstandards erstellt wurde – verbinden sich folgende Erwartungen: Bildungsstandards • sollen allgemeine Bildungsziele aufgreifen und darauf bezogen Kompetenzen benennen, die Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Jahrgangsstufe entwickelt haben sollen, •

sollen so Lernrückstände überwinden helfen und zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen,



sollen einen Wechsel von der Inputsteuerung, bei der Schulen Lehrpläne und Rahmenbedingungen vorgegeben werden, zur Outputsteuerung in Gang setzen, bei der die Leistungen der Schule und die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt rücken,



sollen Lehrpläne und Rahmenrichtlinien der Länder langfristig auf Kerncurricula begrenzen,



sollen Anstöße zur pädagogischen Schulentwicklung geben

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und sollen schließlich einen verbindlichen Kern des Faches oder Lernbereichs festlegen und der Schule Freiraum zur Gestaltung und Ergänzung von Lehr-Lern-Prozessen bis hin zur Ausarbeitung eines Schulcurriculums belassen.

Es wird Wert darauf gelegt, dass Bildungsstandards der Qualitätsentwicklung im Bildungswesen dienen sollen und nicht auf die Zentralisierung von Prüfungen zielen. Schulen und Schulsysteme sollen in ihrer Qualität verbessert werden, was letztendlich auf die Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler zielt. Die Schlüsselrolle in den Standardisierungen kommt dem Kompetenzbegriff zu. Und bei allen zum Teil berechtigten Vorbehalten von Standardisierungen in Bildungsprozessen wird man eine Verständigung und auch Konkretion darüber nicht ablehnen können, welches verbindliche Mindestwissen Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Jahrgangsstufe haben sollten. Und dass bei der Frage nach der Qualität von Bildung die Schule als Institution unter dem Aspekt von Schulentwicklung in den Blickpunkt rückt, scheint mir ebenso unabweisbar. Auf beide Punkte – „Kompetenz- und Schulentwicklung“ – werde ich mich im Folgenden im Wesentlichen konzentrieren. Noch einmal zurück zur vielzitierten PISA-Studie und deren Verbindung zur Berufsorientierung: Die PISA-Studie wird nicht nur als Beleg für das im internationalen Vergleich schlechte Abschneiden der Schülerinnen und Schüler bei den so genannten Basiskompetenzen wie Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache zitiert, sie gilt vielfach auch schon als hinreichender Beweis für die unzureichende Vorbereitung der Jugendlichen auf das Arbeits- und Berufsleben. Doch die Frage mag erlaubt sein, ob allein mit den Urteilen über die Basiskompetenzen beim Leseverständnis, in Mathematik und Naturwissenschaften, wie sie von PISA untersucht worden sind, zugleich ein Urteil über die Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit der Jugendlichen gefällt werden kann. Immerhin kommt eine von Michael Winkler durchgeführte Studie1 zur Ausbildungsfähigkeit von 850 Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse an Realschulen und Berufsschulen in Thüringen zu dem Schluss, dass diese zwar Schwächen in Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften haben (was die Ergebnisse der PISA-Studie bestätigt), dass sie aber hinsichtlich so genannter Schlüsselkompetenzen wie Verlässlichkeit, Kreativität, Kommunikations- und Teamfähigkeit beachtliche Qualitäten aufweisen. Mir scheint die Diskussion über den Kompetenzbegriff – zumal im Hinblick auf die Berufsorientierung – gerade erst eröffnet oder besser wieder eröffnet. Seine systematische Begründung und Abgrenzung vom Qualifikationsbegriff, zumal wenn wir an einen möglichen „Bildungsstandard Berufsorientierung“ denken, ist durchaus noch nicht geleistet. Insofern bleibe ich zunächst bei einer vorläufigen, das heißt hypothetischen und groben Begriffsunterscheidung zwischen Qualifikation und Kompetenz: Qualifikationen signalisieren eine deutliche Nähe zum Beschäftigungssystem bis hin zu Arbeitsplatzanforderungen. Sie verkörpern häufig ein objektiviertes oder gar zertifiziertes Profil von Kenntnissen und Fertigkeiten, welches den Zugang zu Positionen im Erwerbsarbeitssystem eröffnet. Unter Kompetenzen versteht man dagegen eher personengebundene Fähigkeiten, die heute mit einem zunehmenden Maß an Eigeninitiative der Subjekte und vermehrt aus praktischen Erfahrungen gewonnen werden. Der so verstandene Kompetenzbegriff ist zwar nicht neu, aber seine heutige Aktualität und seine Betonung sind schon bemerkenswert. Sie sind Ausdruck eines Perspektiven- oder mehr noch Paradigmenwechsels. Dies gilt nicht nur im Bereich der beruflichen Bildung, sondern in der 1

Vgl. Winkler, Michael/ Kratochwil, Stefan: Ausbildungsfähigkeit von Regelschülern in Thüringen. Jena 2002 (Abschlussbericht zur Studie).

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Bildungsforschung und –praxis überhaupt und auch für das uns heute hier vor allem interessierende Feld der vorberuflichen Bildung oder auch Berufsorientierung. Kompetenzen bei der Entwicklung von Bildungsstandards greifen allgemeine Bildungsziele auf. Das „wieder“ moderne Verständnis von Bildung lehnt sich stark an die „alte“ Persönlichkeitstheorie von Heinrich Roth an, der Bildung vor allem als Entwicklung der Persönlichkeit in den Bereichen „Individuation“ (Selbstkompetenz), „Sozialisation“ (Sozialkompetenz) und „Enkulturation“ (Sachkompetenz) verstand.2 Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand wird davon ausgegangen, dass Bildung vor allem als Kompetenzerwerb zu verstehen ist, der auf „eine autonome Lebensführung in möglichst allen Lebensbereichen in einem konkret gegebenen gesellschaftlich-kulturellen Kontext“ zielt.3 Mit dieser Definition korrespondiert eine weitere Definition von Persönlichkeitsbildung, die von Markus Prandini im Forschungskontext für die Sekundarstufe II geprägt wurde, nämlich „diejenigen Bildungsziele zu bestimmen, die den Jugendlichen eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit ihrer schulischen, beruflichen und privaten Umwelt ermöglichen und sie zu Koproduzenten ihrer Persönlichkeitsentwicklung befähigen.“4 Was sich in diesen beiden exemplarisch ausgewählten Definitionen andeutet, ist das, was manche als „Comeback“ der Persönlichkeitsbildung in der Gesellschaft und an Schulen registrieren. Eine Folgerung aus dem Paradigmenwechsel hin zur Betonung von Kompetenz und Persönlichkeit für die Entwicklung eines „Bildungsstandards Berufsorientierung“ könnte lauten, dass wir uns neben der wichtigen Förderung kognitiver Fähigkeiten und Sachkompetenz (wieder) stärker oder zumindest gleichgewichtig auf die Förderung der anderen zur Persönlichkeitsentwicklung gehörenden Kompetenzen – Selbst- und Sozialkompetenz – konzentrieren. Bezogen auf den heute zwar viel benutzten, aber kaum mehr zu präzisierenden Begriff der Ausbildungsfähigkeit könnte man auch sagen: Wer heute von den Schulen ausbildungsfähige Jugendliche erwartet, sollte auch über einen fundierten und erweiterten Begriff von Ausbildungsfähigkeit verfügen und im Zuge der Erarbeitung von Bildungsstandards deutlich machen können, in welchen einzelnen formell und informell angeeigneten Kompetenzen sich die Ausbildungsfähigkeit vor allem manifestiert. 3. These: Durch Bildungsstandards kann die Arbeits- und Berufsorientierung der Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem eindeutig als Bildungsaufgabe gekennzeichnet werden. Unter Berufsorientierung verstehe ich, kurz gesagt, alle Aktivitäten, die dazu beitragen, die Entscheidungsfähigkeit der Jugendlichen bei der Gestaltung ihrer Arbeits- und Berufsbiographie zu verbessern. 2

Vgl. Roth, H.: Pädagogische Anthropologie, Band II. Hannover 1971.

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Vgl. Rauschenbach et.al.: Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. Berlin 2004, S. 21.

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Persönlichkeitsbildung von Jugendlichen als Aufgabe und Ziel der Pädagogik. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Heft 3/ 2002, S. 354-372.

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Dabei ist von vornherein klar, dass die Jugendlichen mit Abschluss ihrer Ausbildung keinesfalls „ausgelernt“ haben. Vielmehr stellt sich die Erstausbildung allenfalls als ein Zwischenziel auf dem Weg zu weiterem beruflichen Kompetenzerwerb dar. Dauerhaftes, lebensbegleitendes Lernen ist angesagt. Nun ist auch nicht zu übersehen, dass Arbeits- und Berufsorientierung unter einer doppelten Herausforderung stehen. Einerseits: Die Arbeitswelt oder die Wirtschaft erwartet von Schule berufswahl- und ausbildungsfähige Jugendliche. Andererseits: Schule muss ihren Allgemeinbildungsauftrag zur persönlichen und politischen Bildung erfüllen. Zu unterscheiden ist also zwischen pädagogischen Zielen, bei denen heute verstärkt die Selbstbildung des Jugendlichen in den Mittelpunkt rückt, und ökonomischen Zielen, bei denen es vor allem um die sich lohnende Gestaltung des betrieblichen Produktionsprozesses und die hierfür erwarteten Qualifikationsanforderungen geht. Zwischen diesen beiden Zielen ist die Verbindung oder die „Schnittmenge“ zu suchen. In Kooperation zwischen Schule und Betrieb, zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem geht es darum, näher zu bestimmen, mit welchen Kompetenzen die Jugendlichen einen langfristig erfolgreichen Weg in die Arbeits- und Berufswelt gehen können. Man kann die heute mehr denn je notwendige Kooperation zwischen Schule und Betrieb, die ja durchaus auch eine dauernde Herausforderung darstellt, auch als Überforderung für die Schule ansehen, wie dies beispielsweise Hartmut von Hentig jüngst getan hat5. Er schlägt in Konsequenz vor, dass sich Schule gleich ganz aus der Ertüchtigung für das wirtschaftliche oder Arbeits-Leben verabschieden und sich nur auf die persönliche und die politische Bildung konzentrieren möge. Ein solcher Abschied käme nun allerdings nicht nur einem Rückfall auf die Schule von vor 1964 gleich – als der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen die Einführung des Faches Arbeitslehre empfahl. Er würde auch die seitherigen Entwicklungen in denjenigen Unternehmen verkennen, in denen zwischenzeitlich gravierende Veränderungen in der Arbeitsorganisation stattgefunden haben und die in erheblichem Maße Selbstlernkompetenz, soziale Kompetenz und Lebenslanges Lernen erfordern.6 Angemessener als die Rekonstruktion der Trennlinien zwischen dem Bildungsbereich und der Arbeitswelt scheint mir die vor allem pädagogische Verständigung zwischen beiden darüber, welche Kompetenzen bei den Jugendlichen besonders gestärkt und gefördert werden sollen. Ein gerade abgeschlossenes Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts über „Schulen und Soziale Netzwerke“ (dji 2004) bestätigt im Ergebnis m.E. eindrucksvoll diese „pädagogische Näherung“ – wenn ich mal so sagen darf – zwischen Schule und Betrieb. Danach wünschen sich Betriebe verstärkt Eigeninitiative der Jugendlichen und plädieren für einen längerfristigen, über mehrere Altersjahrgänge reichenden und umfassenden Berufsorientierungsansatz. Die „für die Praxis erforderlichen Fähigkeiten wie Eigeninitiative, Verantwortungsübernahme, Teamarbeit und [einem] Lernen nach aktuellem Bedarf (…) könnten die Grundlage für ein gemeinsames Berufsorientierungs- und Bildungskonzept von Schule und Wirtschaft bilden und in die allgemeinen Bildungsstandards für Schulen und den nationalen Bildungsbericht aufgenommen werden.“

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Vgl. Frankfurter Rundschau 13.05.2004.

6

Vgl. Dehnbostel, Peter: Von der traditionellen zur ganzheitlichen Facharbeit. Vortrag in: Dokumentation der 4. Fachtagung des SWA-Programms, Flensburg/ Bielefeld 2003; über „www.swa-programm.de“.

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4. These: Bildungsstandards können zur Konsolidierung des Lernfelds „Arbeits- und Berufsorientierung“ sowohl in Richtung auf seine Verankerung in einem allgemein verbindlichen Unterrichtsfach als auch auf seine fächerübergreifende Wahrnehmung beitragen. Arbeits- und Berufsorientierung in der Schule hat auf nationaler Ebene – trotz einer ganzen Reihe vielfältiger und positiver Einzelaktivitäten in vielen Schulen auf regionaler Ebene und zum Teil auch auf Landesebene – noch nicht ihren allgemein verbindlichen Ort im Kanon der Unterrichtsfächer gefunden. Festzustellen ist: Seit den „Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen zum Aufbau der Hauptschule“ im Jahre 19647 und dessen nachdrücklichem Vorschlag zur Einführung der Arbeitslehre ist die – wie es damals hieß – „bildungswirksame Hinführung zur modernen Arbeitswelt“ als eine schulische Aufgabe erkannt und anerkannt. Allerdings wird diese Aufgabe in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich wahrgenommen. Es gibt nicht nur über 20 verschiedene Fächerbezeichnungen; Kontroversen bestehen vor allem darüber, in welcher Form, ab welchem Schuljahr und mit welchem Stundenanteil diese Aufgabe in den verschiedenen Schulformen von der Elementarbildung bis zum Gymnasium zu organisieren sei. Strittig ist auch, ob sie in Form eines selbstständigen Schulfaches, als Kombinationsfach oder auch als allgemeines Unterrichtsprinzip praktiziert werden soll. Je nach Bundesland entwickeln die Jugendlichen also sehr unterschiedliche Kompetenzen beim Übergang an der „ersten Schwelle“ in den Arbeitsmarkt. Die KMK hat den vier Gegenstandsbereichen der Arbeitslehre „Technik, Wirtschaft, Haushalt und Beruf“ bislang keine weiterführenden Impulse („Empfehlungen“) zur Konsolidierung und Vereinheitlichung als Schulfach an allen allgemein bildenden Schulen zu geben vermocht. Die Ergebnisse einer für die Erarbeitung von „Empfehlungen“ eingesetzten Kommission wurden lediglich als unverbindliche „Materialien“ veröffentlicht.8 Immerhin wurde hier aber Arbeit als zentrale didaktische Kategorie ausgewiesen und den Ländern die Ausgestaltung dieses Lernsegments überantwortet. Allerdings lässt sich bislang nur in einem Teil der Bundesländer eine arbeitsorientierte Bildung in der curricularen Praxis erkennen. In den anderen Ländern stehen eher Technik oder Wirtschaft oder auch keine spezifische Kategorie im Zentrum der curricularen Organisation bei der Vorbereitung auf die Arbeitswelt. Weil die „Hinführung zur Arbeits- und Berufswelt“ in allen allgemein bildenden Schulen trotz wiederholter Initiativen hierzu9 bislang nicht einheitlich als arbeitsorientierte Bildung festgeschrieben wurde, können sich einzelne Gegenstandsbereiche oder hier zugehörige Fächer leichter von dem übergeordneten Ziel verabschieden oder sehen dieses – ohne die Last der Integration – bei sich am besten aufgehoben. So gibt es auch eine Initiative zunächst für die Sekundarstufe II, aber durchaus auch mit Blick auf die Sekundarstufe I, ein eigenständiges Schulfach Wirtschaft einzurichten, was die Frage nach dem Ort und der Qualität der Arbeits- und Berufsorientierung durchaus nicht gleich mit beantwortet, sondern – wie ich meine – um so nachdrücklicher aufwirft. Fazit: Mit der Entwicklung von Bildungsstandards könnte Arbeit in ihren wichtigsten Ausprägungen als zentrale didaktische Kategorie (Klieme-Expertise: „als verbindlicher Kern des Faches“) für ein Lernfeld, besser noch für ein Unterrichtsfach „Arbeits- und Berufsorientierung“ begründet und festgeschrieben werden. 7

Vgl. DEUTSCHER AUSSCHUSS für das Erziehungs- und Bildungswesen: Empfehlungen und Gutachten, Folge 7/8. Stuttgart, 1964.

8

Vgl. KMK (1988): Material zum Lernfeld Arbeitslehre im Sekundarbereich I. In: arbeiten+lernen, Heft 57/1988, S. 3ff.

9

Vgl. a. Empfehlungen der Enquete-Kommission „Bildung 2000“ des Deutschen Bundestages 1990, Schlussbericht S. 132ff.

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5. Fachtagung SWA-Programm: Gute Beispiele zur Berufsorientierung; Prof. Dr. Famulla: „Berufsorientierung als Bildungsstandard?“

5. These: Bildungsstandards orientieren sich an Bildungszielen, sie sind vor allem ein Förderinstrument, kein Selektionsinstrument, und stellen erhebliche Anforderungen an die Unterrichts- und Schulentwicklung, die ohne externe Unterstützung nicht zu realisieren ist. Im Einzelnen verbinden sich mit den Bildungsstandards entsprechend dem „KliemeGutachten“10 folgende Intentionen: • Es soll die Stärkung von Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern (an Stelle der Vermittlung von trägem Faktenwissen) betrieben werden; •

es sollen möglichst schulformunabhängige Kompetenzstufen entwickelt werden;



es sollen vor allem Systeme und Institutionen evaluiert werden und nicht Individuen kontrolliert werden;



Bildungsstandards sollen der Diagnose, Orientierung und Unterstützung, nicht der Prüfung und der Errichtung von Hürden dienen und schließlich



sollen Bildungsstandards Lernrückstände Bildungsgerechtigkeit beitragen.

überwinden

helfen

und

zu

mehr

Die Realisierung dieser anspruchsvollen Ziele enthält nicht geringe Herausforderungen, zumal für ein bundesweit erst noch zu entwickelndes und konsolidierendes Fach wie „Arbeits- und Berufsorientierung“. Ich möchte im Folgenden (weiter in Anlehnung an das „Klieme-Gutachten“) zumindest einige dieser Herausforderungen oder Aufgaben nennen, nämlich: • die notwendige Verständigung darüber, welches Konzept von Standards man zugrunde legen will, ob man tatsächlich nur auf den Output oder die Lernergebnisse orientiert ist, oder ob man Input-, Unterrichts- und Outputqualität als Zusammenhang versteht und zum Beispiel auch Schul- und Qualitätsentwicklung zu einem Gesamtkonzept verbindet, wozu notwendigerweise externe Unterstützung und Lehrerfortbildung gehören würden; •

die Fixierung von klaren verbindlichen Lern-Anforderungen innerhalb eines schulformübergreifenden Rahmenkonzepts, wozu dann auch die Abstimmung mit landesweiten Lehrplänen gehört ebenso wie die Sicherung von Freiräumen für schulinterne und klassenbezogene oder unterrichtsbezogene Lernplanung;



die Entwicklung eines systematischen Kompetenzstufung und –entwicklung



und schließlich auch empirische Operationalisierung und Prüfung der Kompetenzmodelle durch Aufgaben und Tests.

fachdidaktisch

verankerten

Konzepts

von

Fazit: Damit Bildungsstandards einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung von Schule leisten können, müssen sie gekoppelt werden mit Kompetenzmodellen und mit unterstützenden pädagogischen Initiativen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung.

10

„Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ – Eine Expertise. Koordination durch das DIPF. Frankfurt/M. 2003.

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6. These: Das Gewicht und die Qualität schulischer Berufsorientierung können durch Schulprogramme und Schulentwicklung wie auch durch Ganztagsschulen deutlich verbessert werden. Hierbei kommt den Lehrkräften die Schlüsselfunktion zu. Soll mit der Entwicklung von Bildungsstandards vor allem die Qualität von Schule gesteigert werden, so kommt der Schulentwicklung und den Schulprogrammen eine entscheidende Bedeutung zu. In einer Reihe von Bundesländern ist mittlerweile die Entwicklung von Schulprogrammen in Schulgesetzen festgelegt. Im Rahmen von Schulentwicklung besteht auch die Chance, sich vor einer nationalen Einigung über die Inhalte und schulische Organisation dieser zentralen Aufgabe der Arbeits- und Berufsorientierung in pädagogischer Verantwortung neu zu stellen. In Abstimmung mit außerschulischen Partnern (Eltern, Betrieben, Berufsberatung, Sozialpartnern, Hochschulen) kann Berufsorientierung als pädagogisches Konzept in einem Schulprogramm festgelegt werden.11 Aus den Erfahrungen und Erkenntnissen des SWA-Programms lässt sich folgern, dass sich zwei wichtige Resultate mit der Festlegung auf handlungsorientierte Lern- und Lehrkonzepte zur Berufsorientierung als Bestandteile des Schulprogramms verbinden: Zum einen wird Kontinuität bei der Anwendung neuer Konzepte gewährleistet, zum anderen steht Berufsorientierung als Vorbereitung auf das Arbeitsleben nicht als isoliertes Konstrukt im „Raum Schule“. Ein weiteres Zwischenergebnis des SWA-Programms ist, dass die inhaltliche Verankerung der Berufsorientierung in allen Fächern, nicht nur in den dafür im Lehrplan vorgesehenen, von allen beteiligten Lehrkräften als sehr wichtig erachtet wird. Sie sagen: Berufsorientierung sollte als eine Aufgabe für die ganze Schule verstanden werden und frühzeitig und in enger Verzahnung mit dem gesamten schulischen Alltag fächerübergreifend stattfinden. 7. These: Die Aufgabe der Entwicklung eines Bildungsstandards „Arbeits- und Berufsorientierung“ stellt zwar eine enorme Herausforderung dar, aber es sind bereits „Vorarbeiten“ geleistet, an denen anzuknüpfen ist. Was die notwendige Orientierung von Bildungsstandards an allgemeinen Bildungszielen betrifft, so bewegen wir uns im Rahmen der Berufsorientierung und insbesondere im Programm „Schule – Wirtschaft/ Arbeitsleben“ bereits in Richtung auf einen modernen Begriff von Bildung. Es gibt eine weitgehende Zustimmung zu dem für Bildungsstandards favorisierten Kompetenzmodell von Weinert, das fachliche, fachübergreifende und Handlungskompetenzen enthält und welches neben kognitiven auch soziale, motivationale und moralische Kompetenzen betont. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang, dass fächerübergreifende Kompetenzen gut ausgeprägte fachbezogene Kompetenzen zur Voraussetzung haben. Ich nenne als eine weitere „Vorarbeit“ für einen „Bildungsstandard Berufsorientierung“ den jüngst erstellten Entwurf für ein „Kerncurriculum im Lernfeld Arbeitslehre“, das von einer länderübergreifenden Expertengruppe erstellt wurde und eine lernbereichsbezogene Fachdiskussion über Kernanforderungen bzw. –kompetenzen im Bereich Arbeitslehre anstoßen will12. In diesen Kontext gehört auch der im Jahre 2003 zur Erprobung beschlossene Hamburger „Rahmenplan Arbeitslehre“ für Haupt- und Realschule, der in seiner fachdidaktischen Begründung wie in seinen Inhalten – ich betone hier insbesondere den erweiterten Arbeitsbegriff, die Berufsorientierung und die Wirtschaftskenntnisse – dem recht nahe kommt, was ich in der These 3 als notwendig für die Konsolidierung eines Schulfaches „Arbeits- und Berufsorientierung“ hervorgehoben hatte. 11

als Beispiel vgl. Schulgesetz für das Land Berlin v. 26.01.2004, bes. § 4 Abs. 6 und 7 und § 8

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Vgl. Oberliesen, Rolf/ Zöllner, Hermann: Kerncurriculum im Lernfeld Arbeitslehre. In: Unterricht – Arbeit+Technik 17/ 2003, S 53.

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5. Fachtagung SWA-Programm: Gute Beispiele zur Berufsorientierung; Prof. Dr. Famulla: „Berufsorientierung als Bildungsstandard?“

Eine ganze Reihe von Impulsen in Richtung Bildungsstandard lassen sich auch aus den Projekten des SWA-Programms gewinnen. Zur Kompetenzstärkung, zur Schulentwicklung, zur Überwindung von Lernrückständen wie zum Monitoring, hier nenne ich ausdrücklich den Berufswahlpass, sind bereits gute Beispiele entwickelt worden, die in die Debatte um einen „Bildungsstandard Berufsorientierung“ eingebracht werden. 8. These: Aus der SWA-Programm-Evaluation zeichnen sich fünf Essentials/ Leitideen einer erfolgreichen Arbeits- und Berufsorientierung ab, die bei der Entwicklung eines „Bildungsstandards Berufsorientierung“ Berücksichtigung finden sollten: •

Berufswahl wird als Prozess verstanden;



Jugendliche werden in ihrer Selbständigkeit und Eigenverantwortung gestärkt;



Jugendliche agieren als handelnde Subjekte, Lehrkräfte als Moderatorinnen und Moderatoren;



Arbeits- und Berufsorientierung erfolgt fächerübergreifend und wird als Aufgabe der ganzen Schule verstanden (Schulprogramm);



Schule kooperiert und vernetzt sich mit Partnern.

Meine Damen und Herren, mit meinen Ausführungen und diesem abschließenden Blick auf mögliche Essentials eines weiter zu entwickelnden Begriffs von Berufsorientierung hoffe ich, Ihnen zumindest weitere Anregungen und Anstöße für die weitere Diskussion zu unserem Tagungsthema gegeben zu haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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